Selbstbewusst bis zur Bescheidenheit

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Gabriel Laub wird gemeinhin das nachfolgende Zitat über das Verhältnis zwischen Selbstbewusstsein und Bescheidenheit zugeschrieben:

Bescheiden können nur die Menschen sein, die genug Selbstbewusstsein haben.

So oder ähnlich lässt sich ebenfalls eine der Haupteinsichten umschreiben, welche ich aus einem kurzen Gespräch mit Endre Szemerédi (Abel-Preisträger des Jahres 2012) über Eigenschaften und Qualitäten guter Mathematiker mitnehmen konnte. Und um Missverständnissen vorzubeugen: Szemerédi würde jedem Mathematiker Bescheidenheit auch im jeweils eigenen Interesse ans Herz legen.

Endre Szemerédi erhielt im Jahr 2012 den Abel-Preis für grundlegende Beiträge zur diskreten Mathematik und theoretischen Informatik, welche (unter anderem) tiefen Einfluss auf nachfolgende Entwicklungen in der additiven Zahlentheorie und der Ergodentheorie (d.h., dem Studium des Langzeitverhaltens dynamischer Systeme mit Methoden aus der Wahrscheinlichkeitstheorie) hatten. Doch Szemerédis Biographie ist nicht nur aufgrund seiner mathematischen Verdienste ungewöhnlich: Bevor sein Talent von dem fast schon legendären Mathematiker Paul Erdös erkannt wurde, brach Szemerédi ein (auf Wunsch seines Vaters aufgenommenes) Medizinstudium nach sechs Monaten ab und arbeitete knapp zwei Jahre in einer Maschinenfabrik.

 

Endre Szemerédi during his #hlf15 lecture ©HLFF // C.Flemming All rights reserved 2015
Endre Szemerédi während seiner #hlf15 lecture    ©HLFF // C.Flemming All rights reserved 2015

Mathematiker, zumal berühmte Vertreter des Fachgebiets, werden von Hollywood und den Medien häufig als getriebene Geister dargestellt, die Besessenen gleich unter totaler Aufgabe anderer Interessen und jeglicher Selbstbeschränkung unablässig an der von ihnen gewählten Frage arbeiten: Kein Raum für Ablenkung, keine Option aufzugeben—letzteres käme persönlichem Versagen und einer fast schon existenzbedrohlichen Niederlage gleich. Was allein schon ungesund klingt, geht in Szemerédis Augen auch komplett an einem realistischen und nachhaltigen Zugang zum Leben als mathematisch Forschender vorbei.

Die (praktisch erprobte und offensichtlich bewährte) Einstellung des Abel-Preisträgers lässt sich stattdessen in einem einfachen Satz zusammenfassen: Gib dein Bestes, und wenn Du scheiterst, zieh’ weiter und versuch’ es woanders erneut. Dabei werden Mathematiker keineswegs davon entbunden, hart zu arbeiten und auch frustrierende Phasen ohne Fortschritte, stattdessen mit Fehlschlägen, in Kauf zu nehmen. Für Szemerédi gibt es jedoch eine individuelle Grenze, an der die Möglichkeiten und Fähigkeiten jedes einzelnen ausgeschöpft sind: Wird dieser Punkt nach harter (und dennoch möglicherweise fruchtloser) Arbeit erreicht, wird es Zeit, sich einzugestehen, dass der Moment gekommen ist, sich trotz ausbleibender Erfolge auf ein anderes Problem zu verlagern.

Was zunächst einfach nach gesundem Menschenverstand klingt, ist für einen Mathematiker eine sehr persönliche Erfahrung und Entscheidung, bedeutet sie doch das Eingeständnis eigener intellektueller Limiten—von individuellen harten Beschränkungen bezüglich dessen, was derjenige (zumindest bezogen auf die jeweilige Fragestellung) erreichen kann. Eine derartige Entscheidung setzt zwei Charaktereigenschaften voraus, welche beide selbst nicht unbedingt einfach zu entwickeln sind: Großes Selbstbewusstsein und ein hohes Maß an Bescheidenheit.

Akzeptanz davon, dass die eigene geistige Leistungsfähigkeit nicht unendlich ist, stellt in einer allein auf intellektueller Aktivität beruhenden Domäne einen Schritt dar, welcher— zumindest ohne größere Kollateralschäden zu hinterlassen—nur von verlässlich in sich selbst ruhenden Persönlichkeiten wirklich vollzogen werden kann. Damit aber noch nicht genug,  ein sehr gesundes Niveau an Selbstvertrauen allein reicht laut Szemerédi nicht. Mindestens ebenso wichtig ist das (dem eben beschriebenen Eingeständnis notwendig vorausgehende) Bewusstsein, dass diese Grenzen existieren: was, zumal wenn bereits im Laufe einer mathematischen Karriere Erfolge erzielt wurden, dem Selbstbewusstsein mindestens ebenbürtige Bescheidenheit voraussetzt.

Ein sehr menschlicher und zugleich idealistischer Blickwinkel auf das, was einen guten Mathematiker ausmacht, welcher mir—trotz eigenem Mathematikstudium und andauernder regelmäßiger Interaktion mit Vertretern des Faches—in dieser einfachen Klarheit zum ersten Mal begegnet ist.

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arbeitet als PostDoc zu verschiedenen Themen aus dem Dunstkreis "Künstliche Intelligenz und Künstliche Kreativität" am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück. Vor seiner Promotion in Kognitionswissenschaft hatte er Mathematik mit Nebenfach Informatik studiert, und ein einjähriges Intermezzo als "Logic Year"-Gaststudent an der Universität Amsterdam verbracht. Neben seiner eigentlichen Forschungsarbeit engagiert er sich als Wissenschaftskommunikator (zweiter Gewinner des 2013er Falling Walls Lab "Young Innovator of the Year"-Preises), Mitveranstalter von Wissenschaftsevents und gelegentlicher Autor des Analogia-SciLogs-Blog tätig.

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