Wofür sollten Forscher eintreten?

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Gavin Schmidt, Vizedirektor des NASA-Klimaforschungsinstituts GISS in New York, hat kürzlich bei der großen Jahrestagung der American Geophysical Union (22.000 Teilnehmer) einen bemerkenswerten Vortrag darüber gehalten, wie Forscher sich an öffentlichen Debatten beteiligen sollten. Wer sich für Wissenschaftskommunikation interessiert, sollte sich ihn anhören.

Inwieweit sollten Wissenschaftler sich in der öffentlichen Diskussion engagieren, und welche Ratschläge dazu kann ein erfahrener Wissenschaftskommunikator geben? Gavin Schmidt ist langjähriger Klimablogger (vor neun Jahren hat er u.a. mit mir den Klimablog Realclimate gegründet), Buchautor und Träger des Climate Communication Prize der AGU. Mit seinen Empfehlungen für ein verantwortungsvolles öffentliches Engagement spricht er mir und sicher vielen Kollegen aus dem Herzen.



Bewegend fand ich den Vortrag (den ich nicht vor Ort sondern wie oben online gesehen habe) auch durch die eingebauten Videoclips mit Steve Schneider in Aktion, mit dem mich bis zu seinem allzu frühen Tod eine persönliche Freundschaft verband und der schon vor über zwanzig Jahren diese Fragen tief durchdacht und fast alles Wesentliche dazu gesagt hat (siehe unseren Nachruf). Gavin Schmidt verbeugt sich vor ihm gleich zu Anfang mit der Aussage, dass sein Vortrag eigentlich nichts enthält, was Steve nicht schon vor langer Zeit gesagt hat.

Sind Wissenschaftler wertfrei und objektiv?

So erläutert Schneider in einem der Clips (noch mit Folienschreiber auf Overheadfolien!), dass niemand wertfrei oder völlig objektiv ist. Wer sich an der öffentlichen Diskussion beteiligt, sollte sich daher selbstkritisch über seine Motive und Werte klar werden und diese auch offen legen. (Das habe ich z.B. bei der Gründung der KlimaLounge 2008 in meinem ersten Beitrag Die Bringschuld der Klimaforscher versucht.)

Jeder Wissenschaftler hat das Recht, für seine Überzeugungen öffentlich einzutreten – in einer freien Gesellschaft eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die aber doch erwähnt werden muss angesichts diverser Versuche in den USA und Kanada, Klimaforschern an Regierungsinstituten einen Maulkorb anzulegen. Natürlich dürfen Forscher auch politische Meinungen äußern – einige (wenige) Klimaforscher äußern sich auch dezidiert politisch, etwa wenn James Hansen für Atomkraft eintritt, der Brite Myles Allen eine gesetzlich verordnete Quote zur Abscheidung und Speicherung von CO2 für den Königsweg hält oder wenn Hans von Storch empfiehlt, Geld lieber für Anpassung als für Vermeidung des Klimawandels auszugeben. Ich teile keine dieser Meinungen, würde aber jederzeit für das Recht der Kollegen streiten, sie zu äußern.

Zum Recht auf freie Meinungsäußerung gehört aber auch ein verantwortungsvoller Umgang damit. Die Öffentlichkeit kann von Wissenschaftlern zu Recht erwarten, dass sie Daten und Studien so nüchtern, kritisch und objektiv wie möglich einschätzen auf Basis von deren methodischer Qualität (wer sonst soll das können), und sich nicht etwa Wunschdenken hingeben nach dem Motto: ich finde alle Studien gut, die meine Meinung unterstützen (das meinen Schmidt und Schneider mit dem “influence of values on priors”, im Bayesianischen Jargon). Ein Wissenschaftler muss seine Einschätzung ständig selbstkritisch der Datenlage anpassen und nicht umgekehrt die Fakten so hindrehen, dass sie zu seiner einmal gefassten Meinung passen. Das ist eine Frage der Professionalität und gehört zu den Kernwerten von Wissenschaft.

