Warum der Neurodeterminist irrt

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Mensch, Gesellschaft und Wissenschaft
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Für den Neurodeterministen legt das Gehirn alles fest, lässt sich der Mensch auf sein Gehirn reduzieren. Warum diese Annahme nicht nur philosophisch und wissenschaftlich falsch ist, sondern auch gesellschaftlich gefährlich, lesen Sie hier bei Menschen-Bilder.

Der Mensch ist sein Gehirn; das Gehirn legt den Menschen fest; wir können den Menschen verstehen, wenn wir sein Gehirn verstehen – all dies sind Varianten der These mancher Hirnforscher und Philosophen, die ich gerne unter dem Begriff „Neurodeterministen“ zusammenfasse.

Die neurodeterministsiche These wurde beispielsweise schon von Francis Crick („The Astonishing Hypothesis“), Gerhard Roth („Das Gehirn und seine Wirklichkeit“), Wolf Singer („Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung“) oder erst kürzlich von Dick Swaab, einem niederländischen Neurologen, vertreten. In dessen Buch „Wij zijn ons brein“ (dt. „Wir sind unser Gehirn“), das sich in den Niederlanden mehr als 400.000-mal verkaufte und das kürzlich in deutscher Übersetzung erschien, heißt es beispielsweise, wir besäßen kein Gehirn, sondern wären eines – bestimmte Krankheiten, psychischer wie körperlicher Art, und beispielsweise auch sexuelle Vorlieben könnten im Körper lokalisiert und so erklärt werden.

Man muss schon lange interpretieren, um eine Formulierung der neurodeterministischen These zu finden, die nicht schon auf den ersten Blick unsinnig oder falsch ist. Dass beispielsweise die Identifikation der Person mit ihrem Gehirn in die Irre führt, lässt sich unmittelbar dadurch einsehen, dass man einem davon eine Eigenschaft zuweist und prüft, ob diese dem anderen zukommt – Identität setzt identische Eigenschaften voraus.

Beispiele hierfür kann sich jeder ausdenken: Ich kann Fahrrad fahren; mein Gehirn kann es aber nicht (wohl aber trägt es zu diesem Können bei). Ich kann Verträge abschließen; mein Gehirn kann dies nicht (dito). Ich werde dafür als Person zur Verantwortung gezogen, wenn ich sie nicht einhalte, nicht mein Gehirn. Ich habe Freunde; mein Gehirn hat keine Freunde (was könnten meine Freunde mit meinem Gehirn, beispielsweise präpariert in einem Glas mit Nährlösung, schon anfangen, außer es in die Vitrine zu stellen?). Ich trinke gleich einen Kaffee; mein Gehirn kann jedoch keinen Kaffee trinken (auch wenn es beim Verhalten eine Rolle spielt und sich die Konsequenzen des Kaffeetrinkens auf es auswirken). Und so weiter.

Ohne alles ist unser Gehirn nichts

Mein Coblogger Christian Hoppe verwendet gerne die Formulierung, „Ohne Hirn ist alles nichts“ (siehe auch sein gleichnamiges Buch, herausgegeben mit Frank Vogelsang, in dem auch ein Beitrag von mir über „Gedankenlesen“ enthalten ist). Wie ich unlängst in seinem Beitrag über Neurotheologie erfuhr, geht sie auf die Mutter Christian Elgers, Direktor der Bonner Universitätsklinik für Epileptologie, zurück. Wir können die Formulierung so verstehen, dass das Gehirn eine notwendige Voraussetzung für alle Geistestätigkeiten des Menschen ist. In meiner Replik argumentierte ich dafür, dass es sich dabei um ein philosophisches Postulat handelt und um keinen naturwissenschaftlichen Satz.

Der Neurodeterminist, um den es mir hier geht, geht aber weiter als es Hoppes Postulat – oder das der Mutter seines Chefs – ausdrückt: Für ihn bestimmt schließlich das Gehirn die Gesamtheit des Menschen, ist also nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung. In meinem Buch „Die Neurogesellschaft“ versuche ich zu zeigen, dass die Aussage des Neurodeterministen schon für die Hirnforschung selbst falsch ist und noch weniger für den Menschen in seiner natürlichen, zwischenmenschlichen, sozialen und kulturellen Umwelt gilt. Schließlich ist es (im gelingenden) Experiment schon die Hand des Experimentators, die mittels der experimentellen Situation das Gehirn festlegt, um so ein bestimmtes, reproduzierbares Verhalten zu erzeugen. Das Gehirn wird gemäß der experimentellen Logik also festgelegt und nicht umgekehrt. Selbst wenn das Gehirn für dieses Verhalten notwendig ist, ohne die Situation würde das Verhalten nicht auftreten.

Auch wenn ich der Meinung bin, dass für Hoppes philosophisches Postulat einige Vernunftgründe sprechen, sehe ich gleichzeitig das Risiko, dass es zu einseitig verstanden wird: Eben nur mit Bezug auf die Richtung, in der das Gehirn das Verhalten beeinflusst und nicht, umgekehrt, die Situation das Gehirn. Ergänzend möchte ich daher das Postulat formulieren, dass das Gehirn ohne alles nichts ist.

Damit überhaupt ein Gehirn entstehen kann, müssen schon zahlreiche Voraussetzungen vorliegen, die nicht diesem Gehirn selbst entstammen. Die entsprechenden Phasen der Entwicklung eines Menschen zu beschreiben, überlasse ich lieber einem Biologen. Es gehört aber inzwischen zum Allgemeinwissen, das sich etwa per Gesetz in mehreren Ländern auf Weinflaschen niederschlägt, dass Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu verschiedenen Entwicklungsstörungen führen kann. Auch hier kann das Gehirn also durch Umwelteinflüsse entscheidend beeinflusst werden.


Anders als es uns der Neurodeterminist weismachen möchte, wird das Gehirn selbst von vielen äußeren Einflüssen festgelegt. Bildquelle: Gerd Altmann / pixelio.de

Ein anderes anschauliches Beispiel kam mir jüngst durch eines meiner liebsten Hobbys, den Tanz, in den Sinn. Auf einem Festival sah ich kürzlich die Vorführung einer niederländischen Tanzgruppe und darüber stieß ich auf die Musikantin Lindsey Stirling. Deren Wikipedia-Seite entnehme ich, dass sie ihren Vater schon im Alter von nur fünf Jahren um Violinunterricht bat. Dieser Wunsch dürfte ihr Leben – und ihr Gehirn – nachhaltig beeinflusst haben. Doch woher kam ihr Wunsch? War ihr das angeboren?

Anders als bei Grundbedürfnissen wie Hunger und Durst wird das Bedürfnis nach Violinunterricht nicht aus sich heraus entstehen – es setzt schließlich voraus, dass es überhaupt so etwas wie Violinen gibt und man damit schon Erfahrung gemacht hat. Tatsächlich heißt es auf der Wikipedia-Seite, dass die klassische Musik, die ihr Vater spielte, also ein Umwelteinfluss, in der jungen Lindsey diesen Wunsch auslöste. Dass sie ihn verwirklichen konnte, hing entscheidend von der Unterstützung seitens der Eltern sowie dem gesellschaftlichen Rahmen ab. Andernfalls gäbe es jetzt nicht die so erfolgreiche Musikantin Lindsey Stirling, obwohl das Gehirn dieser hypothetischen anderen Frau dasselbe Gehirn eines fünfjährigen Mädchens als Vorläufer gehabt hätte. Ohne alles ist das Gehirn nichts.

Das bringt mich zu einem eigenen Beispiel: Ich leide sehr darunter, dass ich kein Instrument gelernt habe. Ich weiß noch, dass meine Mutter in unserer alten Wohnung eine Heimorgel hatte. Doch nach einem Umzug, als ich nur sechs Jahre alt war, wurde es dann verkauft, weil die neue Wohnung zu klein war, wie es hieß. Womöglich ist mir damit die Chance entgangen, frühen Kontakt mit diesem Instrument zu haben.

Beim Tanz verhält es sich ähnlich: Freunde von mir werden sich noch an mein peinliches Zappeln erinnern, wenn wir früher in die Disco gingen. Mir waren die normalen Bewegungen, die man so auf der Tanzfläche sah, einfach nicht genug. Mir war jedoch nie in den Sinn gekommen, dass man – abgesehen von den klassischen Gesellschaftstänzen, die ich zu steif fand – auch Tanzunterricht nehmen kann; in meinem Bekanntenkreis gab es damals auch niemanden, der mir als Vorbild hätte dienen können. Es würde bis zu meinem neunundzwanzigsten Lebensjahr dauern, dass ich intensiv mit Tanzunterricht anfange, wofür das Angebot in Bonn, wo ich damals meine Doktorarbeit schrieb, mitentscheidend war. Inzwischen kennt man mich als leidenschaftlichen Tänzer.

Das Neurodeterminismus-Postulat ist gesellschaftlich gefährlich

Es geht hier jedoch nicht nur um Philosophie, um ein mehr oder weniger der einen oder anderen Geisteshaltung. Nein, dem Neurodeterminismus zu folgen ist gefährlich, wenn es uns dazu verleitet, nur auf der Ebene des Gehirns die Problemen des Menschen oder gar der Gesellschaft zu identifizieren und dafür andere Möglichkeiten aus den Augen zu verlieren. Beispielsweise verweist der Psychiater Peter Krämer auf die psychopharmakologischen Pillen, die in den 1950er und 1960er Jahren vermehrt unzufriedenen Hausfrauen gegeben wurden, sodass die Pillen sogar als „Mother’s Little Helpers“ bekannt wurden (siehe auch dieses gleichnamige Lied der Rolling Stones – die Mutter stirbt hierin am Ende an einer Überdosis der Medikamente).

Dabei befanden sich diese Frauen vielleicht in einer unangenehmen sozialen Situation, die ihnen feste Rollen vorschrieb, und wäre es eine Alternative zu Beruhigungsmitteln oder Stimmungsaufhellern gewesen, ihnen mehr Freiheit zur Gestaltung ihrer eigenen Lebensentwürfe zu geben. Angesichts der hohen Anzahl psychischer Erkrankungen (Zivilisationskrankheiten in Deutschland) sollten wir jedenfalls nicht die Frage aus den Augen verlieren, was die „Mother’s Little Helpers“ und die Alternativen der heutigen Zeit sind. In der Diskussion um Gehirndoping habe ich wiederholt darauf hingewiesen, dass die heutigen Stimulanzien beziehungsweise Durchhaltepillen – in der Sprache der alten Rollenmodelle – womöglich „Papas neue Helferlein“ sind.

Ich sprach eingangs davon, eine Interpretation der neurodeterministische These zu suchen, die nicht schon auf den ersten Blick unsinnig ist. Da ich hierzu bisher vonseiten der Neurodeterministen leider sehr wenig gelesen habe, habe ich sie nun selbst als epistemische These formuliert: Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen? Ein starker Neurodeterminist müsste behaupten, wir könnten das zukünftige Verhalten eines Menschen vollständig voraussagen, wenn wir alles Wissen über sein Gehirn hätten. Die Beispiele, die ich hier diskutiert habe, genügen schon, um diese These als falsch zurückzuweisen. Menschliches Verhalten ist eine Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt – dies zu leugnen widerspricht nicht nur der Alltagserfahrung und der verhaltenswissenschaftlichen Logik, sondern ist zudem noch gesellschaftlich gefährlich.

Ich für meinen Teil werde nun untersuchen, wie sich ein Abendspaziergang am Züricher See, in das Licht des Sonnenuntergangs getaucht, auf mich und mein Gehirn auswirken wird.

P.S. In einer früheren Fassung habe ich irrtümlicherweise von einer “Epidemiologischen Universitätsklinik in Bonn” gesprochen – gemeint war aber die Bonner Universitätsklinik für Epileptologie.

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470 Kommentare

  1. Sophisterei

    Der Satz “Ohne Hirn ist alles nichts” steht nicht in Widerspruch zur Aussage dieses Beitrags und kollidiert nicht mit dem Satz “Ohne alles ist unser Gehirn nichts”, denn “Ohne Hirn ist alles nichts” ist ja keine logische AllAussage über die ganze Welt.

    Mit dem Satz “Ohne Hirn ist alles nichts”? wollte Herr Hoppe ja lediglich sagen, dass es ohne Hirn kein Bewusstsein, keinen Geist, halt überhaupt keine geistige Aktivität gibt.

    Sogar die Aussage „Wir sind unser Gehirn“ kann Sinn machen, wenn man sie richtig auffasst, nämlich so: “Was wir erleben, worüber wir nachdenken, wie wir mit der Welt interagieren realisiert sich für uns erst durch die Verarbeitung in unserem Hirn.”
    In der Konsequenz würde das bedeuten, dass man einer Person eine Realität vorgaukeln könnte, indem man die richtigen “Informationen” über eine Hirnschnittstelle ins Hirn einspeist.
    Eine weitverbreitete Auffassung und Thema einiger Science-Fiction-Stories (sogar von Filmen wie Total-Recall).

    Wobei ich zugegebenermassen eher dazu tendiere die von allen gemeinsam erlebte Realität als auch physisch existierende Realtität aufzufassen und nicht nur als “Hirnrealität”.

    Wer aus der These, die Hirnprozesse schüffen erst unsere erlebte Welt folgert, wir müssten das Hirn beeinflussen und nicht die Welt, ist für mich darum auf dem Holzweg.
    Wobei dieser Versuch -Beeinflussung des Erlebten anstatt Ändern der Realtität – uralt ist. “Brot und Spiele” im alten Rom sollten doch schon damals die Menschen zufriedenstellen damit sie nicht auf dumme Gedanken kamen und etwa ihre fehlenden Mitsprachemöglichkeiten zur Sprache brachten.

  2. Software

    Das Gehirn entspricht der Hardware, und die angeborenen, anerzogenen und erlernten Informationen entsprechen der Software.

    Nach dieser Einteilung gibt es auch die Dualität von Körper und Geist.

    Ohne die anerzogenen und erlernten Informationen gibt es nur ganz einfache Verhaltensweisen, die aber das Überleben sichern sollen.

    Natürlich determinieren auch die anerzogenen und erlernten Informationen die komplizierteren Verhaltensweisen.

    Der Zufall ist zumeist die Kausalität, die vom Nachbarn kommt.

    Die angeborenen Informationen haben vorwiegend die Funktion von Sollwerten.

    Die erlernten Informationen haben vorwiegend die Funktion von Istwerten.

    Die anerzogenen Informationen können sowohl als Sollwerte als auch als Istwerte funktionieren.

    Zum Erwerb von anerzogenen Informationen muss die Erziehbarkeit angeboren sein.

    Zum Erwerb von erlernten Informationen muss die Lernfähigkeit angeboren sein.

    Zum Verarbeiten von Informationen muss die Denkfähigkeit angeboren sein.

  3. Schade

    Schade, ich dachte, als ich die Überschrift las, dass der Artikel von der deterministischen Natur des Gehirn handelt und nicht vom Gehirnkonstruktivismus.
    Wenn das Gehirn nicht als Sammelbegriff des Ichs ausreicht und er um die Peripherie erweitert werden muss, würden sie dann einen “Somadeterminismus” akzeptieren?
    Was mich interessiert ist, wie deterministisch, im Sinne von Vorhersagbarkeit, ist das Gehirn jenseits des dualistischen Geplänkels.

  4. @Martin Holzherr: Sophisterei

    Ohne Hirn ist alles nichts könnte man zwar so wie von Ihnen dargestellt lesen – aber wie die nach Ihrem Beitrag bei Christian Hoppe erfolgende Diskussion zeigte, meint er sie anders. Er will damit ja jedes Leben nach dem Tode ebenso ausschließen wie die Existenz von Engeln. Also doch in die Richtung einer AllAussage gehen.

    Die Aussage Wir sind unser Gehirn ist in der von Ihnen vertretenen Lesart sogar richtig – denn bei entsprechenden Stimulationen an Gehirnzellen wird von den Versuchspersonen (Patienten die wegen ihrer Krankheit am Gehirn operiert wurden und dabei an diesem Experiment freiwillig teilnahmen) die Welt anders interpretiert. Sie erleben also die Folgen der Gehirnstimulation als Realität. (Den Nachweis finde ich leider gerade nicht.)

