Vom überschätzten Selbstwert

BLOG: Hochbegabung

Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Hochbegabte zu begleiten, ist immer wieder von herrlichem Staunen und Entdecken der Gedankenspiele und -produkte der menschlichen Spezies begleitet. Losgelöst von psychotherapeutischen Aspekten, so steht in vielerlei Hinsicht das Schlagwort Selbstwert auf dem Programm. Maik, in diesem Blogbeitrage mein 18-jähriger Ideengeber, besucht mich alle vier Wochen, reflektiert seine schulische und soziale Situation mit mir und wurde von Außenstehenden umschrieben als jemand mit Selbstwertproblemen.

Nun ja: Bei Maik ermangelt es nicht den typischen Beschreibungen von auffälligem Verhalten in der Schule, einem gewissen Egozentrismus und auch einer nicht zu verachtenden Starre beim Versuch Dritter, Kompromisse zu finden. Etwas zurückgezogen, nicht aber sozial desinteressiert, könnte man Maik zudem auch bezeichnen. Jedenfalls liegen seine schulischen Leistungen ein Jahr vor dem Abitur mittlerweile wieder im guten Durchschnitt, während nach sehr guter Grundschule eine miserable Mittelstufe zwischenzeitlich den Verbleib auf dem Gymnasium in Frage gestellt hatte. Nun sind wir durch.

Maik weiß darum, dass ihm von seinen Eltern und auch Lehrern unterstellt wird, Selbstwertprobleme zu haben und demzufolge eine Disposition zu auffälligem Verhalten. Die dahinter stehende Grundannahme ist in etwa so wiedergegeben, dass Selbstwertmängel durch Fremdaufmerksamkeit, die wiederum durch nicht-angepasstes Verhalten verursacht wird, kompensiert würden. Allein das ist schon ein Schmunzeln wert. Aber weiter im Text: Maiks nicht-angepasstes Verhalten besteht aktuell eher darin, Meinungen von Lehrern (so im Originalton) zu hinterfragen und hierbei gelegentlich grundlegende Gesprächsregeln zu missachten. „Früher war das auch so“, heute hingegen gehe es um die Sache oder um die Diskussionfreude, da in der Schule kaum Meinungen, sondern Fakten etwas zu suchen hätten.

Das Gerede über seinen Selbstwert sei fehl am Platze – und: der Selbstwert an sich doch ohnehin völlig überschätzt. In unseren Gesprächen hatten wir immer wieder Wertschätzung anderer, Selbstwertdienlichkeit und Dissonanzen beleuchtet, doch führt Maik hier seine Gedanken allein fort. Der Wert eines Menschen sei ja doch höchst individuell – solle man ihn an den Leistungen des Menschen festsetzen? An seinem Nutzen für die Gesellschaft? An äußeren Merkmalen? Wie misst man also Selbstwert?

Genährt von philosophischen Impulsen aus dem Religionsunterricht kommt er zu dem Schluss, dass der Selbstwert nicht messbar ist, sondern eine gegebene Größe. Sie ist nicht gleichzusetzen mit der Wertschätzung anderer, die zum einen nicht kontrollierbar sei und zum anderen den subjektiven Wahrheiten derer Köpfe entspringe. Die Frage ist eben nur, wer einem Selbstwert gibt. Die Antwort lautet: Nicht Mutter, nicht Vater, nicht Lehrer – eben jeder selbst. Die weiteren Überlegungen aber führten uns zur Annahme, dass der Selbstwert letztlich als „neutralisiert bzw. neutral“ zu bezeichnen ist, wenn man denn zur Erkenntnis gekommen sei, dass er individuell ist. Somit sind insbesondere die, die annehmen, sie hätten einen niedrigen Selbstwert aus Mangel an Wertschätzung anderer, dem Irrglauben verfallen, Wertschätzung anderer sei gleich dem eigenen Selbstwert. Da Maik Selbstwert und Wertschätzung anderer voneinander trennen kann, liegt für ihn somit kein Selbstwertproblem vor. Denn den gibt er sich ja selbst.