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Eine Folie aus Gavin Schmidts AGU-Vortrag

Steve Schneider hat immer wieder auf den Unterschied von Forschern und Rechtsanwälten hingewiesen: von einem Anwalt wird erwartet, dass er nur die Argumente anführt, die für seinen Mandanten sprechen und nicht etwa für die Gegenseite. Ein Wissenschaftler muss dagegen gleichermaßen die Argumente würdigen, die für ebenso wie gegen seine Lieblingsthese sprechen. (Abschreckende Beispiele des Gegenteils findet man zuhauf bei den „Klimaskeptikern“, die jeden Artikel bejubeln, der den Klimawandel verharmlost, und sei er auch noch so methodisch unsinnig.)

Auch sollte immer klar sein, wann man seine persönliche Meinung kund tut und wann man für eine Institution spricht. Bei Wissenschaftlern ist in der Regel vom Ersteren auszugehen, denn Forschungsinstitute (wie unseres) haben in der Regel überhaupt keine „offizielle Position“ zu irgendwelchen Themen, sondern die Forscher sprechen für sich und können natürlich auch unterschiedliche Meinungen innerhalb eines Instituts haben. Bei Funktionsträgern des IPCC ist es aber z.B. wichtig zu wissen, wann sie ein Ergebnis des IPCC-Prozesses präsentieren und wann ihre eigenen Gedanken.

Für den „normalen“ Wissenschaftler eher relevant ist, dass sie von der Öffentlichkeit allgemein als Repräsentanten ihres Faches wahrgenommen werden und daher eine Verantwortung haben darzustellen, was der akzeptierte Wissenstand ihres Faches ist und wo ihre möglicherweise davon abweichende Meinung beginnt. (Beispiel: seit etwa fünf Jahren bin ich pessimistischer über den künftigen Meeresspiegelanstieg als der IPCC. Ich würde aber natürlich nicht der Öffentlichkeit meine Einschätzung als allgemeinen Wissensstand darstellen, sondern ich erläutere was die Aussagen des IPCC sind und nenne die Gründe, weshalb ich persönlich die IPCC-Zahlen für zu niedrig halte.)

Generell gehört es m.E. zu einer niveauvollen Diskussion, die eigenen Aussagen belegen zu können. Dabei muss in einem Interview oder Zeitungsartikel natürlich nicht stets die Quelle genannt werden (online kann sie aber verlinkt werden), aber es ist gut die Quelle im Hinterkopf zu haben und auf Rückfrage nennen zu können. (Manchmal wünscht man sich auch, Journalisten würden öfters kritisch nach Belegen nachhaken.)

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Ganz so einfach wie im Cartoon ist die reale Welt leider nicht…

Die Grenzen der Expertise

Eine weitere relevante Frage ist die, wo die Grenzen der eigenen fachlichen Expertise liegen. Hier sollte man möglichst transparent machen, wo man Expertise durch eigene Forschungsarbeit hat, wo man noch Experte ist weil man die relevante Fachliteratur regelmäßig im Original verfolgt, und wo allmählich die Meinung über Fragen beginnt, zu denen man eher als gut informierter Bürger und nicht als Experte spricht. Die Übergänge sind da natürlich fließend.

Bei Klimaforschern taucht dieses Thema meist auf, wenn man nach Lösungen gefragt wird. Die meisten Klimaforscher sind Experten für die Diagnose des Problems, sie können die Risiken unbegrenzter Treibhausgasemissionen benennen und durchaus auch der Öffentlichkeit ihre Einschätzung vermitteln, für wie dringend sie das Problem halten. Ich persönlich würde das sogar im Sinne einer Verantwortungsethik zu den Pflichten der Klimaexperten zählen.