    Bei der Beziehung zwischen Realität und Gehirn würde ich Ihnen aus soziologisch-psychologischer Perspektive aber widersprechen. Denn was für die Berge und Täler noch gelten mag, das stimmt für Beziehungen leider nicht mehr. Diese Beziehungen sind oft das, was wir uns vorstellen – siehe selbsterfüllende Prophezeiung.

    Darum finde ich den obigen Artikel von @Stephan Schleim so gut – überträgt er doch einige bedeutsame Erkenntnisse der Soziologie und (Gruppen)Psychologie auf das Gebiet der Neurobiologie. Dabei können die Einflüsse noch viel subtiler und vor allem weitreichender sein als angesprochen: Es soll vorgekommen sein, dass sich Kinder das Erlernen eines Instrumentes nicht (nur) wegen des elterlichen Interesses an klassischer Musik gewünscht haben. Sondern weil sie intuitiv erkannt hatten, dass ein bestimmtes Instrument sehr viele Gefühlslagen sehr treffend und nahezu allgemeinverständlich zu erzeugen geeignet ist – und dessen Musik in allen Nuancen akzeptiert wurde, anders als alle ihre direkten Gefühlsäußerungen. Hätte man diesen Kindern das Erlernen der Instrumente ermöglicht, dann wäre ihre Entwicklung ganz anders verlaufen – als im Anschluss an die erfolgte Verweigerung (wobei sogar die Verweigerung wohl seitens der Eltern auf der unbewussten Wahrnehmung der Kinderprobleme zurückgeht).

  5. @Noït Atiga Hoppe irrt sie haben recht

    Hoppe hat zuviel aus begrenztem Wissen gefolgert, das habe sogar ich ihm angekreidet. Sie haben also recht, wenn sie schreiben:
    “Er will damit ja jedes Leben nach dem Tode ebenso ausschließen wie die Existenz von Engeln. Also doch in die Richtung einer AllAussage gehen.”

    Für mich geht aber auch Stephan Schleim zuweit in seinen Behauptungen, was der Neurodeterminismus aussage – wobei ich zugeben muss, dass ich den Neurodeterminismus selbst nicht kenne, sondern jetzt gerade von Stephan Schleim erfahre, was der aussagen soll:
    (Zitat)“Der Neurodeterminist, um den es mir hier geht, geht aber weiter als es Hoppes Postulat – oder das der Mutter seines Chefs – ausdrückt: Für ihn bestimmt schließlich das Gehirn die Gesamtheit des Menschen, ist also nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung.”

    Das Hirn als hinreichende Bedingung für alles was uns Menschen betrifft: Das ist einfach Unsinn und ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand behauptet.

    Neubeurteilung:
    Ich ändere den Titel von “Sohpisterei” auf “Konstruierter Diskurs”, denn solche Positionen wie sie Stephan Schleim einander gegenüberstellt basieren auf Überhöhungen und konstruierten Extrempositionen.

    Interessant finde ich Rückblick nur, dass Christian Hoppe tatsächlich als real lebende Person Aussagen über das Verhältnis Gehirn/Wirklichkeit gemacht hat, die weit überzogen waren.

    Da lobe ich mir Richard Feynman. Im populärwissenschaftlichen Buch “Vom Wesen physikalischer Gesetze” schreibt er sehr anschaulich, dass ein “richtiger” Wissenschaftler kaum je Allausagen macht, sondern mit Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten arbeitet. Bewiesen ist wenig, geglaubt werden im strengen Sinn muss aber auch wenig, denn für die meisten Erscheinungen bietet sich eine Erklärung an, die man, wenn man Zeit hat auch noch weiter erhärten kann.

    Solche Positionen wie sie Stephan Schleim dem Neurodeterminismus zuordnet sind in ihrer Absolutheit von vornherein fragwürdig.

  6. Holzherr: Wieso Sophisterei?

    Mit dem Satz “Ohne Hirn ist alles nichts”? wollte Herr Hoppe ja lediglich sagen, dass es ohne Hirn kein Bewusstsein, keinen Geist, halt überhaupt keine geistige Aktivität gibt.

    Da habe ich den Artikel aber anders in Erinnerung – insofern es den Dissenz zwischen Herrn Hoppe und mir betrifft, ging es vor allem darum, ob es sich dabei um eine Erkenntnis der Hirnforschung (so Hoppe) oder ein philosophisches Postulat (so Schleim) handelt. Wenn Ihnen dies entgangen ist, dann werfen Sie mir hier bitte nicht mal eben “Sophisterei” vor.

    “Was wir erleben, worüber wir nachdenken, wie wir mit der Welt interagieren realisiert sich für uns erst durch die Verarbeitung in unserem Hirn.”

    Wenn der Neurodeterminist lediglich meint, dass wir erleben, was unser Gehirn verarbeitet, dann möge er oder sie das bitte auch so sagen (auch “Verarbeiten” ist ein zweistelliges Prädikat!) – dann wäre meines Erachtens jedenfalls die Formulierung “Unsere Erfahrung hängt entscheidend von unserem Gehirn ab” zutreffender als “Wir sind unser Gehirn”. Womöglich ist die bescheidenere Formulierung aber für Verkaufszwecke weniger geeignet.

    In der Konsequenz würde das bedeuten, dass man einer Person eine Realität vorgaukeln könnte, indem man die richtigen “Informationen” über eine Hirnschnittstelle ins Hirn einspeist.

    Aber auch dann ist es nicht das Gehirn alleine, das die Erfahrung konstruiert, sondern das Gehirn in Abhängigkeit von der Stimulation.

  7. kluge Anmerkungen

    Der Mensch besteht nicht aus dem Gehirn allein, ein Determinismus kann nicht aus Sicht des Systemteilnehmers festgestellt werden, richtige Männer tanzen nicht, sondern lassen bestenfalls tanzen, “Neuro Enhancement” funktioniert bezogen auf bestimmte Anforderungen, der “Neurodeterminist” liegt schwer daneben.

    MFG
    Dr. Webbaer (der noch ein schönes Wochenende wünscht)

  8. @Transfektion: Wieso determ. Natur?

    Gehirnfunktion erscheint uns doch auf förmlich jeder Verarbeitungsebene indeterministisch – es ist lediglich die verzweifelte Metaphysik des Neurodeterministen, mit der er uns tretmühlenartig verspricht, wir müssten nur genügend weitere Forschung betreiben, um die restlichen Determinanten auch noch zu finden; ein Versprechen, das er noch nie eingelöst hat.

    Der von Ihnen vorgeschlagene “Somadeterminismus” bringt uns auch nicht weiter. Ist es denn so schwer zu akzeptieren, dass Lebenswelt, Körper und Gehirn einander wechselseitig und vielschichtig determinieren?

    Warum so linear denken, warum allein das Billiardkugelmodell der Kausalität im Kopf haben und sich dann noch darüber irren, wer den Queue in der Hand hält?

  9. Noït Atiga: Gehirn verkehrt aktiviert

    Die Aussage Wir sind unser Gehirn ist in der von Ihnen vertretenen Lesart sogar richtig – denn bei entsprechenden Stimulationen an Gehirnzellen wird von den Versuchspersonen (Patienten die wegen ihrer Krankheit am Gehirn operiert wurden und dabei an diesem Experiment freiwillig teilnahmen) die Welt anders interpretiert. Sie erleben also die Folgen der Gehirnstimulation als Realität. (Den Nachweis finde ich leider gerade nicht.)

    Erstens wissen Forscher in der Regel erst hinterher, was bei dieser elektrischen Stimulation passiert; das spricht nicht gerade für ein allumfassendes Gehirnwissen.

    Zweitens ist das nicht neu; sie konnten schon vor tausenden von Jahren magische Pilze essen und “die Welt anders interpretieren”.

    Drittens wissen die Patienten oft eben doch, dass es sich dabei um ein Resultat der Stimulation handelt. Dafür braucht man nur die Originalberichte genau zu lesen. Mir scheint, sie sind hier Gerhard Roth auf den Leim gegangen, der, wie ich schon in der Einleitung meines Buchs “Die Neurogesellschaft” belege, einige der Zitatstellen auf den Kopf gestellt hat.

    Zu letzterem Punkt, siehe auch den Gastbeitrag Kuno Kirschfelds (Lassen sich Willenstäuschungen erzeugen? – Kritik an „Die Neurogesellschaft“) und die anschließende Diskussion desselben hier bei Menschen-Bilder.

  10. @Martin Holzherr: Systemat. Konstruktion

    Das Hirn als hinreichende Bedingung für alles was uns Menschen betrifft: Das ist einfach Unsinn und ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand behauptet.

    Die Menschen sind manchmal beschränkter als man es sich vorstellt, wobei das bei der Vertiefung in ein Thema auch wieder menschlich ist. Und insofern muss ich Stephan Schleim zustimmen – soweit ich mich an die zitierte Literatur erinnere hat die wirklich teils diese Ansicht vertreten (auch wenn ich sie nicht mit dieser Lupe gelesen habe). Und auch wenn die Positionen wie von Ihnen und ihm kritisiert von vornherein fragwürdig sind, ihr Erscheinen ist nur logisch.

    Denn: Unsere Bildung wird zunehmend reduziert auf eine sehr schnelle und tiefe Spezialisierung. Damit wird aber auch ein bestimmter Methodenrahmen äußerst früh gelernt. Und dieser Rahmen wird dann oft fast automatisch zum alleinigen Maßstab, umso mehr als breite philosophische Vor- und Parallelbildung eher die Seltenheit ist und Aussagen von Personen außerhalb des eigenen Forschungsbereichs meist sowieso als unwissenschaftlich gelten.

  11. @Webbär: richtige Männer?

    richtige Männer tanzen nicht

    Ach, hinweg mit diesem Webbären – man gebe mir einen Tanzbären!

  12. @Stephan Schleim: Wieso?

    Ihre ersten zwei Einwürfe haben überhaupt nichts mit der angesprochenen Auslegung zu tun – es ging dort nicht um allumfassenden Gehirnwissen und nicht um Einordnung in irgendeine Geschichte, sondern nur darum, ob gelten kann:

    Was wir erleben, worüber wir nachdenken, wie wir mit der Welt interagieren realisiert sich für uns erst durch die Verarbeitung in unserem Hirn.

    Und das Gegenteil haben auch Sie noch nicht bewiesen. Ja, Ihr obiger Beitrag geht doch gerade davon aus, dass das Gehirn eine Funktion im Erleben hat, also dass wir das Gehirn einerseits für unser (Er)Leben brauchen und andererseits das Gehirn durch Körper und Umwelt geformt wird. Dann kann doch der elektronische Reiz am Gehirn auch ein Teil dieser Umwelt sein. Und selbst wenn Ihre Kritik oben unter Drittens richtig ist – dann gab es ein Resultat der Stimultation, unabhängig davon ob mit dem Berichteten identisch oder nicht. Es gab eine (Teil)Beeinflussung des Denkens, die nicht über die gewöhnlichen Sinne erfolgte. Und ehrlich gesagt: Wenn das Gehirn irgendeine Funktion haben soll – dann weiß ich nicht, wie direkte materielle Änderungen (chirurgischer, elektrischer, chemischer Art) ohne Einfluss auf unserer Denken bleiben sollen!

    Damit habe ich aber weder Ihrer These im Beitrag oben widersprochen, noch vertrete ich damit eine rein kausale Betrachtung oder verneine den freien Willen.

  13. @Stephan

    Ich verstehe nicht recht, warum der Neurodeterminist die Umwelteinflüsse, die bekanntlich für die Dynamik des Gehirns verantwortlich sind, leugnen sollte.

    Zitat: “Anders als es uns der Neurodeterminist weismachen möchte, wird das Gehirn selbst von vielen äußeren Einflüssen festgelegt.”

    Das, was wir tun, wird schließlich durch die Integration von Reizen im Gehirn bestimmt und ist damit im theoretischen Sinne sehr wohl berechenbar.
    Ausgehend von dieser Position wüsste ich nicht, warum der Neurodeterminist irren sollte.

    Gruß

  14. @Noït Atiga: keine Panik

    Ich wollte das eben einmal zuspitzen und habe nicht übersehen, dass Sie mir im Wesentlichen zustimmen. Allerdings wird mit diesen Stimulationsexperimenten oft mehr und falsch suggeriert, als sich meines Erachtens aus ihnen folgern lässt – wenn Sie das ausführlicher interessiert, können Sie das freie Probekapitel aus meinem Buch bzw. die Diskussion mit Kirschfeld hier lesen, die ich eben verlinkt habe.

    Wenn man die neurodeterministische These so formuliert, wie Sie, dann finde ich sie auch plausibler, doch hat sie dann meines Erachtens nicht mehr viel mit der provokanten These zu tun, “wir sind unser Gehirn”. Ich würde sie dann auch gar nicht mehr “Neurodeterminismus” nennen, sondern allenfalls “Psycho-sozio-biodeterminismus”.

    Zu Ihrem Beitrag eben noch eine m.E. notwendige Korrektur:

    Und ehrlich gesagt: Wenn das Gehirn irgendeine Funktion haben soll – dann weiß ich nicht, wie direkte materielle Änderungen (chirurgischer, elektrischer, chemischer Art) ohne Einfluss auf unserer Denken bleiben sollen!

    Es finden ständig materielle Änderungen im Gehirn statt, ohne dass diese unser Denken beeinflussen. Das liegt zum Teil daran, dass nicht alle Hirnstrukturen unser Denken betreffen, aber auch daran, dass die neurobiologische Welt feiner aufgelöst zu sein scheint als die Welt unserer Erfahrung – in einem Netzwerk ist ein gewisser Grad an lokaler Störung möglich, ohne darum die Funktionsweise des Netzwerks hinreichend zu stören (Holismus/Redundanz).

  15. Determinismus

    … könnte man erklären. Der D. ist nicht alltagstauglich. – Vermutlich würde sich dann auch einiges Gehüpfe auflösen.

    Der D. ist eng verbunden mit dem Realismus.

    MFG
    Dr. Webbaer

  16. @Stephan Schleim: War keine Panik

    … Ihr Buch habe ich schon mit Gewinn (nicht immer Zustimmung) gelesen, wie auch die Beiträge hier.

    Das Zitat oben war nicht meine These, sondern eigentlich nur ein Eingehen auf Martin Holzherr – im Wesenlichen bin ich ja bei Ihnen.

    Aber eine Frage/Bemerkung zu Ihrer Korrektur: Sie haben aus meiner Sicht insofern Recht, als mancher äußere Eingriff vom Gehirn selbst aufgrund der Redundanz und des Holismus korrigiert wird. Andererseits sind die ständigen Änderungen im Gehirn ja vermutlich doch mit ständigen Änderungen des ‘Denkens’ verbunden – nicht mit bewussten oder sofort spürbaren, aber doch mit prinzipiell nachweisbaren (wenn man so genau messen könnte – was allerdings das Denken wieder beeinflusste). Denn auch wenn keine Störung des Netzwerkes stattfindet, so doch wohl eine Veränderung – und die kann zumindest langfristig auf das Denken rückwirken. Trotz Holismus und Redundanz, oder?

  17. @Tom:Man verstehe den Neurodeterministen

    Tja, ich verstehe auch nicht, warum der Neurodeterminist dies alles leugnen sollte, vor allem dann, wenn er über umfassende Menschen- und wissenschaftliche Kenntnis verfügt.

    Er tut es aber dennoch, wenn er beispielsweise solche Formulierungen verwendet wie diese, wir seien unser Gehirn oder Schaltkreise des Gehirns legten unser Verhalten fest.

    “Ich bin mein Gehirn”, ist eine Identitätsaussage. “Gehirnschaltkreise legen unser Verhalten fest”, drückt ein zweistelliges Prädikat aus: Festlegen(Gehirnschaltkreise, Verhalten).

    Tatsächlich formulieren Sie aber selbst ein zutreffenderes dreistelliges Prädikat, wenn Sie schreiben:

    Das, was wir tun, wird schließlich durch die Integration von Reizen im Gehirn bestimmt und ist damit im theoretischen Sinne sehr wohl berechenbar.

    Festlegen(Reize, Gehirn, Verhalten). Wenn Ihnen nicht klar ist, dass es hier einen wichtigen Unterschied zwischen dem zwei- und dreistelligen Prädikat gibt, dann denken Sie bitte noch einmal über den Sinn und die Bedeutung der jeweiligen Aussagen nach.

