Kipp-Punkte in der Arktis?

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In den letzten Wochen gab es einiges Medieninteresse am Thema klimatische Kipp-Punkte in der Arktis. Dies lag vor allem daran, dass der große Arktiskongress Arctic Frontiers in Tromsø seinen Wissenschaftsteil dieses Jahr dem Oberthema “Arctic Tipping Points” gewidmet hat.  Aber auch an einer Pressemitteilung des MPI in Hamburg, wonach das arktische Meereis keinen Kipp-Punkt habe. Letztere wurde teils mit Häme kommentiert, nach dem Motto: jahrelang haben die Klimaforscher uns erzählt, da gebe es einen Kipp-Punkt, und nun ist doch nichts damit. Teils wurde sie regelrecht in Entwarnung umgedeutet, etwa in der Tagesspiegel-Schlagzeile “Furcht um große Schmelze ist unbegründet”.

Die Realität der Forschung ist wie meist deutlich differenzierter und interessanter. Ich war bei Arctic Frontiers eingeladen, den Einführungsvortrag zum Thema “What is a Tipping Point?” zu halten (siehe Folien hier, und auch mein Foto des Monats auf meiner Facebook-Seite). Zunächst muss man zwei Dinge auseinanderhalten: die Diskussion um den Begriff und die Diskussion um die Physik.

Im weiteren Sinne versteht man unter einem Kipp-Element des Klimasystems ein Teilsystem (etwa das arktische Meereis oder das grönländische Kontinentaleis, um in der Arktis zu bleiben), das einen “Kipp-Punkt” aufweist. Das ist ein kritischer Punkt, an dem das System besonders sensibel ist. Dort kann eine kleine Ursache große Wirkung entfalten und zu einer einschneidenden Veränderung des Systems führen. Dies ist jedenfalls die Definition des ersten großen Review Papers zum Thema (Lenton et al., PNAS 2008, an dem ich auch als Autor beteiligt war). Sie wird im Paper mathematisch gefasst, entspricht aber im Wesentlichen auch der landläufigen Definition des bekannten Bestsellers “The Tipping Point” von Malcolm Gladwell in seinem Untertitel: “How Little Things Can Make a Big Difference”.

Grafisch kann man das etwa so darstellen:

Nun zur Physik (auf die Begriffsdebatte komme ich zurück). In der Umgebung der kritischen Grenze geht das System von einem Zustand in einen anderen über. Man kann zwei Fälle unterscheiden: entweder der Prozess ist zwar stark nicht-linear (durch positiven Feedback, daher der kritische Punkt) aber reversibel, oder er ist irreversibel. Im ersteren Fall kann ich die rote Kurve oben vorwärts und rückwärts gleichermaßen durchlaufen. Im zweiten Fall nicht, der Rückweg würde einen ganz anderen Verlauf nehmen. In meinem Vortrag habe ich diese beiden Typen von Tipping Points so dargestellt:

Wie die Grafik schon andeutet, gehört die arktische (Sommer-)Meereisdecke meines Erachtens zum reversiblen Typus. Darüber gab es in den letzten fünf Jahren eine lebhafte Fachdiskussion, zu der jetzt auch die neue Publikation des MPI einen Baustein beiträgt. Insbesondere nach dem Rekordminimum des Jahres 2007 wurde in der Eiscommunity die Frage gestellt: befindet das Eis sich jetzt quasi “im freien Fall”, in einer Todesspirale, die rasch zu einem im Sommer eisfreien Polarmeer führen wird? Oder kehrt das Eis bald wieder in die Nähe der Langzeittrendlinie zurück (die allein schon steil genug nach unten zeigt: verlängert man sie linear, ist das Polarmeer in 65 Jahren eisfrei)? Wetten wurden auf die Eisausdehnung 2008 abgeschlossen.

Der erste Fall würde eine Pfadabhängigkeit, ein “Gedächtnis” im System erfordern, wo die geringe Eisausdehnung 2007 dazu führt, dass es 2008 noch weniger Eis gibt, usw. Dagegen sprach, dass diese Diskussion ja nur um das Sommereis ging: im Winter, in der langen Polarnacht, friert alles wieder zu, es gibt also eine Art “Reset” des Systems, das im Frühjahr wieder mit nahezu kompletter Eisdecke startet. Die Befürworter argumentierten, das Gedächtnis sei in der Eisdicke: nach einer großen Schmelze wie 2007 würde im nächsten Jahr eine dünnere, sensiblere Eisdecke in die neue Schmelzsaison starten. Im September 2008 war klar: das Eis erholte sich wieder und lag 2009 wieder auf der Trendlinie; die Furcht vor einer raschen “Todesspirale” war offenbar unbegründet.