Aber nur in wenigen Klimainstituten wird (wie bei uns im PIK) zugleich auch zu Fragen wie dem Umbau des Energiesystems oder der Ökonomie von Emissionshandelssystemen geforscht. Und trotz der Nähe zu den Ökonomen und Energieexperten im eigenen Haus, und auch nach langjähriger intensiver Zusammenarbeit mit solchen Experten im Wissenschaftlichen Beirat für globale Umweltveränderungen (WBGU), bin ich natürlich kein Experte auf diesem Gebiet. Daher halte ich mich mit politischen Einschätzungen in der Öffentlichkeit zurück – außer ich vertrete explizit Empfehlungen und Einschätzungen, die wir uns im WBGU nach intensiver Diskussion und Expertenanhörungen erarbeitet haben, wie es dem öffentlichen Auftrag des WBGU entspricht.

Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht jeder Klimaforscher zu den Lösungsmöglichkeiten etwas sagen kann oder sollte. Im Gegenteil: sozialwissenschaftliche Forschung zeigt, dass ein wesentlicher Grund für die Passivität gegenüber dem Klimaproblem darin besteht, dass viele Menschen sich hilflos fühlen und die Lösungsoptionen nicht kennen. Über die Lösungsmöglichkeiten zu sprechen ist daher wichtig und auch für einen Naturwissenschaftler möglich, ohne dass man sich als Experte für Energie oder Wirtschaft ausgeben muss. Man kann sich dabei z.B. auf Berichte der entsprechenden Experten beziehen, so wie sich etwa Ökonomen auf die naturwissenschaftliche Arbeitsgruppe 1 des IPCC beziehen. (Beispiel: ich kann z.B. in einem Kommentar schreiben: „Das Global Energy Assessment kommt zu dem Schluss, dass die weltweiten Investitionen in die Energieinfrastruktur um 50 bis 100 Prozent erhöht werden müssen, um die [zur Begrenzung der Erwärmung auf 2 °C nötige] Transformation zu schaffen.“ Damit gebe ich mich nicht selbst als Energieexperte aus sondern verweise auf eine Folgerung eines aktuellen und wichtigen Berichts zahlreicher Energieexperten.)

Generell sind Klimaforscher im Vergleich zu anderen Berufsgruppen mit politischem Engagement aber sehr zurückhaltend. So haben z.B. mehrere Ärzteverbände (u.a. die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie) in Bayern 2009 das Volksbegehren zum Rauchverbot unterstützt und sich im folgenden Wahlkampf zum Volskentscheid aktiv engagiert – ein ähnliches politisches Engagement einer Wissenschaftlerorganisation für Klimaschutz ist mir nicht bekannt und wäre gegenwärtig auch schwer vorstellbar. Dabei haben beide Anliegen übrigens gemeinsam, dass sie aus gesellschaftlicher Verantwortung motiviert und gegen die eigenen Partikularinteressen dieser Berufsgruppen sind: Lungenärzte verringern durch ein Rauchverbot ihre potenzielle Patientenzahl, und Klimaforscher schaden mit der Aussage “wir wissen längst genug, um zu handeln” der Finanzierung ihrer künftigen Forschung.

Ein Beispiel aus der Praxis

Angenommen Sie sind Naturwissenschaftler und Klimaforscher, und nach einem öffentlichen Vortrag fragt jemand aus dem Publikum, ob der Emissionshandel Sinn macht oder ob nicht eine CO2-Steuer besser wäre. Was antworten Sie?

(a) „Ich bin Physiker, da muss ich passen“. Eine völlig legitime Antwort, und bei Fragen, von denen man nichts versteht, sicher die beste. Wenn man allerdings auf alle Fragen außerhalb des eigenen Forschungsthemas so antwortet, wird man wohl das Publikum enttäuschen und für einen „Fachidioten“ ohne Interesse an den weiteren Implikationen des Themas gehalten werden. Damit ist man nicht wirklich diskursfähig.