    Im Übrigen irren Sie sich meines Erachtens mit Ihrer Aussage über die Berechenbarkeit: Ein Doppelpendel/Chaospendel gilt beispielsweise als deterministisch, sein Verhalten ist jedoch nicht berechenbar, von bestimmten Rahmenbedingungen abgesehen, unter denen sich die Lösung numerisch annähern lässt.

    Dabei haben wir es gerade einmal mit der Kombination zweier Pendel zu tun und nicht mit der Verschaltung von 80 Milliarden Neuronen plus zahlreicher anderer Zellen.

    Ausgehend von dieser Position wüsste ich nicht, warum der Neurodeterminist irren sollte.

    Ganz einfach: Ihr Neurodeterminist ist eben keiner mehr.

  18. Noït Atiga: offene Frage

    Von Philosophen werden gerne die Ideen der Supervenienzthese und der multiplen Realisierbarkeit bemüht: Beiden zufolge ist es möglich, dass einem bestimmten mentalen Prozess unterschiedliche neurobiologische Prozesse zugrunde liegen.

    Supervenienz heißt (in einer üblichen Ausformulierung): Eine Änderung des mentalen Zustands erfordert eine Änderung des neurobiologischen Zustands; und bei gleichem neurobiologischen Zustand muss der gleiche mentale Zustand vorliegen. Das ist jedoch logisch damit kompatibel, dass viele verschiedene neurobiologische Zustände ein und denselben mentalen Zustand realisieren.

    Wie weit man im Gehirn eingreifen kann, bis sich dies aufs Denken ausschlägt, ist eine sehr offene und allgemeine Frage. Bedenken Sie, dass es im Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren gibt. Das wären wohl aber nicht mehr ganz ethische Experimente.

  19. @Stephan Schleim: nur Gedankenexperiment

    Dem stimme ich wieder zu – und ich wollte auch keine realen Experimente anregen. Nur prinzipiell ist mit der Supervenienz ja folgende Vermutung vereinbar: Mit jeder kleinsten Änderung von außen ändert sich das Gehirn insofern als zwar der aktuelle psychische Zustand identisch bleibt – aber die Reaktion in der Zukunft manipuliert wird.
    Das zu testen dürfte aber auch prinzipiell unmöglich sein.

  20. @Stephan

    Eigentlich wollte ich nur darauf hinaus, dass wohl niemand, der sich selbst als “Neurodeterminist” bezeichnen würde, das Gehirn als in sich geschlossenes System ansieht.

    (Im Falle dieser, von ihnen geschilderten, Position des Neurodeterministen halte ich ihre Kritik für berechtigt. Letztlich ist das nicht mehr als eine Definitionsfrage.)

    Ein Determinist – ob “Neuro-” oder nicht – müsste neuronale Prozesse genauso als Teil einer Kausalvernetzung ansehen, wie alles andere auch.

    Zum Thema Berechenbarkeit: Dass wir etwas nicht berechnen können, heißt nicht, dass das generell nicht möglich ist. Und abgesehen davon spricht die Unberechenbarkeit eines Phänomens nicht gegen einen Determinismus. Deshalb müsste ein Neurodeterminist nach meiner Auffassung auch nicht davon überzeugt sein, die Handlung eines Menschen vorausberechnen zu können, nur weil er dessen Gehirn in aller Genauigkeit kennt: Solange er sich im selben Kausalsystem befindet wie der andere Mensch nimmt der Berechnungsvorgang selbst auch wieder Einfluss usw.usw… die alte Leier.

  21. Noït Atiga: Priming

    Wieso sollte das experimentell nicht messbar sein? In Priming-Experimenten versucht man doch genau das: Der VP einen Reiz zu zeigen, der unter der Wahrnehmungsschwelle liegt, aber eben doch Verarbeitungs- und Verhaltensprozesse beeinflusst. Wenn sich dann später ein Verhaltensunterschied messen lässt, dann schließt man darauf, dass das Priming zum vorherigen Zeitpunkt erfolgreich war.

    Jetzt müssen wir aber aufpassen, worüber wir eigentlich reden, denn nun schießen uns die Unterscheidungen bewusst/unbewusst, Verhalten/Geist und Supervenienz quer durcheinander.

    Es ist auch kein Problem für die Supervenienzthese, dass eine Änderung der neurobiologischen Zustands zum Zeitpunkt t1 erst zum Zeitpunkt t2 eine Auswirkung auf den mentalen Zustand hat, schlicht weil Supervenienz über die zeitliche Dynamik keine Aussage trifft.

    Man könnte wiederum nur sagen, wenn zu t1 und t2 unterschiedliche mentale Zustände vorliegen, dann müssen auch unterschiedliche neurobiologische Zustände vorliegen. Eigentlich könnten wir hier aber auch durch die Zeitvariable kürzen und würden mit Blick auf die Supervenienzthese keinen Inhalt verlieren.

  22. @Tom: Sprache und Determinismus

    Wenn wir etwas nicht als X ansehen, dann sollten wir idealerweise auch nicht so sprechen, als ob es ein X wäre, denn sonst sind wir verwirrt oder täuschen wir jemanden (oder beides).

    Ja, ja, wir wissen ja schon längst, was alles nicht strikt gegen einen Determinismus sprechen kann; ich versuche hier nicht zuletzt auch schon in meinem Blog seit Jahren deutlich zu machen, dass wir die epistemische und Seinsgrenze mit Blick auf die Determinismusfrage eben nicht empirisch überschreiten können, wir können nicht empirisch zeigen, dass diese Welt vollständig deterministisch und kausal geschlossen ist, warum sollten wir also so reden, als wäre die Welt so?

    Anstatt also immer nur zu reiterieren, warum das alles keine Argumente gegen einen strikten Determinismus sind, warum nicht endlich einmal bekennen, dass wir ebenfalls keine entscheidenden Argumente für einen strikten Determinismus haben und auch nicht haben können – und die strikte deterministische Sprache ein für allemal auf der Müllkippe entsorgen?

    ad Berechenbarkeit: Zumindest das Doppelpendel gilt als analytisch nicht lösbar; den Rest überlasse ich denjenigen, die mathematisch/logisch besser geschult sind als ich.

    ad Definitionsfrage: Dass es eben mehr als eine bloße Definitionsfrage ist, sondern auch politisch und sozial wichtig ist, wo wir die Determinanten/Ursachen suchen, dem habe ich gut die Hälfte meines Beitrags oben gewidmet (man denke etwa an die Mütter mit Medikamentenüberdosis).

  23. @Stephan:Determinismus im Sprachgebrauch

    Es ist völlig unsinnig, im Alltag irgendetwas mit dem Determinismus rechtfertigen zu wollen – was ja gerne gemacht wird, wenn jemand hört, dass alles vorherbestimmt sei.
    Aber das ist auch schon alles, was ich kritisieren würde.

    Das Enhancer-Problem ist wohl tatsächlich ein politisches/soziales Problem und hat wohl eher weniger mit dem “Neurodeterministischer” Einstellung zu tun. Wer ein Pille einwirft, tut dies ja nur, weil er/sie von der Wirkung überzeugt ist. Jemand, der die Dynamik des Gehirns durch Umweltreize leugnet, würde also niemals zu besagter Tablette greifen. Diese Einstellung würde viel mehr davor bewahren, jemals zu irgendwelchen vermeindlichen “Neurostimulanzien” zu greifen. Ganz nach dem Motto: “Die wirken ja eh nicht. Ich bin mein Gehirn und unabhängig von der Umwelt.”

  24. Zum Determinismus

    … kann man neben der oben behaupteten prinzipiellen Unentscheidbarkeit aus Sicht der Systemteilnehmer auch so argumentieren, dass eine Berechenbarkeit, die sich dem Humansubjekt verschließt, und zwar für alle Zeiten verschließt, nichts anderes ist als der Indeterminismus.

    Der Determinismus wird auch oft [1] als Schutz gegen den Wahnsinn oder die “Esoterik” genutzt, allein, dass ist aus einem konstruktivistischen Verständnis der Wissenschaft heraus und als Bollwerk nicht erforderlich.

    Das verstärkte Behaupten des D. dagegen, kann zu Szientismus führen. – Zudem könnten auch andere kommen und Vergleichbares behaupten, sowas will man “eigentlich” nicht.

    MFG
    Wb

    [1] sagen wir mal: aus Kreisen sich unsicher fühlenden, “realistischen” Wissenschaftlern

  25. @Stephan Schleim: Materielles Priming?

    Ich bin jetzt sportlich geprimt und muss sehen, dass ich oben mal wieder zu kurz formuliert habe. Ich meinte nämlich nicht das übliche Priming (= sensorisch vermittelter Einfluss), sondern vielmehr die im Kommentar vorher thematisierten materiellen Änderungen direkt am Gehirn. Insofern wollte ich auch nichts durcheinanderwerfen und stimme Ihren Assagen oben vollkommen zu.

    Meine These war: Jede direkte materielle Änderung am Gehirn führt zu einer Änderung der Netzstruktur. Zwar kann (wenn man der Supervenienz-These zustimmt, was ich tue) der psychische Zustand dann immer noch unverändert bleiben. Und auch die Änderungen laufen vorerst genauso ab wie ohne den materiellen Eingriff. Doch ist denkbar/wahrscheinlich, dass sich langfristig die Psyche anders entwickelt als ohne diesen materiellen Eingriff.
    Und das scheint mir experimentell nicht wirklich nachvollziehbar. Denn anders als beim Priming müsste ich dazu ja im Gehirn rumwerken ohne zu wissen was ich tue, was ethisch sehr problematisch ist. Und selbst wenn ich das dürfte hätte ich ein Problem mit der Kontrollgruppe – wie soll ich denn diese (möglicherweise) lange Zeit vergleichbar halten?

  26. @Tom: Pille fürs Gehirn

    Nein, da irren Sie sich – es sind gerade diejenigen, die uns gleichzeitig den Neurodeterminismus und die Mär von den psychiatrischen Erkrankungen als Hirnerkrankungen predigen, die natürlich nach Gehirnlösung für diese Erkrankungen suchen. Man siehe z.B. diesen Beitrag Thomas Insels in Spektrum der Wissenschaft oder das Interview mit Florian Holsboer in Gehirn&Geist.

    Wenn man sich im Gegenteil der Rolle der Umwelt im Klaren ist, dann kann man natürlich auch dort nach Ursachen und Lösungen suchen – und diese in vielen Fällen auch finden. Darauf würde der Neurodeterminist ja erst gar nicht kommen, denn “ich bin mein Gehirn”, “das Gehirn legt alles fest” usw.

  27. @Noït Atiga: Eingriff auf Gehirnebene

    Mein Verweis auf das Priming war nur ein Beispiel – wenn man direkt im Gehirn eingreift, dann wird es abhängig vom Eingriff eben manchmal a) keinerlei gegenwärtige und zukünftige, b) keinerlei gegenwärtige aber zukünftige oder c) sowohl gegenwärtige als auch zukünftige mentale Effekte geben.

    Ich sehe beim besten Willen nicht, wie Sie beweisen könnten, dass jeder noch so triviale Eingriff ins Gehirn unbedingt Auswirkungen auf den jetzigen oder zukünftigen mentalen Zustand oder das Verhalten haben müsste, selbst wenn man den Zeitraum größer werden ließe.

  28. @Stephan Schleim: W-Theorie & Ethik

    Dass es nicht experimentall beweisbar ist, hatte ich ja angesprochen.

    Mir ging es eher um die theoretische Frage – und dort sollte es beweisbar sein. Auch wenn wohl eher über die Überlegungen zu Netzwerken zu beantworten. Jede noch so kleine Änderung im Netzwerk Gehirn ändert das Netzwerk selbt – und das muss nicht (sofort) bewusst werden, aber die Ganzheit ist eine andere. Und damit sind die materiellen Möglichkeiten für die Zukunft andere. Je nach Umfang dieser Änderung (und Bedeutung des Areals) sind Ihre a-c nur diskrete Ausformungen des quasi-kontinuierlichen Konsequenzrahmens.

    Das hat aber auch ganz konkrete ethische Auswirkungen (auch für das klassische Priming), die man jetzt (aus meiner Sicht) noch nicht ausreichend beachtet. Denn bei vielen Studien informiert man die Teilnehmer ja nicht über das Priming selbst – sie entscheiden also nur über die Studie und nicht über ihre Zustimmung zur “Manipulation”. Das mag oft ohne Konsequenzen bleiben, muss es aber nicht immer.

    Um nichts falsches stehen zu lassen – das spricht für mich nicht für das Verbot von Studien, sondern es geht mir nur um das Bewusstmachen von möglichen Konsequenzen.

  29. Um mal ein konkreteres Argument gegen den Neuroderterminismus zu liefern und meine Frage von gaaanz oben zu präzisieren:

    Könnte es nicht sein, dass quantenphysikalische Effekte eine Unbestimmtbarkeit in die Schwellenwerte von Synapsen und Neuronen einbringen, sodass ein noch so gut nach-emuliertes Gehirn (mit samt seiner Peripherie) und ein natürliches zwangsläufig divergieren würden?
    Eine ultimative Grenze der Annäherung für Neurodeterministen?
    Ich ignoriere hier bewusst (noch) Unbekannte Faktoren und technische Realisierbarkeit und verbitte mir jedweden Verweis darauf.
    Mich interessiert nicht, dass ein n-Körper-Problem (noch) unsere Möglichkeiten beschränkt sondern die Natur der Nachmodellierung.

  30. @Karl Bednarik

    »Das Gehirn entspricht der Hardware, und die angeborenen, anerzogenen und erlernten Informationen entsprechen der Software.«

    So würde ich das nicht sagen wollen. Das Besondere und Geniale beim Gehirn ist doch, dass Hardware und Software eins sind.

    Bleibt also die Trennung zwischen Angeboren und Erlernt. Da ist es sicherlich sinnvoll, zwischen angeborenen und erlernten Verhaltensweisen und Fähigkeiten zu unterscheiden.

    Angeboren ist also, dass das Gehirn durch Lernen veränderbar ist.

    Die Frage, die Stephan Schleim m. E. hier aufwirft, ist, ob die durch Lernen und Erfahrung verursachten Veränderungen vom Gehirn selbst aktiv vorgenommen werden (in Reaktion auf die eingehenden Reize), oder ob die Reize selbst den aktiven Part spielen und das Gehirn verändern und prägen, so wie ein Stempel die Münze prägt.

  31. Alles oder Nichts

    „Wir sind unser Gehirn“

    Ich finde diese zugespitzte Formulierung völlig in Ordnung.

    Sie besagt, dass der Mensch als Person stirbt, wenn sein Gehirn stirbt. Sie drückt aus, dass unsere Identität an das Gehirn gebunden ist, und nicht etwa an das Herz oder an die Leber. Es bedarf sicherlich keiner großen geistigen Anstrengung, diesen Satz so zu verstehen, wie er gemeint ist.

    „Ohne Hirn ist alles nichts“

    Wenn wir uns einen lebenden menschlichen Körper ohne Gehirn vorstellen, ist es kaum möglich, diesem Menschen eine Charaktereigenschaft, Persönlichkeit oder ein Wesensmerkmal zuzuschreiben. Um diesen „seelenlosen“ Körper zu einem „beseelten“ Menschen zu machen, scheint mir das funktionale, gesunde Gehirn nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung zu sein.

    Das wäre nach meinem Verständnis das, was man mit dem Begriff „Neurodeterminismus“ sinnvoll verbinden könnte. Der Neurodeterminist behauptet, dass ohne ein funktionierendes Nervensystem keine Verhaltensäußerungen möglich sind, oder anders herum, dass Verhalten Ausdruck eines funktionierenden Nervensystems ist (na ja, ist eigentlich recht trivial).

    Ein Neurodeterminist behauptet nicht, dass ein Nervensystem keine Reize aus der Umwelt verarbeitet, das wäre ja völlig absurd. Schließlich ist es die Funktion des Nervensystems, das Verhalten situationsgemäß, also entsprechend den gegebenen Anforderungen der Umwelt zu steuern.

    Und ein Neurodeterminist behauptet nicht, dass es keine quantenmechanische Ereignisse im Gehirn (oder sonstwo) gäbe.

