Ökologistische Glaubenssätze und Ökologie Teil 3: Interspezifische Superorganismen

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Es gibt zwischen zwei Lebewesen Beziehungen verschiedener Art: solche, die beiden Seiten Vorteile bringen, solche, die nur einer Seite Vorteile bringen, solche, die beiden Seiten Nachteile bringen. Und man kann zwischen fortpflanzungsbiologischen und ökologischen Beziehungen unterscheiden.

Mutualistische Beziehungen sind für beide Seiten von Nutzen. Mutualismus hat nun die Tendenz, in dem Maße zuzunehmen, wie Organismen stammesgeschichtlich sich auf unterschiedlichen Anpassungswegen voneinander entfernen. Sie tendieren dann dazu, Leistungen zu erbringen, die dem Interaktionspartner nicht möglich sind, in denen aber doch ein Nutzen für ihn liegen könnte. Ein bekanntes Beispiel sind heterotrophe (sie benötigen von anderen Organismen erzeugtes Material zur Energiegewinnung) Pilze und autotrophe (sie entnehmen Energie dem Sonnenlicht) Algen, die kooperieren; das Gebilde, das aus beiden Kooperationspartnern entsteht, nennen wir „Flechten“. So wird unter der Bedingung, daß der Nutzen eines jeden die Kosten seines Aufwandes für den anderen übersteigt, eine wechselseitige Ergänzung möglich.

Fortpflanzungsbiologische Beziehungen sind solche, deren biologischer Sinn in der Erzeugung von Nachkommen besteht. Ökologische Beziehun­gen sind solche, deren biologischer Sinn in der Erhal­tung und Verbesserung des Lebens des Organismus selbst liegt. Fortpflanzungsbiologische Beziehungen verbinden Organismen zu Systemen höherer Ordnung: zu Populationen und biologischen Arten. Ökologische Beziehungen machen aus Gruppen von Organismen verschiedener Arten Systeme höherer Ordnung, die „syn­öko­lo­gischen Einheiten“. Sind die Interaktionen positiv (mindestens ein Interaktionspartner hat einen Nutzen), sprechen wir auch von Biozönosen.[1]

In unserem Kontext stellen sich hier vor allem zwei Fragen: (1) Muß jeder Organismus Bestandteil syn­öko­lo­gischer Systeme sein, d. h. gehört die Einbindung in Biozönosen zu den allgemeinen Lebensmerkmalen? (2) Auf der Basis intraspezifischer Beziehungen können sich, wie wir am Beispiel der Insektenstaaten gesehen haben, Superorganismen entwickeln. Ist das auch auf der Basis interspezifischer Beziehungen, also zwischen nicht-verwandten Organismen möglich?

Die Frage (1) muß verneint werden: Nicht alle Organismen brauchen andere als Nahrung; Autotrophe (insbesondere grüne Pflanzen) brauchen sie als solche de­finitionsgemäß nicht. Aber nicht alle ihre notwendigen Beziehungen sind ja solche der Nahrungsaufnahme (Trophie). Wie steht es z. B. mit der Bestäubung durch mutualistische Insekten? Bei weitem nicht alle Autotrophe sind obligatorisch auf Mutualisten angewiesen. Und schließlich müssen zwar normalerweise die Bedingungen weiterer Ressourcenaufnahme durch Organismen anderer Arten, nämlich abbauende (Destruenten) wiederhergestellt werden, damit Leben auf Dauer möglich ist. Aber in geringem Umfang ist die erneute Mobilisierung der durch die Organismen gebundenen Nährstoffe auch durch physikalische und chemische Verwitterung möglich.

Zu (2): Kann es auf Basis interspezifischer Beziehungen, also von Beziehungen zwischen nicht einer Art angehörenden Organismen, zur Bildung von Superorganismen kommen? Interorganismische Systeme, ob das nun Populationen sind oder syn­öko­lo­gi­sche Systeme, sind in sehr unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise integriert. Manche Gruppen von Organismen sind weniger Systeme als bloße Aggregationen: Zwischen den Organismen, die ihnen angehören, gibt es kaum Wechselwirkungen. Auf der intraspezifischen Ebene, also innerhalb von Populationen, beschränken sich die Beziehungen oft auf fortpflanzungsbiologische, ökologisch haben die Organismen nichts miteinander zu tun. Auch syn­öko­lo­gische Einheiten sind oft nur sehr schwach integriert. Das gemeinsame Vorkommen verschiedener Arten einer Gesellschaft beruht in zahlreichen Fällen lediglich darauf, daß sie die gleichen Umweltansprüche haben; selbst rein negative interspezifische Beziehungen (Konkurrenz) sind manchmal kaum vorhanden. Was die Arten verbindet, ist dann nur ihr Vorkommen im gleichen Raum. Das führt dazu, daß Arten (im Extremfall jede Art) auch fehlen bzw. ausgerottet werden können, ohne daß die übrigen davon beeinflußt würden.