2009 erschien auch eine Sondernummer von PNAS zu Tipping Points, herausgegeben von PIK-Direktor Hans-Joachim Schellnhuber. Darin zeigte KlimaLounge-Gastautor Dirk Notz vom MPI Hamburg – für mich überzeugend – wieso das Sommer-Meereis sich reversibel verhält. Dünnes Eis wächst im Winter besonders schnell, ein stabilisierender Feedback. Ein anderes Paper von Eisenmann und Wettlaufer blies Anfang 2009 ins selbe Horn.

Ist das arktische Meereis nun ein Kipp-Element? Damit sind wir zurück bei der Debatte um Begriffe, die in der Wissenschaft auch wichtig ist. Nach der breiteren Definition von Lenton et al. wäre es eines (wie ich in meinem Arctic Frontiers Vortrag zeige); nach der strengeren, die Irreversibilität verlangt, wäre es keines. Für beide Definitionen gibt es gute Argumente für und wider. Unter den Autoren von Lenton et al. haben wir das auch kontrovers diskutiert, uns am Ende aber für die breitere Definition entschieden, weil ein Review Paper weniger eigene Positionen der Autoren als einen Überblick über die publizierte Fachliteratur bieten soll, wo de facto häufig der Begriff in diesem breiteren Sinne verwendet wird.

Das Paper entstand aus einer noch breiteren Diskussion in einem internationalen Workshop zum Thema Tipping Points im Oktober 2005 in Berlin (da habe ich übrigens eine Flasche Whiskey gewonnen beim Wettbewerb um die beste Übersetzung des Begriffs “Tipping Point” ins Deutsche: Trinkgeldabgabestelle). Es ist eines der meist-zitierten Klimapapers seit 2008 geworden – mit rund 150 citations unter den Top Ten der rund 50,000 Fachpublikationen, die seither zum Suchwort “climate” erschienen sind. Dabei wurde es damals in einigen Medien auch mit Häme verrissen, vor allem weil es – ebenfalls im Sinne eines breiteren Reviews und um nicht nur unsere eigene Einschätzung in den Vordergrund zu rücken – die Resultate einer Expertenbefragung mit einbezog. Das ist für mich inzwischen ein oft bestätigter Erfahrungssatz: die in den Medien am heftigsten kritisierten Papers finden die meiste Anerkennung in der Fachwelt.

Modellsimulation des MPI Hamburg über 1400 Jahre arktische Meereisbedeckung. In diesem Jahrhundert wird die Arktis im Sommer eisfrei (blaue Kurve). In den Messdaten geht es noch schneller als im Modell (schwarze Kurve). [Simulation mit dem COSMOS-Modell, A1B-Szenario, Jungclaus et al. 2010. Grafik: Lars Kaleschke.]

Ich persönlich werde bei der Definition von Lenton et al. bleiben, auch angesichts der breiten Akzeptanz des Papers. Für mich bleibt das Meereis ein Kipp-Element, das sich schon nach nur 0,8 ºC globaler Erwärmung mitten im Übergang in den eisfreien Zustand befindet. Dirk Notz hat in Tromsø auch darauf hingewiesen, dass die Winter-Meereisdecke wahrscheinlich sogar einen irreversiblen Kipp-Punkt besitzt.

In der Praxis macht es ohnehin keinen grundsätzlichen Unterschied, ob man im Zuge einer fortschreitenden globalen Erwärmung über einen reversiblen oder einen irreversiblen Kipp-Punkt hinwegfährt, wie die grünen Kurven in meinem Schemabild oben andeuten. (Das ist ein Argument für die breitere Definition.) Für Entwarnung in Bezug auf das Schwinden des Eises gibt es jedenfalls keinen Anlass. Erst wenn sich das Klima wieder abkühlt kann das Eis wesentlich schneller zurückkehren, wenn der Prozess reversibel ist. Diese Situation dürfte im 21. Jahrhundert allerdings illusorisch sein. Denkbar wäre im optimistischsten Fall, dass die Erwärmung rechtzeitig gestoppt wird, um noch kleine Reste des Eises zu erhalten – ein mögliches Refugium für die Restpopulationen von eisabhängigen Spezies in der kanadischen Arktis.

