Nils springt

BLOG: Hochbegabung

Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Zwar nicht in die Dusche, aber ein wenig ins kalte Wasser: Zum Halbjahreszeugnis ist bei Nils die Frage von Seiten der Schule gestellt worden, ob er nicht ins nächsthöhere Schuljahr springen solle. Seine Leistungen im 3.Schuljahr sind durchgängig als sehr gut eingestuft, seine Lese- und Rechtschreibfertigkeiten entsprechem dem Niveau von 4.Klässlern, was auch für das Rechnen gilt. Nun möchte die Schule den Weg der Akzeleration einschlagen.

Das „Springen“ zieht zahlreiche Konsequenzen für Nils nach sich: Die Lernsituation verändert sich, da insbesondere im Grundschulbereich neben leicht reproduzierbaren Inhalten methodische Fertigkeiten entwickeln müssen. Auch werden die Anforderungen an motivationale und kognitive Fähigkeiten wie Anstrengungsbereitschaft, Ausdauer und Konzentration erhöht, da nach dem ersten und zweiten Schuljahr eine Grundlage von Fertigkeiten entwickelt ist. Von älteren Schülern wird zunehmend mehr Geschwindigkeit in der Informationsverarbeitung gefordert, die Quantität nimmt zu. Zudem wird der Anspruch an die Selbständigkeit und Selbstregulation bei der Erledigung von Aufgaben erhöht, soziale Lernformen kommen hinzu.

Insbesondere im Bereich des Lesen und Schreiben ist zu berücksichtigen, dass zunächst – unabhängig von der Schwierigkeit des zu Lesenden oder zu Schreibenden – entweder ein bereits vorentwickeltes Niveau vorliegt (also wie bei Nils) oder ein solches zu erwarten ist (was die Pädagogen in Anbetracht der Entwicklung einschätzen können). Denn größere Schübe in diesen Bereichen lassen sich nicht in kurzer Zeit nachholen. Kinder, die trotz hoher Begabung, in diesen Bereichen über altersangemessene Fertigkeiten verfügen, können häufig den quantitativen Anforderungen nach dem Sprung in die höhere Klasse nicht gerecht werden. In solchen Fällen kann sich kurzfristig das Leistungsniveau senken, was auch die Integration in die Klasse erschweren kann. Entscheidend ist aber die mittelfristige Entwicklung, hier meist der Zeitraum eines Halbjahres, in welchem die Fortschritte zu betrachten sind. Im Fokus müssen also nicht die Inhalte stehen, sondern vielmehr die methodischen und technischen Fertigkeiten.

Häufig bestehen Sorgen über die soziale Entwicklung, was auch bei Nils der Fall ist. Die Eltern sind verunsichert, da einige Freunde Nils’ aus seiner Klasse stammen, wohl aber auch aus Umgebung und Verein. Wird Nils in der neuen Klasse Fuß fassen? Wahrscheinlich ja, lautet die Antwort der Eltern selbst, denn Nils ist grundsätzlich kontaktfreudig, sozial attraktiv und, weil er im Oktober geboren ist, altersmäßig relativ nah an dem Alter der dritten Klasse, was auch für das Fach Sport von Bedeutung ist. Das „natürliche“ Kriterium für Jungen eben. Die Diskussion über das jugendliche Alter als Abiturient will ich an dieser Stelle außen vor lassen.

Die Weichen sind gestellt: Wenig deutet bei Nils auf Langeweile infolge von nicht erfolgter kognitiver Auslastung hin, er geht eigenaktiv mit Leerlaufphasen um, in denen er recht genügsam zeichnet oder Zahlenrätsel löst, ohne nach ständiger Fremdbeschäftigung zu fragen. Die Kulturtechniken sind weit entwickelt, der Altersunterschied in überschaubarem Maße gegeben. Insofern ist das Springen nicht als Flucht nach vorn anzusehen, sondern mehr als eine Überlegung wert, um Nils die Chance zu geben, sich weiterzuentwickeln. Am Montag geht es in der 4.Klasse weiter!

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Veröffentlicht von

Götz Müller ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT). Er arbeitet beratend und diagnostisch mit Familien hoch begabter Kinder und Jugendlicher. In der psychotherapeutischen Arbeit beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Underachievement bei Hochbegabten, hier insbesondere bei Jugendlichen.

7 Kommentare

  1. Schnell hingeschrieben

    Der Autor schreib “[…] ist zu berücksichtigen, dass zunächst […] entweder ein bereits vorentwickeltes Niveau vorliegt oder ein solches zu erwarten ist.”

