Kein Entkommen aus der Konfuzius-Falle?

BLOG: Heidelberg Laureate Forum

Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

Zum HLF kommen ja eine ganze Reihe interessanter Preisträger. Aber bevor es so richtig losgeht, ist es vielleicht gar nicht so schlecht, innezuhalten und auch einmal zu schauen, wer nicht kommt. Ich habe da einen ganz speziellen Kandidaten im SInn (den ich gerne getroffen hätte!). Einen, von dem ich (ohne konkrete Informationen) annehme, zu wissen, warum er nicht kommt. Er sitzt nämlich in der Konfuzius-Falle.

Was das sei? Es gibt ein vergleichsweise bekanntes Zitat aus dem Buch “Das Große Lernen” des Konfuzius (von mir nach der englischen Fassung übersetzt):

Die Alten, die im ganzen Königreich überragende Tugend zeigen wollten, brachten zuerst ihre eigenen Staaten in Ordnung. Um ihre Staaten in Ordnung zu bringen, brachten sie erst Ordnung in ihre Familien. Um Ordnung in ihre Familien zubringen, bildeten sie zuerst sich selbst. Um sich selbst zu bilden, setzten sie zuerst ihre Herzen auf den rechten Weg. Um ihre Herzen auf den rechten Weg zu setzen, bemühten sie sich zuerst um Ernsthaftigkeit in ihren Gedanken. Um Ernsthaftigkeit in ihren Gedanken zu erreichen, weiteten sie zuerst ihr Wissen soweit aus wie möglich. Diese Wissensweite erreichten sie, indem sie forschten.

Im Gegensatz dazu, wie es in dem Konfuzius-Text weitergeht, bleiben die meisten von uns in der Konfuzius-Falle stecken – ist man einmal bei den grundlegenden Dingen angelangt, bleibt man dort. Wer zum Ziel hat, sein Wissen soweit auzuweiten wie möglich, hat den Rest seines Lebens zu tun und wird kaum Zeit haben, seinen Staat in Ordnung zu bringen.

Auch, wenn man Staatenlenkung außen vor lässt und sich nur auf die Wissenschaft beschränkt, lauern Konfuzius-Fallen. In weiten Teilen der Physik z.B. kann es der Spitzenforschung durchaus hinderlich sein, allzu genau wissen zu wollen, was denn die Grundlagen dessen sind, was man dort erforscht. Wer etwa die Festkörperphysik bis ins Letzte verstehen will, muss die Quantenmechanik verstehen. Und wer bei der Quantenmechanik zuweit in die Tiefe geht, landet entweder bei den Interpretationsfragen und damit letztlich bei der Philosophie, oder bei den mathematischen Grundlagen. In letzterem Falle ist man ab einer gewissen Stufe eher Mathematiker als Physiker. Was für sich genommen kein Problem ist. Aber wenn alle diesen Weg nähmen, hätten wir keine Physiker mehr.

Dann ist da noch die Konfuzius-Falle für Lehrbücher. Auch beim Lehrbuch-Schreiben kann man sich zu sehr bei immer fundamentaleren Grundlagen aufhalten – oder man kann sich in die Breite verlaufen, weil es immer noch ein weiteres Thema gibt, das man um der Vollständigkeit Willen aufnehmen kann. Wer zu tief in diese Konfuzius-Falle gerät, dessen Lehrbuch erblickt nie das Licht der Veröffentlichung.

Und die Werkzeugfalle gibt es auch noch! Es kommt in der Forschung oft vor, dass die Software, die man benutzt, fast, aber nicht ganz das tut, was man möchte. Das bringt die Versuchung mit sich, seine Probleme zu lösen, indem man seine eigene Software schreibt. So etwas braucht wiederum Zeit, und wenn man alles genau richtig machen will, schreibt man sich auch die zugrunde liegenden Software-Bibliotheken um und, bingo: Konfuzius-Falle. Für die Hardware gibt es wahrscheinlich eine analoge Falle (selbst bauen statt kaufen!), aber mit der habe ich als nicht-Experimentator keine eigene Erfahrung.

Für wie viele nicht fertiggestellte wissenschaftliche Werke die Konfuzius-Falle verantwortlich ist, kann ich nicht quantitativ abschätzen. Es dürften eine Menge sein, die in Papierstapeln und auf Festplatten unvollendet vor sich hin vegetieren.

