Nachruf auf einen kritischen Leser: Ingo-Wolf Kittel

Er war Philosoph und Facharzt für psychotherapeutische Medizin. Manchen von uns ist er als kritischer und wortgewandter Diskussionspartner mit einem langen Atem aufgefallen: Ingo-Wolf Kittel wehrte sich gegen unpassende Vereinfachung, gegen die Reduktion des Menschen auf die Aktivierung von ein paar Hirnzellen. Vor zwei Monaten ist er von uns gegangen.

Dass mich dieser Name einige Jahre lang begleiten würde, konnte ich mir am 19. März 2007 beileibe nicht vorstellen, als ich die erste E-Mail von Ingo-Wolf Kittel erhielt. Er kommentierte darin einen Leserbrief, den ich an die Zeitschrift Gehirn&Geist geschickt hatte, und merkte vor allem kritisch meine Verwendung des Begriffs „geistiger Zustand“ an. Es ging – wie so oft davor und danach – um den Zusammenhang von Gehirn und Geist. In der Beschreibung dieses Zusammenhangs stoßen wir nicht nur schnell an wissenschaftliche, sondern vor allem auch an sprachliche Grenzen. Kittels Einwand war berechtigt, doch wie präzise kann man sich ausdrücken, zumal in einem Leserbrief?

Im Laufe der Zeit erfuhr ich auch von dem ein oder anderen Kollegen, dass er schon (elektronische) Post von Ingo-Wolf Kittel erhalten hatte. Zuschriften von außeruniversitären Fachleuten sind mitunter ambivalent: Manche denken, sie hätten eine große Entdeckung gemacht, eine Lösung oder eine Theorie entwickelt, die einen wichtigen Baustein im wissenschaftlichen Gedankengebäude darstellen könnte. Verdächtig ist es vor allem, wenn diese Zuschriften nichts mit der eigenen Forschung zu tun haben. So nicht jedoch bei Ingo-Wolf Kittel: Er hatte sich nicht nur die richtigen Gesprächspartner ausgesucht, sondern begegnete ihnen auch auf Augenhöhe.

An echtem Gedankenaustausch interessiert

Wenig Berührungsängste, nie um Worte verlegen – Ingo-Wolf Kittel machte es einem nicht immer einfach. Wenn man sich aber auf seine Gedanken einließ, dann merkte man schnell, dass er einen berechtigten Punkt hatte und vor allem an einem echten Austausch interessiert war. Wie oft begegnet man heute im Internet Leuten, die zwar vorgeben, mit einem zu diskutieren, aber reine Selbstgespräche führen? Damit es sich solche Menschen nicht zu einfach machen, es sich nicht zu bequem in ihrem Elfenbeinturm mit ihren Theorien und Definitionen einrichten, brauchen wir Menschen wie Ingo-Wolf Kittel.

Über die Jahre hinweg dürfte er nicht nur mit seinen Zuschriften in Gehirn&Geist, sondern auch in Diskussionen hier bei den SciLogs dem einen oder der anderen von uns begegnet sein. Dabei ging es ihm nicht nur um das Verhältnis von Geist und Gehirn, sondern auch um breitere wissenschaftstheoretische Fragen. Ich erfuhr ferner, dass er in Augsburg ein „Philosophisches Café“ gegründet hatte, in dem er sich regelmäßig mit Gleichgesinnten traf und über aktuelle Themen von Philosophie und Forschung verständigte. Ich bedaure, dass es mir nie gelungen ist, an einem dieser Cafés teilzunehmen.

Ingo-Wolf Kittel * 24. 10. 1945 †18. 11. 2013 Philosoph und Facharzt für psychotherapeutische Medizin; Gründer des Augsburger Diskussionskreises „Philosophisches Café“ (Foto mit freundlicher Genehmigung von Gertrud Bauer)
Ingo-Wolf Kittel
*24. 10. 1945 †18. 11. 2013
Philosoph und Facharzt für psychotherapeutische Medizin
Gründer des Augsburger Diskussionskreises „Philosophisches Café“
(Foto mit freundlicher Genehmigung von Gertrud Bauer)

Überraschend kam es gut sechs Jahre nach unserem ersten E-Mail-Kontakt dann doch zu einer Begegnung. Am. 18. Februar 2013 hielt ich zusammen mit Norbert Nedopil, dem LMU-Professor für Forensische Psychiatrie, in München einen öffentlichen Vortragsabend über die Biologisierung von psychischen Störungen und kriminellem Verhalten (Von Gehirnen und Menschen). Nach den Vorträgen und der moderierten Diskussion im gut gefüllten Amerika-Haus am Karolinenplatz blieben noch viele Gäste zur Fortsetzung der Gespräche. So auch Ingo-Wolf Kittel. Er stellte sich mir vor, entschuldigte sich aber auch dafür, dass er aufgrund einer Chemotherapie sehr müde sei und deshalb auch gleich zurück nach Augsburg müsse. Wie viel Kraft es ihn gekostet haben mag, für den Vortrag extra nach München gekommen zu sein; vielen Dank für diese Ehre!

