Für den wissenschaftlich interessierten Nachwuchs: Was ist Hochbegabung?

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Hochbegabung – über das Thema forsche und blogge ich. Vielleicht habt Ihr das Wort schon mal gehört; vielleicht hat Euch auch schon mal jemand “hochbegabt” genannt, oder Ihr kennt jemanden, auf den oder die diese Bezeichnung zutrifft. Wenn man Leute auf der Straße fragt, was das eigentlich bedeutet, denken viele als erstes an Klischees …

… zum Beispiel an Überflieger, die super Noten schreiben, an Wunderkinder, die Erwachsene im Schach besiegen, oder auch an Menschen, die sehr schlau, aber auch ein bisschen seltsam sind. Meistens denken sie dabei an Wissenschaftler/innen wie Marie Curie oder Stephen Hawking, oder auch an sehr kreative Menschen wie Pablo Picasso oder Camille Claudel – von denen habt Ihr vielleicht schon mal gehört (und wenn nicht, lohnt es sich auf jeden Fall, etwas über diese interessanten Menschen zu lesen! Ich habe Euch die Wikipedia-Artikel mal zum Einstieg verlinkt). Manchmal bezeichnet man auch Sportler als “hochbegabt”, aber meistens denkt man an geistige Eigenschaften, vor allem an Intelligenz.

Im Fernsehen und in Filmen trifft man oft auf solche Vereinfachungen wie “Überflieger” und “Nerds” – wahrscheinlich beeinflusst das die Meinung von Leuten, vor allem, wenn sie noch nie mit Hochbegabten zu tun gehabt haben, ganz schön! Aber ist an diesen Klischees etwas dran? Um das herauszufinden, muss man Hochbegabte mit durchschnittlich Begabten vergleichen – und das ist gar nicht so leicht, denn Hochbegabte sind ziemlich selten.

Hier muss ich mal ein bisschen ausholen. Wenn ich die ganze Zeit von “den Hochbegabten” schreibe, ist das strenggenommen nicht ganz exakt. Hochbegabte sind keine einheitliche Gruppe – im Gegenteil, sie sind sehr vielfältig, so wie Menschen überhaupt. Wenn man in ein Thema einsteigt, ist es aber manchmal ganz sinnvoll, am Anfang ein bisschen zu vereinfachen – zum Beispiel, wenn man etwas über “die Römer” wissen will, auch wenn natürlich klar ist, dass das ganz verschiedene Menschen umfasst. Außerdem klingt “die Hochbegabten” so, als würde es sich dabei um eine eigene Art Menschen handeln. In Wirklichkeit sind die Übergänge aber fließend.

Eine Möglichkeit, Hochbegabung zu definieren, ist der so genannte “Intelligenzquotient” oder IQ. Der IQ ist das Ergebnis eines Intelligenztests. Intelligenztests messen die Denkfähigkeit; damit kennen sich Psychologinnen und Psychologen ziemlich gut aus, und deshalb denken sie sich auch die “Knobelaufgaben” für solche Tests aus. Ich habe in meiner Doktorarbeit auch so einen Test für Kinder entwickelt. Das Ergebnis ist meistens eine Zahl, der IQ. Der Durchschnittswert liegt bei 100 – das hat man mal so festgelegt. Wenn man Hochbegabung am IQ festmachen will, setzt man meistens 130 als Grenze an: Wer einen Wert von 130 oder darüber erreicht, ist demnach hochbegabt. 130, das ist ein Wert, von dem man ziemlich sicher sagen kann, dass er statistisch über 100 liegt. Einen solchen Wert erreichen gut 2 % der Bevölkerung. Dieses “ziemlich sicher über dem Durchschnitt” ist aber auch der einzige Grund für diesen Wert: Man ist also kein anderer Mensch, wenn man über dieser “magischen Grenze” liegt.