(b) „Ich bin kein Ökonom, aber ich weiß, dass es unter Ökonomen dazu eine Debatte gibt. Befürworter des Emissionshandels führen die Vorteile A und B an, die Befürworter der Steuer deren Vorzüge X und Y.“ Diesen Weg habe ich im konkreten Fall gewählt. Auch wenn man kein Experte ist, weiß man zu solchen Fragen doch meist mehr als das durchschnittliche Laienpublikum und kann Grundkenntnisse über den Diskurs vermitteln, die den Menschen bei der eigenen Meinungsbildung helfen. Meines Erachtens steht es Klimaforschern auch gut an, sich über derartige Diskurse zur Klimapolitik gut informiert zu halten, um mitreden zu können.

(c) „Ich bin kein Ökonom, halte aber persönlich den Emissionshandel aus Gründen A und B für besser geeignet.“ Auch eine gute Antwort – man stellt klar, dass man hier außerhalb der eigenen Expertise als Forscher spricht, dass man sich aber als interessierter Bürger eine begründete Meinung dazu gebildet hat und vertritt.

(d) „Emissionshandel ist auf jeden Fall besser.“ Fragwürdig: eine eigene Meinung wird wie ein akzeptiertes Faktum präsentiert, es werden keine sachlichen Gründe angeführt, und es fehlt der Hinweis, dass man hier außerhalb des eigenen Fachgebietes spricht.

In anderem Kontext hätte ich auch (c) wählen können, denn ich habe eine Meinung zu dieser Frage. Die würde ich etwa bei einem kleineren Workshop von Klimaschutzaktiven zur Diskussion stellen, wo Grundkenntnisse der Debatte zum Emissionshandel schon vorhanden sind und explizit nach meiner Meinung dazu gefragt wird. Die passendste Antwort hängt immer auch vom Publikum ab.

Ehrlich und/oder effektiv?

Ein klassisches Problem und Dilemma der Wissenschaftskommunikation ist es, die Dinge für den normalen Medienkonsumenten kurz, prägnant und verständlich rüberzubringen, ohne dass es dabei falsch wird. Bei komplexen Themen mit Unsicherheiten ist das nicht einfach. Dieses Dilemma hat Steve Schneider in den 1980er Jahren einmal so formuliert:

This ‘double ethical bind’ we frequently find ourselves in cannot be solved by any formula. Each of us has to decide what the right balance is between being effective and being honest. I hope that means being both.

Gavin Schmidt bringt in seinem Vortrag auch dieses Zitat – das vor allem dadurch berühmt wurde, dass „Klimaskeptiker“ es unter Weglassung des letzten Satzes für die Behauptung missbraucht haben, Schneider habe für Unehrlichkeit und Übertreibung der Risiken plädiert. (Einmal war ich in einer Journalistenrunde in der Welt-Redaktion dabei, als von Storch dieses verstümmelte Zitat so als Beleg für seine abwegige Lebensthese präsentierte, die Klimaforscher würden absichtlich übertreiben.) Wer Steve ein wenig kannte, der wusste, dass nichts falscher sein könnte als dies.

Wie kein anderer hat Steve Schneider sich damit auseinander gesetzt, wie eine offene, redliche Beteiligung von Forschern an der öffentlichen Diskussion aussehen kann. Dass Wertefragen nicht von Experten entschieden werden sollten, dass diese sich aber aktiv in die Debatten einbringen sollten, ist für Gavin Schmidt ebenso klar wie für Steve Schneider oder mich selbst: wenn die Experten es nicht tun, überlassen sie die Debatte denen, die wenig oder nichts vom Thema verstehen oder nur ihre Partikularinteressen vertreten. Und das führt nicht unbedingt zu den klügsten Entscheidungen.

Schmidt endet seinen Vortrag mit einem bekannten Zitat von Sherry Rowland (von dessen Förderung meiner Arbeit ich als junger Wissenschaftler sehr profitiert habe), der in seiner Nobelpreisrede sagte:

What’s the use of having developed a science well enough to make predictions if, in the end, all we’re willing to do is stand around and wait for them to come true?