    Und er behauptet auch nicht, dass man Verhalten mit absoluter Sicherheit vorausberechnen kann.

    Aber behauptet, dass auch im Gehirn die bekannten Naturgesetze gelten.

  32. Determinismus oder Neuroreduktionismus?

    Kleine Korrektur vorweg: Wir arbeiten hier nicht in einer Klinik für Epidemiologie (oder für Epidemiologen), sondern in einer Klinik für Epileptologie (nicht für Epileptologen)!

    Zu den Anmerkungen betreffend meinen eigenen Blogbeitrag nur zwei Rückmeldungen:
    + Ich habe immer von einer Hypothese (Leitidee) gesprochen, allerdings in der Tat von einer naturwissenschaftlichen; ich halte es für einen Irrtum, dass nur die Philosophen sich zur Formulierung konzeptueller Thesen in der Lage sehen.

    + Wenn sich die Natur des Geistigen uns heute so darstellt, dass sie mit Materie (Gehirn) wesentlich verknüpft ist, dann *impliziert* diese naturwissenschaftliche Erkenntnis (in all ihrer Vorläufigkeit), die Inexistenz nichtmaterieller geistiger Wesenheiten – und würde eben genau dadurch falsifiziert, dass sich solche Wesenheiten unerwarteterweise doch als existent erweisen. Vermeidet man diese Implikation (negative All-Aussage), wäre die These dagegen nicht mehr falsifizierbar.

    Nun zu Deinem aktuellen Blogbeitrag: Neuroreduktionismus, gegen den Du argumentierst, Stephan, ist meines Erachtens etwas anderes als Determinismus (dem man das “Neuro” nur zu illustrativen Zwecken vorausschickt).

    Ohne Zweifel kann man sich die Vorgänge in der Welt unter ihrem materiellen Aspekt anschauen – es ergibt sich dann eine kosmische Kontinuität miteinander agierender Partikel mit bestimmten Eigenschaften. Das Gehirn fällt hier gar nicht mehr besonders ins Gewicht, es ist einfach Teil des Ganzen. Die Vorgänge in der materiellen Welt folgen den Naturgesetzen oder erscheinen rein zufällig; tertium non datur.

    Ich finde diesen Befund immer wieder verwirrend – wo ist da die Freiheit? Das Freiheitskonzept scheint einen Dualismus zu implizieren: einen mentalen Akteur, der über der materiellen Welt “schwebt”, aber doch in sie eingreifen kann. Diese Vorstellung wird vom “Neurodeterminismus” mit nachvollziehbaren Gründen bestritten. In Bezug auf unsere Entscheidungen ist auch die Fokussierung auf das Gehirn akzeptabel (“Neuro”-Determinismus), aber die Umwelt-Interaktion, die Du stark machen willst, ist dabei meines Erachtens überhaupt nicht ausgeklammert.

    Unheimlich ist mir die strenge Notwendigkeit oder aber blinde Zufälligkeit, mit der die Prozesse ablaufen, die mein Denken tragen und am Ende meine Handlungen darstellen. Diese Materialität bin ich auf jeden Fall *auch*! Aber was noch??

    Ein zerebrozentristisches, neuroreduktionistisches Denken ist völlig unbiologisch und bedarf hier keiner weiteren Erörterung; in diesem Punkt also meine volle Zustimmung.

  33. @Balanus: verkehrte Identität

    Sie drückt aus, dass unsere Identität an das Gehirn gebunden ist, und nicht etwa an das Herz oder an die Leber.

    Das ist aber eben als Identitäsaussage falsch, weil der Person Eigenschaften zukommen, die nicht dem Gehirn zukommen; das hast du einmal wieder erfolgreich unter den Teppich gekehrt.

    Und es ist auch psychologisch falsch, wenn wir “Identität” auf die Persönlichkeit beziehen. Ich will den Menschen sehen, den es nicht schockiert und nachhaltig verändert, dessen Identität es nicht beeinflusst, wenn er plötzlich Querschnittsgelähmt ist (bei intaktem Gehirn) oder erfährt, dass seine ganze Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam (bei intaktem Gehirn).

    Es bedarf sicherlich keiner großen geistigen Anstrengung, diesen Satz so zu verstehen, wie er gemeint ist.

    Es scheint aber – zumindest für manche Leute – einer enormen, schier unerreichbaren Geisteskraft zu bedürfen, diesen Gedanken einmal so in einem Satz auszudrücken, dass er stimmt.

    Wenn wir uns einen lebenden menschlichen Körper ohne Gehirn vorstellen, ist es kaum möglich, diesem Menschen eine Charaktereigenschaft, Persönlichkeit oder ein Wesensmerkmal zuzuschreiben.

    Wir schreiben üblicherweise selbst verstorbenen Menschen Charaktereigenschaften zu und bestrafen es sogar, wenn jemand das Andenken eines solchen verunglimpft (§ 189 StGB).

    Wir haben üblicherweise auch kein Problem damit, z.B. auf einem Foto oder Gemälde jemandem Charaktereigenschaften, Persönlichkeit oder ein Wesensmerkmal zuzuschreiben, selbst dann nicht, wenn es sich bei der Vorlage um eine Wachsfigur handelt, und zwar nicht, weil wir dort dessen Gehirn sähen, sondern kontextualisierte, kulturalisierte und erlernte Eigenschaften.

    Um diesen „seelenlosen“ Körper zu einem „beseelten“ Menschen zu machen, scheint mir das funktionale, gesunde Gehirn nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung zu sein.

    Willkommen zurück bei der Phrenologie – Wesenszüge können sich nicht im Reagenzglas, auch nicht im Gehirn-Tank, sondern nur in einem Umweltkontext ausdrücken.

  34. @Hoppe

    Danke für den Hinweis – war mein Patzer. Man könnte auch meinen, dass es sich um eine Klinik für Epilepsiepatienten handelt, nicht wahr?

    Um die große Debatte zu führen, müssten wir mehr Klarheit über die Begriffe “Geistiges” vs. “Materielles” sowie “philosophische” vs. “naturwissenschaftliche These” schaffen. Das möchte ich hier aus Zeitgründen eben ausklammern (das wären auch eher Arbeiten, die man in einen Fachaufsatz investieren sollte).

    Der Neurodeterminismus, wie ich ihn hier verwende, kommt eben von solchen Aussagen wie derjenigen, dass Verschaltungen uns festlegen, die meines Erachtens dann Hand in Hand mit der neuroidentifikatorischen These gehen. Laut Titel des Beitrags richte ich mich ja gegen das, was viele Neurodeterministen gerne behaupten; den neurodeterministischen Teil begrifflich sauberer vom neuroreduktionistischen zu trennen und die Relation der beiden zueinander zu analysieren, überlasse ich erst noch einmal anderen bzw. einem zukünftigen Beitrag.

    Mir geht es hier um die Hervorhebung, dass nicht nur unsere Gehirnverschaltungen uns in gewissem Maße festlegen, sondern eben diese auch durch die Umwelt, unsere Erfahrungen und uns selbst in gewissem Maße festgelegt werden. Ich brauche hier kein dualistisches “Uns”, denn auch meine psychischen Fähigkeiten können neurobiologisch Realisiert sein – und tatsächlich haben wir gute Gründe, davon auszugehen, dass sie es sind. Sie werden üblicherweise auch nicht durch Neuroforschung zum Verschwinden gebracht, sondern im Gegenteil untermauert.

    Sind dir denn die Fähigkeiten des bewussten Abwägens, des Reflektierens, des Austauschs mit anderen nicht genug für deine (als menschliches Wesen mit all seinen Fähigkeiten und Makeln) begrenzten Freiheit genug?

  35. @Stephan

    Ja, es mag sein, dass psychische Leiden gern mit der Tablette angegangen werden als zuerst einmal im sozialen Umfeld nach der Ursache zu suchen. Und ich möchte das keinsfalls gut heißen!
    Worum es mir geht, ist, dass eine solche Einstellung (nur die Tablette kann das Hirn ändern)strenggenommen nichts mit Neurodeterminismus zu tun hat. Und zwar weder wie ich ihn verstehe (Umwelt und Gehirn bestimmen Handlungen) noch wie sie sich den Neurodeterministen vorzustellen scheinen (das Gehirn als geschlossenes System). Denn die Tablette ist ein Umweltreiz.
    Die Ärzte, die also leichtfertig Psychiopharmaka verschreiben bzw. die Patienten, die dies verlangen, haben also keine neurodeterminsitische Einstellung sondern eher Scheuklappen auf, was die Therapie ihres Leidens betrifft.

  36. @Christian Hoppe

    »Unheimlich ist mir die strenge Notwendigkeit oder aber blinde Zufälligkeit, mit der die Prozesse ablaufen, die mein Denken tragen und am Ende meine Handlungen darstellen.«

    Die strenge Notwendigkeit ist eine Eigenschaft deterministischer Modelle, so wie die blinde Zufälligkeit ein Feature stochastischer Modelle ist. Ein Modell eines Phänomens und das observable Phänomen selbst sind aber zwei verschiedene Dinge, und Eigenschaften des Modells sind nicht zwangsläufig Eigenschaften des Phänomens. Für die Brauchbarkeit eines Modells ist einzig entscheidend, wie gut die daraus gewonnen theoretischen Vorhersagewerte für eine Observation quantitativ mit den durch die faktische Observation erhaltenen Werten übereinstimmen.

    Es liegt dann absolut kein Widerspruch darin, wenn sich ein Phänomen sowohl durch ein deterministisches wie auch durch ein stochastisches Modell observationell gleichwertig beschreiben lässt. Das ist beispielsweise der Fall für die Quantenmechanik, die sich auch deterministisch deuten lässt (“Bohmsche Mechanik”).

    Umgekehrt lässt sich die Frage untersuchen, ob der deterministische Pseudo-Zufall im Verhalten chaotischer dynamischer Systeme dem “echten” stochastischen Zufall observationell gleichwertig ist. Dazu hier ein [Link] zu einer PhD Thesis, deren Verfasserin sich gerade dieser Problematik gewidmet hat.

    Ein verwirrendes Rätsel finden wir eigentlich so gut wie immer, wenn wir aus Modellen mehr herauslesen wollen, als die tatsächlich hergeben.

  37. Stephan, du argumentierst hier lang und breit, dass nicht einfach nur das Gehirn alles festlegt, sondern das Gehirn von zahllosen verschiedenen Einflüssen (momentane und vergangene Erafhrungen zum Beispiel) geprägt/festgelegt wird. Das ist aber _genau das_ was auch all die Hirnforscher wie Singer und Roth sagen, was auch schon Philosophen wie David Hume vor ein paar hundert Jahren sagten. Ich kann gar keinen Unterschied zwischen deiner und ihrer Position erkennen.

    Zum anderen ist es einfach nicht wahr, dass ein “Neurodeterminismus” automatisch Psyochopharmaka („Mother’s Little Helpers“) gegenüber Psychotherapien oder Veränderungen der sozialen Umwelt bevorzugen würden. Siehe etwa Singers Forderungen zur Pädagogik.

    Dass die vollständige Kenntnis der Funktionsweise des Gehirns trotzdem nicht seine Vorhersage erlauben würde, betont z.B. Singer auch immer wieder, und zwar mit mit ganz ähnlichen Argumenten wie du. Ich habe auch noch von keinem Neurowissenschaftler gehört, der etwas anderes gesagt hätte.

  38. @Tom: Wozu Psychotabletten?!

    Es gibt einen Zusammenhang zwischen neurodeterministischer Ideologie, Verortung eines Problems und primärer Auswahl einer Therapie: Gegen ein Problem eine Psychotablette zu verschreiben impliziert eben, dass es dort, im Gehirn, eine Stoffwechselstörung gibt, die behoben werden muss, dass also das Problem primär im Individuum liegt und nicht etwa in seinen Lebensumständen.

    Ob die Tablette ein Umweltreiz ist oder nicht, steht dahin, denn es geht darum, dass sie (aber das könnte z.B. auch eine Lerntheorie oder Verhaltenstherapie sein), direkt auf die Korrektur einer Funktionsstörung des Gehirns zielt und nicht etwa auf eine Veränderung der Lebensumstände.

    Wie Sie leugnen können, dass es einen Zusammenhang zwischen der Identifikation der Person mit ihrem Gehirn und der Verortung psychischer Probleme auf Gehirnebene geben kann, das ist mir eigentlich ein Rätsel. Bitte lesen Sie ggfs. noch einmal die Beiträge Thomas Insels und Florian Holsboers, die ich oben verlinkt habe.

  39. @Maximilian: Man kann viel sagen

    Da, wo ich herkomme, pflegt man zu sagen: Man kann viel sagen, wenn der Tag lang ist. Daher geht es mir nicht darum, ob diejenigen, die ich hier als Neurodeterministen anführe, irgendwo nicht wieder etwas anderes sagen; es geht um die Zurückweisung des Neurodeterminimus (siehe Titel).

    Singer schrieb: Verschaltungen legen uns fest; gemäß Roth sind wir nicht frei, denn die Entscheidungen würden letztlich von Hirnregionen “getroffen”, die nicht bewusst “arbeiten”; Crick und Swaab identifizieren beide die Person mit ihrem Gehirn bzw. dessen Bestandteilen.

    Wenn die Herren das eigentlich gar nicht so meinen, dann sollten sie das meines Erachtens auch nicht erst so sagen, auch wenn ein Tag lang ist.

    Zur Sache mit den Pharmaka oder anderen Gehirninterventionen, siehe bitte die Antwort an Tom.

  40. Ach Stephan – ich würde Dir so gerne folgen können, aber ich vermag es nicht.

    Zuerst hing ich auch an Reduktionismus/Determinismus, und obwohl das jetzt angesprochen wurde, ist es doch nicht ganz geklärt. Der Reduktionismus nagelt Dich an das biologische, und zwar exklusiv. Das Deterministische lässt aus der Vergangenheit vorhersagen, wie Du in Zukunft handeln wirst. Das sind womöglich zwei unterschiedliche Aspekte.

    Alles andere ist zu hoch für mich: Dass das Hirn natürlich auf die Umwelt reagiert, dass es Anpassung vollzieht, die psychologisch sehr bemerkenswert sind – ich denke zum Beispiel an kulturell geprägten Ekel – stellt wohl auch der grimmigste Materialist / Reduktionist / Determinist in Frage.

    Aber aus meiner Sicht gehen in dieser Diskussion von Deiner Seite stets zwei Aspekte im Nebel philosophischer Spitzfindigkeiten unter.

    Zum einen kommst vielleicht auch Du nicht umhin, die Verbindung zwischen Geist und Materie anzuerkennen: das beginnt mit Demenz und endet bei Split Brain.

    Vor allem solche klinischen Gruseligkeiten machen einen Reduktionismus nahezu unvermeidlich. Sag ich mal so, wohlwissend, dass wir – wären wir betroffen – die letzten sind, die diese Störungen überhaupt mitbekommen. Womöglich gibt es in Deinem Hirn eine “Reduktionismus-Blindheit” (wie ich bei Dawkins eine “Religions-Blindheit” unterstellen wollen würde :). Aber was bleibt denn vom Ich, vom Selbst, vom Geist, wenn ein paar essentielle Hirnstammkerne abgetaucht ist, also von solchen Patienten, die auch bei Adrian Owen nicht mehr kommunizieren?

    Zum anderen ist dieser Determinismus einer, der nicht nur zwischen rechts und links entscheidet, sondern der ein hochkomplexes System durchlaufen hat – in dem mehrere Schmetterlinge vorkommen –, bevor bei uns eine Handlung ankommt.

    “Deterministisches Chaos”, den Begriff habe ich von Helmut zum ersten Mal gehört, vor nicht allzulanger Zeit, aber schon lang vermutet, dass Leute wie Du Leuten wie Singer einfach nicht gerecht werden, weil die mit Determinismus etwas ganz anderes meinen.

    Beides schliesst nicht aus, dass uns unsere Umwelt prägt und auch festlegt. Selbst der situative Ansatz der Sozialpsychologie fliegt nicht aus der reduktionistischen Kurve.

    Mich würde interessieren, wessen Geist unter den hier Anwesenden, inklusive des Autors, wo sitzt?