Stoisch anmutend, nicht? Daher sei das Schlusswort mit Epiktet geschrieben: „Es gibt nur einen Weg zum Glück und der bedeutet, aufzuhören mit der Sorge um Dinge, die jenseits der Grenzen unseres Einflussvermögens liegen.“

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Veröffentlicht von

Götz Müller ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT). Er arbeitet beratend und diagnostisch mit Familien hoch begabter Kinder und Jugendlicher. In der psychotherapeutischen Arbeit beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Underachievement bei Hochbegabten, hier insbesondere bei Jugendlichen.

5 Kommentare

  1. @Götz Müller

    cooler Artikel, da er beim Vorstellungsvermögen hilft. Viele gesellschaftliche Themen sind mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit verallgemeinert.

  2. @ Götz Müller

    Was für ein doch wirklich bemerkenswerter junger Mann.
    Kritisches Denken und Hinterfragen, in der Herausforderung anderer einen Ansporn zu sehen, und in Kauf zu nehmen, anzuecken, daran aber auch offensichliches Vergnügen zu haben, sicher dadurch seine Sichtweite zu erweitern, können für andere unbequeme Eigenschaften sein, finde ich aber in der heutigen Zeit sehr wünschenswert. Wie viele schwimmen im ‘seichten Strom’ der Mehrheit mit, und wagen nicht, wirklich zu ihren eigenen Ansichten zu stehen.
    Toll, dass er sich solche Gedanken macht, und in der Lage ist, derart zu differenzieren. Und sicher nicht verkehrt.
    Epiktet kannte ich nicht. (Danke für das Kennenlernen 😉 ) Seine Sichtweise spricht mir aus der Seele.
    So sehe ich Ihr Schlußwort in seinem Sinne, eingeschlossen seiner Vorstellungen von Pflichten und sittlichem Verhalten im Umgang mit unserem Umfeld,als ein sehr wünschenswertes an, dass sich jeder (wohlgemerkt nur unter den weiteren Voraussetzungen) zu eigen machen sollte.
    Auch ich bin seit (sehr) längerem dabei, dieses in verschiedener Hinsicht zu lernen, aufgrund nur wenig beeinflußbarer, krankheitsbedingter Lebensumstände.

    Ihnen wünsche ich eine möglichst große Leserschar für diesen wunderbaren Artikel 🙂

  3. Verstehe ich nicht

    Ich verstehe die Aussage des Artikels nicht.

    Ich sehe gerade nur die Erkenntnis, dass ein Selbstwert nicht von außen bestimmt wird, sondern die Einstellung zu sich selbst widerspiegelt. Dass das so ist steckt ja schon in dem Namen.

    Und dass man als 18-jähriger in der Lage ist, das selbst herauszufinden finde ich nun auch nicht so faszinierend.

    Was habe ich übersehen?

  4. @ cero

    In Kürze: Lösen wir uns vom Selbstwert und gehen zum generellen Wert eines Menschen über. Wie könnte dieser definiert werden?
    Pointiert findet sich auch hier kein Unterschied zwischen einem finnischen Bauern, Jack the Ripper, Winston Churchill oder wem auch immer. Teilen Sie diese Auffassung? Oder sehen Sie hier in der “Einstellung zu anderen” (als ENtsprechung IHres Verständnisses von Selbstwert als Einstellung zu sich selbst) nicht einen Widerspruch? Ist bsp. Berlusconi weniger wert, weil Sie eine negative Einstellung zu ihm haben? Wenn ja, erklären Sie bitte, warum Sie eine negative Einstellung zu ihm haben. Und dass sich dadurch sein Wert mindert. Wenn aber nun kein Kriterium für den Wert des Menschen (oder “Einstellung”) ableitbar ist, so gilt dies auch für den eigenen Wert. Und das hat Maik erkannt.
    Dass Selbstwert nicht von außen bestimmt wird, ist banal; die Frage ist, ob Maik Wertschätzung als Kriterium für Selbstwert ableitet (Typischer Vergleich: Ich bin besser, ich bin schlechter) – was mindestens die halbe Menschheit tut. Oder auch Leistung. Somit klären wir nicht nur sprachliche Begriffe, sondern gewinnen Erkenntnis über eine allzu menschliche Illusion.

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