Stefan Rahmstorf ist Klimatologe und Abteilungsleiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Klimaänderungen in der Erdgeschichte und der Rolle der Ozeane im Klimageschehen.

22 Kommentare

  1. Kipp-Punkte in der Arktis

    Selbst wenn die Kipp-Punkte Arktis reversibel bleiben, gibt es ja noch die vielen anderen Kipp-Punkte des Weltklimasystems. Kein Grund zum Aufatmen, nur ein weiterer Strohhalm für die Skeptiker, alles anzuzweifeln.
    Genaueres weiß man sicher erst in einigen Jahren und dann rückblickend, ob das in der Arktis reversibel oder irreversibel ist/war. Man sollte die Medien wieder darauf hinweisen, dass um die Wahrheiten und die richtigen Formulierungen immer gerungen wird.

  2. Danke für die Aufklärung

    … ich war auch etwas verwirrt nach den Pressemeldungen, obwohl mir klar war, dass damit keine Entwarnung gegeben war. Es ist mir auch lieber, dass dies ein reversibler anstatt ein irreversibler Kipp-Punkt ist, anders als bei Grönland Eis. Aber das ändert nichts daran, dass es noch wesentlich stärkerer Anstrengungen zum Klimaschutz bedarf. Das hat ihr Beitrag noch mal deutlich gemacht, insbesondere der Graph der Modellsimulation des MPI.

  3. Ist Arctic geoengineering angezeigt?

    Besten Dank für die detaillierte Darstellung , Herr Rahmstorf.

    Die Meldung, die Arktiseisbedeckung sei reversibel – könne also auch schon bei geringer Abkühlung wieder zunehmen, auch wenn die Schmelze schon weit fortgeschritten ist -, die kürzlich durch die Presse ging, hat mich tatsächlich beschäftigt. Meine Frage: Macht dies die Vorschläge für Arctic geoengineering (siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Arctic_geoengineering ) obsolet oder bedeutet eine starke Abnahme des Sommereises dennoch einen gefährliche Zunahme der globalen Albedo und damit eine Verschiebung der Energiebilanz im Sinne einer Beschleunigung der Erwärmung, so dass arctic geoengineering auf alle Fälle in Betracht zu ziehen wäre?

    Ihr Artikel hier macht den Eindruck, dass mit der Veröffentlichung des MPI, die sie erwähnt haben, kein wirklich neues Wissen über die Entwicklung des Arktisklimas vermittelt wurde.

    Ist denn die Klimaentwicklung in der Artkis gut verstanden? Kürzlich las ich, das in die Arktis einströmende Wasser sei jetzt wärmer als je in den letzten 2000 Jahren (siehe http://www.arcticprogress.com/…st-in-2000-years/ ). Werden solche warmen Strömungen in den Modellen berücksichtigt? Sind sie überhaupt verstanden?

  4. Kipp-Punkte im Hirn

    Lieber Herr Rahmstorf,

    Eine Frage und ein Kommentar.

    Was ist im Begriff “Tipping Point / Kipp-Punkt” wirklich weiter gefasst als im Begriff einer “Bifurkation / Verzweigung” ?

    Zum einen gibt es sicher eine Antwort darauf, die auf SciLogs zu weit führen würde. Sie gaben im Paper (Lipton 2008, PNAS) vier Punkte ( (i)-(iv), Seite 1786) an, die ich aber nicht als so wesentlich erkenne. So dass es einen neuen Begriff in meinen Augen gar nicht bedarf. Es sei denn, weil er einfach viel einprägsamer ist. Ich frage mich, welcher Leser bei SciLogs mit dem Begriff Bifurkation/Verzweigung etwas anfangen kann. Tipping Point/Kipp-Punkte ist sehr bildlich und deswegen gut.

    Nun zu dem Kommentar.

