Wunderkinder & Co.

BLOG: Heidelberg Laureate Forum

Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

Mathematik hat sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter den Mathematikern selbst einen ziemlich elitären Ruf. Bei einem Star-Violinisten würden die meisten Menschen wahrscheinlich anerkennen, dass dessen Leistung eine Kombination aus Talent und harter Arbeit (nämlich täglichem Üben) sind. In der Mathematik steht für die meisten Menschen das Talent im Vordergrund: Man hat es oder man hat es nicht.

“Ich konnte noch nie Mathe” ist für viele offenbar etwas ganz anderes als “Ich konnte noch nie Geige spielen” oder “Ich konnte noch nie schwimmen”, oder “Ich konnte noch nie einen Marathon laufen”. Schwimmen kann man lernen. Für einen Marathon kann man trainieren. Mathe, so das Urteil oder Vorurteil, ist anders.

Vor ein paar Monaten hat Jordan Ellenberg mit The Wrong Way to Treat Child Geniuses einen interessanten Text zu diesem Thema geschrieben. Darin geht es nicht nur um diese Art des Verständnisses (und Selbstverständnisses) von Mathematikern, sondern auch um eine soziologische Studie, die mehrere hundert mathematische “Wunderkinder” über Jahre hinweg (nämlich seit 1983) verfolgt hat. Unter diesen Wunderkindern war auch Ellenberg selbst, der in seinem Text vor allem hervorhebt, was bei der eingeengten Sicht auf die Ausnahmetalente verloren geht: Dass zwar die Wunderkinder in der Tat überproportional häufig wissenschaftliche Karriere machen, dass aber umgekehrt der größte Teil des wissenschaftlichen Fortschritts auf Nicht-Wunderkinder zurückgehen dürfte.

(Die Fragestellung entspricht netterweise einem häufigen statistischen Fehlschluss: Gegeben ein medizinischer Test, der das Vorliegen einer tödlichen Krankheit X nachweisen kann. Die Krankheit ist sehr selten; nur 1 von 100.000 Menschen bekommt sie. Hat ein Mensch die Krankheit, dann zeigt der Test das in 99 von 100 Fällen korrekt an. Umgekehrt kommt es pro 1000 Fälle im Schnitt 2 Mal vor, dass der Test die Krankheit X anzeigt, obwohl die Testperson sie gar nicht hat. Wenn Sie sich ohne konkreten Anlass dem Test unterziehen und ein positives Ergebnis erhalten – sollten Sie sich dann Sorgen machen?)

Die Fields-Medaille, aus deren Gewinnern sich ein wichtiger Teil der HLF-Laureaten rekrutiert, schlägt in eine ähnliche Kerbe. Deren Gewinner dürfen nicht mehr als vierzig Jahre alt sein, entsprechend einer unter Mathematikern verbreiteten Ansicht, ab diesem Alter sei die produktive Phase eines Mathematikers sowieso vorbei.

Insofern die Frage an die Leser: Fallen Ihnen/Euch Gegenbeispiele ein? Mathematiker, die erst mit über 40 ihre besten Arbeiten geschrieben haben?

(Zum Teil dürfte da auch ein Auswahleffekt am Werke sein: Wer bis zum Alter von 40 nichts Größeres in der Mathematik geleistet hat, wird kaum die Gelegenheit [in Form eines geeigneten Jobs] bekommen, weiter in der Mathematik zu forschen.)

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

6 comments

  1. Die Mathematik ist im Vergleich zu den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) tatsächlich ein Sonderfall, sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung. Betreffend Fremdwahrnehmung: Ein interessierter Laie kann durchaus angeben, was die Hauptgebiete der Physik sind und womit sich Physiker heute beschäftigen. Und den populärwissenschaftlichen Darstellungen zum Beispiel zu den Forschungen am LHC folgen wohl nicht wenige Leute. Ganz anders bei der Mathematik. Man hat den Eindruck nicht einmal Mathematiker können zuverlässig angeben was gerade in der Mathematik aktuell ist und “läuft”. Hat nicht (fast) jeder Mathematiker ein anderes Forschungsgebiet, ein anderes Steckenpferd? Es gibt auch kaum populärwissenschaftlichen Berichte darüber was zum Beispiel in der algebraischen Geometrie (um ein Beispiel eines Mathegebiets zu nennen, von dem “man” gelegentlich noch hört) gerade läuft.

    Das Urteil, grosse mathematische Leistungen würden von jungen Leuten vollbracht ist schon uralt. Hier eine Äusserung von G.Hardy (Mentor von Ramanujan):

    G. H. Hardy, 1940: “I had better say something here about this question of age, since it is particularly important for mathematicians. No mathematician should ever allow himself to forget that mathematics, more than any other art or science, is a young man’s game. … I do not know an instance of a major mathematical advance initiated by a man past fifty. If a man of mature age loses interest in and abandons mathematics, the loss is not likely to be very serious either for mathematics or for himself.”

    Hier ein paar grosse mathematische Leistungen, die nach 50 erbracht wurden:
    – Leonhard Euler schrieb mit 68 immer noch ein Papier pro Woche und bewiess mit 61, dass 2^31-1 eine Mersenne Primzahl ist
    – Weierstrass’ Approximations Theorem formulierte er mit 70
    – Kolmogorov’s Komplexitätstheorem entstand nach seinem 50. Lebensjahr
    – Marina Ratner (geboren 1938) bewies Ratner’s Theorem um 1990
    – Theorema Egregium wurde von Gauss 1828 publiziert (Gauss wurde 1777 geboren)
    – Louis de Branges löste das Bieberbach Problem 1985 als er 53 war
    – Furtwängler bewies den Hauptidealsatzes fur Klassenkörper algebraischer Zahlkörper als er 60 war

  2. Wenn man die Frage “erst über 40” umstrickt in “auch über 40” kann man nachlegen:
    Cardano *1501 – Kardanwelle 1548 mit 47 Jahren
    Napier * 1550 – Logarithmus erfunden 1614 und Rechenstab 1617 mit 67(+)
    Goldbach *1690 – Goldbach’sche Vermutung von 1742 mit 52
    Poincare *1854 – Poincare-Vermutung von 1904 mit 50
    Die waren natürlich alle vorher schon gut drauf, ob sie aber Fields bekommen hätten?

  3. Es gilt eigentlich für alle Disziplinen: Wer Spitze sein will muss sich möglichst früh und sehr lange mit dem Thema beschäftigen, Mathe ist da keine Ausnahme. Ich glaube nicht dass es Spitzenmathematiker gibt, die erst mit 40 begonnen haben, sich für Mathematik zu interessieren. Aber das heißt nicht, dass man mit 40 schon zum alten Eisen gehört. Ich selber entwickle Software-Algorithmen und bin nun 49, ich kann nicht sagen dass meine kreative Phase vorbei ist, ganz im Gegenteil, und der Erfolg gibt mir recht.

  4. Ich bin schon weit über 40 Jahre alt, und eigentlich kein Freund von Mathematik. Das liegt bei mir auch das ich nur in einer Volksschule mit zwei Klassenräume war. Ich will damit sagen das es sehr viel an den Lehrern oder öglichkeit des lernens liegt. Denn es heißt ja nicht umsonst früh biegt sich wer ein Haken werden will, und ohne Fleiß kein Preis. Das gilt besonders bei Matte so, denn das Interesse an diesem Fach muß erst geweckt werden.

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