Fliegenfallen gegen den Weltraumschrott

Muttersatellit und sog. BoyQuelle: astroscale.com

Internationale Konferenzen werden zu dem Thema veranstaltet [1], Heerscharen von Ingenieuren haben sich bereits die Köpfe zerbrochen, wie man ihn wieder los wird: Den Weltraumschrott. Er ist nicht nur ein Ärgernis, sondern eine regelrechte Gefahr für Satelliten, Raumstationen und überhaupt alles, was im Orbit noch irgendeine Funktion erfüllen soll.

Muttersatellit und sog. Boy. Quelle: astroscale.com
Muttersatellit und sog. “Boy”.
Credit: Astroscale
Astroscale, ein Privatunternehmen aus Singapur, hat auf der Luft- und Raumfahrtausstellung “Salon du Bourget” in Paris nun seinen höchst eigenen Schrottbeseitiger vorgestellt. Er hört auf den Namen Adras-1 und besteht aus einem kleinen Muttersatelliten und insgesamt 6 kleinen sogenannten “Boys”. Das Mutterschiff spürt den Schrott auf und sendet dann seine Boys aus. Diese heften sich mittels einer klebrigen Kopfplatte an das zu entsorgende Objekt und befördern es dann aktiv aus dem Orbit. Schlussendlich verglüht der Schrott (samt Boy, so wie ich das verstehe) in der Erdatmosphäre. Angeblich kann Adras-1 Objekte bis zu einem Gewicht von 50 Kilogramm auf diese Weise aus dem Orbit beseitigen. Die Ausdehnung auf größere Objekte ist in Arbeit, ein Testlauf ist für 2017 vorgesehen.

Das klingt alles ganz nett, aber offen gestanden hatte ich nach der Lektüre der Projektpräsentation fast mehr Fragen als zuvor.

1. Funktioniert das überhaupt mit allen Oberflächen? Oder können die “Boys” sich nur an glatte Flächen ohne nennenswerte Krümmung heften? Meine These: Es wird keine One-Size-Fits-All-Lösung geben. Ich vermute, man wird bei einer ganzen Reihe von Objekten verschiedene Lösungsansätze miteinander kombinieren oder von Fall zu Fall abwechseln müssen. Zum Beispiel mit einem System à la “CleanSpace One“. (Es ist ja nun nicht so, als sei Adras-1 der weltweit erste Versuch, das Schrottproblem anzugehen.)

2. Können die Boys mit ihrer Fracht nur beschleunigen oder auch navigieren? Zum Beispiel um Zusammenstößen mit anderem Schrott zu entgehen und die Entstehung von noch mehr Schrottteilen zu verhindern?

3. Ein bloßes Sechsermagazin? Bei Zigtausenden größerer Schrottteile im Orbit? Man müsste ja Myriaden von Adras-Satelliten einsetzen – die dann ihrerseits ebenfalls zusehen müssten, nicht vom Schrott zu Schrott zerschossen zu werden. Ich weiß nicht, ob es unter Umständen sinnvoll wäre, solch ein System zunächst in unmittelbarer Nähe z. B. der ISS einzusetzen, gewissermaßen als schnelle Eingreiftruppe, aber einen flächendeckenden Einsatz stelle ich mir kaum praktikabel vor.

Nach einer kurzen Debatte auf Twitter gestern abend waren es der Fragen allerdings sogar noch mehr. Alexander Stirn wies darauf hin, dass das Geschäftsmodell dieser Firma ziemlich fraglich ist. Astroscale räumt selbst ein: “At the moment there is no established market, but everyone understands there is a huge need.” [2] Da steht doch leider zu befürchten, dass Astroscale die Macht des Sankt-Florians-Prinzips unterschätzt hat. Bei der NASA heißt es immerhin: “However, it should be noted that, currently, no U.S. government entity has been assigned the task of removing existing on-orbit debris.” [3] Gleiches gilt soviel ich weiß auch für die Regierungen der anderen Raumfahrt betreibenden Nationen. Und selbst wenn es da schon designierte Stellen gäbe: Es wäre wohl keine Nation bereit, sich im Alleingang um die Lösung des Schrottproblems zu kümmern.