Und dann gibt es noch die konfuzianischen Helden. Vielleicht der größte davon (obwohl er die Wortwahl nicht schätzen dürfte) ist Donald Knuth.

Im Jahre 1962 machte sich Donald Knuth daran, “The Art of Computer Programming” zu schreiben, ursprünglich als einbändiges Buch mit zwölf Kapiteln gedact. Aktuell ist der Plan, dass das Buch als siebenbändige Reihe erscheint. Zuletzt erschienen ist Band 4A; das war im Jahre 2011. Und auch die konfuzianische Werkzeugfalle war am Werk: Unzufrieden mit den Satzprogrammen, die er bei der Wiederveröffentlichung von Band 2 im Jahre 1977 vorfand, machte sich Knuth daran, seine eigenen Satzprogramme zu programmieren – einfach und elegant sollten sie sein.

Wer bis hier gelesen hat, ohne weiteres über Knuth zu wissen, der mag sich in einer klassischen Konfuzius-Fallen-Tragödie wähnen. Aber das wäre ein Fehlschluss. Für seine Bücher schuf Knuth das Textsatzsystem TeX, das heute in Physik, Mathematik, Statistik, den Ingenieurswissenschaften und der Informatik weit verbreiteter Standard für Fachveröffentlichungen ist – entweder in seiner Originalform oder, häufiger, in späteren Inkarnationen wie LaTeX und anderen. So sind z.B. die allermeisten Artikel auf der E-Print-Seite Arxiv mit TeX & Co. gesetzt.

Auch die bereits veröffentlichten Bänder von “The Art of Computer Programming” (abgekürzt TAOCP) sind grundverschieden von den üblichen un- oder halbfertigen Opfern der Konfuzius-Falle. Sie sind längst Klassiker der Informatik und haben die Evolution der Programmiersprachen und insbesondere die Art und Weise, wie man Algorithmen analysiert, entscheidend beeinflusst – diesem Umstand verdankt Knuth auch seinen Turing-Preis, dessetwegen er natürlich auch zum HLF eingeladen wurde.

Leider wird Knuth nicht nach Heidelberg kommen. Meine (durch keinerlei Insiderwissen getrübte) Vermutung ist, dass er die Zeit stattdessen nutzen wird, um sich weiter aus der Konfuzius-Falle herauszuarbeiten. Das würde zu seinem bisherigen Verhalten passen: 1992 ging Knuth an der Stanford-Universität zumindest soweit in den Ruhestand, als dass er seine Lehr- und Forschungsverpflichtungen aufgab, um sich auf TAOCP konzentrieren zu können. Im Jahre 1990, als die meisten Menschen noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse hatten, gab Knuth seine E-Mail-Adresse der vorangehenden 15 Jahre auf, um einen weiteren Störfaktor auszuschalten, der ihn bei TAOCP behinderte. In seinem FAQ schreibt er, dass er nicht mehr zu Konferenzen reise, keine Vortragseinladungen mehr annehme und sich nicht mehr mit Besuchern verabrede.

Während wir auf dem HLF direkt mit den Laureaten wechselwirken, sollten wir daher nicht vergessen, dass es auch diejenigen gibt, die wir dort – nicht zufällig, sondern weil es in der Natur der Sache liegt – nicht treffen, und das dürften einige der interessantesten HLF-Kandidaten sein.

Zumindest Knuth kann man wenigstens virtuell kennenlernen – dank des WWW (dessen Infrastruktur wir wiederum unter anderem einigen der HLF-Laureaten verdanken).

Also: Auf ins Internet oder, um ein von Knuth propagiertes neues Verb zu verwenden: “Let’s ture!” (im englischen sind Partizip bzw. Gerundium dieses Verbs gerade “turing”).

Knuth’s homepage ist ein guter Ausgangspunkt.

Wer Knuth auf einen (vorher nicht bekannten) Fehler in seinen Büchern aufmerksam macht, bekommt eine Gutschrift von  $2.56 (“ein Hexadezimal-Dollar”) bei der Bank of San Serriffe.

Und Knuths Arbeit zur  complexity of songs sollte man sich auch anschauen.