  41. Hallo Balanus,

    Hardware und Software sind in den meisten Fällen eins, weil es sich bei der Software um die Zustände der Hardware handelt.

    Zu: “ob die durch Lernen und Erfahrung verursachten Veränderungen vom Gehirn selbst aktiv vorgenommen werden (in Reaktion auf die eingehenden Reize), oder ob die Reize selbst den aktiven Part spielen und das Gehirn verändern und prägen”

    Wenn beim Pool oder beim Billard eine Kugel eine andere anstösst, dann sind ebenfalls kausale Ursache und Wirkung im Spiel, und bei Reiz und Gehirn ist das auch so, denn actio est reactio.

    Ich gehe daher davon aus, dass beim normalen und wachen Gehirn der Reiz und das Gehirn kausale Partner bei Ursache und Wirkung sind.

    Ein narkotisiertes Gehirn ist aber kein Partner bei Ursache und Wirkung, weil es keine Reize bewerten und einordnen kann.

    Die Bewertung und Einordnung von Reizen ist eine angeborene und aktive Leistung des Gehirns, denn ohne Klingelknopf kann es nicht klingeln, so fest man auch auf die Tür drückt.

    Frühere Reize verändern die Bewertung und Einordnung späterer Reize, genau so wie in den beiden Videos.

    Wenn man die beiden Kugel-Computer in Gelatine einlegt, dann sind die Computer keine kausalen Partner für die Kugeln.

    http://www.youtube.com/watch?v=wIKah9aVlm4

    http://www.youtube.com/watch?v=yhGwtfOyN2c

  42. @Arvid: Klärung

    Danke für die kritischen Nachfragen – ich würde aber eher sagen, dass die Formulierung des Neurodeterministen nicht den Überlegungen und Fakten gerecht wird, als dass meine Kritik nicht dem Neurodeterministen gerecht wird.

    Wenn dieser nämlich anerkennt, dass die Kausalität im Verhalten nicht immer nur vom Gehirn ausgeht, sondern – und häufig sogar zuallererst – von der Situation, von der Umwelt; wenn dieser anerkennt, dass also nicht nur Verschaltungen des Gehirns unser Verhalten festlegen, sondern Erfahrung, Umwelt und wir selbst (alleine und gemeinschaftlich) unsere Verschaltungen im Rahmen des Möglichen festlegen; wenn er dann ferner die irreführende Rede wie z.B. diejenige der Identität der Person mit ihrem Gehirn aufgibt; wenn er also schlicht seinen verfehlten Neurodeterminismus aufgibt, dann ist das Problem doch gelöst.

    Müsste das nicht auch in deinem Interesse sein?

    Umgekehrt verstehe ich nicht, wie du gleichzeitig den sozialpsychologischen Situationismus (die Situation legt uns fest) anführst und am Neuroreduktionismus (das Gehirn legt uns fest) festhältst?!

    Sagen wir doch einfach, wie ich es in meinem Beitrag geschrieben habe: Menschliches Verhalten ist eine Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt – eine reduziertere Formulierung ist falsch und führt in die Irre.

  43. Hallo Balanus, Nachtrag

    Ein physikalischer Vorgang wird nur dann zu einem Reiz, wenn ein Sinnesorgan dafür existiert, was natürlich angeboren sein muss.

    Der Gegenspieler des Determinismus ist der Zufall, und der hat viele Quellen.

    Der Zufall kann die Kausalität sein, die vom Nachbarn kommt (räumlich), oder von der Art der eigenen Vorgeschichte (zeitlich).

    Dann gibt es noch die Brownsche Molekularbewegung und die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation, aber diese beiden Störfaktoren versucht das Gehirn durch massive Parallelität auszumitteln.

  44. Hallo Karl Bednarik

    »Ein physikalischer Vorgang wird nur dann zu einem Reiz, wenn ein Sinnesorgan dafür existiert, was natürlich angeboren sein muss.«

    Genau! Erst mal muss ein Reiz empfangen werden können, bevor es richtig losgehen kann.

    Der Reiz wird zum Gehirn geleitet und verarbeitet. Ihr und mein Hirn werden einen bestimmten Reiz oder ein Reizmuster vermutlich relativ ähnlich verarbeiten, weil wir der gleichen Spezies angehören. Kommt eben auf das jeweilige Vorwissen (d.h., Hirnstruktur) an, welches für die Interpretation des Reizmusters notwendig ist.

    Auf SciLogs bekomme ich hin und wieder Reizmuster (Kommentare) zu Gesicht, mit denen ich kaum etwas anfangen kann. Ganz offensichtlich besitzt mein Gehirn nicht die richtigen Strukturen, um alle Texte richtig zu deuten, also so, wie sie gemeint waren.

    Ebenso lässt mich der Anblick oder Duft eines Hundeleckerlis kalt, ganz im Gegensatz zu meinem Vierbeiner. Das heißt, einem bestimmten Reizmuster stehen unzählig viele Reaktionsmöglichkeiten gegenüber, je nach Gehirn.

    Daraus schließe ich: Nicht der Reiz bestimmt, was im Gehirn passiert, sondern das Gehirn bestimmt, wie der Reiz verarbeitet wird. Klassischer Neurodeterminismus halt… 😉

  45. Netzwerk in Kommunkation o alles richtig

    Aus meiner Sicht könnten fast alle hier geäußerten Meinungen richtig sein, auch wenn wir zum Beweis noch zu wenig wissen. Um das Prinzip zu illustrieren will ich zwei Fragen aufwerfen und meine Antworten dazu formulieren.

    Frage von Stephan Schleim: Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen?
    Meine Antwort: Viel und Nichts.

    Gegenfrage: Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Umweltwissen verfügen?
    Meine Antwort: Nichts und Viel.

    In beiden Fällen fehlt ein entscheidendes Element – die Beziehung. Im ersten Fall die Beziehung zur Umwelt, die ist ja noch unbekannt. Im zweiten die Beziehung zum Gehirn, dessen Reaktionsschemata sind ja noch unbekannt. Es fehlt der Körper.
    Aber der Körper formt sowohl das Gehirn als auch die Umwelt und wird von beiden geformt – als Näherung könnte man ihn also vorerst konstant setzen und vernachlässigen, denn er ist ein sich in beiden Seiten abbildendes Zwischenglied. (Es geht auch mit Körper – ist aber dann sehr schwer zu verdeutlichen.)

    Dann wären aber ‘Neurodeterminismus’ und ‘Soziodeterminismus’ in gewisser Weise richtig, wenn sie denn nur ausreichend detailliert und im historischen Verlauf erforscht wären. Da sie nicht einmal auf eine konkrete Zeit ausreichend detailliert erforscht sind und erst recht nicht in ihrem historischen Verlauf, darum brauchen wir sowohl die Betrachtung des ‘Gehirns’ als auch die Betrachtung der ‘Umwelt’.

    Wir haben dann sozusagen zwei Systeme oder zwei Netzwerke die über die Körperkabel kommunizieren – das System/Netzwerk Gehirn einerseits und das System/Netzwerk Umwelt andererseits. Und wie oben angedeutet kann man wohl in jedem Netzwerk gewisse Veränderungen vornehmen ohne dass sich dessen (Selbst)Beobachtung wandelt – aber wenn die Änderung groß genug ist, dann wandelt sich auch die (Selbst)Beobachtung.

    Man kann also einen Menschen in eine leicht andere Umwelt bringen und das Verhalten des Menschen bleibt gleich – bei grober Beobachtung (wie heute) würden wir dann sagen, der Mensch wurde vom Gehirn bestimmt.
    Oder man kann in einer Umwelt einen Menschen durch einen leicht anderen Menschen austauschen und das Verhalten der Umwelt bleibt gleich – bei grober Beobachtung (wie heute) würden wir dann sagen, der Mensch wurde von der Umwelt bestimmt.

    Und wenn das stimmt, dann sind fast alle hier geäußerten Meinungen exakte Aussagen – über Spezialfälle. Und wer die Systemtheorie etwas kennt, der weiß sicher, dass meine Darstellung eine Umformung derselben ist.

  46. Materialismus trägt den Determinismus

    Hier werden immer wieder Kreise um das alte Leib-Seele-Problem gezogen. Dabei haben die Materialisten die Auseinandersetzung mittlerweile weitgehend auf ihr Terrain gezogen, und die Kritiker des Materialismus sind ihnen mangels eigener kraftvoller Positionen auf dieses Terrain gefolgt. Man begnügt sich notgedrungen mit Widerlegungen. Doch so stark diese Einwände auch sind, sie bringen nicht die Hoffnung und Erwartung der Materialisten ins Wanken, dass zukünftige Erkenntnisse ihre eigene Position bestätigen werden. Solche Erkenntnisse wären zum Beispiel die Erklärung der Entstehung des Bewusstseins aus materiellen Vorgängen im Gehirn oder gar die Schaffung künstlichen Bewusstseins in einem Computer.

    Dabei ficht den überzeugten Materialisten auch nicht an, dass für beides nicht einmal der geringste ernstzunehmende Ansatz erkennbar ist.

    Man kann die eigenartige Asymmetrie beobachten, dass auf Seiten des Materialismus geglaubt wird, dass die Zeit für ihn arbeite. Hierin steckt allerdings ein grundsätzlicher Irrtum. Dieser fälschliche Anschein entsteht nur, weil alle Diskussionsteilnehmer sich auf das wissenschaftliche Paradigma eines methodischen Naturalismus verständigt haben. Die uns interessierenden Phänomene „Wahrnehmung“, „Bewusstsein“, „Intelligenz“ oder gar „Freiheit“ liegen allerdings vollkommen jenseits dieses methodisch gesteckten Rahmens und sind als solche gar keiner naturwissenschaftlichen Methodik zugänglich.

    Darum kann es auch gar keine naturwissenschaftliche Position des Dualismus oder des Spiritualismus oder sonstiger nicht-materialistischer Theorien geben, sondern höchstens eine philosophische.

    Insofern bilden auch alle wissenschaftlichen Erkenntnisse nur (reale oder vermeintliche) Beobachtungen darüber ab, wie das im Naturalismus als primär definierte materielle Gehirn den als sekundär definierten Wahrnehmungs-, Gefühls-, oder Entscheidungsprozess beeinflusst. Denn schon mit der Anerkennung des methodischen Naturalismus ist zum Beispiel die Untersuchung der These wissenschaftlich nicht mehr legitim, dass es unsere freien Entscheidungen sein können, die uns auf zukünftiges Handeln festlegen, also dafür ursächlich sind, was in passivischer Redeweise von manchen als „Verschaltungen“ bezeichnet wird (Ich wette, niemand hat bislang irgendeine „Verschaltung“ gesehen).

    Dieser Methodik entsprechend werden die Schlüsse von der Verursachung der mentalen Prozesse durch die materiellen in der Regel durch Beobachtungen von Störungen der normalen (materiellen) Abläufe gezogen. Doch es ist ein logischer Fehler, von der Möglichkeit, mentale Vorgänge durch materielle Eingriffe oder Ereignisse stören zu können, darauf zu schließen, dass mentale Vorgänge insgesamt nichts anderes wären als irgendwelche Wirkungen oder Nebenwirkungen von materiellen Prozessen.

  47. @Balanus

    ZITAT: “Daraus schließe ich: Nicht der Reiz bestimmt, was im Gehirn passiert, sondern das Gehirn bestimmt, wie der Reiz verarbeitet wird. Klassischer Neurodeterminismus halt… ;-)”

    Und dieser Reiz wiederum bestimmt mit, wie das Gehirn auf den nächsten Reiz reagiert und so weiter und so fort. Halte ich eigentlich auch für klassischen Neurodeterminismus.

  48. @Stephan Schleim

    »Ich will den Menschen sehen, den es nicht schockiert und nachhaltig verändert, dessen Identität es nicht beeinflusst, wenn er plötzlich Querschnittsgelähmt ist (bei intaktem Gehirn) oder erfährt, dass seine ganze Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam (bei intaktem Gehirn).«

    Das sage ich doch, die Identität eines Menschen, also sein Selbst-Gefühl, sein Wesen, kann sich nur ändern, wenn es ein hinreichend intaktes Gehirn gibt.

    Die Eigenschaften der Person sind natürlich nicht identisch mit den Eigenschaften des Gehirns, welches ja nur ein Teil der Person ist. Aber das wird mit dem Satz: „Wir sind unser Gehirn“ auch nicht behauptet. Sondern lediglich, dass sich der Mensch nur dank seines Gehirns als Person empfinden kann. Man könnte auch sagen, Seele und Geist residieren im Gehirn.

    »Wir schreiben üblicherweise selbst verstorbenen Menschen Charaktereigenschaften zu und bestrafen es sogar, wenn jemand das Andenken eines solchen verunglimpft (§ 189 StGB).«

    Das können wir, weil der Verstorbene zu Lebzeiten ein hinreichend intaktes Gehirn hatte.

    »Wir haben üblicherweise auch kein Problem damit, z.B. auf einem Foto oder Gemälde jemandem Charaktereigenschaften, Persönlichkeit oder ein Wesensmerkmal zuzuschreiben,…«

    Das stimmt. Aber man kann mit seiner Zuschreibung ganz schön daneben liegen (man denke z.B. an das „typische Verbrechergesicht“ oder an Personen mit Gesichtslähmungen, deren Mimik nichts vor der inneren Gemütslage verrät).

    »Wesenszüge können sich nicht im Reagenzglas, auch nicht im Gehirn-Tank, sondern nur in einem Umweltkontext ausdrücken.«

    Meine Rede. Ein Körper ist weder ein Reagenzglas noch ein bloßes Gefäß für das Gehirn. Körper und Gehirn gehören untrennbar zusammen, was sonst.

    Menschliches Verhalten ist eine Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt…

    Interaktion ist, finde ich, nicht der passende Begriff an dieser Stelle. Es gibt zwar jede Menge Akteure in der Umwelt, aber die Umwelt als solche agiert nicht, sie ist einfach nur da und muss vom Nervensystem eines Organismus wahrgenommen werden.

    „Verhalten“ bedeutet doch, dass ein Organismus aus sich selbst heraus etwas tut oder lässt, er bewegt sich aktiv. Wenn er durch äußere Kräfte bewegt wird, dann verhält er sich nicht.

    Wenn ich z. B. bei einer roten Ampel anhalte, dann hat keine Interaktion zwischen der Ampel und mir stattgefunden, sondern ich habe auf das wahrgenommene rote Signal reagiert.

    Was den Körper und das Gehirn angeht, da gibt es natürlich wechselseitige Einflüsse, beide bilden schließlich ein Ganzes. Der Reiz-Input stammt aus der Peripherie, und (beobachtbares) Verhalten zeigt sich im Tun und Lassen des Körpers.

    Ich würde es vielleicht so sagen: Menschliches Verhalten ist eine Reaktion von Gehirn und Körper auf die Umwelt.

  49. @Balanus: Verhalten

    „Verhalten“ bedeutet doch, dass ein Organismus aus sich selbst heraus etwas tut oder lässt, er bewegt sich aktiv. Wenn er durch äußere Kräfte bewegt wird, dann verhält er sich nicht.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Wundballistik#Methoden

    „Durch Vergleich wurde hinreichend nachgewiesen, dass sich diese Materialien unter Beschuss annähernd gleich verhalten wie menschliches Gewebe.“

    Unfallbericht des Deutschen Hängegleiterverbandes vom 27.10 – DHV

    „Der Pilot verhielt sich jedoch völlig passiv, antwortete nicht und zeigte auch keine weitere
    Bewegungen mehr.“

    Wenn ich z. B. bei einer roten Ampel anhalte, dann hat keine Interaktion zwischen der Ampel und mir stattgefunden, sondern ich habe auf das wahrgenommene rote Signal reagiert.

    Und beim Weiterfahren hätte es womöglich geblitzt. Natürlich interagieren Sie hier nicht mit der Ampel oder mit der Kamera, sondern mit der Staat.

  50. @Ano Nym

    …dass sich diese Materialien unter Beschuss annähernd gleich verhalten wie menschliches Gewebe…«

    Hmm, wie soll ich mich jetzt verhalten… ?

    Könnten wir uns darauf einigen, dass wir vom Verhalten von Organismen reden? Passives Verhalten ist auch ein aktives Tun.