Seine Lieblingsthemen bleiben wichtig

Es ist sehr schade, dass Ingo-Wolf Kittel die Gehirn&Geist-Beiträge zum zehnjährigen Jubiläum des Manifests gerade verpasst hat: In der Ausgabe 1-2/2014 gibt es einen Schwerpunkt zum Wettlauf ums Gehirn, die großen Projekte in der EU und den USA zum Verständnis des Gehirns; in Ausgabe 3/2014 wird ein Gespräch mit Kathrin Amunts und Gerhard Roth über das Manifest und die Zukunft der Hirnforschung erschienen; voraussichtlich in der Ausgabe 4/2014 dann mein eigener Kommentar zum Jubiläum. Das Thema hätte ihn sicher brennend interessiert und zu so mancher Zuschrift motiviert; dann hätte er mir wieder vorwerfen können, einen Begriff wie „geistiger Zuständ“ nicht genau genug definiert zu haben. Meinen eigenen Text schreibe ich gerade im Gedenken an ihn.

Unter den vielen Zeilen Text, die mir Ingo-Wolf Kittel im Laufe der Jahre schrieb, fand sich auch die mehrmalige Empfehlung zur Lektüre der Habilitationsschrift Dirk Hartmanns: Philosophische Grundlagen der Psychologie (PDF). Als ich vor einigen Monaten im Zug die Einführung des Buchs las, wurde mir klar, wie Recht Kittel mit seinen Empfehlungen, ja beinahe Ermahnungen hatte. Ich will im Jahr 2014 endlich nachholen, was ich so oft aufgeschoben habe, und die ganze Habilitationsschrift lesen. In diesem Sinne ein letztes Mal: Vielen Dank, Ingo-Wolf Kittel!

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10 Kommentare

  1. Mit “iwk” hatte ich auch öfters zu tun. Er hat schon bei den alten Foren auf wissenschaft-online.de fleißig kommentiert. Unter anderem mit Heinz Werner Enders, der vor ein paar Jahre gestorben ist. Als die Scilogs starteten war er direkt von Anfang an mit dabei. Nun ist es endgütlig damit vorbei.

    Gut, daß Du darüber geschrieben hast, Stephan.

  2. Die Google-Suche nach “Ingo-Wolf Kittel Augsburg” liefert bei mir “Ungefähr 15.700 Ergebnisse in 0,40 Sekunden”. Im Internet lebt er also noch. Man findet ihn dort in verschiedenen “Kreisen”.

  3. Danke, Ingo-Wolf Kittel, iwk, Ingo…! Danke, Stephan, für diesen Nachruf auf unseren Kollegen, Mentor, Freund… Er ist jetzt überall dort, wo wir seiner gedenken und seine Spuren weitertragen! Karin

  4. Auch auf meinem Blog war er phasenweise sehr aktiv. Danke, Stephan, dass Du ihn hier würdigst und damit die vielen konstruktiven Kommentatoren in den Blick rückst. “iwk“ war ein Original.

  5. Jetzt bin ich wirklich geschockt, daß dieser aktive, lebendige Mensch nicht mehr unter uns sein soll. Ich hätte ihm so sehr gewünscht, daß er noch eine große Arthur Kronfeld Biographie veröffentlichen. Aber man kann nur voller Bewunderung dafür sein, für was er sich alles interessierte und gekonnt kommentierte.

  6. für mich war ingo kittel ein wunderbarer menschenkenner, der mir das erwachen beibrachte.
    nichts ist wichtiger als achtsamkeit und das eine vom anderen unterscheiden lernen zu wollen und zu können….

    DANKE – Ingo
    Gott mit Dir…
    Manfred Fischer – Mannheim

  7. Hi , Manfred – und nun?!
    Liebe Grüße,
    Andreas – bist wohl immer noch auf der Suche 🙂
    Kommt denn mal eine Antwort von dir?!
    “Schade, dass bisher keine Antwort von dir kam.
    Wie denn auch?!

  8. Hallo,

    ich habe diese Seite gerade zufällig gefunden. Tatsächlich habe ich auch schon einmal vor ein paar Jahren Feedback von Ingo-Wolf Kittel auf meinem privaten Blog bekommen: https://willensfreiheitsblog.wordpress.com/2010/08/13/willensfreiheit-9173667/

    Er meldete sich einfach ganz unvermittelt, was mir sehr sympathisch war. Es ging ihm einfach um den direkten Austausch über die Themen, die ihn interessierten.

    Es ist sehr schade zu erfahren, dass er inzwischen verstorben ist.

  9. Hey ihr Lieben,
    die ihr i.w.k. auf die eine oder andere Weise kennen gelernt habt.
    Ich möchte etwas zur Entmystifizierung beitragen. Er war nicht immer und jeder Zeit auf Augenhöhe. Auch er hatte sein Leben mit allen Problemen und Fragen! Ich habe ihn 1988 kennen gelernt – als Psychotherapeut in Mannheim. Da hatte er sehr viel mit sich und der Scheidung zu tun – und das beschäftigte in bis zu Letzt! Ich hatte über die Jahre viel mit ihm zu tun gehabt und auch etliche Telefonate, wo er mir gerne zugestanden hatte, mich, als sein ehemaliger Patient, in der Psychotherapie, sich um eine seiner Töchter zu kümmern.
    Er hatte mir in den Jahren sehr viel Privates von ihm anvertraut.
    Ich habe ihn völlig anders kennen gelernt – sehr privat und Fragen an mich stellend. Nicht der Alleswisser – sondern offen und verletzlich- fragend!
    Warum ist es denn – ob der ganzen Diskussion – was ihn angeht – so schade, dass er verstorben ist? Wenn man ihn verstand, käme da kein Schade!
    LG
    Andreas

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