In anderen Fällen aber interagieren die zu einer syn­öko­lo­gischen Einheit gehörigen Organismen. Wir haben es dann, wie oben definiert, mit Biozönosen zu tun, also Lebens­gemeinschaften statt bloßen Gesellschaften. Dann lassen sich manche, im Extremfall sogar alle Komponenten (Organismen, Arten) nicht mehr entfernen oder gegen andere austauschen, ohne daß das Auswirkungen auf (viele) andere Teile des Systems hätte. Aber auch solche höher integrierten syn­öko­lo­gischen Systeme sind noch weit davon entfernt, selbstreproduzierende Systeme von der Art des typischen Einzelorganismus zu sein. Der markanteste Unterschied ist vielleicht dieser: Wie bei den bloßen Aggregationen einzelner Organismen – und wie bei nicht-lebenden Dingen – ist es auch bei diesen syn­öko­lo­gischen Systemen (Biozönosen oder Ökosystemen) unmöglich, ohne Willkür anzugeben, wann ein solches System als nicht mehr existent (als zerstört) zu bezeichnen ist und wann es noch als dasselbe, lediglich veränderte System zu gelten hat. Denn es gibt das klare Kriterium des Todes hier nicht. Entfernt man ein „wichtiges“ Teil eines hochintegrierten Ökosystems, so bleiben immer noch manche Organismen am Leben, die zusammen ein Ökosystem bilden. Entfernt man ein wichtiges Teil eines Einzelorganismus, so lebt nichts weiter.

Die Integration kann aber auch so weit gehen, daß Systeme aus mehreren Organismen gleicher Arten zu Organismen höherer Ordnung werden. Das Hauptbeispiel sind die vielzelligen arbeitsteilig organisierten Organismen: Sie sind organismische Systeme aus mehreren Systemen (Zellen), welche ihrerseits den Charakter von Organismen haben. Aber auch Systeme aus Organismen verschiedener Arten können ihrerseits Organismen sein.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, wie ein „Organismus aus Organismen“ entstehen kann: durch Teilung und durch Vereinigung.

Intraorganismische Bildung von Organismen höherer Ordnung durch Teilung

Wenn ein Organismus höherer Ordnung durch Teilung entsteht, so ist das Ganze das Primäre. Das System des Organismus erzeugt aus sich selbst heraus mehrere Systeme organismischer Art, wobei diese verbunden bleiben – wenn auch nicht notwendigerweise räumlich – und zwar so, daß auch das entstehende gesamte System von organismischer Art ist. An diesem durch Teilung entstandenen organismischen System höherer Ordnung sind de­finitionsgemäß nicht Organismen verschiedener Arten beteiligt.

Denkbar wäre zwar, daß sich die Organismen in sich untergeordnete Organismen in ähnlicher Weise ausdifferenzieren, wie sich, holistischen Systemtheoretikern (z. B. Luhmann) zufolge im Gesellschaftssystem selbstreferen­tielle Subsysteme bilden, etwa das ökonomische oder das Rechtssystem. Bei Organismen entstehen auf diese Weise Organe.[3] Doch diese haben ihrerseits nicht den Charakter von Organismen. Teile von Organismen, die selbst Organismen sind, sind hingegen die Zellen. Diese entstehen durch Teilung von Zellen, sie werden nicht von einer Zelle in dieser produziert.

Soweit wir wissen, ist die Grundeinheit alles heute existierenden Lebens die Zelle. Noch einfachere Gebilde wie die Viren sind nicht zu selbständigem Leben in der Lage, sondern auf Zellen angewiesen.[4] Gleiches gilt für Teile der Zelle: Arbeitsteilige Differenzierung bedeutet, daß gewisse Bereiche der Zelle sich auf bestimmte Funktionen spezialisieren. Man könnte diese Bereiche als Subsysteme des Systems der Zelle bezeichnen. Sie sind jedoch keine lebenden Gebilde; ein lichtempfindlicher Bereich der Zelle, ein Zellkern, eine Membran usw. leben nicht, so wenig wie eines der Moleküle, die eine Membran bilden, oder ein Atom in diesem Molekül. Erst die Zelle lebt.[5]