    Es geht mir nun um die Außendarstellung solch komplizierter Phänomene wie “Tipping point”. In meinen ersten Beitrag habe ich zwar nicht gewagt Bifurkation in den Titel zu schreiben, stattdessen aber “Geist einer Sattel-Knoten-Verzweigung“. Ob ich verstanden wurde, ist eine andere Sache.

    Letztlich geht es sowohl bei einer möglichen Klimakatastrophe als auch bei fehlschlagenden Hirnfunktionen (oder dynamischen Krankheiten allgemein) um die Gefahr abrupter Änderungen.

    Ich denke auch für die Öffentlichkeit ist es interessant zu sehen, dass gewisse Phänomen universellen Charakter haben: Komplexe dynamische Systeme neigen dazu, abrupte Änderungen zu durchlaufen. Da gibt es keinen Platz für Skeptiker diese Gefahr an sich wegzudiskutieren.

    Wird dies erst einmal erkannt – und eine einheitliche Sprache würde dies unterstützen – würde sich sicher mancher Streit um einzelne Modelle erledigen. Aber wir leben in einer linearen Gedankenwelt.

    In diesem Sinne vielen Dank für Ihre spannenden Beiträge hier.

  5. Kippelemente

    @Herr Holzherr,
    Ich nehme an, Sie meinten [Zitat:
    … bedeutet eine starke Abnahme des Sommereises dennoch eine gefährliche Abnahme (nicht Zunahme !) der globalen Albedo und damit eine Verschiebung der Energiebilanz … Zitat Ende]
    Ansonsten an alle und speziell an Herrn Rahmstorf: Vielen Dank für die Behandlung dieser sehr interessanten Themen.

  6. Kipp-Punkte in der Arktis?

    Kipp-Punkte in der Arktis? Dazu eine Aussage des Vizedirektor des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, Prof. Dr. Heinz Miller:

    “Es gab acht Kalt-Warmzeit-Zyklen”, sagt er. Dabei reagierte der Nordpol (mit Temperaturänderungen bis zu 15 Grad in 20 Jahren) viel sprunghafter als der stabile Kälteklotz in der Antarktis, der 90 Prozent allen Eises birgt. Diese Daten von Nord- und Südpol widerlegen düstere Prophezeiungen, der Meeresspiegel könne in kurzer Zeit um mehrere Meter ansteigen. “Bis das Grönlandeis schmilzt, vergehen mehr als tausend Jahre”,versichert Miller. Denn es war in der Vergangenheit auch deutlich wärmer als heute, ohne dass die riesigen Gletscher verschwanden. Auch die Befürchtung, der aktuelle Klimawandel lasse das Treibhausgas Methan aus Sümpfen und Meeren ausgasen und das Klima “kippen”, finden die Glaziologen nicht bestätigt: “Wir sehen auch in wärmeren Zeiten keinen entsprechenden Anstieg des Methans.” Ähnlich wie bei den Eisbären unterscheidet sich die reale Welt von der gefühlten medialen Wirklichkeit. “Wer von Klimaschutz redet, weckt Illusionen”, mahnt Miller zu Bescheidenheit. “Klima lässt sich nicht schützen und auf einer Wunschtemperatur stabilisieren. Es hat sich auch ohne Einwirkungen des Menschen oft drastisch verändert.” Schlagworte wie Klimakollaps oder -katastrophe hält er für irreführend. “Das Klima kann nicht kollabieren, Natur kennt keine Katastrophen.” Was wir Menschen als Naturkatastrophen bezeichneten, seien in Wahrheit Kulturkatastrophen – weil unser vermeintlicher Schutz vor äußeren Unbilden versage. “Wer Häuser dicht am Strand, am Fluss oder in Lawinengebieten baut, muss mit Schäden rechnen”, sagt er.

    Quelle: Der Bohrer im Eis, DIE ZEIT, 06.06.2007, S.40

    Erinnert sei auch an die Eem Warmzeit vor rund 120,000 Jahren. Die Temperaturen in der Arktis waren um 3-5 ºC wärmer als heute. Auch diese Warmzeit war für das Meereis der Arktis reversibel. Erinnert sei weiter an die Dansgaard-Oeschger-Ereignisse. Im Verlauf des letzten Glazials (Weichsel-, Würm-Eiszeit zwischen 10 000 und 100 000 v.h) kam es mehr als zwanzig Mal zu solchen plötzlichen Erwärmungen (Dansgaard-Oeschger-Events).