    Die logische Struktur der Aussage ist, dass ein Niveau vorliegt oder es zu erwarten ist, dass ein Nivau vorliegt. Will dieser Satz etwas sagen?

    Kurz und bündig war doch sicher einfach nur gemeint, dass der Junge ein höheres Anfangsnivau als seine Klassenkameraden mitgebracht hat.

    Man sollte auch beim Anwenden der (deutschen) Sprache nichts überspringen. Dieser Text zeigt schön, dass unser gehetzter Lebens- und Arbeitsstil nicht zur höheren Qualität der “Produkte” beiträgt. Ich hätte dem Jungen die Zeit gegeben, sich in Ruhe zu entwickeln.

  2. Falsch eingeschätzte Hochbegabung?

    Mit Frau Anette Schavan scheinen wir ja einen Fall von Hochbegabtenförderung mit Underachievement, wie es das Fachgebiet eines der Blogautoren ist, zu haben. Sie hat ihr Studium nicht mit einem Diplom sondern direkt mit einer Promotion abgeschlossen und nun stellt sich heraus, das selbst bei gutwilliger Betrachtung ernsthafte Mängel vorliegen.

    Nach der Diskussion um die Plagiate kann man nur unterstreichen, was im obigen Blog-Beitrag festgestellt wurde: “Das ‘Springen’ zieht zahlreiche Konsequenzen […] nach sich: […], da […] neben leicht reproduzierbaren Inhalten methodische Fertigkeiten entwickeln müssen.”

    War “Anette springt” vielleicht nicht die optimale Entscheidung?

    Siehe auch:
    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fachliteratur-aus-den-siebzigern-staerkt-vorwuerfe-gegen-annette-schavan-a-881078.html

  3. @ Akzeleration

    Nils “beschleunigt” nun seine Schullaufbahn: Ob das etwas mit Unruhe, schnellem Schreiben (ich habe etwas angepasst) oder Frau Schavan zu tun hat – davon interessiert doch letztlich nur die Unruhe bzw. nicht gegebene Ruhe. Denn das sind Gedanken, die die gesunde Entwicklung Nils’ betreffen. Welche Unruhe sollte kommen bzw. welche Ruhe gestohlen werden?

  4. “Springen”

    Nun, anzumerken wäre noch:
    Ob “springen/überspringen” oder nicht, mit der Ruhe ist es auf absehbare Zeit eh vorbei.
    Das soll nun kein Argument für das “Springen ins kalte Wasser” sein, aber auch keins dagegen. 😉

  5. scheint eindeutig

    Der Fall von Nils scheint eindeutig und unproblematisch. Doch stärkt die Schilderung dieses Falles leider einmal mehr den Hochleistergedanken. Ein höher begabtes Kind, fällt durch exzellente Leistungen in der Schule auf.
    Es bleibt darauf hinzuweisen, dass dem nicht immer so ist. Es gibt genügend Fälle, wo es nicht so eindeutig ist, wo das Kind in den beschriebenen Fertigkeiten deutlich voraus ist, aber vor lauter Langeweile und Abschaltenmüssen im Unterricht nicht (mehr) in der Lage ist sehr gute Leistungen zu zeigen. Einem solchen Kind wird leider allzuoft nicht geholfen.

    Das Potenzial sollte (neben anderen Punkten) sprungentscheidend sein, nicht die Hochleistung an sich. Das kam für meine Begriffe an der Stelle nicht deutlich genug herüber.

    Nils hingegen alles Gute. 🙂

  6. Jünger als der Rest 😉

    Da hat Nils aber Glück, so mancher “Leerer” guckt nur auf´s Geburtsdatum. Und ein Sprung erfolgt auf Probe, nach 5 Tagen wird das Urteil gefällt. Wer einfach nur Hochbegabt ist und den Stoff in doppelter Geschwindigkeit nachlernt muß, dann trotz sehr guten Noten nach 6-8 Wochen wieder zurück ;-(( traurig aber wahr.
    Was dann passiert ist klar, denn dann kann das HB´chen den Stoff der nächsten Klasse ja schon und die Laaaaaaaaaaaaaaangeweile wird noch größer, so das irgend möglich erscheint.

  7. Springen – frühe Einschulung

    Wir ‘mussten’ einen etwas anderen Weg einschlagen; eine sehr sehr frühe Einschulung war bei uns die Lösung…das nun bestehende Problem, das ein Sprung rein altersmäßig utopisch wird.
    Es ist und bleibt einfach unglaublich schwierig und auch der Sprung hält Nils vielleicht nicht lang genug auf…es muss dringend was am Bildungssystem getan werden!

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