    »Natürlich interagieren Sie hier nicht mit der Ampel oder mit der Kamera, sondern mit der Staat«

    Tatsächlich? Da muss ich erst noch mal in Ruhe drüber nachdenken… 😉

  51. Ich – Welt

    Mir scheint, die Debatte fragt letztlich nach dem Verhältnis von Ich und Welt.

    (1) Naturwissenschaftlicher Betrachtung erschließt sich der klassische (mechanistische) Determinismus an leblosen Objekten, deren Bewegungen auf Basis der Kenntnis von außen gut beobachtbarer Faktoren (Situation, Form/Gewicht/etc.) vorhergesagt werden können.

    (2) Bei Lebewesen sind die zunehmend verhaltensentscheidenden, aber weiterhin materiellen (physiologischen) Vorgänge lediglich **unter der Oberfläche des Organismus**, also schwer beobachtbar, verborgen. Die vollständige Kenntnis dieser Prozesse müsste es im Grunde erlauben vorherzusagen, ob ein Hund, wenn man mit ihm schimpft, beleidigt wegläuft, ob er mich anbellt oder ob er mich beißt. Wir haben heute allerdings nicht den Hauch einer Chance, diese Prozesse physikalisch/physiologisch zu erfassen.

    (3) Ich bin überzeugt, dass unser eigenes Bewusstsein und Theory of Mind der biologische Versuch sind, diese inneren Vorgänge in ihrer Gesamtheit irgendwie “zur Darstellung” zu bringen, um daraus eine (und wenn nur noch so geringfügig) verbesserte Vorhersage meines eigenen Verhaltens und des Verhaltens Anderer zu erhalten. Irgendwo hier muss die evolutionäre Funktion des Bewusstseins gesucht werden.

    (4) In einem so verstandenen Bewusstsein (= summarische Darstellung innerer, verhaltensentscheidender Vorgänge in einem neuen Modus: “mental”) ist die Unterscheidung von äußeren und inneren Faktoren grundlegend. Doch diese Entscheidung wird auf der Basis und innerhalb *meines* Hirnzustandes getroffen! (Wände sind invariant gegen meine Einstellungen und Gedanken: Wände; man sollte das besser akzeptieren und nicht mit dem Kopf da hindurch rennen wollen!)

    (5) Freiheit ist nun per se ein freier, unterbestimmter Begriff: Er kann die Freiheit von bzw. gegenüber der Situation meinen (ich verhalte mich in Kontinuität zu meinen inneren Zielen, Vorstellung, Träumen), aber auch die Freiheit von bzw. gegenüber den inneren Voraussetzungen (ich überlasse mich der Situation, z.B. beim Tanz, oder ich zwinge mich selbst zu einem Verhalten, welches die Situation von mir verlangt, obwohl ich es nicht will).

    (6) Das Subjekt steht merkwürdigerweise nicht nur in einem Verhältnis zur Welt – sondern auch zu sich selbst (Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein, Selbstgespräche, usw.). Wir sind also auch uns selbst gegenüber frei, stehen in einem Raum unzähliger Möglichkeiten – doch all das auf Basis unserer jeweiligen Hirnzustände.

    (7) Wenn Materie sich zu Gehirnen organisieren kann (oder dazu organisiert werden kann) und wenn Gehirne derartige mentale Welten tragen können – mit physischen Konsequenzen im menschlichen Verhalten (z.B. das Niederschreiben des großen C-Dur Streichquintetts durch Franz Schubert) – dann sollten wir vielleicht anfangen, anders über Materie zu denken …

  52. @Balanus: wieder zu kurz gedacht

    Ebenso lässt mich der Anblick oder Duft eines Hundeleckerlis kalt, ganz im Gegensatz zu meinem Vierbeiner. Das heißt, einem bestimmten Reizmuster stehen unzählig viele Reaktionsmöglichkeiten gegenüber, je nach Gehirn.

    Daraus schließe ich: Nicht der Reiz bestimmt, was im Gehirn passiert, sondern das Gehirn bestimmt, wie der Reiz verarbeitet wird. Klassischer Neurodeterminismus halt… 😉

    Was für eine herrliche Vorlage, lieber Balanus, denn dass das Hundeleckerli eben etwas für den Hund sind und nicht für dich, das hast du gelernt, mit dieser Überzeugung kamst du sicher nicht auf die Welt. Wärst du in einer Umwelt aufgewachsen, in der die Süßigkeiten so wie Hundeleckerlis aussähen und auch so schmeckten, dann ließe dich der Anblick desselben sicher nicht kalt.

    Für diese Einsicht brauchst du nicht mal wissenschaftliche Erkenntnis, etwas kulinarische Weltgewandheit würde schon reichen: Man denke etwa an lokale Delikatessen wie Froschschenkel (Frankreich), Pferdefleisch (Italien), Heuschrecken (irgendwo in Afrika?) oder Tausendjährige Eier (China), bei denen sich mir jeweils der Magen umdreht.

    Diese Vorlieben sind gelernt, eben weil sie wiederholt zu positiven Erfahrungen geführt haben. So viel Wissen über Konditionierung sollte man doch auch als Biologe haben, oder?

    Um es einmal zusammenzufassen: Der Reiz prägt in Interaktion mit Körper und Gehirn die beiden.

  53. @fegalo: Anders über Materie denken

    In der philosopischen Debatte über Emotionen ist mir aufgefallen, dass je länger manche Philosophen darüber nachdenken, was eine Emotion ist, diese desto “rationalere” Eigenschaften zugewiesen bekommen.

    Auch wenn materialistische Anschauungen zurzeit in Mode sind (sie waren das Kulturgeschichtlich immer wieder und immer wieder einmal nicht), übertünchen manche Materialisten mit ihrer Euphorie gerne, dass sie eigentlich selbst nicht genau wissen, was Materie ist.

    Tatsächlich war das auch mein Eindruck auf einer neurophilosophischen Tagung, auf der ich vor kurzem war, dass dort einige gestandene Philosophen darauf hinwiesen, dass wir vielleicht auch einfach anders über Materie denken müssen; oder wie Herr Hoppe es gerade so schön formulierte:

    Wenn Materie sich zu Gehirnen organisieren kann … und wenn Gehirne derartige mentale Welten tragen können …, dann sollten wir vielleicht anfangen, anders über Materie zu denken …

    Vielleicht sollten wir uns aus Erkenntnisgründen beziehungsweise -beschränkungen auf einen pragmatischen neutralen Monismus einigen?

  54. @Ano Nym /Ampel

    Nach kurzem Nachdenken: Nein, vor einer roten Ampel interagiere ich auch nicht mit dem Staat (auch nicht mit Vorschriften, Verkehrsregeln und dergleichen).

  55. Noït Atiga: Neuro- oder Psychoprädiktion

    Gegenfrage: Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Umweltwissen verfügen?
    Meine Antwort: Nichts und Viel.

    Das ist genau der Punkt, dass man einmal sauber und neutral die Vorhersagekraft der besten Neuro- bzw. Psychomethoden miteinander vergleichen müsste, anstatt mit hochtrabenden Aussagen Journalisten ohne statistische Erkenntnisse zu beeindrucken. In vielen der gehypten Fälle für erstere entpuppte sich die Vorhersage meiner Einschätzung nach eher als Nachhersage (vgl. dazu schon mein Buch “Gedankenlesen”, 2008) oder gar als Voodoo-Korrelation.

    Natürlich gibt es auch unsinnige Psycho-Papers; aber wenn man mich hier nicht viel länger mit ergebnislosen Diskussionen ablenkt, dann kann ich hierüber vielleicht sogar dieses Jahr noch ein Paper schreiben. 🙂

    Ein wesentlicher Unterschied ist aber: Wenn ich eine Vorhersage (sagen wir nach dem Induktionsprinzip) aufgrund von Verhaltensuntersuchungen mache, dann steckt da sowohl Umwelt- als auch Gehirninformation drin, weil dieses Verhalten durch eine Person (mit Gehirn) im Kontext stattfindet. Wenn ich aber nur das Gehirn untersuche, dann habe ich nur einen Teil der Person und obendrein die Umwelt vergessen.

    Allein dieser Gedanke sollte schon hinreichen, um deutlich zu machen, wie unzureichend reduziert die Welt des Neurodeterministen ist.

  56. @Stephan /zu kurz

    »Was für eine herrliche Vorlage, lieber Balanus, denn dass das Hundeleckerli eben etwas für den Hund sind und nicht für dich, das hast du gelernt, mit dieser Überzeugung kamst du sicher nicht auf die Welt.«

    Du hast wohl folgendes überlesen:

    »Der Reiz wird zum Gehirn geleitet und verarbeitet. Ihr und mein Hirn werden einen bestimmten Reiz oder ein Reizmuster vermutlich relativ ähnlich verarbeiten, weil wir der gleichen Spezies angehören. Kommt eben auf das jeweilige Vorwissen (d.h., Hirnstruktur) an, welches für die Interpretation des Reizmusters notwendig ist.
    Auf SciLogs bekomme ich hin und wieder Reizmuster (Kommentare) zu Gesicht, mit denen ich kaum etwas anfangen kann.«

    Na, was meinst Du, was ich meine, wo das angesprochene „Vorwissen“ herkommt?

  57. Was Balanus sagt und was nicht

    Das sage ich doch, die Identität eines Menschen, also sein Selbst-Gefühl, sein Wesen, kann sich nur ändern, wenn es ein hinreichend intaktes Gehirn gibt. (16.07., 22:20)

    Und was er tatsächlich sagte:

    Der Neurodeterminist behauptet, dass ohne ein funktionierendes Nervensystem keine Verhaltensäußerungen möglich sind, oder anders herum, dass Verhalten Ausdruck eines funktionierenden Nervensystems ist (na ja, ist eigentlich recht trivial). (16.07., 12:36)

    Was können wir daraus jetzt über die Intaktheit des balanesischen Gehirns schließen? 😉

  58. @Balanus, Ano Nym: Ampel

    Die rote Ampel hat an sich nichts Bedrohliches – dass es oft besser ist, davor zu halten, als drüberzufahren, das haben sowohl Balanus als auch Ano Nym durch (hundert-)tausende Umweltinteraktionen und wahrscheinlich auch in der Fahrschule gelernt.

    Dass man als Fahrradfahrer meistens über rot fahren kann, das habe ich meinerseits mit meinem Gehirn in den Niederlanden (Umwelt) gelernt und komischerweise mit meinem früheren Gehirn in Deutschland (Umwelt) nie für möglich gehalten.

    Wer sagt, das Gehirn lege fest, dass man vor der roten Ampel stehen bleibt, der unterschlägt eben einmal wieder, wie es der Neurodeterminist so gerne und häufig tut, dass es diese Umweltinteraktionen waren, die das Gehirn auf diese Art und Weise geprägt haben.

    Wäre Balanus in einer Welt aufgewachsen, in der die Bedeutungen roter und grüner lichter vertauscht sind, dann wäre sein Gehirn anders geprägt worden und dann würde er auch nicht vor der roten, sondern vor der grünen Ampel halten.

    Also noch einmal: Das Gehirn allein determiniert nichts, sondern erst durch Interaktionen mit dem Körper, der Umwelt inklusive anderen Menschen sowie Selbstreflexion usw. wird Verhalten festgelegt.

  59. Bild im Text

    Hi Stephan,

    das Bild im Text ist ja ÄUSSERST erheiternd – das Hirn sitzt falschrum im Kopf (Frontalpol hinten).

    Ist das Absicht?
    Oder Indeterminismus?

    Fröhliche Grüsse
    Helmut

  60. @Stephan Schleim: Nicht ganz

    Ein wesentlicher Unterschied ist aber: Wenn ich eine Vorhersage (sagen wir nach dem Induktionsprinzip) aufgrund von Verhaltensuntersuchungen mache, dann steckt da sowohl Umwelt- als auch Gehirninformation drin, weil dieses Verhalten durch eine Person (mit Gehirn) im Kontext stattfindet. Wenn ich aber nur das Gehirn untersuche, dann habe ich nur einen Teil der Person und obendrein die Umwelt vergessen.

    Der erste Teil stimmt. Im zweiten Teil irren Sie aber, zumindest in meiner Hypothese. Denn alle Teile der Person und alle bisherigen Umwelterfahrung stecken ja ebenfalls im Gehirn, denn dieses Gehirn wurde ja daraus geformt, seine Detailstruktur geht also auf die eigene Historie aller Körperteile und Umwelterfahrungen zurück.

    Und ich glaube, dass dort auch das Missverständnis in den Diskussionen liegt. Allerdings haben Sie insofern Recht, als die Umweltsicht hier doch etwas vollständiger ist – denn sie ist das umfassendere System. Die Differenz ist etwa mit der zwischen gesamten Gehirn und einzelner Neuronengruppe vergleichbar – aber auch dort kann ich bei genauer Betrachtung sagen, welche Eingaben in diese Gruppe zu welchen Ausgaben führen.

  61. @ Balanus

    “Der Reiz wird zum Gehirn geleitet und verarbeitet.”

    Das ist Sprachschlamperei. Im Gehirn werden eben KEINE Reize verarbeitet, sondern elektrische Signale, die von Sinnesorganen in eben diese Signale transduziert wurden. Das Hirn kennt kein Licht, keinen Druck, keine Schallwelle und keinen Duftstoff, es kennt nur die elektrischen Signale, die aus der Reizung der Sinnesorgane hervorgehen.

    Und eines der “Wunder” (zumindest ich wundere mich immer wieder darüber) des Gehirnes ist es eben, dass wir keine Schwankungen irgendwelcher elektrsicher Potentiale erleben, sondern Licht und Farbe und Töne, Schmerz und Wohlgeruch und Gestank.

  62. @Helmut: Kunst, Anatomie und Witz

    Ich fand an der Grafik so schön, dass das Gehirn auf dem Baum (der Umwelt) wächst – das passte m.E. hervorragend zum Artikel.

    Nun, dass dieser Fotograf/Künstler das Gehirn falsch herum in den Kopf gesetzt hat, ist ihm/ihr wohl gar nicht bewusst gewesen. Doch würde man sich die Großhirnrinde als Pfeil vorstellen, dann wäre es durchaus so, dass hinten (Occipitallappen) nach vorne zeigt, nicht wahr?

    Womöglich hat dieser Mensch aber auch so viele balanesische Sprachungenauigkeiten gelesen, dass er sich zwar nicht im Grabe, sich ihm jedoch das Gehirn im Kopfe umgedreht hat.

    Irgendwie fühle ich mich auch manchmal so bei diesen Blogdiskussionen. 😉

  63. @Noït Atiga: Nicht ganz

    Da hatten wir doch schon Gegenbeispiele – nehmen wir an, jemand wird durch einem Unfall querschnittsgelähmt. Das wird sich zwar langfristig auch enorm aufs Gehirn auswirken (Plastizität), erst einmal hätte man aber dasselbe Gehirn wie das des Tänzers, zum Beispiel; dieser Mensch könnte aber nicht mehr tanzen, jedenfalls nicht so wie früher.

    Oder denken wir an ein gebrochenes Bein… oder dass jemand plötzlich in der Schwerelosigkeit, im Gefängnis ist, seine Augen verliert usw. Dass Sie alles dies und die Auswirkungen dieser Körper- oder Umweltsituationen direkt am Gehirn ablesen könnten, ist m.E. falsch.

    (Und im Übrigen sind das alles wieder Beispiele – Querschnittslähmung, Verletzungen, Schwerelosigkeit, Gefängnis usw. – dafür, wie Umwelt- und Körpersituationen auf das Gehirn wirken und es nachhaltig formen und nicht umgekehrt.)

  64. @ Stephan: menschliches Verhalten ist ..

    Soweit einverstanden, wobei ich dem Gehirn das Primat über den Körper geben würde … und in seiner Interpretation des Geschehens in der Umwelt gleich mit: wie gesagt, es wird von der Umwelt geprägt, aber interpretiert entsprechend dieser Prägungen später, was es von außen aufnimmt. Böses Beispiel: wer als Kind missbraucht wurde, hat eine höherer Wahrscheinlichkeit, später zum Missbraucher zu werden. Bitte beachten: Wahrscheinlichkeit, dass da alle möglichen weiteren Faktoren eine Rolle spielen, die aber irgendwie auch determinierend wirken …

    Was diese Komplexität angeht ein Buchtipp:

    Miguel Nicolelis – Beyond Boundaries

    Das ist der mit den Affen und dem Roboterarm, gleichzeitig einer der Distributionisten, mit einigen sehr schönen Rechenspielen. Wenn auch etwas lyrisch manchmal, ch bin hin und weg, und das schon auf Seite 25.