Die Bildung von Komponenten von Organismen, die ihrerseits Organismen sind, vollzieht sich faktisch nicht durch Aufbau von Subsystemen innerhalb eines Organismus (z. B. in einer Zelle), sondern durch das Zusammenbleiben ursprünglich beziehungsweise potentiell selbständiger Lebewesen im Zuge der Teilung von Zellen beziehungsweise Einzelorganismen.[6] Man kann zunächst zwei Fälle von Teilung unterscheiden: (1) Die Zellen (Einzelorganismen) trennen sich nicht räumlich; (2) die Zellen (Einzelorganismen) trennen sich räumlich. Zwischen beiden gibt es Übergangsformen. Entwicklungen zu einem Organismus höherer Ordnung sind in beiden Fällen möglich:

Zu (1): Die einzelnen Organismen, die bei der Teilung entstehen, d. h. die Zellen, die eigenständige Organismen hätten werden können, trennen sich nach der Teilung nicht voneinander. Die potentiell selbständigen Organismen, d. h. die Zellen, sind nun unselbständiger Teil in einer höheren Einheit. Diese hat ihrerseits den Charakter eines individuellen Organismus. Dieser Charakter muß nicht besonders ausgeprägt sein: Die Tochterzellen können beieinander bleiben und eine „Kolonie“ bilden, also ein Gebilde aus mehr oder weniger gleichen Einzelorganismen. Eine Arbeitsteilung zwischen den aneinandergelagerten Zellen gibt es dabei nicht, von einem Organismus höherer Ordnung wird man nicht sprechen. Meist ist der Aufbau aber differenzierter als bei Kolonien: Es entsteht ein Organismus höherer Stufe (Vielzeller) aus arbeitsteilig differenzierten und funktional determinierten Subsystemen (Organen), die selbst keinen organismischen Charakter haben, deren Bausteine aber (meist) Systeme organismischen Charakters (Zellen) sind.

Jenes Prinzip, dessen Extremform die bloßen Kolonien zeigen, tritt sehr oft auf höherer Stufe wieder auf. Mehrzellige Gebilde, die individuellen Organismen ähneln, übernehmen hier die Rolle der einzelnen Zellen der Zellkolonie. So entstehen modulare Organismen. Hier ist die Tendenz zur Individuation wenig ausgeprägt; als individuelle Organismen könnte man eher die morphologisch und in ihrer Funktionsweise untereinander im wesentlichen gleichen, seriellen „Bauteile“ bezeichnen, und nicht z. B. eine ganze ausläuferbildende Pflanze, die schon insofern kein „In-dividuum“ ist, als sie ja, wie jeder Hobby-Gärtner weiß, teilbar ist.

Diese Art der Entwicklung zum Organismus höherer Ordnung besteht also in der Differenzierung (durch Teilung) eines (einzelligen oder vielzelligen) Organismus; sie ist darum Thema der Entwicklungsbiologie, nicht Thema einer Ökologie interorganismischer Beziehungen.

Zu (2): Wenn sich Zellen räumlich trennen, könnte das Prinzip des Organismus, die Selbstreproduktion des ganzen Systems in den Wechselwirkungen der Teile, ebenfalls verwirklicht sein. Faktisch kommt das aber auf der Ebene räumlich getrennter Zellen nicht vor. Deren Fähigkeiten zu arbeitsteiliger Differenzierung und Kooperation sind unter der Bedingung räumlicher Trennung zu gering. Erst auf höheren phylogenetischen Stufen können die Teilungsprodukte – die vielzelligen Organismen – trotz räumlicher Trennung so interagieren, daß ein Organismus höherer Ordnung entsteht: „eusoziale“ Verbände, wie im Falle der Insektenstaaten.

Bildung von Organismen höherer Ordnung durch Vereinigung: Endosymbiosetheorie

Die zweite Möglichkeit der Bildung von Organismen höherer Ordnung besteht darin, daß sich getrennte Organismen – ohne gemeinsamen Ursprung, bzw. einem gemeinsamen Ursprung, der meist Abermillionen von Jahren zurückliegt – verbinden. Hier ist der Prozeß der Bildung von Organismen höherer Ordnung selbst Ge­gen­stand der Ökologie und nicht der Entwicklungsbiologie.

