Förderung hochbegabter Grundschulkinder im Entdeckertag

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
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Hochbegabtenförderung sollte früh ansetzen, damit dauerhafte Unterforderung und daraus resultierende Langeweile gar nicht erst entstehen; denn diese wirken sich langfristig negativ auf die Motivation aus und können sogar zu Underachievement führen. Eine Maßnahme aus Rheinland-Pfalz, die dieses Ziel für hochbegabte Kinder bereits ab dem späten Kindergartenalter verfolgt, will ich in diesem Artikel vorstellen.

Dass es wichtig ist, schon früh zu fördern, liegt auf der Hand. Wer nie an seine Leistungsgrenzen stößt, kann den ursächlichen Zusammenhang zwischen Anstrengung und Erfolg kaum am eigenen Leib erfahren; denn wenn man alle Anforderungen mit links bewältigt, kann das ja nur daran liegen, dass man echt schlau ist, oder? Diese “Entitätstheorie” – so bezeichnet das die amerikanische Psychologin Carol Dweck (1986) –, die davon ausgeht, dass Intelligenz stabil und unveränderlich ist, hat allerdings auch ihre Tücken. Solange man Erfolg hat, ist die Welt in Ordnung; sobald aber ein unerwarteter Misserfolg eintritt, lässt sich diese Erfahrung schwer interpretieren. War es das sprichwörtliche persönliche Pech, oder ist man auf einmal verblödet? In beiden Fällen wäre die Konsequenz, dass man selbst keinen Einfluss auf das Ergebnis hat – motivierend ist das nicht eben.

Aus diesem Grund ist es wichtig, Kindern schon früh die Erfahrung zu vermitteln, dass sie nicht alles “einfach so” können – dass sie das Ergebnis aber durch Anstrengung aktiv beeinflussen können, ihrem Geschick also keineswegs hilflos ausgeliefert sind. Voraussetzung dafür sind Aufgaben, die ausreichend schwer sind und das Kind fordern – und genau das ist das Ziel der meisten Begabtenfördermaßnahmen.

Ein Beispiel ist der “Entdeckertag”, eine Maßnahme für begabte Kinder vom späten Kindergartenalter bis zum Ende der Grundschule (in Rheinland-Pfalz endet diese mit der vierten Klasse). Als Teil des Modellprojekts “Erkennen und Fördern hochbegabter Kinder im Elementar- und Primarbereich” wurde der Entdeckertag 2004/2005 als Pilotprojekt initiiert; inzwischen sind es landesweit 16 Grundschulen, die im Schuljahr 2011/2012 insgesamt 504 Kindern eine begabungsgerechte Förderung anbieten konnten. Einmal die Woche ist “Entdeckertag”, an dem hochbegabte Kinder aus dem Einzugsgebiet einer Entdeckertagsschule zusammentreffen, um gemeinsam zu lernen. Dabei handelt es sich nur um eine temporäre begabungsspezifische Gruppierung – genauer gesagt, um ein so genanntes “Pull-out”-Programm, im Zuge dessen die Kinder aus ihrer regulären Kindergartengruppe bzw. Schulklasse “herausgezogen” werden. Dass sie nicht komplett von ihren Altersgenossen getrennt werden, ist ein wichtiges Anliegen des Projekts.