Doch nehmen wir mal an, sämtliche Betreiber von Satelliten, Raumstationen etc. würden sich tatsächlich einsichtig zu einem Aktionsbündnis “Kampf dem Schrott!” zusammenfinden und den Einsatz von Adras & Co. flächendeckend finanzieren. Dürften die das überhaupt? Wie Daniel Fischer in der Twitterunterhaltung korrekt bemerkte, ist es von der Schrottbeseitigung zu einem offensiven ASAT-System rein technisch betrachtet nur ein kleiner Schritt. Kann es tatsächlich sein, dass bisher keine ausreichende internationale Rechtsgrundlage existiert, die es überhaupt erlauben würde, das Schrottproblem auf die beschriebene Weise anzugehen?

Ich stelle all diese Fragen hier ganz offen und keineswegs rhetorisch. Fall jemand fundierte Antworten hat, dann würde ich mich darüber freuen. Denn wenn das Schrottproblem nicht schnellstmöglich gelöst wird, sind wir relativ bald an einem Punkt, wo derart viele Objekte den Orbit vermüllen, dass die Raumfahrt an sich gefährdet ist.

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[1] Siehe auch “Konferenz-Nachlese: Das Problem Weltraumschrott” von Michael Khan sowie “Proceedings of the 6th Space Debris Workshop 2015” (PDF)
[2] http://www.theaustralian.com.au/news/latest-news/adras-1-aims-to-rid-outer-space-of-junk/story-fn3dxix6-1227409370864
[3] http://orbitaldebris.jsc.nasa.gov/Remediation/remediation.html

Nachtrag, weil’s gerade so schön passt und ich die Serie mag:

https://www.youtube.com/watch?v=AemG0TjJUcQ

Und damit verabschiede ich mich vorerst in den Urlaub.

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Ute Gerhardt hat nach dem Abitur einen B.A. in Wirtschaft, Sprachen und Politik an der Kingston University sowie eine Maîtrise in Industriewirtschaft an der Universiät Rennes abgeschlossen. Seit 1994 arbeitet sie in der Privatwirtschaft, derzeit im IT-Bereich. Ute hat zwei Kinder (*2005 und 2006) und interessiert sich neben Raumfahrt und Astronomie auch für Themen aus den Bereichen Medizin und Biologie.

14 Kommentare

  1. “Das Muttterschiff spürt den Schrott auf” … das allein ist schon mal eine hochgradig nicht-triviale Sache. So wie “Klavier spielen ist ganz einfach … man muss nur zur richtigen Zeit auf die richtige Taste hauen.” 🙂 Das Mutterschiff muss schon beim Start in dieselbe Bahn wie das Zielobjekt gestartet worden sein. Ansonsten ist es illusorisch, ein Rendezvous & Docking machen zu wollen, gar noch mit multiplen Zielobjekten.

    Angenommen, das mit dem Rendezvous geht schief, dann begegnet im besten Fall der Aufrämer dem Ziel gar nicht. Im schlimmsten Fall kommt es aber zu einer Kollision, und dann hätte der Versuch des Aufräumens zu einer deutlichen Vermehrung des Mülls geführt.

    Angenommen, das mit dem Rendezvous klappt und das Andocken des Boys auch. Das Ziel ist aber nicht kooperativ, es kann taumeln oder es ist in irgendeine Richtung orientiert. Der Boy muss sich selbst und das Ziel aber in ein niedrigeres Orbit befördern. Geht das Manöver in die falsche Richtung, dann würde die Bahn sogar angehoben und die orbitale Lebensdauer des Zielobjekts würde sich um Jahrzehnte oder Jahrhunderte erhöhen.

    Gut gemeint und gut gemacht sind in der Theorie oft dasselbe, aber in der Theorie sind Theorie und Praxis gleich, in der Praxis jedoch nicht unbedingt.

    • Vielen Dank für die aufschlussreiche Ergänzung! Das klingt ja in der Tat auch aus berufenem Munde nicht sonderlich vielversprechend.