Es gibt Fälle, bei denen die sich vereinigenden Organismen auf einen Organismus (Zelle) zurückgehen und nur kurze Zeit getrennt waren. Die Basis solcher durch Wiedervereinigung entstehenden „Organismen aus Organismen“ sind interorganismische, aber intraspezifische Bezie­hungen. Auf der Basis interspezifischer Beziehungen kann es aber auch zur Bildung von Organismen höherer Ordnung kommen, nun durch Neuvereinigung. Dieser Weg, der über syn­öko­lo­gische Einheiten zu „Superorganismen“ führt, beruht auf der Kooperation von Organismen, die verschiedenen Ursprungs sind, ja bei denen verwandtschaftlich besonders weite Entfernung die Regel ist.[7]

Wenn eine solche Beziehung wechselseitigen Nutzens, also Kooperation (Mutualismus) obligatorisch wird, kann de­finitionsgemäß keiner der Partner mehr ohne den anderen existieren, und ein Einzellebewesen kann für das andere eine Funktion so dauerhaft übernehmen, wie das sonst ein eigenes Organ tut. Damit ist es aber noch nicht zum Organ einer höheren Einheit geworden. Obligatorisch aufeinander angewiesene Mutualisten können zwar de­finitionsgemäß nur in dieser Verbindung existieren, aber die Partner sind doch noch insofern selbständig, als sie jeweils „egoistisch“ ihren eigenen Nutzen auch auf Kosten des Partners zu steigern suchen. Das zeigen die zahlreichen Rückschläge von mutualistischem in ein prädatorisches Verhalten dem Partner gegenüber. Organe denken wir uns aber so, daß sie in ihrem Verhalten zu anderen Organen dem „Wohl“ des Organismus zu „dienen“ „versuchen“ (und nur auf diesem Umweg sich selbst). Der Ausdruck „die Funktion eines Organs“ ist immer darauf bezogen. Organe verfolgen nicht eigene „Interessen“.

Doch kann die Kooperation, von obligatorischen Mutualismen ausgehend – Bedingung ist zusätzlich eine enge räumliche Beziehung (intrazelluläre Symbiose) –, schließlich zu Systemen führen, die als Organismen höherer Ordnung bezeichnet werden müssen. Voraussetzung sind Verbindungen auf der Ebene der Gene und der Prozesse der Genexpression. Teile der Nukleinsäureketten eines (ehemaligen) Partners können aus der DNS und RNS des anderen Partners stammen, und Teile der Proteine des Körpers des einen Partners können in den Nukleinsäureketten des anderen (bzw. des Körperteils, das einst ein anderer Organismus war) kodiert sein. In diesem Fall ist nicht mehr zu unterscheiden, welcher Körperteil oder welche Aktivität welchem von beiden Partnern zugehört. Tatsächlich sind die meisten Organismen sehr wahrscheinlich so entstanden: Alle heutigen eukaryontischen Einzeller und auch die Zellen der vielzelligen Organismen dürften Resultat immer engerer Symbiose ursprünglich selbständiger einzelliger Organismen sein. Beispielsweise sind Symbiosen aus Ur-Eukaryonten und Blaualgen wahrscheinlich der Ursprung aller grünen Pflanzen; aus den zunächst freilebenden Blaualgen wurden Organellen, die Chloroplasten.[8]

In solchen Fällen des Übergangs zwischen interspezifischen Systemen und Einzelorganismus höherer Stufe verschwimmt der Unterschied zwischen dem Aufgabengebiet der Morphologie und Physiologie des Einzellebewesens und dem der Synökologie.

Wie dem heutigen Kenntnisstand nach die Entstehung von Zellen als Superorganismen durch Endosymbiose vor sich gegangen ist, soll abschließend etwas genauer dargestellt werden. Anzumerken ist, daß diese Theorie zwar inzwischen weitgehend akzeptiert ist, doch immer noch nicht den Charakter von für selbstverständlich geltendem „Lehrbuchwissen“ hat. Es gibt nach wie vor andere Auffassungen.

Die Zellen aller höheren Organismen – d. h. in diesem Falle: aller Eukaryonten, aller Zellen mit Zellkern; nicht dazu gehören die Bakterien, dazu gehören die Vielzeller – sind so entstanden:

Plastiden (also etwa Chloroplasten), Mitochondrien und Geißeln, möglicherweise noch mehr, waren ursprünglich freilebende Organismen. Aus diesen Organismen wurden Organellen, also Organen funktional entsprechende, nicht lebende Teile von Organismen (Zellen). Diese Theorie nennt man die Theorie der exogenen Entstehung der Organellen: Ein Organell entsteht durch Kombination mehrerer Organismen. Die alternative Theorie ist die der endogenen Entstehung: Das Organell ist durch Differenzierung des Organismus in bzw. aus und in diesem entstanden. Im Falle der Plastiden-Entstehung hat man zur Stützung der Theorie der exogenen Entstehung, der Endosymbiosetheorie, folgendes geltend gemacht:

  1. Es gibt eine Kontinuität der Plastiden von einer Generation zur anderen. Nicht Zellen teilen sich und bilden dann Plastiden, so wie sie nach der Teilung u. a. Membranen bilden, sondern die Plastiden entstehen durch Teilung (anderer Lebewesen). Sie besitzen eigene DNS und RNS, „ihre“ DNS ist nicht im Zellkern lokalisiert.
  2. Es gibt sehr ähnliche Fälle, bei denen die Integration noch nicht so weit fortgeschritten ist, die man einhellig als Symbiosen bezeichnet.
  3. Es gibt eine Übereinstimmung von DNS-Sequenzen von Chloroplasten und von freilebenden Blaualgen (Cyanobakterien)[9].

Die Übereinstimmung zwischen den DNS-Sequenzen von Chloroplasten und Blaualgen allein kann allerdings nicht als Beweis für die Endosymbiose-Theorie gelten, denn auch eine endogene Entstehung wäre möglich: Die Vorfahren der Eukaryonten müßten dann Blaualgen gewesen sein, denn zwischen den Plastiden und bestimmten Blaualgen zeigt sich genetische Übereinstimmung. Die Kern-DNS könnte sich später in dieser Blaualge entwickelt haben. Der ursprüngliche Organismus wäre also eine „Pflanze“ gewesen: die Photosythese betreibende Blaualge. Wenn dagegen die Theorie der exogenen (mutualistischen) Entstehung richtig ist, dann müssen die Vorfahren der Eukaryonten im Sinne von „Wirtsorganismen“ heterotroph, also „Tiere“ gewesen sein. Sie haben die Blaualgen in sich aufgenommen.

Wenn die Theorie der exogenen Entstehung richtig ist: Die Entwicklung vom mutualistischen Beziehungen zwischen mehreren Organismen verschiedener (verwandtschaftlich tendenziell sehr weit entfernter) Arten zu einem Organismus dürfte in mehreren Schritten vor sich gegangen sein:

(1) Prädatorische Stufe: Ein Organismus, und zwar ein nicht zur Photosynthese fähiger Eukaryont, nimmt Blaualgen auf, „frißt“ sie, und verdaut sie. (2) Symbiogenese, Stufe I: Die Verdauung der Blaualge wird unterlassen. Sie, die zunächst Beute war, lebt nun in der aufnehmenden Zelle, die zunächst Räuber war, weiter, und zwar in einer   mutualistischen Beziehung: Die Blaualge liefert Sauerstoff als Photosyntheseprodukt, der aufnehmende Organismus liefert Nährstoffe und bietet Schutz. Es handelt sich um einen intrazellulären Mutualismus, der fakultativ ist, nicht obligatorisch, der eine Interaktionspartner kann auch ohne den anderen leben. (Man kennt Fälle, in denen die Integration auf dieser Stufe stehengeblieben ist.) Es kommt dann zur Synchronisation der Lebensvorgänge, insbesondere der Teilung. Eine populationsdynamische Kontrolle der Vermehrungsvorgänge der Blaualgen, die mit derjenigen der durch den aufnehmenden, den sog. Wirtsorganismus selbst erzeugten Zellelemente (Organellen, insbesondere dem Zellkern) übereinstimmen müssen, sorgt dafür, daß es nicht zur Zerstörung der Wirtszelle durch die sich rascher teilenden Blaualgen kommt. (3) Symbiogenese, Stufe IIa: Der Mutualismus wird stabilisiert: er wird obligatorisch. Eine Trennung ist nun nicht mehr möglich. Der Zusammenhang wird verstärkt dadurch, daß ein Partner vollständig die Umwelt des anderen bildet. So ist kaum mehr ein Ersatz der Leistungen des „Wirts“ möglich. (4) Symbiogenese, Stufe IIb: Der „Wirt“ gibt die Symbionten (ursprünglich Blaualgen) auf seine Nachkommen weiter. (5) Symbiogenese, Stufe IIc: Der „Wirt“ gibt die Symbionten parallel zu seiner eigener Vererbung auf alle Nachkommen weiter (durch Koppelung mit der Gen-Weitergabe über Eizellen; die Symbionten werden ähnlich behandelt wie Chromosomen). (6) Symbiogenese, Stufe III: Es kommt zur „Mischung“ von Symbionten- und Wirts-Genom („Inäquale intertaxonomische Kombination, IITC). Ein Transfer von DNS in beiden Richtungen – vom „Wirt“ zum „Symbionten“ und umgekehrt – ist nachgewiesen. Es kommt schließlich zum Import von Kern-codierten Wirtsproteinen in den „Symbionten“, der zum Organell (Plastid) geworden ist.