 

Weblinks

In einem Artikel bei Realclimate verlinkt Schmidt noch auf weiterführende Diskussionen zu seinem Vortrag und formuliert auch nochmals klar seine eigenen Motive und Werte.

Sehr lesenswerter Kommentar von Mike Mann in der New York Times zum selben Thema: If you see something, say something!

 

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Stefan Rahmstorf ist Klimatologe und Abteilungsleiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und Professor für Physik der Ozeane an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Klimaänderungen in der Erdgeschichte und der Rolle der Ozeane im Klimageschehen.

20 Kommentare

  1. Angenommen Sie sind Naturwissenschaftler und Klimaforscher, und nach einem öffentlichen Vortrag fragt jemand aus dem Publikum, ob der Emissionshandel Sinn macht oder ob nicht eine CO2-Steuer besser wäre. Was antworten Sie?

    Tja, bei solchen Fragen gilt es zwingend politisch zu werden, sofern die Antwort auch nur halbwegs konkret werden soll.
    Insgesamt eine sehr interessante Frage, also die nach dem Politisch-Werden von Wissenschaftlern; bei den Klimatologen scheint die Antwort vglw. klar: Sie werden, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten, rein praktisch politisch.
    MFG + ein gutes Neues!
    Dr. W

  2. Off Topic

    Bitte entschuldigen Sie, dass ich hier eine Frage zu einem anderen Thema stelle.
    In Nature wurde ein Artikel veröffentlicht “Spread in model climate sensitivity traced to atmospheric convective mixing”. Hier wird behauptet, dass sie die Unsicherheit der globalen Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhunderts auf 3 – 5C reduziert haben. Damit läge die wahrscheinlichste Erwärmung bei 4C !
    Ich würde mich freuen, wenn Sie die Zeit fänden, hierzu Ihre Meinung zu schreiben. Ich hoffe nämlich sehr, dass Sherwood und seine Mitautoren sich irren.

    Gruss
    martin

  3. Ist diese intensive Auseinandersetzung eigentlich eher spezifisch für die Klimaforschung (und vielleicht auch noch Ökologie und Ernährungsforschung)? Letztlich wird durch das Zitat von Sherry Rowland deutlich, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Vorhersagen haben dort. Was wiederum diese Auseinandersetzung nicht nur rechtfertigt, sondern vielleicht auch getriggert hat?

    Vorhersagen in der klassischen Physik zum Beispiel kann ja meist gelassen abwarten. Bemerkenswerte Ausnahmen sind vielleicht die “Göttinger Achtzehn”, als sich u.a. Born und Heisenberg in einem Manifest gegen die von FJ Strauß (damals als Verteidigungsminister) gewünschten Atomwaffen in der BRD — kaum mehr als 10 Jahre nach Ende des Krieges — aussprachen. Oder in der Biologie und Medizin kommt mir die epidemische Ausbreitung von HIV Anfang der 1980er Jahre in den Sinn. Damals gab es wohl auch viele Diskussionen, an denen sich Forscher in Funktions des Anwalts beteiligten, wenn ich das richtig erinnere. Grundsätzlich aber kenne ich keine intensive Auseinandersetzung zwischen diesen Funktionen als Forscher und Rechtsanwalt. Ich weiß nicht mal, ob in den beiden genannten Fällen es damals eine Auseinandersetzung unter den Forschern gab, wie man sich im Sinne eines “responsible advocacy” äußern darf.

    Gleichzeitig erkenne ich durch den Beitrag viele Probleme, meist in Kleinformat, sofort wieder aus meinem persönlichen Alltag als Forscher. Bin also mehr als zuvor überzeugt, dass “responsible advocacy” ein grundsätzliches Problem der Forscher ist. Wir sollte diese Auseinandersetzung fächerübergreifend ausweiten.