    [Antwort: Auf das Eem folgte ja die große Eiszeit, sodass das Eis auf jeden Fall zurückgekommen ist, egal ob der Prozess im oben diskutierten Sinne reversibel ist (also “Rückwärts” dem selben Pfad folgt, rote Kurve) oder ob das Eis erst bei kälteren Temperaturen zurückkommt als es verschwindet (Hysterese). Aus den Eiszeitzyklen können wir also die oben diskutierte Frage nicht beantworten, auch nicht aus den Dansgaard-Oescher Ereignissen. Übrigens war im Eem der Meeresspiegel 4-6 Meter höher als heute und auch die Anstiegsraten haben früher zeitweise 1 Meter pro Jahrhundert deutlich überschritten, Herrn Millers “Entwarnung” kann ich in der Sache nicht nachvollziehen. Beim Klimaschutz geht es ja auch nicht darum,natürliche Klimazyklen (etwa die in rund 50,000 Jahren fällige nächste Eiszeit) zu verhindern, sondern den Einfluss des Menschen auf ein handhabbares Maß zu begrenzen. Stefan Rahmstorf]

  7. Angenommen, die 2011er Kurve verläuft in weiterer Folge wie die mambagrüne 2006er Kurve; dann ist auch 2011 nichts Besonderes “passiert”; Lassen wir uns also überraschen, wie sich letztlich das “minimum sea ice extent” Mitte Sept.2011 präsentiert.

  8. @Markus A. Dahlem

    Das Buch von Gladwell ist mir zwar nicht bekannt, aber nach der bei Lenton et. al gefundenen Definition verstehe ich “tipping point” eigentlich als einen Neologismus für das, was Mathematiker “Katastrophe” nennen. Wobei eine “Katastrophe” definiert wird als eine abrupte Zustandsänderung eines Systems in Abhängigkeit von einer kontinierlichen Änderung seiner Zustandsparameter.

    Ihre Frage, ob der Begriff “tipping point” wirklich weiter gefasst ist als der einer Bifurkation, wäre jedenfalls dann mit Ja zu beantworten, wenn man “tipping point” und “Katastrophe” als synonym akzeptiert. — Falls Sie es nicht schon kennen, dann könnte Sie dies vielleicht interessieren:

    V.I. Arnold. Catastrophe Theory. Springer, 2nd ed., 1986.

    N.B. Ich sehe gerade noch, die 3rd ed. ist umfangreicher und bei google.books vorhanden:
    http://books.google.com/books?id=GQoQyqia45gC

  9. Arktisschmelze beendet Eiszeitalter?

    @Toni Erlbacher
    Die Albedo (von lateinisch “Weissheit”) nimmt bei abnehmender Eisbedeckung ab – besten Dank für die Berichtigung.

    Nun zu etwas anderem: Die Arktis erscheint mir fast als Labormodell für die Klimaentwicklung, denn mit den Bestandteilen Eis, Wasser und ein paar dünnen Wolken scheint die Arktis überschaubar (quasi ein Labormodell). Wenn man schon regionale Klimavoraussagen machen kann, dann doch wohl für die Arktis – so denke ich mir das als Laie. Dass die Arktis jetzt zunehmend eisfrei wird, während der Südpol (noch) nur subtile Klimaveränderungen zeigt, erscheint mir wie eine Umkehrung des Beginns unseres Eiszeitalters als zuerst der Südpol vergletscherte und erst viel später der Nordpol von einer permanenten Eiskappe bedeckt war. Eine eisfreie Arktis wäre also der erste Schritt zur Beendigung unseres Eiszeitalters (quasi wie ein Filmrücklauf). Allerdings habe ich mich belehren lassen, dass der Mensch mit seinen CO2-Emissionen das Klima wohl nur für einige zehntausend Jahre ändert – für menschliche Massstäbe ist das allerdings lange genug.

  10. Arktiseis

    @Krüger
    “Erinnert sei auch an die Eem Warmzeit vor rund 120,000 Jahren. Die Temperaturen in der Arktis waren um 3-5 ºC wärmer als heute. Auch diese Warmzeit war für das Meereis der Arktis reversibel.”