    • PS: Ich habe soeben beschlossen, den Machern von Adras-1 heute abend eine Mail zu schreiben und nach ihren Auswegen aus hier den genannten Fallstricken zu fragen. Denn entweder ist dieses Projekt doch besser durchdacht als die Web-Präsentation erahnen lässt (was ich nach so langer Planungszeit doch sehr hoffe), oder die Herrschaften dort brauchen dringend einen Michael Khan. ^^

    • Sich an Altsatelliten anheftende Boys die dann rein passiv den Deorbit einleiten scheinen mir eine gute Idee. Allerdings müsste der Altsatellit oder die Altsatellitengruppe (Schrott) schon vor dem Start bekannt sein und in
      Phase I der Deorbitmission würde das Mutterschiff die gleiche Bahn wie das Zielobjekt im Orbit einnehmen jedoch einen grossen Abstand zur Zielgruppe haben.
      – In Phase II der Deorbitmission würden die je mit einem Miniaturionenantrieb (Electrospray) versehenden Boys sich je an ein Zielobjekt der Zielgruppe annähern und sich anheften
      – In Phase III der Deorbitmission würden die angehefteten Boys ein Bremssegel ausfahren und damit den langsamen Deorbit durch Reibung mit der Restatmosphäre einleiten

      Schwäche: Funktioniert wohl nur für niedrige Orbits.

      • Da muss man sich dann aber wirklich langsam fragen, ob eine Lösung à la “Planetes” (siehe Anime-Episode im Nachtrag) nicht die effizientere Option wäre…

    • So, eine erste Antwort von Astroscale liegt vor:

      “(…) pretty busy with the development of our 2 upcoming missions, therefore please allow us a few more days before we get back to you. Transparence really matters to us, so I want to make sure our answers match your expectations as much as we possibly can. (…)”

      Nun. Harren wir der Dinge, die da kommen sollen…

  2. Nach dem ersten Absatz musste ich sofort an die Eröffnungssequenz von Planets denken. Und dann finde ich wirklich die erste Episode am Ende des Artikels!

    Schade, eine Lösung wie in der Serie steht noch in ferner Zukunft.

  3. Nicht Müllentsorgungssatelliten sondern Laser könnten den Weltraumschrott abräumen. Doch die Realisierungschancen für >”Laserkanonen”, die mit ihrem Beschuss Altsatelliten, aber auch Kleinteile bis hintunter auf 10 cm Grösse (Zitat:” No other solutions have been proposed that address the
    whole problem of large and small “
    ), abschiessen sind trotz den hohen Erfolgsaussichten gering. Denn
    1) damit gäbe es auch eine ernstzunehmende militärische Weltraumwaffe.
    2) wäre dies ein Grossprojekt, das gewaltige Investitionen und einen internationale Zusammnearbeit erfordern würde. Solche Grossprojekte haben geringen Realisierungschancen.

    Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass alle Nationen an gemeinsamen Zielen wie Bekämpfung des Klimawandels arbeiten. Wäre die Erde von einem Killermeteoriten bedroht könnte es sein, dass eine Gefahrenabwehr an der politischen Uneinigkeit scheiterte und nicht etwa an den begrenzten technischen Möglichkeiten.

  4. Man sollte die einfachste Lösung wählen. Kritisch sind gerade die ältesten Oberstufen udn Satellliten, weil bei denen die Batterien nicht gesichert wurden und die Tanks noch leer sind. Idealerweise vergrößert man einfach deren aerodynamische Querschnittsläche durch das Anbringen eines einfachen Rahmens mit eingespannter Folie. Stabil braucht das nicht zu sein – wenn der Luftwiderstand so hoch ist, dass die Folie reißt, dann ist das Gefährt ohnehin schon so weit unten, dass das Problem bald gelöst ist. Wenn sich so eine Behelfsbremsfläche mal lösen sollte, ist das auch nicht so schlimm, deinn ein Objekt mit so geringer Masse und hoher Querschnittsfläche wird auch aus großen Bahnhöhen schnell abgebremst, wird also nicht zu langlebigem Schrott.