    • Als ich in meiner Diplomarbeit zur allgemeinen Relativitätstheorie arbeitete, gab es damals einen FH-Professor, der in unserer örtlichen Zeitung in Artikeln die Relativitätstheorie grundsätzlich als Unsinn bezeichnete und dahinter eine Verschwörung aller Physiker vermutete…

  4. Sehr geehrter Herr Rahmstorf,
    Ihr Meinungsartikel spricht mir aus der Seele. Wissenschaftler sollten auch in der externen Kommunikation Qualitätsregeln einhalten. Kenntlich machen, was ihre Expertise ist und zu welchen wertenden Schlussfolgerungen sie persönlich kommen.
    Und Wissenschaftler sollten auch verantwortliche Bürger sein und sich am politischen Diskurs beteiligen. Dabei jedoch immer wieder auf den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Meinung hinweisen.
    Ich halte Ihre politische Einmischung für geboten und vorbildlich!
    Raimund Kamm, Augsburg

  5. Herr Rahmstorf, was sagen Sie zu den Vorwürfen von Herrn Kulke
    bei welt.de:

    “2012 behauptete Rahmstorf, im großen vierten Bericht des Weltklimarates IPCC aus dem Jahre 2007 sei der aktuelle jährliche Anstieg noch auf zwei Millimeter seit 1990 taxiert worden, dabei liege er aber bei 3,2 Millimeter, wie er gerade herausgefunden habe. Immer schneller, immer beschleunigter, immer höher. Tatsache ist aber, dass Rahmstorf höchstselbst genau in den IPCC-Bericht von 2007 hineingeschrieben hatte, dass der Meeresspiegelanstieg jüngst bei drei Millimetern pro Jahr zu veranschlagen sei.”

    • Sorry, aber diese Geschichte ist völlig plemplem, um einen Lieblingsausdruck meiner 7-jährigen Tochter zu verwenden. Richtig daran ist nur, dass im IPPC-Bericht von 2007 selbstverständlich der korrekte von Satelliten gemessene Anstieg von 3 mm/Jahr angegeben ist. Allerdings ist das nicht mein Verdienst, da ich an diesem IPCC-Kapitel nicht mitgewirkt habe.

      In unserem Paper von 2012, Comparing climate projections to observations up to 2011, haben wir den von den Modellen aufgrund der Klimaentwicklung vorhergesagten Meeresspiegelanstieg (ca. 2 mm/Jahr) mit dem tatsächlich gemessenen Anstieg von 3 mm/Jahr verglichen (siehe unsere PM dazu – die kann man eigentlich kaum falsch verstehen, selbst wenn man den Titel des Papers nicht versteht). Co-autorin ist übrigens Anny Cazenave, die Pionierin der Satelliten-Altimetrie. Die vom IPCC verwendeten Vorhersagemodelle sind inzwischen besser geworden und ihre Diskrepanz zu den Messdaten hat sich stark verringert. Die Folge ist, dass der IPCC im neuen Bericht den bis zum Jahr 2100 erwarteten Meeresspiegelanstieg um rund 60% nach oben revidiert hat.

      Kulke zitiert eine kritische Anmerkung des geschätzten Kollegen Aslak Grinsted zu einem unserer Manuskripte und strickt daraus die Geschichte, wir würden den Meeresspiegelanstieg übertreiben. Er verschweigt seinen Lesern allerdings, dass Grinsted selbst zu höheren Meeresspiegelprojektionen kommt (bis zu 2,15 Meter bis 2100) als wir, und dass unsere Projektionen einfach dem Experten-Mainstream entsprechen. Grinsted hat auch den neuen IPCC-Bericht recht scharf kritisiert – weil er dessen Meeresspiegel-Prognosen für nach wie vor zu niedrig hält. Übrigens: seit 2007 sind laut Thomson Reuters Web of Science rund 15.000 Fachpublikationen zum Meeresspiegel erschienen (einfach nach Stichwort „sea level“ suchen). Die beiden in der Fachwelt Meistzitierten davon sind von uns.