    Im Gegensatz zu früher hat die moderne Gesellschaft in 150 Jahren einen CO2-Spiegel in der Luft geschaffen wie seit ca. 1.000.000 Jahren nicht.

    Wenn also das Arktiseis in -sagen wir mal- 50 Jahren im Sommer weg wäre, würde das CO2 einer “Reversibilität” im Wege stehen, denn es ist ja für dessen Verschwinden ursächlich. Diesen Unterschied sollten Sie nicht ignorieren.

  11. @Bleyfuß

    Im Gegensatz zu früher hat die moderne Gesellschaft in 150 Jahren einen CO2-Spiegel in der Luft geschaffen wie seit ca. 1.000.000 Jahren nicht.

    Jedenfalls nicht nach den CO2-Rekonstruktionen aus Stomata-Daten.

    Wenn also das Arktiseis in -sagen wir mal- 50 Jahren im Sommer weg wäre, würde das CO2 einer “Reversibilität” im Wege stehen, denn es ist ja für dessen Verschwinden ursächlich. Diesen Unterschied sollten Sie nicht ignorieren.

    1. Setzen Sie dabei voraus, dass das CO2 für das Abschmelzen ursächlich ist. Wenn überhaupt, dann sind es die Rückkopplungseffekte.

    2. Lag der CO2-Gehalt über die letzten 500 Mio. Jahre hinweg gesehen zumeist deutlich höher als heute. Das hat das System Erde nicht daran gehindert von einem warmen Zustand in einen kälteren zurückzukehren, oder umgekehrt. Der Prozess war also immer reversibel. Offensichtlich ist CO2 auch nicht der Haupttreiber im Klimasystem, sondern nur ein Treiber, welcher auf positive Rückkopplung angewiesen ist. Das sollte man dabei nicht vergessen.

  12. AWI, Kipp-Punkte

    @ Michael Krüger

    “Kipp-Punkte in der Arktis? Dazu eine Aussage des Vizedirektor des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven, Prof. Dr. Heinz Miller”

    Wenn Sie schon das AWI zitieren, so wäre es schön, wenn Sie uns mitgeteilt hätten, dass auch Sie AWI-Mitarbeiter sind, Herr Krüger.

    Ihr Kollege Mark Serreze, ebenfals AWI-Mitarbeiter, äussert sich ganz klar zur arktischen Meereisentwicklung: “Ein eisfreier arktischer Ozean im Sommer ist unvermeidlich.”

    Was spielt es da letztlich für eine Rolle, ob das arktische Meer mit oder ohne Kipp-Punkt im Sommer der nächsten Dekaden eisfrei sein wird?

  13. Bifurkation

    Zumindest die Abiturienten dieser Welt würden das Thema besser verstehen, wenn man die logistische Gleichung in den Unterrichtsstoff aufnehmen und dafür Latein 😉 entfernen würde.
    Bifurkation und Übergang ins Chaos lassen sich damit doch wunderschön anschaulich darstellen.

    Wobei das Seeeis natürlich nur ein simpler Schalter, eher wie eine Diode mit Durchbruchsspannung ist und wesentlich einfacher und nicht chaotisch.

    Aber schauen wir der Tatsache ins Auge: Die Menschheit ist zu ungebildet und zu sehr dem Glauben an die eigenen Fantasiewelten verpflichtet (Kreationismus in Amerika, Islam ist die Lösung, den Ökonomen ist Geld wichtiger als Energie, etc.), als das wir nicht in die +6° Welt kommen könnten.

    Ich befürchte Clatu hatte doch Recht.

  14. @Chrys

    Ich hatte die Katastrophentheorie immer als Teilbereich der Verzweigungstheorie (d.h. Bifurkationstheorie) angesehen. Dann wäre der Begriff eher enger gefasst.

    Die im PNAS nun etwas weiter gefasste Definition von Tipping Points, z.B.

    “(iii) there may be no abruptness, but a slight change in control may have a qualitative impact in the future”

    schienen mir daher nun auf die allgemeine Bifurkationstheorie hinaus zu laufen.

    Tipping point, bzw Kipp-Punkt ist gegenüber Katastrophen-Punkt sicher erst mal etwas weniger reißerisch.