Aber vielleicht am wichtigsten: wer immer von meinen Lesern als nächstes in eine Konfuzius-Falle gerät: nicht den Mut verlieren und sich daran erinnern, dass es Menschen wie Don Knuth gibt, die solch einer Falle Großes abgewinnen konnten!

Avatar photo

Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

8 comments

  1. Markus Pössel schrieb (19 September 2013):
    > Konfuzius-Falle […] – ist man einmal bei den grundlegenden Dingen angelangt, bleibt man dort.

    Stimmt erstmal.
    Was aber keineswegs bedeuten muss, die grundlegenden Dinge, die man erforscht hat, sich (und, gerade wie Knuth, anderen) nicht auch nutzbar zu machen —

    um sich die Weite des Wissens zu erschließen, gedankliche Ernsthaftigkeit zu erreichen, das Herz auf den rechten Weg zu setzen, usw. usf.

    > [Man ist] ab einer gewissen Stufe eher Mathematiker als Physiker.

    Und ab einer gewissen philosophischen Tiefe ist man eher Kommentator als Blogger.

  2. Eine Frage, nicht zum Thema dieses Beitrags, sondern zum Heidelberg Laureate Forum: gibt es ein Videostream der Vorträge? Wenn ja, wo?

  3. “Einstein verstehen” ist sicher bei mir persönlich eines der Beispiele für eine mögliche Konfuziusfalle. Aber in dem speziellen Fall bin ich, wenn ich mir die Entwürfe für Einstein verstehen Teile IV-VIII anschaue, jetzt wieder zuversichtlich, der Konfuziusfalle zu entkommen!

    “Und ab einer gewissen philosophischen Tiefe ist man eher Kommentator als Blogger.” – bloßes Kommentatorendasein ist zwar in gewisser Weise das Gegenteil der Konfuziusfalle (Bloß keine größeren Projekte vornehmen! Jeder Happen muss für sich stehen!), aber Tiefgang dürfte eher in der Konfuzius-Richtung zu finden sein. Irgendwo nahe der Mitte dürfte der Kompromiss “machbarer Tiefgang” liegen.

  4. @tk Es gibt meines Wissens keinen Live-Stream, aber Videos sollten sehr zeitnah abrufbar sein. – Alles das erste Mal, deshalb unter Vorbehalten. –

  5. Markus Pössel schrieb (20 September 2013 7:33am):
    > […] wenn ich mir die Entwürfe für Einstein verstehen Teile IV-VIII anschaue

    Ganze fünf Teile, um sich endlich einmal gründlich mit dem “Lichtuhr”-Begriff zu beschäftigen ?

    Oder nur um (sich; gedanklich, herzlich, usw.) davon abzulenken ?

    > bloßes Kommentatorendasein […] Bloß keine größeren Projekte vornehmen!

    Der bloße Wunsch, die Beiträge zu seinem Projekt so gestalten zu wollen, dass zugleich alle anderen ihre Beiträge zu ihren eigenen oder gemeinsamen Projekten so gestalten könn(t)en, schränkt die Größe der jeweiligen Projekte jedenfalls nicht ein.

  6. Lieber Herr Wappler: fünf Teile (und wahrscheinlich noch mehr) um überhaupt erst einmal zu motivieren, warum so etwas wie die Lichtuhr sinnvoll ist.

    Was Ihr abschließender Satz bezwecken soll, kann ich nicht nachvollziehen; ich habe es freilich längst aufgegeben, zu versuchen, die kryptischeren Ihrer Kommentare zu enträtseln.

  7. Markus Pössel schrieb (20 September 2013 12:43pm):
    > […] fünf Teile (und wahrscheinlich noch mehr) um überhaupt erst einmal zu motivieren, warum so etwas wie die Lichtuhr sinnvoll ist.

    Wer die entsprechende Motivation nicht in (nur) fünf Worten erfasst
    (etwa:
    “Beobachter beobachten und erkennen einander.”
    ),
    dem würden dafür wohl auch keine fünf Lehrstühle reichen.

    > Was Ihr abschließender Satz bezwecken soll, […]

    Wer den Blog hat, muss sich um’s Blödstell’n nicht sorgen.

  8. Pingback:Mathematische Klarheit durch guten Schreibstil › Heidelberg Laureate Forum › SciLogs - Wissenschaftsblogs