      Kulkes Artikel ist ein reines ad hominem ohne Informationswert zum Klima – da den „Klimaskeptikern“ die vernünftigen Sachargumente ausgegangen sind, verlagern sie sich immer mehr auf Nebelkerzen und grundlose persönliche Attacken gegen Klimaforscher. Traurig, dass ein Journalist so tief sinken kann.

      • @ Dr. Rahmstorf

        Kulkes Artikel ist ein reines ad hominem ohne Informationswert zum Klima – da den „Klimaskeptikern“ die vernünftigen Sachargumente ausgegangen sind, verlagern sie sich immer mehr auf Nebelkerzen und grundlose persönliche Attacken gegen Klimaforscher. Traurig, dass ein Journalist so tief sinken kann.

        Der Vorwurf ist, dass angeblich stark voreingenommen gearbeitet worden ist:
        ‘One of the major problems with this work is the decidedly biased analysis and presentation.’ (etc. – Quelle)

        Das ist schon starker Tobak und dort, wo andere arbeiten, nicht der übliche Kommunikationsstil.

        MFG
        Dr. W

        • Unser Manuskript war ein Vergleich von unserem und Grinsteds Modell mit Paläodaten, bei dem unser Modell besser abschneidet. Dass die Kollegen da etwas dünnhäutig reagieren und unsere Sichtweise parteiisch finden halte ich für verständlich. Solche robusten Debatten um Methoden sind wissenschaftlicher Alltag – das macht ja die Stärke der Wissenschaft aus, die besten Methoden setzen sich am Ende in diesem Wettbewerb durch. Unserer guten kollegialen Beziehung zu Aslak Grinsted und Svetlana Jevrejeva tut das keinen Abbruch – ich freue mich, die beiden bald wieder bei der EGU-Tagung zu sehen!

        • Ich weiss nicht in welcher Disziplin Sie Ihren Doktortitel erarbeitet oder geerbt haben, aber da wo ich arbeite gehören solche “professorale Übertreibungen” zum guten Ton: In Arbeiten von Kollegen wird jeder Kommafehler als “grob irreführend” bezeichnet, eine falsch gesetzte Klammer ist eine “schockierende Missachtung elementarer Regeln”. Somit ist alles im grünen Bereich.

      • Gibt es eine Möglichkeit, einen Kommentar hoch zu voten, oder als sticky zu bezeichnen?
        Allein diese Antwort erklärt, wie die “Skeptiker”Szene funktioniert.

  6. Gibt es eigentlich Berechnungen darüber inwieweit sich sich die Abflußmengen der Flüsse global in den letzten Jahrzehnten geändert haben? Durch die massiven Urwaldrodungen und Flächenversiegelungen sollten diese Wassermengen doch zugenommen haben und den globalen Meeresspiegel erhöhen.

    M.W. betragen die gesamten Wasserzuflüsse in die Ozeane ca. 60.000 GT/Jahr. 1% mehr bedeutet 600 GT, also etwa das Doppelte der angenommenen Eisschmelze in den Polargebieten.

    • Das Argument verstehe ich nicht. Das Wasser der Flüsse kommt doch nicht aus dem Erdinneren oder wird von anderen Planeten hergebeamt, sondern bildet einen Zyklus aus Verdunstung und Niederschlag. Wie sollen da höhere Fließraten zum Meeresspiegel beitragen?

  7. “Wie sollen da höhere Fließraten zum Meeresspiegel beitragen?” Vieleicht weil auf gerodeten Urwaldflächen weniger Regenwasser im Boden und Biomasse gespeichert wird und stattdessen in die Flüsse abläuft? Hinzu kommt dass gerodete Waldflächen große Mengen CO2 aus den Böden freisetzen.

    Wie gesagt, in diesem Artikel geht es um den Streit unter Wissenschaftlern um wenige Millimeter Meeresspiegelanstieg. Neben der Erderwärmung gibt es auch noch andere Faktoren die in diesem minimalen Meßbereich evtl. eine Rolle spielen könnten.