Bei den Stufen I und II handelt es sich um die Koevolution zweier/mehrerer Organismen. Auf Stufe II allerdings löst sich die Eigenständigkeit mehr und mehr auf.

Heute ist weitgehend die sog. serielle Endosymbiosetheorie akzeptiert. Plastiden, Mitochondrien und Geißeln sind ihr zufolge nicht gleichzeitig, sondern nacheinander durch symbiogene Vorgänge entstanden. Manche Autoren gehen von einer Verschachtelung von wenigstens sechs ursprünglich selbständigen Organismen aus.

Man kann festhalten:

Auch wenn die Ökologen in ihrer große Mehrheit die Vorstellung, Ökosysteme oder Biozönosen seien Superorganismen, ablehnen: Die überwiegende Mehrheit der Organismen – also dessen, was wir als Einzelorganismen bezeichnen – sind Superorganismen aus nicht verwandten Arten.

 

 

[1] Es gibt eine ganze Reihe anderer De­finitionen dieses Be­griffes. Zu den häufigsten Bedingungen gehört, daß es sich bei Biozönosen um alle Organismen in einem umgrenzten Raum handeln müsse. Oft wird für eine Biozönose nur verlangt, daß Organismen verschiedener Arten in einem gemeinsamen Raum vorkommen, ohne daß sie untereinander in Beziehung treten müßten. Demgegenüber wird manchmal gefordert, die Organismen müßten zusammen ein „selbstorganisierendes“ System höherer Ordnung bilden, um von Biozönosen sprechen zu können. Andere Autoren verlangen, daß die Beziehungen der Populationen, die eine Biozönose konstituieren, koevolutionärer Art sein müssen; sie müßten sich also auf die Beschaffenheit des Genpools der beteiligten Populationen auswirken, doch nicht beispielsweise auf ihre Verteilung im Raum.

[3] Organe sind funktional definierte Einheiten, sie müssen nicht mit den morphologischen Einheiten übereinstimmen, die wir gewöhnlich Organe nennen.

[4] Es gibt Lebewesen, die keine Zellen sind und auch nicht aus solchen bestehen, z. B. die Plasmodien der Schleimpilze oder die vielkernigen siphonalen Algen wie Acetabularia oder Vaucheria; auch auf die querwandlosen niederen Pilze kann man den Zellbe­griff kaum anwenden. Es handelt sich allerdings in all diesen Fällen um sekundäre Bildungen, gewissermaßen um Versuche, die von Zellen ausgingen und solche voraussetzten. (Die primitiveren Formen der Xantophyceen, zu denen z. B. die siphonale Alge Vaucheria gehört, sind typische Einzeller; auch ontogenetisch geht die vielkernige Form aus „normalen“ Geschlechtszellen hervor.) Andererseits können wir nicht sicher sein, daß bereits die ersten Formen, die wir lebend nennen würden, wenn sie uns bekannt wären, dem entsprochen hätten, was wir heute als Zellen bezeichnen.

[5] Ein Mehrzeller besteht aus Teilen (Zellen), die ihrerseits leben, eine Zelle nicht. Das zeigt sich auch daran, daß es Zellen gibt, die von bloßen Teilen eines vielzelligen Organismus zu offenkundig selbständigen Organismen werden können und umgekehrt, und Fälle, in denen die Unterscheidung zwischen Teil und selbständigem Organismus ihren Sinn verliert. Die weißen Blutkörperchen, die ein Eigenleben als Prädatoren führen ähnlich den Amöben, sind ein Beispiel. Es gibt aber keine Teile einer Zelle, die unabhängig von dieser leben können. Darum ist die Zelle die Grundeinheit des Lebens, und darum sind jene Darstellungen eines „Stufenbaus des Lebens“, die beim Atom oder subatomaren Einheiten beginnen und über Lebewesen beim Ökosystem oder der Biosphäre enden, irreführend. Atome leben nicht, Ökosysteme auch nicht. Es ist auch problematisch, von einer Hierarchie Zelle-Organ-Organismus – oft mit einigen Untergliederungen mehr – zu sprechen. Das ist nur eine Hierarchie in dem trivialen Sinn, daß zu einem Organ mehrere Zellen, zu einem Organismus mehrere Organe gehören. Aber der Status eines Organs ist prinzipiell ein ganz anderer als der von Zelle und Organismus: Es ist kein Lebewesen.