    Ich sehe hier also neben der exakten wissenschaftliche Definition und Abgrenzung auch den Punkt der wissenschaftlichen Kommunikation. Diese ist nicht nur in der Öffentlichkeit wichtig, sondern auch innerhalb der wiss. Gemeinschaft.

  15. @Krueger
    “Jedenfalls nicht nach den CO2-Rekonstruktionen aus Stomata-Daten.”

    Stomatadaten sind von einer Reihe von Nebenbedingungen abhängig z. B. Wasserversorgung Temperatur. Da würde ich den direkt gemessenen Konzentrations-daten aus Eisbohrkernen mehr Aussage-kraft beimessen.

    2. Lag der CO2-Gehalt über die letzten 500 Mio. Jahre hinweg gesehen zumeist deutlich höher als heute.

    OK, wenn Sie die Zeitachse nach Belieben strecken, können Sie zu allen erdenklichen Ergebnissen kommen. In 10 Mrd. Jahren wird’s ziemlich warm hier mit oder ohne Arktiseis.

    “Wenn überhaupt, dann sind es die Rückkopplungseffekte.”

    Spitze! Ja genau die.

  16. @Markus A. Dahlem

    Ihre Einordnung von Katastrophentheorie ist absolut plausibel und insbesondere dann naheliegend, wenn man bevorzugt auf Dynamische Systeme fokussiert ist. Zur Klärung der Begriffsbildung lassen Sie mich aber noch Vladimir Arnold hier selbst zu Wort kommen [Arnold1994, p. 209]:

    The term catastrophe was introduced by R. Thom (1972) in order to denote a qualitative change in an object as the parameters upon which it depends change smoothly. This term, replacing the previously used terms bifurcation, perestroika, and metamorphosis, gained wide popularity after Zeeman (1976) suggested the use of the name catastrophe theory to unite singularity theory, bifurcation theory and their applications.

    Anders als in der von mir zuvor gegebenen Formulierung tritt das Wort “abrupt” hier auch nicht mehr auf. In dem 1986er Büchlein (p. 2) hat Arnold es so ausgedrückt:

    Catastrophes are abrupt changes arising as a sudden response of a system to a smooth change in external conditions.

    Eine abstrakte Definition von “tipping point” ist mir nicht bekannt. Der Begriff, wie er bei Lenton et al. gebraucht wird, ist noch sehr speziell anwendungsbezogen und bedarf aus mathematischer Sicht zumindest der weiteren Interpretation. Die Frage, die Sie offenbar auch beschäftigt, ist ja die, ob mit den “tipping points” etwas konzeptionell Neues ins Spiel kommt. Nach meinem bisherigen Eindruck ist dies nicht der Fall. (Die Supporting Information zu den “tipping elements” habe ich aber gerade erst gefunden.)

    Präzisierend zu meiner vorherigen Anmerkung erscheint — wenn überhaupt — eine Gleichsetzung allenfalls zwischen den Bezeichnungen “catastrophe” und “irreversible tipping point” gerechtfertigt. Bei einem “reversible tipping point” ist mir noch nicht so klar, warum sich das System nicht in jeder Hinsicht regulär verhalten sollte, was dann aber auch die Abwesenheit von Bifurkationen bedeuten würde.


    [Arnold1994] http://books.google.com/books?id=KhCQcU0l1lIC

  17. @Michael Krüger

    Das Zitat des von Ihnen angeführten Prof. Miller “Das Klima kann nicht kollabieren, Natur kennt keine Katastrophen”, erscheint mir etwas blauäugig, um nicht zu sagen schönfärberisch zu sein. Es kommt natürlich darauf an, wie man “Katastrophe” definiert. Im Laufe der Erdgeschichte kam es jedoch immer wieder zu ökologischen Krisen, für die mir kein anderes Wort als “Katastrophe” einfällt (wie an der Perm-Trias-Grenze, als über 90 Prozent der damaligen Lebensformen innerhalb einer geologisch extrem kurzen Zeit ausstarben).

    Bei genauerer Betrachtung der fünf großen Massenaussterben fällt auf, dass das Klima – aus welchem Grund auch immer – sehr wohl kurzfristig “kollabiert” ist. Wobei diese Klimaschwankungen umso verheerender auf die betroffenen Organismen wirkten, je schneller sie erfolgten.

