Ziviler Nutzen von “miltärischer” Mathematik?

BLOG: MATHEMATIK IM ALLTAG

Notizen über alles und nichts, von Günter M. Ziegler
MATHEMATIK IM ALLTAG

Mündliche Abiturprüfung “Katholische Religionslehre”, Mai 1981: Mein Religionslehrer will wissen, was Heisenberg mit der “Ambivalenz von Wissenschaft und Technik” meine. Ich habe damals herumgedruckst – weil ich nicht zugeben wollte, dass ich nicht wusste, was “Ambivalenz” ist.

Was damals abstrakte “Ambivalenz” war, äußert sich heute ganz konkret als “dual-use”: Zivile Technik, die in den Kriegseinsatz kommen könnte – ein aktuelles, hochpolitisches Thema, auch bei deutschen, europäischen, russischen und US-amerikanischen Lieferungen in den nachfrühlingshaft brodelnden Nahen Osten.

Mir geht es aber nicht um die Lastwagen, auf die Raketenabschussrampen montiert werden könnten: alle Wissenschaft, Forschung und Technik kann (wenn überhaupt) zum Guten und zum Bösen eingesetzt werden – das gilt auch für die abstraktesten Ideen und Strukturen der Mathematik. Aktueller Anlass, darüber zu sprechen, ist ein noch nicht ganz fertiggestelltes Hochhaus in London, 20 Fenchurch Street, “Walkie Talkie” genannt, dessen Fassade wie ein gigantischer Parabolspiegel wirkt, das Sonnenlicht bündelt und billige Fahrradsättel entflammt und Karosserieteile an Nobelkarossen zum Schmelzen bringt, die nichtsahnende Besitzer unglücklicherweise unbeaufsichtigt im Brennpunkt des Spiegels geparkt haben. Die Geschichte ist so unglaublich wie (offenbar) wahr, und galoppiert seit ein paar Tagen durch die Gazetten – teilweise mit martialischen Überschriften: “Ein Wolkenkratzer als Strahlenkanone?” hieß das in der Stuttgarter Zeitung.

www.cityam.com/, Bericht über die Hitzeschäden durch Reflektion an der Fassade von 20 Fenchurch Street, London

(Screenshot von http://www.cityam.com/)

Aber hat irgendjemand darauf hingewiesen, dass es sich hier um ein bemerkenswertes Beispiel für zivilen Nutzen von mathematisch-physikalischer Kriegsforschung handelt, sehr ambivalent? Archimedes hat der Legende nach gigantische Parabolspiegel entworfen und bauen lassen, die dann erfolgreich verwendet wurden, um während der Belagerung seiner Heimatstadt Syrakus 215-212 v.Chr. Sonnenlicht zu bündeln und damit römische Schiffe in Brand zu setzen. 

Kupferstich auf dem Titelblatt der lateinischen Ausgabe des Thesaurus opticus, einem Werk des arabischen Gelehrten Alhazen. Die Darstellung zeigt wie Archimedes von Syrakus römische Schiffe mit Hilfe von Parabolspiegeln in Brand gesetzt haben soll. Quelle: Wikimedia/Bayerische Staatsbibliothek München

(Archimedes setzt römische Schiffe in Brand. Quelle: Wikimedia/Bayerische Staatsbibliothek München)

Ob das funktioniert haben kann, wurde nach jahrhundertelangem Streit in letzter Zeit experimentell getestet und ausführlich diskutiert. Und nun: Es funktioniert! Ein Jaguar beschädigt, ein Fahrradssattel brennt, Straßenbeläge zeigen Reparaturbedarf, Parkplätze werden vorsorglich gesperrt.

Wie konnte das passieren – wer hat Schuld? Hätte man das nicht vorher wissen können und müssen? Nun, Architekten lernen Geometrie in der Schule, und auch im Studium, und manche hassen das Fach. Und Quadriken sind ein esoterisch-anmutendes Thema aus der Hochschul-Geometrie: Flächen, die man in Raumkoordinaten (x,y,z) durch quadratische Gleichungen von der Form ax2 + by2 + cz2 + dxy +exz + fyz + gx + hy +iz + j= 0 beschreiben kann. Die Klassifikation der Quadriken war im 19. Jahrhundert wohl Schulwissen; sie wird jetzt in den Anfängervorlesungen des Mathematikstudiums als Teil der “Linearen Algebra und Analytischen Geometrie” recht stiefmütterlich betrachtet. Das ist schade, und auch nicht angemessen, denn die Quadriken sind Grundformen der Natur, der Technik, der Wissenschaft – viele davon schön, viele davon nützlich, manche davon gefährlich. Aus der Formenvielfalt, die es da zu entdecken und zu bändigen gilt, greife ich hier nur zwei besondere Strukturen heraus:

  1. einschalige Hyperboloide werden für Turmkonstruktionen verwendet, unter ihnen nicht nur der Moskauer Fernsehturm, sondern auch die Skulptur Mae West am Effnerplatz in München. Eine wichtige Struktur für Ingenieure und Architekten (weil sich das Hyperboloid aus Geraden zusammensetzen lässt, eine Regelfläche ist), aber eben auch Kunst!
  2. Rotationsparaboloide werden als Spiegel verwendet, um parallel-einfallendes Licht (etwa von der Sonne) auf einen Punkt (den Brennpunkt) zu fokussieren – oder aber Licht, das aus einem Punkt kommt (Glühbirne!) in paralleles Licht zu transformieren (Parabolspiegel!). Das ist also eine Kriegswaffe bei Archimedes, aber ein Segen für die Autofahrer – und jetzt ein Problem in London, weil die Architekten des Gebäudes offenbar nicht wussten, dass und wie Quadriken als Spiegel wirken.

Quadriken für das Leben, als Kriegswaffen, als Hochhausfassaden, und als Kunstwerke!
Warum mich das gerade jetzt so elektrisiert? Weil das mehrere Erzählstränge verbindet aus meinem neuen Buch “Mathematik – Das ist doch keine Kunst!”, das gerade eben fertig geworden ist:

Cover von Günter M. Ziegler: Mathematik - Das ist doch keine Kunst!, Knaus 2013, 300dpi

Darin tauchen die Quadriken in zwei ganz unterschiedlichen Kapiteln auf: in dem Kapitel über Mathematik und Krieg, und über die “Mae West”-Skulptur in München. Das Buch präsentiere ich erstmals am 17. September in Berlin im Museum für Kommunikation und freue mich auf Gäste!  

Veröffentlicht von

Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, Leiter des “Medienbüros” der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Aktivist, Kommunikator, Sekttrinker, Gelegenheitsblogger, Kolumnist und Buch-Autor: "Darf ich Zahlen?" und "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!".

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