[6] Faktisch bauen Zellen in sich nur Subsysteme auf, die nicht als solche leben. Daß Zellen nur durch Teilung Zellen hervorbringen, liegt nicht im Be­griff des Organismus: Denkbar wäre, wie oben angedeutet, daß eine Zelle in sich Subsysteme erzeugt, die wiederum den Charakter von Zellen, also Organismen haben. Wären die Theorien, wonach Plastiden und Mitochondrien endogen entstanden sind – wofür aber wenig spricht, s. u. – zutreffend, könnte man das so deuten.

[7] Es gibt Theorien, die andere Möglichkeiten der Entstehung solcher Superorganismen aus syn­öko­lo­gischen Einheiten zu zeigen versuchen als über mutualistische Beziehungen (Kooperation).

[8] Der Gedanke tauchte bereits im 19. Jahrhundert auf (Schimper), und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde er als Theorie formuliert (Mereschkowsky). Bekannt wurde diese „Endosymbionten-Theorie“ neuerdings vor allem durch Lynn Margulis. – Man könnte hier interessante wissenschaftspolitische Überlegungen anschließen: Seit Darwin und Einstein hat wohl kein Naturwissenschaftler unser Weltbild so verändert. Doch daß Margulis einen Nobelpreis bekommt, darf man sicher ausschließen. (Darwin hätte wohl auch keinen bekommen.)

[9] Endosymbiose kann auch zwischen anderen „Algen“ und nicht photosynthetisierenden Zellen entstanden sein.

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

8 Kommentare

  1. Mir ging es in den letzten Wochen ziemlich schlecht, war im Krankenhaus. Die Kommentare habe ich nicht gelesen. Das werde ich auch nicht mehr tun, sondern demnächst einen neuen Artikel ‘reinstellen. Sie können ja ihre Themen weiter diskutieren.

    • Auf jeden Fall tapfer bleiben, lieber Herr Trepl, denken Sie vielleicht u.a. auch an John Wayne (der mit den vielen Filmen als Hauptdarsteller); bei komplizierten ökologisch-biologischen Themen muss Ihr Kommentatorenfreund leider zu Hause bleiben, zumindest: kommentatorisch, Sie erhalten diese Nachricht nur, weil Sie auf die Ihrige bisher keine erhalten haben.

      MFG + GL
      Dr. Webbaer

  2. Der GMX-Sicherheitsdienst hat vor einigen Tagen mein Postfach gesperrt, so daß ich in dieser Zeit die (zahlreichen) emails nicht lesen konnte, die eingingen. Hinzu kamen gesundheitliche Probleme, so daß ich auch dann, als ich wieder normalen Zugang hatte, kaum etwas von dem beantworten konnte, was ich beantworten wollte. Ich habe mich jetzt entschieden, das gar nicht mehr zu versuchen, ich schaffe es ja doch nicht. Es wird also vielleicht nicht jeder eine Antwort erhalten, der damit rechnet.

  3. Alltagsblick und Ökologie

    @ Balanus

    Stimmt. „Aus der Perspektive des Mikrobioms wäre der mehrzellige Organismus eigentlich nichts weiter als eine Art Biotop.“ Nur nimmt man diese Perspektive in diesem Fall nur selten ein. Meist wird man von einer durch mutualistische Beziehungen zustande gekommenen Lebensgemeinschaft sprechen, also von dem, was auch „symbiotische Lebensgemeinschaft“ bedeutet, nur benutzt man diesen Begriff immer seltener, scheint mir, und zwar weil „Symbiose“ unterschiedlich definiert wird.

    „Das ist wegen der Winzigkeit der Zellen zwar nicht augenfällig“. Das ist sicher der Grund und ein, allerdings nicht genügend beachtetes, Problem in der Ökologie: Ihre Gegenstände verdanken sich dem Alltagsblick. Wie sehr das durcheinanderbringen kann, sieht man in unserem Fall.

    Die größten Schwierigkeiten bestehen aber da, wo die meisten Ökologen hinschauen: Sie schauen in die „Gegend“, meist mit dem „landschaftlichen Blick“, also einem das Ästhetische und das Symbolische betonenden Blick, und auch dem eine Praxis betonenden Blick, die im wesentlichen die landwirtschaftliche ist. Unter den daraus sich ergebenden Perspektiven werden dann die Untersuchungsgegenstände ausgewählt, ohne daß man merkt, daß diese Gegenstände nicht einfach objektiv gegeben sind, sondern sich eben einem bestimmten Blick verdanken. Vieles an systematisch Relevantem entgeht einem dadurch, z. B. weil es einfach zu klein ist. Daß die Lebensgemeinschaft aus höheren Organismen und Mikroben ebenso eine Biozönose ist wie die Lebensgemeinschaft aus Bäumen und Pilzen und Vögeln usw., bemerkt man dabei nicht.