  65. @Arvid: Primat – und dessen Konsequenzen

    Jetzt wird’s Philosophisch bzw. eine Definitionsfrage: Du gibt dem Gehirn den Primat übers Verhalten. In der Entwicklung ist das keinesfalls so, denn was zuerst da ist, das ist nun einmal die Umwelt, in die der Mensch geboren wird (natürlich mit bestimmten genetischen Veranlagungen).

    Auch beim Beispiel der Kindesmisshandlung geschieht erst der prägende, misshandelnde Einfluss und ergeben sich dann die ungünstigen Folgen fürs Gehirn.

    Natürlich, wenn du erst einmal das ungünstige Gehirn hast, dann kannst du sagen, dass es dich in einer oder anderer Weise zu bestimmten Verhaltensweisen prädisponiert, dass das Gehirn dann Primat über dein Verhalten ist, aber das ist dann der definitorische Trick, dessen sich der Neurodeterminist bedient und dabei vergisst, woher die Prädispositionen kommen.

    Politisch/gesellschaftlich wird das ganze nun relevant – und damit schließt sich wieder der Kreis zu meinem Beitrag –, wenn wir Wege wählen, um das Problem (hier z.B. die Folgen von Kindesmisshandlung) anzugehen. Ein Neurodeterminist könnte vorschlagen, den Opfern von Kindesmisshandlung sedierende Mittel zu geben, um ihr Risiko sexueller Übergriffe zu verringern; ein Psychologe oder Sozialarbeiter würde den Fokus wohl eher darauf legen, dem sexuellen Missbrauch von Kindern in erster Linie vorzubeugen und dort, wo das nicht mehr möglich ist, den Opfern dabei zu helfen, in ihrem sozialen Umfeld stabil zu funktionieren.

    Man kann sich auch ganz andere Beispiele vorstellen, denken wir an eine aufgeheiztes Fußballspiel im Stadion, der gegnerische, gehasste Verein schießt plötzlich das entscheidende Tor und in just dem Moment bricht aufgrund des hohen Drucks die Sicherheitsabsperrung zusammen. Wie stark determiniert jetzt das Gehirn, und wie stark die Situation (Tor, Sicherheitsabsperrung, andere Fans) das Verhalten?

    Danke übrigens für den Hinweis auf Nicolelissens Buch. Wie gemein: In den USA kann man das kartoniert für nur $12 bestellen, in Europa wollen sie EUR 24 für das Hardcover. Ich warte dann auf eine Rezension in deinem Blog.

  66. @Balanus: Interaktion

    Nach kurzem Nachdenken: Nein, vor einer roten Ampel interagiere ich auch nicht mit dem Staat (auch nicht mit Vorschriften, Verkehrsregeln und dergleichen).

    Sie haben richtigerweise festgestellt, dass Sie die rote Ampel als Signal interpretieren. Dieses Signal transportiert einen normativen Gehalt, nämlich das Wartenmüssen. WP spricht von einer Anordnung der Verkehrsunterbrechung [1]. Wer einer Anordnung unterworfen ist, egal, ob er nun Folge leistet oder nicht, der interagiert m.E. mit dem Anordnenden. Das ist hier der Staat.

    [1] http://de.wikipedia.org/wiki/Halten_%28StVO%29

  67. @Helmut Wicht /Sprachschlamperei

    Danke für die Präzisierung.

    Eine andere, häufig auftauchende sprachliche Ungenauigkeit im Zusammenhang mit Lernprozessen ist der Begriff der „Prägung durch die Umwelt“, weil er suggeriert, die Umwelt spiele hierbei den aktiven Part. Dabei ist es doch allein der Organismus, der die Anpassungsleistung vollbringt. Der sogenannte prägende Umwelteinfluss endet bereits am Sinnesrezeptor.

  68. @Stephan /Lichtzeichenanlage

    »Wer sagt, das Gehirn lege fest, dass man vor der roten Ampel stehen bleibt, der unterschlägt eben einmal wieder, wie es der Neurodeterminist so gerne und häufig tut, dass es diese Umweltinteraktionen waren, die das Gehirn auf diese Art und Weise geprägt haben.«

    Helmut Wicht hat treffend ausgeführt:

    » Das Hirn kennt kein Licht, keinen Druck, keine Schallwelle und keinen Duftstoff, es kennt nur die elektrischen Signale, die aus der Reizung der Sinnesorgane hervorgehen.«

    Wie also dürfen wir uns vor diesem Hintergrund den von Dir propagierten Vorgang der „Gehirn-Umwelt-Interaktion“ vorstellen, wenn doch bereits ab Rezeptor nur noch vom Organismus selbst erzeugte Potentialschwankungen beobachtet werden können?

  69. @Stephan Schleim: Nicht ganz II

    Ihre Beispiele sind alle richtig und alle unvollständig. Denn natürlich ist das Gehirn nach dem Unfall noch nicht vollkommen angepasst – aber es hat trotzdem alle Informationen über den Unfall. Nur ist der Großteil dieser Informationen noch nicht bewusst – und deswegen tun wir uns (Sie sich) mit dieser Sicht so schwer.

    Wir könnten aber (wenn wir die Gehirnstruktur so genau kennen würden) recht genau vorhersagen, wie das Gehirn reagieren wird und wie es auf die Umwelt einwirken wird. Es wird nämlich erstmal versuchen diese Information zu verifizieren – also etwa die Motorik anwerfen. Und es wird versuchen neue Informationen von dort zu bekommen – aber alles das können wir prinzipiell aus der aktuellen Hirnsituation ableiten.

    Und auch Ihre Klammer stimmt nur bedingt: Ja, die Umfelt formt das Gehirn. Aber nein, das ist nicht alles, denn das Gehirn formt auch die Umwelt. Und das ist, wenn man so will, Ihr blinder Fleck.

  70. @Helmut Wicht: Schlamperei!

    Das ist Sprachschlamperei.

    Das fängt ja gut an!

    Im Gehirn werden eben KEINE Reize verarbeitet, sondern elektrische Signale,

    Man könnte genausogut behaupten, dass die CPU eines Computers, mit dem gerade Bilder bearbeitet werden, keine Bilder verarbeit werden sondern nur elektrische Signale.

    Doch was bringt das? Offensichtlich sind im Computer die Bilder auf elektrischen Signalen kodiert, so wie das, was man Reiz nennt, als auf elektrischen Hirnsignalen kodiert angesehen wird.

    Das Hirn kennt kein Licht, keinen Druck, keine Schallwelle und keinen Duftstoff, es kennt nur die elektrischen Signale, die aus der Reizung der Sinnesorgane hervorgehen.

    Im Hinblick auf Ihr Einleitungsstatement würde ich in Abrede stellen wollen, dass das Gehirn überhaupt etwas “kennt”.

    Und eines der “Wunder” (zumindest ich wundere mich immer wieder darüber) des Gehirnes ist es eben, dass wir keine Schwankungen irgendwelcher elektrsicher Potentiale erleben, sondern Licht und Farbe und Töne, Schmerz und Wohlgeruch und Gestank.

    Das gilt 1:1 für Bilder, die Sie auf dem Monitor Ihres Computers sehen. Da geht alles mit rechten Dingen zu.

  71. Theoretisches @ Balanus

    Wie also dürfen wir uns vor diesem Hintergrund den von Dir propagierten Vorgang der „Gehirn-Umwelt-Interaktion“ vorstellen, wenn doch bereits ab Rezeptor nur noch vom Organismus selbst erzeugte Potentialschwankungen beobachtet werden können?

    Wie ihr euch das vorstellen dürft? Eben vollständig, als System, von der Umwelt bis zur Zelle; ich brauche für mein Modell keine Trennlinie zu ziehen, wenn ich ausdrücke, dass Verhalten eine Interaktion von Umwelt, Körper und Gehirn ist: V = U x K x G. Du hingegen bist derjenige, der die Trennung des Gehirns vom Rest des Systems motivieren müsste.

    Deine Fluchtversuche über die Kritik am Begriff der Interaktion scheitern übrigens vollständig – auch wenn ich in der Statistik nach einer Interaktion (siehe dazu auch meine Erklärung im Beitrag über Krieger-Gene) zwischen zwei Variablen suche, dann setze ich hierbei keine Personalisierung des Interaktionsbegriffs voraus.

  72. @Schleim & @Leyh: Primat inexistent

    Politisch/gesellschaftlich wird das ganze nun relevant – und damit schließt sich wieder der Kreis zu meinem Beitrag –, wenn wir Wege wählen, um das Problem (hier z.B. die Folgen von Kindesmisshandlung) anzugehen. Ein Neurodeterminist könnte vorschlagen, den Opfern von Kindesmisshandlung sedierende Mittel zu geben, um ihr Risiko sexueller Übergriffe zu verringern; ein Psychologe oder Sozialarbeiter würde den Fokus wohl eher darauf legen, dem sexuellen Missbrauch von Kindern in erster Linie vorzubeugen und dort, wo das nicht mehr möglich ist, den Opfern dabei zu helfen, in ihrem sozialen Umfeld stabil zu funktionieren.

    Und ALLE haben Recht!
    Und ALLE lösten das Problem, wenn sie vollkommens Wissen hätten!
    Und ALLE können es nicht lösen, weil sie nicht vollkommen sind!

    Es ist doch wie mit der Henne und dem Ei: Wir müssen irgendwo anfangen. Und das individuelle Gehirn wird zunächst von der Umwelt geprägt. Aber schon früh prägt es auch die Umwelt. Und all das wird auch von den Änderungen im Körper beeinflusst – die sich sowohl auf die Umwelt als auch auf das Gehirn auswirken.

    Und in Ihrem politisch brisanten Beispiel der Kindesmisshandlung sind alle Ebenen entsprechend verwoben. Die Misshandelnden interessieren sich nur für bestimmte Reize. Also ist für sie der Körper des Kindes relevant, dessen Wachsen – aber nicht nur, denn das Verhalten spielt ebenfalls mit hinein. Darum auch ist das Gehirn des Kindes (ungewollt aber doch entwicklungsbedingt zwingend) ‘mitursächlich’ an der Misshandlung. Und dieses Kind als ganzes wird dann durch die Misshandlung wiederum umgeformt, am Körper ebenso wie am Gehirn.

    Es gibt hier einen ständigen Kreislauf von Übersetzungen zwischen Systemen/Netzwerken – und zu jeder Zeit ist der Status aller Systeme/Netzwerke relevant und repräsentiert zumindest als Potenz die anderen Systeme. Das ist ja das Problem – und der Grund, warum eine isolierende Wissenschaftssicht immer dann umso falschere Ergebnisse liefert, als ihre Kenntnis unvollständig ist. Was sie aber wiederum sein muss, denn jede Kenntniserlangung greift in das zu Erkennende ein und modifiziert es damit…

  73. Theoretisches @ Noït Atiga

    Man kann sich fürs Argument vorstellen, dass der Körper im Zeitpunkt des Unfalls (bzw. analog für die anderen Beispiele) eingefroren wird – dann hat man einen Zustand, in dem der Schaden vorliegt, dieser jedoch noch nicht im Gehirn verarbeitet wurde (gleich ob bewusst oder unbewusst); mehr braucht man für das Argument nicht. Ferner ändert dies nichts daran, dass dies alles Einflüsse sind, die das Gehirn prägen.

    Und auch Ihre Klammer stimmt nur bedingt: Ja, die Umfelt formt das Gehirn. Aber nein, das ist nicht alles, denn das Gehirn formt auch die Umwelt. Und das ist, wenn man so will, Ihr blinder Fleck.

    Wieso denken Sie das? Schon im Beitrag habe ich geschrieben:

    Menschliches Verhalten ist eine Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt…

    Oder siehe meine Formulierung @ Balanus und Ano Nym:

    Das Gehirn allein determiniert nichts, sondern erst durch Interaktionen mit dem Körper, der Umwelt inklusive anderen Menschen sowie Selbstreflexion usw. wird Verhalten festgelegt.

    Oder auch @ Hoppe schrieb ich schon gestern:

    Mir geht es hier um die Hervorhebung, dass nicht nur unsere Gehirnverschaltungen uns in gewissem Maße festlegen, sondern eben diese auch durch die Umwelt, unsere Erfahrungen und uns selbst in gewissem Maße festgelegt werden.

    Dafür, dass der Beitrag des Gehirns zur Formung unserer Umwelt mein “blinder Fleck” sein soll, schreibe ich da ziemlich oft drüber, nicht wahr?

    Anstatt ständig Fehler in meine Sichtweise zu dichten, sehen Sie doch endlich einmal ein, dass sie zutrifft – und ich heute mal meinen ganz bescheidenen Tag habe. 🙂 Zugegeben, dann würde die Diskussion aber weniger Spaß machen.

  74. Ano Nym /Interaktion

    »Wer einer Anordnung unterworfen ist, egal, ob er nun Folge leistet oder nicht, der interagiert m.E. mit dem Anordnenden. Das ist hier der Staat.«

    Wenn ich Kenntnis von einer Sache (Anordnung) habe, kann ich mich entsprechend verhalten. Wenn ich z. B. weiß, dass die Herdplatte heiß ist, lege ich nicht meine Hand darauf. Heißt das nun, dass ich mit der Herdplatte interagiere? Oder mit demjenigen, der mich vor heißen Herdplatten gewarnt hat? Ich denke nicht.

    Die einzige Interaktion, die hier stattfindet, ist die zwischen meinen neuronalen Schaltkreisen. Das Ergebnis dieser neuronalen Aktivitäten lässt sich übrigens mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen. In 95% der Fälle überfahre ich keine rote Ampel, und in 100% der Fälle verbrenne ich mir nicht absichtlich die Finger.

  75. @ ano nym

    “Man könnte genausogut behaupten, dass die CPU eines Computers, mit dem gerade Bilder bearbeitet werden, keine Bilder verarbeit werden sondern nur elektrische Signale.”

    Ja. Genau.

    “..codiert..”

    Das Lesen eines “Codes” setzt nach meinem Verständnis voraus, dass man den “Code” als eine verschlüsselte Version von etwas anderem, was er selbst nicht ist, aber worauf er sich bezieht, erkennt. Jenes “andere” – in diesem Fall die Photonen, Schallwellen etc. – ist aber im Gehirn nie angekommen, es empfängt (und sendet) immer nur “Code”. Ein konstruktivistischer Ansatz erscheint mir da plausibler: das Hirn “interpretiert” den Code.

    “Im Hinblick auf Ihr Einleitungsstatement würde ich in Abrede stellen wollen, dass das Gehirn überhaupt etwas “kennt”.”

    Das stimmt allerdings. Auch das Wort “interpretiert” (oben) ist ist diesem Sinne daneben und deshalb in Gänsefüsschen gewandert.

    “Da geht alles mit rechten Dingen zu.”

    Zweifelsohne. Aber da ist eine Erklärungslücke.

  76. @Stephan Schleim: Ja und Nein

    Die Klammer habe ich vielleicht zu weit gelesen – jedenfalls wenn Sie mir zustimmen, dass die Umwelt ebenso nachhaltig das Gehirn prägt wie das Gehirn nachhaltig die Umwelt prägt.

    Und ich bin völlig bei Ihnen, wenn Sie menschliches Verhalten als Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt definieren. Nur sind Ihre Folgerungen daraus zumindest teilweise falsch (oder kommen hier so an).

    Bei Ihrem Gedankenexperiment am Anfang der obigen Antwort etwa sind Sie zu ungenau. Wenn Sie nämlich den Körper einfrieren – dann ändern Sie die Umwelt! Der Zustand ist also ein ganz anderer, als Sie das üblicherweise vertreten.
    Wir haben dann nämlich eine eingefrorene Umgebung, mit der das Gehirn ebenfalls prinzipiell klar vorhersehbar ‘interagiert’. Schaden ist also der eingefrorene Körper und nicht die Verletzung am Körper. Umso mehr, als Sie mit der Einfrieraktion den Körper definitiv zur Umwelt hinziehen – er ist ja dem Gehirn dann nicht mehr Vermittler, sondern Gefängnis.
    Und diese Änderung ist auch bei ‘Schockfrostung’ nicht so unmittelbar, dass sie nicht wenigstens teilweise in das Gehirn übernommen werden könnte – friert man das Gehirn selbst mit ein, dann dürfte es sich auch deswegen schon etwas wandeln, aber da wird es wirklich kompliziert.