Diese klare Punktzahl als Grenze ist aber ganz praktisch, wenn man damit rechnen will. Der IQ lässt sich nämlich ziemlich gut messen, im Gegensatz zu anderen psychologischen Merkmalen. Wenn man sich anschauen will, ob Hochbegabte anders ticken als durchschnittlich Begabte, testet man einfach ganz viele Leute und überprüft dann, ob sich diejenigen mit einem IQ von 130 und darüber auch in anderen Merkmalen von denen unterscheiden, die unter 130 liegen. Wenn wir also beispielsweise wissen wollen, ob das Klischee stimmt, dass Hochbegabte seltsamer sind als andere Menschen, oder ob das völliger Quark ist, können wir versuchen, diese “Seltsamkeit” zu messen – wir können also schauen, ob sie ungewöhnliche Hobbies haben, weniger Freunde oder mehr Probleme. Was man bei solchen Studien normalerweise aber findet, ist, dass diese Unterschiede sehr gering sind! Hochbegabte unterscheiden sich zwar bei Merkmalen, die mit ihrer hohen Intelligenz zu tun haben (beispielsweise schreiben sie im Durchschnitt bessere Noten*), aber bei Merkmalen, die mit ihren Gefühlen, Freundschaften oder Ähnlichem zu tun haben, sind sie eigentlich wie alle anderen auch.

Dieser Befund hat zwei Folgen. Dass Hochbegabte sehr leistungsstark im Denken sind, bedeutet, dass sie in der Schule oft unterfordert sind. Unterschiede in der Leistungsfähigkeit sind Teil der Vielfalt in der Schule insgesamt. Ihr kennt das vielleicht aus Eurer eigenen Klasse: Es gibt viele Kinder mit besonderen Lernbedürfnissen – manche können gut rechnen, andere tun sich mit der Rechtschreibung schwer, wieder andere sind mit dem Stift noch nicht so geschickt und brauchen mehr Zeit zum Schreiben. Auch, wenn Eure Lehrerin oder Euer Lehrer sich viel Mühe gibt, ist es sehr schwer, allen Kindern gerecht zu werden. Aber Hochbegabte brauchen höhere Anforderungen, als der normale Unterricht ihnen bieten kann. Stellt Euch eine Leistungssportlerin vor, die jeden Tag mehrere Stunden trainiert, um das Beste aus sich herauszuholen. Das funktioniert nur, wenn man Trainingsreize und Ziele setzt, die sie gerade so mit viel Anstrengung schaffen kann. Denn nur so kann man sich verbessern. Bei Hochbegabten ist das so ähnlich – nur brauchen die schwierige Denkaufgaben statt sportlicher Herausforderungen! Denn wenn sie ihr “geistiges Futter” nicht bekommen, ist es so, als würde die Sportlerin auf einmal nur noch zweimal pro Woche langsam joggen gehen: Die Muskeln verkümmern, und sie kann ihr Leistungspotenzial nicht mehr ausbauen. Genau das sollte aber das Ziel sein, und zwar für alle: dass jede und jeder dabei unterstützt wird, aus seinem Potenzial das meiste zu machen und sich zu verbessern. Der eine braucht dazu schwerere Aufgaben, jemand anders mehr Wiederholungen. Wir sind nun mal alle verschieden – und verschiedenen Menschen das Gleiche vorzusetzen, ist auch nicht fair. (Jemanden mit einer Milchallergie würde man ja auch nicht zwingen, den Milchreis in der Schulkantine zu essen – und diejenigen, die mehr Milchreis brauchen, weil sie groß und kräftig sind oder viel Sport machen, sollen den auch kriegen!)

Der zweite Teil des Befunds, dass Hochbegabte eigentlich gar nicht seltsam und genauso beliebt sind wie andere, ist eigentlich ganz logisch: Jeder Mensch will von anderen gemocht werden, und allen tut es gut, wenn andere sie so annehmen, wie sie sind – mit ihren Macken _und_ mit ihren besonderen Fähigkeiten, denn die haben wir ja alle. “Verschieden” heißt nämlich weder “besser” noch “schlechter”, sondern erst mal nur “unterschiedlich”. Und wenn wir alle gleich wären, wäre das schließlich ganz schön langweilig.

Wenn Ihr etwas dazu schreiben wollt oder Fragen habt, sind Eure Kommentare herzlich willkommen – wir Wissenschaftler/innen freuen uns nämlich, wenn auch andere sich für unsere Forschungsgebiete interessieren. Schreibt bitte dabei, wie alt Ihr seid, damit ich das bei der Antwort berücksichtigen kann.

 

Fußnote

* Das heißt nicht, dass _alle_ Hochbegabten bessere Noten haben, sondern nur, wenn man den Notendurchschnitt der ganzen Gruppe nimmt. Dass das zwei verschiedene Sachen sind, fällt auch manchen Erwachsenen nicht leicht zu verstehen 😉

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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