    Zur Rolle des Kohlenstoffdioxids als Treibhausgas ist zu sagen, dass Vergleichsszenarien aus dem Paläozoikum nicht wirklich weiterhelfen. Es gab sicherlich Extremwerte wie im Kambrium, als der CO2-Gehalt bei rund 6000 ppm lag, allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass
    – damals keinerlei Landpflanzen existierten
    – die Kontinente und Meeresströmungen ein völlig anderes, noch wenig erforschtes Klimasystem bildeten
    – die Erdbahnparameter eventuell ebenfalls in größerem Ausmaß schwankten
    – und die Strahlungsleistung der Sonne definitiv geringer war als heute

    Dabei ist die Rolle des CO2 nicht nur in Wechselwirkung mit den oben genannten Faktoren zu sehen, sondern auch in Bezug auf die damalige atmosphärische Zusammensetzung. So lag der Sauerstoffanteil zu Beginn des Erdaltertums bei 2%, stieg kurz nach dem Ordovizium auf 12%, erreichte den Peak im Karbon mit 35% und fiel am Ende des Perm-Zeitalters wieder auf 12 bis 16%.

    Klima ist ein kompliziertes Geflecht diverser Wechselwirkungen und Einflüsse. In diesem System spielt das CO2 eine wichtige, aber nicht immer die absolut dominierende Rolle. Für die Gegenwart allerdings trifft dies meines Erachtens nicht zu – hier ist CO2 eindeutig der Klimafaktor Nr. 1.

  18. Besonderheiten und Einfachheiten

    @Chrys

    So wie ich es jetzt sehe, werden bei der “singularity theory” noch algebraische Singularitäten (d.h. Besonderheiten) betrachtet, also solche Besonderheiten, die sich nicht in Gleichungen von sich zeitlich veränderlichen Systemen ergeben (Differentialgleichngen) sondern in einfachen Gleichungssystemen (Algebra also).

    Das scheint mir nicht zentral für die öffentliche Darstellung. Aber es ist doch eine konzeptionelle Erweiterung wenn algebraische Zwangsbedingungen mit Singularitäten in Differentailgleichungen auftreten.

    Ist das gemeint?

  19. @Markus A. Dahlem

    Die Zusammenhänge lassen sich am Beispiel der Zeeman Katastrophenmaschine recht gut illustrieren. Hier ist ein kleines Paper, wo deren dynamisches Verhalten genauer studiert wird:

    T.J. Litherland, A. Siahmakoun. Chaotic behavior of the Zeeman catastrophe machine. Am. J. Phys. 63 (5), 1995, 427-431.

    Dazu ein Link (wenn nicht funktioniert, google scholar hilft):
    http://adsabs.harvard.edu/abs/1995AmJPh..63..426L

    In der Notation dieses Papers, ein Zustand der Maschine ist durch drei Variablen gekennzeichnet, nämlich die control parameters x, y, und den internal parameter θ. Die Gesamtheit aller Zustände bildet dann eine Fläche, gegeben durch eine Gleichung f(x,y,θ) = 0. Die interessierenden Singularitäten sind dann gerade die singulären Punkte (und singulären Werte) der Projektion dieser Fläche in die (x,y)-Ebene,

    π : {f(x,y,&theta) = 0} → {(x,y)}, def. durch π(x,y,&theta) := (x,y).

    In Fällen, wo man nur unzureichende Kenntnis der Dynamik eines Systems hat, aber viel über dessen mögliche Zustände weiss, kann so etwas dienlich sein, um dennoch Aussagen über qualitative dynamische Eigenschaften zu erhalten.


    Wie bereits erwähnt, das Buch von Malcolm Gladwell kenne ich nicht, zwischenzeitlich habe ich aber noch eine Rezension im Web gefunden, deren Verfasser offenkundig auch sofort die Tipping Points mit den Katastrophen assoziiert hat:
    http://www.mclemee.com/id104.html

    Dass das Wort Katastrophe bisweilen eine andere als die umgangssprachlich abgeschliffene Bedeutung haben kann, dürfte einer breiten Öffentlichkeit in der Tat aber praktisch nicht zu vermitteln sein. Ein Klimatologe kann es vermutlich gegenwärtig überhaupt nicht verwenden, ohne sich damit unmittelbar dem plakativen Vorwurf einer alarmistisch übertriebenen Sprechweise auszusetzen.