    Im Gegensatz zu allen müöglichen High-Tech-Lösungen mit chemischen oder gar Ionentriebwerken, Laserkanonen oder sonstigem bewirkt ein passives System immer eine Abbremsung, ohne weiteres Zutun, über Jahre hinweg.

    • Ja, den Wiedereintritt von Raketenstufen und Satelliten beschleunigen reduziert das Kollisionsrisiko. Bei jeder Kollision werden viele Sekundärtrümmer erzeugt, die dann eine Kettenreaktion von weiteren Kollisionen auslösen können (Kessler-Syndrom).

      Die entscheidende Frage ist: Wie viele Raketen müssen gestartet werden nur um alte Raktenstufen und alte Satelliten runterzuholen. Allein am benötigten Aufwand könnte ein Grossreinemachen scheitern.

  5. Grossreinemachen im All ist wohl nur durch Wegzappen von Müll mit starken Lasern möglich, denn nur so kann man alle 700’000 Müllstücke grösser als 1 cm herunterholen (soviele gibt es heute im Orbit). Jede andere Methode würde zuviele Raketenstarts erfordern.
    Heute gibt es bereits militärisch eingesetzte Laser mit der nötigen Leistung für “nahe” Objekte. Solch ein 10 bis 50 Kilowatt-Laser könnte irgendwann auf der ISS installiert werden und dann systematisch allen Müll herunterholen Ein erdgebundeneer Laserbasen müsste dagegen ein sehr viel höhere Leistung besitzen. Die Idee zum Grossreinemachen mit Lasern ist schon recht alt. Heute sind die nötigen Laser vorhanden und werden vom US-Militär bereits eingesetzt. Irgendwann werden sie wohl auch gegen Weltraummüll eingesetzt.

    • Der RIKEN-Vorschlag A blueprint for clearing the skies of space debris will mit Teleskop und Laser auf der ISS den Weltraummüll in einem Umkreis von 100 km herunter-Zappen.

      The EUSO telescope, which will be used to find debris, was originally planned to detect ultraviolet light emitted from air showers produced by ultra-high energy cosmic rays entering the atmosphere at night. “We realized,” says Toshikazu Ebisuzaki, who led the effort, “that we could put it to another use. During twilight, thanks to EUSO’s wide field of view and powerful optics, we could adapt it to the new mission of detecting high-velocity debris in orbit near the ISS.”
      ..
      The second part of the experiment, the CAN laser, was originally developed to power particle accelerators. It consists of bundles of optical fibers that act in concert to efficiently produce powerful laser pulses. It achieves both high power and a high repetition rate.

      The new method combining these two instruments will be capable of tracking down and deorbiting the most dangerous space debris, around the size of one centimeter. The intense laser beam focused on the debris will produce high-velocity plasma ablation, and the reaction force will reduce its orbital velocity, leading to its reentry into the earth’s atmosphere.

      Jede Methode, die alten Weltraummüll entfernen will hat ein grosses Problem , wie im Aritkel erwähnt:
      “Because the debris exists in different orbits, it is difficult to capture.”

      Ein Laser, der das Müllstück von seiner Bahn abbringt, indem er das Müllstück so stark erhitzt, dass Material verdampft, scheint mir heute die einzige Methode, mit der es gelingen kann, Müll aus unterschiedlichsten Bahnen herunterzuholen.

  6. Wegen vorbeirasendem Welraumschrot hat sich die ISS-Besatzung gerade in die angedockte Sojuskapsel zurückgezogen – als Vorsichtsmassnahme.

    die Bedeutung tiefer bis mittlerer Orbits in denen auch die ISS “verkehrt” wird zunehmen, wobei in naher Zukunft hunderte von kleinen Satelliten in diese Bahnen ausgesetzt werden anstatt ein paar Grosse. Die Tendenz geht Richtung lückenlose dichtmaschige Abdeckung der Erdoberfläche für Dinge wie Breitbandinternet, engmaschige Erdobservation.
    Damit wird die Müllabfuhr immer wichtiger. Schon bald komm man um eine Lösung des Raummülls nicht mehr herum.

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