    • Ob zu dem Thema belastbare wissenschaftliche Quellen vorliegen, entzieht sich meiner Kenntnis. Klar dürfte hingegen sein, dass monokausale Erklärungsmodelle hier wenig zielführend sind. Die Schwierigkeit liegt vielmehr in der Struktur des globalen Wasserhaushalts begründet, der nur als vernetztes System verstanden werden kann. Auf die Schnelle sind mir folgende Punkte eingefallen, die dabei berücksichtigt werden müssten:

      1. Zweifellos wird auf gerodeten Flächen weniger Regenwasser gespeichert, das somit schneller abfließen kann. Allerdings speichern naturbelassene Vegetationsräume nicht nur Wasser in erheblichen Mengen, sondern verdunsten es auch. Dieser Verdunstungsfaktor spielt also ebenfalls eine wichtige Rolle und müsste in jede “Wasserhaushaltsrechnung” im wahrsten Sinne des Wortes mit einfließen.

      2. Viele Flüsse transportieren infolge der globalen Erwärmung mehr Schmelzwasser als noch vor wenigen Jahrzehnten. Vor allem die Gletscherschmelze hat sich in einigen Regionen signifikant beschleunigt, was naturgemäß zu erhöhten Pegelständen der davon betroffenen Flusssysteme führt.

      3. Sämtliche Bäche, Flüsse und Seen der Erde haben am Volumen des globalen Wasservorrats nur einen Anteil von 0,02 Prozent. Das in Polar-, Meer- und Gletschereis gebundene Wasser kommt dagegen auf 2 Prozent, wobei Meereis – sollte es in größerem Umfang schmelzen – bekanntlich nicht zur Hebung des Meeresspiegels beiträgt und somit aus den genannten 2 Prozent herausgerechnet werden müsste. Dennoch bleibt genug potenzielles Schmelzwasser übrig, das ein Eintrag der Flüsse um ein Vielfaches übertrifft.

      4. Durch die Erwärmung der Ozeane unterliegt das Meerwasser nicht nur einer thermischen Ausdehnung, es steigt auch allgemein der Verdunstungsfaktor, was zu mehr Wasserdampf in der Atmosphäre und damit zu einer erhöhten Niederschlagsneigung führt. Wenn diese Niederschläge über Landgebieten abregnen, hat dies wiederum zwangsläufig Auswirkungen auf den Pegel der Flüsse. In diesem Fall kommt über kurz oder lang nur das in das Meer zurück, was vorher darin schon vorhanden war.

      5. Der gegenwärtige Anstieg des Meeresspiegels per annum von rund 3 Millimetern mag auf den ersten Blick geringfügig erscheinen. Aber multiplizieren Sie diesen Wert mit 100 und bauen am besten eine Exponentialfunktion mit ein. Dann kommen Sie den Verhältnissen, wie sie zu Beginn des 22. Jahrhunderts herrschen werden, verdächtig nahe.

  8. Was Schreiberlinge wie Kulke fabrizieren, wenn sie ad rem nichts zu sagen wissen, ist eine Sache, wie das in der Treibhausleugnerszene herumgereicht wird, eine andere. Ich frage mich dabei immer: Varenholt, Lüdecke und andere sind doch ausgebildete Akademiker, die ihre Titel ehrlich erarbeitet haben (und nicht irgendwo in Prag gekauft) und in ihrem Fachgebiet sicher hochkompetent sind. Ich würde etwa Herrn Lüdecke betimmt nicht dreinreden, wenn er über die unterschiedlichen Anforderungen an den Primärkreislauf bei Druckwasser- und Siedewasserreaktoren oder über die Besonderheiten des Natriumkühlkreislaufs beim Schnellen Brüter erzählt. Wie aber können solche Leute so rundweg alle guten wissenschaftlichen (und auch bürgerlichen) Sitten vergessen, wenn ihnen etwas ideologisch nicht in den Kram paßt?