Was genau machen die Kinder im Entdeckertag? Es gibt zwei Gruppen, einmal die “Kleinen” vom Kindergarten bis zum Alter von etwa 7–8 Jahren, und die “Großen”, von denen die Ältesten die vierte Klassenstufe besuchen. Sie machen … viel. Und viel Interessantes. Der Tag beginnt um acht Uhr morgens und geht bis in den Nachmittag hinein. Angeboten werden Knobelaufgaben (interessant ist hierbei, dass es nicht allein um das korrekte Ergebnis geht, sondern die Kinder auch den Weg erklären, wie sie dort hin gekommen sind – warum beim Sudoku etwa eine 9 und keine 8 in das rechte obere Kästchen kommt), naturwissenschaftliche Aufgaben (beispielsweise Wasseranalysen und Experimente), Sprachen (aber nur solche, die nicht später in der weiterführenden Schule unterrichtet werden) sowie Sport und Musik – ein ausgewogenes Programm, bei dem die Kinder vielfach im Team arbeiten. Das “Herzstück” des Entdeckertags sind jedoch die Projektarbeiten der Kinder. Jedes Kind recherchiert eigenständig zu einem selbst gewählten Thema, und die Vielfalt ist groß (auf der Website des “Entdeckertags” findet sich eine Übersicht). Die Ergebnisse werden natürlich auch präsentiert – zum einen den anderen Entdeckertagskindern (die sich mit Kritik nicht zurückhalten, aber dabei äußerst konstruktiv sind – da könnte sich mancher Teilnehmer eines Business-Meetings eine Scheibe von abschneiden Wink), zum anderen auch den Eltern.

Die Energie, die die Kinder an den Tag legen, ist verblüffend – teilweise muss man sie wirklich von den Büchern und dem Computer wegreißen, weil es Essen gibt oder Hofpause angesagt ist. “Moment, ich muss grade noch was rausfinden …”, “Sofort … [Stunden später:] Jahaaaa, ich komme gleich …” Um ihr Projekt so gut wie möglich durchzuführen, müssen sie sich definitiv anstrengen – und es macht ihnen sogar Spaß. Im Zuge meiner Hospitationen (unsere Abteilung begleitet das Projekt wissenschaftlich, insofern darf der persönliche Eindruck ja nicht fehlen!) hatte ich das Gefühl: Genau so soll Lernen sein! Und nicht nur das reichhaltige Programm, sondern auch der Kontakt zu ähnlich Begabten scheint den Kindern gut zu tun. Das bestätigen auch empirische Befunde zu “Enrichment” (so heißen Programme, die den Lehrplan anreichern, im Fachjargon; für eine Übersicht über die Wirksamkeit verschiedener Fördermaßnahmen vgl. Vock, Preckel & Holling, 2007).

Der derzeitige Fokus speziell unserer Arbeit liegt auf der Entwicklung diagnostischer Aufgaben zur Identifikation von Kindern, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vom “Entdeckertag” profitieren werden. Ein hoher IQ allein (was ein naheliegendes Kriterium für die Identifikation Hochbegabter wäre) ist zwar eine sehr gute Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme, aber keine Garantie, denn auch programmspezifische Anforderungen müssen bei der Auswahl berücksichtigt werden. (Dass nicht jede Maßnahme für jedes hochbegabte Kind gleichermaßen geeignet ist, kann man sich leicht vorstellen, wenn man sich das Mathe-Ass in einem Programm mit Fokus Sprachbegabung ausmalt.) Deshalb haben wir gemeinsam mit einigen Entdeckertagslehrkräften und einer Schulpsychologin theoretisch fundierte diagnostische Aufgaben entwickelt, die sowohl intellektuelle Fähigkeiten allgemein als auch programmspezifische Fähigkeiten abbilden. Wie sie im praktischen Alltag funktionieren, wird die Evaluation zeigen!

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Literatur:

  • Baudson, T. G. (2009). Der rheinland-pfälzische Entdeckertag: Ein Förderprojekt für hochbegabte Grundschüler. In S. Schiemann (Hrsg.), Talentförderung Mathematik (S. 379–395). Münster: Lit.
  • Dweck, C. (1986). Motivational processes affecting learning. American Psychologist, 41(10), 1040–1048.
  • Vock, M., Preckel, F. & Holling, H. (2007). Förderung Hochbegabter in der Schule. Göttingen: Hogrefe.
  • Website des Projekts: http://grundschule.bildung-rp.de/projekte/fruehe-hochbegabtenfoerderung.html

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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