    Allerdings hat die vom „landschaftlichen Blick“ ausgehende Ökologie auch ihre Berechtigung: Man bleibt damit nahe bei lebenspraktischen Problemen – nur bemerkt man leider nicht, was man eigentlich tut, wovon man letzten Endes ausgeht, nämlich z. B. vom Blick eines genießenden Spaziergängers oder eines Malers oder eines Tourismusmanagers oder eines sich für Produktionssteigerung interessierenden Bauern.

    Mein Lehrstuhl hieß aus diesem Grund explizit Landschaftsökologie und nicht einfach Ökologie. In einem auch als Blog-Artikel „Was ist Landschaftsökologie“ veröffentlichten Papier haben wir das ausführlich begründet.

  4. Lebensgemeinschaften

    Wie wird in der Ökologie die Beziehung zwischen dem Organismus „höherer Stufe“ und den Organismen der niedrigsten Stufe, den Mikroorganismen, gesehen, also jenen Mikroben, die diesen höheren Organismus besiedeln und ohne die er gar nicht existieren könnte?

    Aus der Perspektive des Mikrobioms wäre der mehrzellige Organismus eigentlich nichts weiter als eine Art Biotop. Andererseits bilden hier Eukaryonten und Prokaryonten wohl eine symbiotische Lebensgemeinschaft, fast vergleichbar mit der zwischen Pilz und Alge. Das ist wegen der Winzigkeit der Zellen zwar nicht augenfällig, aber angesichts des Zahlenverhältnisses von pro- zu eukaryotischen Zellen (geschätzte 10:1 beim Menschen) stellt sich die Frage, ob unsere Sicht auf die höheren Organismen nicht doch sehr eingeschränkt und voreingenommen ist.

  5. Auf die Spitze gerieben könnte man auch Multizellularismus als symbiontischen Mutualismus auffassen, denn mindestens zu Beginn – beim Entstehen der ersten Formen von Multizellularismus -, waren die Zellen aus denen der multizelluläre Organismus bestand wohl auch noch allein lebensfähig oder mindestens nahe an der Alleinlebensfähigkeit.
    Mit dieser Sichtweise wäre dann funktionell Endosymbiose (z.B. Mitochondrien als integrierte Fremdorganismen) vergleichbar mit dem Multizellularismus. In beiden Fällen wird die Symbiose mit der evolutionären Weiterentiwcklung so eng, dass man die Symbiose nicht mehr erkennt, sondern nur noch einen einzigen Organismus ausmacht.

    • Ah, das haben sie in ihrem Beitrag ja schon erwähnt. Vielzelligkeit kann als Symbiose aufgefasst werden.
      Interessant, weil das die Frage nach den Organismengrenzen stellt. Gerade ein extremer Ökologismus neigt ja dazu, abzustreiten, dass es überhaupt völlig selbständige Organismen, ja überhaupt Einzelorganismen gibt. Allerdings scheint der Begriff Organismus auch dann sinnvoll, wenn es gegenseitige Abhängigkeiten gibt – denn wo gibt es die nicht.

      • @ M. Holzherr

        “Allerdings scheint der Begriff Organismus auch dann sinnvoll, wenn es gegenseitige Abhängigkeiten gibt – denn wo gibt es die nicht.”

        In der Ökologie sind einseitige Abhängigkeiten etwas ganz Normales: Räuber-Beute-Beziehungen. Der Räuber ist von der Beute abhängig, das Umgekehrte gilt nicht. Allerdings kann es auf Umwegen zu einer Abhängigkeit der Beute kommen, aber das sind Sonderfälle.

        Völlig selbständige Organismen gibt es nur, wenn man allein ökologische Beziehungen betrachtet. Im Hinblick auf fortpflanzungsbiologische Beziehungen ist kein Organismus selbständig. Im vorher genannten Fall sind völlig selbständige Organismen vermutlich extrem selten, aber es kann sie geben.

        Die Theoriediskussionen in der Ökologie gehen allerdings meist etwas anders: Es wird nicht nach völliger Selbstständigkeit gefragt, sondern nach der Unabhängigkeit von den anderen Individuen dieses Systems; (siehe das lange Kirchhoff-Zitat in der Fußnote von Teil 1). Der Organismus kann in Abhängigkeit von anderen Organismen entstanden und herangewachsen sein und sich dann dem jetzigen Ökosystem, das ein ein “aggregiertes System” ist, angeschlossen haben.