    PS: Ich will Ihnen keine Fehler andichten, denn ich meine jedenfalls Ihre Grundthese verstanden zu haben. Und teile sie. Nur sind mir Teile Ihrer Antworten auf meine und andere Einwürfe nicht konsequent genug zweiseitig, Sie betonen dann (aus meiner Sicht) zu stark den Umwelt-Aspekt – und das führt (auch wenn es für Ihre Gegenposition zum Neurodeterminismus verständlich ist) dann zu Missverständnissen, meint man doch, dass Sie dem Gehirn (jedenfalls für das konkrete Beispiel) doch wieder jegliche Mitwirkung absprechen.
    Und zum blinden Fleck – der ist umso wahrscheinlicher, als Sie sich damit so intensiv beschäftigen. Denn umso genauer man hinschaut, umso mehr muss man etwas ausblenden – was dann zum ‘blinden’ Fleck wird.
    Und ganz bescheidene Tage haben wir alle mal – vielleicht ist ja heute auch meiner? 😉

  77. @Balanus

    Die einzige Interaktion, die hier stattfindet, ist die zwischen meinen neuronalen Schaltkreisen.

    Und zwischen den Ihrigen und denen des Informanten.

    Das Ergebnis dieser neuronalen Aktivitäten lässt sich übrigens mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen. In 95% der Fälle überfahre ich keine rote Ampel, und in 100% der Fälle verbrenne ich mir nicht absichtlich die Finger.

    Das ist natürlich sprachgeschlampt. Aber davon abgesehen können Sie die Vorhersagen schon machen, ohne dass Sie – egal ob als Person oder ob als Ansammlung von Neuronen – analysiert werden. Dieses Verhalten ist – wenn sie so wollen – schon extern determiniert.

  78. @Ano Nym: Balanus

    Wir waren zwar selten einer Meinung aber was denken Sie, wie viel muss ich Ihnen bezahlen, wenn Sie Balanus konsequent auf seine sprachlichen – sagen wir mal höflich – Ungenauigkeiten hinweisen und ich das nicht mehr tun muss?

    Mir geht es aber nicht nur um die Zeitverschwendung; tief in meinem Herzen bin ich nämlich Pädagoge und ich denke, nach ca. 10.000- bis 100.000-mal müsste bei ihm endlich ein Besserungseffekt eintreten (womit wir wieder bei der Konditionierung durch Umwelteinflüsse wären).

  79. @Noït Atiga: Doch und Doch

    Bei dem Gedankenexperiment ging es doch darum, dass es Situationen geben kann, in denen das Umwelt- und Körperwissen bessere Vorhersagen zulässt als ein vollständiges Gehirnwissen – und das mit dem Unfall habe ich ja nur fürs Argument vorgeschlagen, weil eben im Moment des Unfalls zwar der körperliche Schaden eingetreten ist aber – Einfrieren hin oder her – diese Information noch nicht im Gehirn angekommen ist.

    Gerade wenn wir den beschränkten und beschränkenden Neurodeterminismus überwiden, wird der Weg für die wissenschaftliche Untersuchung frei, unter welchen Umständen (das sind Umwelt- ebenso wie Körper- und Gehirnumstände) welche Faktoren das Verhalten in welcher Weise beeinflussen.

    Und wenn wir jetzt endlich einmal festhalten können, dass dies über den strikten Neurodeterminismus hinausgeht und eine sowohl wissenschaftlich als auch gesellschaftlich wichtige Frage ist, dann können wir beide uns nun wieder etwas Sinnvollerem zuwenden – oder haben Sie sonst nichts zu tun?

    P.S. Ist Ihr Name eigentlich Agitation rückwärts?

  80. @Helmut Wicht

    Ein konstruktivistischer Ansatz erscheint mir da plausibler: das Hirn “interpretiert” den Code.

    Ist mit “Interpretieren” irgendetwas anderes gemeint als: Das Codierte decodieren und das Dekodierte dann seiner Bestimmung zuführen? Falls nicht, sehe ich das ansatzartige am Ansatz nicht.

    “Da geht alles mit rechten Dingen zu.”

    Zweifelsohne. Aber da ist eine Erklärungslücke.

    Das ist keine Besonderheit dieses Problems 😉

  81. @Ano Nym @Wicht: Mustervergleich

    Wenn unsere Sinne durch einen Reiz(Eingangsreiz) aktiviert werden, entsteht ein Signalmuster. Dieses Signalmuster aktiviert bestimmte zugeordnete Bereiche des Gehirns (bewusste/unbewusste Wahrnehmung). Dieses Aktivierungsmuster wird mit abgespeicherten Mustern(= Gedächtnis) verglichen – und vergleichbar passende Muster werden sofort aktiviert bzw. aktivieren entsprechende Bereiche des Gehirns: dies ist ein Wieder-Erleben. Dadurch sind wie zu schnellsten Reaktionen fähig.
    Dann erst erfolgt der Plausibilitätsabgleich: Eingangs-Muster / Reaktiviertes Muster und das reaktivierte Muster wird akzeptiert oder verworfen (erkennbar ist dies z.B. bei Déjà-vu´s).
    Wird das reaktivierte Muster verworfen, dann wird im Gedächtnis nach weiteren passenden Mustern gesucht (passend zum Eingangsreiz) bzw. mit einem neuen Eingangsreiz beginnt der ganze Vorgang von vorne.
    Das ´Interpretieren´ ist nichts anderes als ein Mustervergleich

  82. @Stephan Schleim: Nicht doch

    Ich habe viel zu tun, aber das hier gehört dazu. Denn es geht ja wie Sie schrieben um wissenschaftlich und gesellschaftlich wichtige Fragen – und beides gehört zu meinem Forschungsbereich.

    Und darum will ich Ihren Arbeitseifer nicht bremsen, sondern wollte nur Fragen kanalisieren – um Energie zu sparen, auch abseits eines strikten Neurodeterminismus können wir doch verschiedene Forschungswege einschlagen, etwa einen langsameren weniger theoretischen oder einen schnelleren nachdenklicheren.

    1. Wir können alle denkbaren Situationen darauf untersuchen, welche Umstände (Umwelt, Körper, Gehirn) denn nun in dieser Situation wie bedeutsam sind. So verstehe ich Sie.

    2. Wir können uns mit den Beziehungskanälen zwischen den Systemen und innerhalb der Systeme besser vertraut machen. Und wenn wir diese Kanäle besser verstanden haben, dann würden die Vorhersagen genauer und wir wüssten auch besser, auf welche Parameter wir eine Situation untersuchen müssen. Und das tun wir derzeit zwar teils in einzelnen Disziplinen aber noch nicht zwischen ihnen.

    Und insofern ist das Gedankenexperiment nach meinem Kenntnisstand unvollständig, denn der Körper hat selbst im Moment des Unfalls schon Kenntnis vom Unfall und damit auch das Gehirn. Es mögen nur Ahnungen der exakten Konsequenzen sein, aber diese Ahnungen selbst ändern schon das zukünftige Verhalten. Und damit wäre selbst aus Gehirnperspektive eine Vorhersage genauer möglich. Der Einfluss ist also auf beiden Seiten vorhanden – obgleich die Erkennbarkeit für uns deutlich verschieden ist, den Unfall sehen wir leicht.

    PS: Nein, das Pseudonym beruht auf verschiedenen Übersetzungen und gewünschten Assoziationen. Ein Großteil sollte intuitv wirken, wer es aber genauer wissen will findet dazu Einiges im Internet unter Noït, Atiga und ATIGA (jeweils wieder mehrdeutig) und natürlich in den Diskussionen bei scilogs.

  83. @Stephan Schleim: Nachtrag

    Beim Gedankenexperiment gibt es übrigens eine Frage, die man bei zeitpunktbezogener Betrachtung weder aus der Umelt- noch aus der Körper-Perspektive beantworten kann:
    Ob der Verunfallte mit stoischer Gelassenheit reagiert oder mit furiosem Schreien oder …

  84. @Ano Nym

    »

    Die einzige Interaktion, die hier stattfindet, ist die zwischen meinen neuronalen Schaltkreisen.

    Und zwischen den Ihrigen und denen des Informanten.

    «

    Der Informant ist leider schon lange verstorben. Wollen Sie behaupten, mein Gehirn interagiere mit Toten?

    Wenn ich ein Gedicht von Goethe lese, interagiert dann mein Gehirn mit dem Goethes?

    »Das ist natürlich sprachgeschlampt.«

    Und dennoch haben Sie aus den Zeichen, die auf Ihrem Bildschirm erschienen sind, in etwa das herausgelesen, was gemeint war. Eine großartige Leistung Ihres Denkorgans, Respekt!

    Ich bzw. mein Gehirn konnte leider rein gar nichts dazu beitragen.

  85. Balanus

    Der Informant ist leider schon lange verstorben. Wollen Sie behaupten, mein Gehirn interagiere mit Toten?

    Ich hatte die Vorstellung, die Herdplatte sei aktuell heiß und Sie würden aktuell von dem Informaten darüber informiert.

    Wenn ich ein Gedicht von Goethe lese, interagiert dann mein Gehirn mit dem Goethes?

    Das klingt möglicherweise bescheuert: Aber die Antwort ist ja. Es liegt zwar nur eine “einseitige” Interaktion vor, (Goethe ’ Balanus), weil das Gehirn des Dichters bereits rezykliert ist, aber das ändert nichts an der Interaktion.

    Wenn Sie Goethe lesen beeinflussen dessen Gedanken Ihre Gedanken. Man kann das in neuronale Kategorien übersetzen, das bringt aber im Moment keine zusätzliche Erkenntnis.

  86. @Schleim

    Ich glaube Sie rennen hier offene Türen ein. Zu jeder Beschreibung/Erklärung/etc. gehört immer eine Adressierung zu einer bisherigen Vorstellung. Nicht nur im pädagogischen Sinne sondern allgemein.
    Der Satz “Sie sind ihr Gehirn” addressiert die Vorstellung einer Seele als mehr oder weniger abgekoppeltes Objekt. Es soll damit ausgedrückt werden, dass wir nicht eine Seele haben, die das Gehirn bedient, die den Körper bedient (auch in die andere Richtung möglich), sondern dass wir ein Gehirn haben, dass ein Bewusstsein erzeugt und den Körper bedient. Dass das Bewusstsein keine Entität sondern ein Zusammenspiel von Entitäten ist. (Mit allen anderen Wechselwirkungen)
    Sie werden NIEMANDEN in den Lifesciences finden der ihnen im wesentlichen widerspricht, so wie Sie es hier suggerieren.

    Davon abgesehen, dass “Sie sind ihr Gehirn” kein Widerspruch zu Umwelteinflüssen ist, sondern eine Erklärung von Umwelteinflüssen…

  87. @Christian Hoppe / ad (1) + (2)

    »(1) Naturwissenschaftlicher Betrachtung erschließt sich der klassische (mechanistische) Determinismus an leblosen Objekten, deren Bewegungen auf Basis der Kenntnis von außen gut beobachtbarer Faktoren (Situation, Form/Gewicht/etc.) vorhergesagt werden können.«

    Die Bewegungsgleichungen der klass. Mechanik sind deterministisch, dennoch ist das Verhalten von Lösungen i.a. nicht vorhersagbar. Ein Indikator für Unvorhersagbarkeit ist eine positive (informationstheoretische) Entropie des in Betracht stehenden Systems — das konnten Laplace und sein Daemon aber noch nicht wissen.

    »(2) Bei Lebewesen sind die zunehmend verhaltensentscheidenden, aber weiterhin materiellen (physiologischen) Vorgänge lediglich **unter der Oberfläche des Organismus**, also schwer beobachtbar, verborgen. Die vollständige Kenntnis dieser Prozesse müsste es im Grunde erlauben vorherzusagen, ob ein Hund, wenn man mit ihm schimpft, beleidigt wegläuft, ob er mich anbellt oder ob er mich beißt. Wir haben heute allerdings nicht den Hauch einer Chance, diese Prozesse physikalisch/physiologisch zu erfassen.«

    Ein allwissender Daemon wäre solchen Beschränkungen freilich nicht unterworfen und hätte per definitionem vollständige Kenntnis des Systems “Hund”. Bei einem positiv entropischen Hund würde ihm das aber nichts nutzen: dieser Hund erschafft Information gerade dadurch, dass er sich verhält, wie er sich verhält — eine Information, die zuvor nicht im System war und worüber folglich auch keinerlei Wissen hat bestehen können.

  88. @Ano Nym /Gedanken

    »Es liegt zwar nur eine “einseitige” Interaktion vor, (Goethe ’ Balanus), weil das Gehirn des Dichters bereits rezykliert ist, aber das ändert nichts an der Interaktion.«

    Aha, „einseitig“, wir nähern uns dem wahren Kern der Geschichte.

    Und wenn ich das Lesen nur vortäusche, weil ich Analphabet bin, was ist dann, interagiere ich dann auch noch mit dem Dichter bzw. dessen Gedanken? (Wobei „Gedankenlesen“ laut Stephan ohnehin nicht möglich ist — was auch bedeutet, dass Sie nicht erkennen können, ob einer liest oder nur so tut).

  89. @Maier: Widerspruch

    Sie werden NIEMANDEN in den Lifesciences finden der ihnen im wesentlichen widerspricht, so wie Sie es hier suggerieren.

    Oh doch – abgesehen von den bereits im Artikel angeführten Zitaten können Sie in den verlinkten Beispielen Thomas Insels und Florian Holsboers frappierende und wie ich finde sogar schon schockierende Beispiele dafür finden, wohin das “Wir sind unser Gehirn”-Denken führen kann. Selbst nachdem G&G-Redakteur Steve Ayan in dem Interview noch einmal deutlich auf die Umwelt- bzw. soziale Komponente psychiatrischer Erkrankungen hinweist, weist Holsboer das weit von sich.

    Aber Sie haben insofern recht, als die Neurodeterministen, wenn sie mit der offensichtlichen Kritik konfrontiert werden, schnell von ihrem Standpunkt abrücken und versichern, sie hätten das ja nie so gemeint – dass sie aber dann weiter so reden, so forschen, solche Forschungsanträge schreiben, solche Pressemitteilungen absegnen, das scheint sie nicht zu stören; und das System lässt es ihnen ja nicht nur durchgehen, sondern belohnt sie dafür sogar noch reichlich.

    Die Leute machen einfach mit dem Unsinn weiter, den sie gelernt haben, und verbraten dabei ordentlich Steuergelder. Steven Hyman, Harvard-Professor und Vorgänger Thomas Insels als Direktor der National Institutes of Mental Health, formulierte das kürzlich sogar so:

    It became a source of real worry to me, that as Institute director, I might be signing off on the expenditure of large sums of taxpayers’ money for clinical and translational projects that almost never questioned the existing diagnostic categories despite their lack of validation. Moreover, there seemed to be very little, if any, research aimed at improving this parlous situation.

  90. @Noït Atiga: aneinander vorbei

    Mir scheint, wir reden aneinander vorbei.

    Mir ging es doch nur um ein Beispiel für einen Fall, in dem das Umweltwissen und Verhaltenswissen das zukünftige Verhalten besser vorhersagen kann als das Gehirnwissen – eine Widerlegung der “Wir sind unser Gehirn”-Idee. Bestreiten Sie dies wirklich?

    Wenn Ihnen mein Unfallbeispiel nicht gefällt, dann nehmen wir eben an, man ist Skifahren in den Bergen und von hinten nähert sich eine Lawine, die man weder bewusst noch unbewusst bemerkt hat; oder man ist politischer Gefangener in der ehem. DDR und das Todesurteil wird mit einem unerwarteten Genickschuss vollstreckt.

    In beiden Fällen erlaubt das Kontextwissen deutliche Vorhersagen über das Verhalten des (zukünftigen) Opfers, Wissen um seinen Gehirnzustand allein jedoch nichts.

    Stimmen Sie dem jetzt zu oder lehnen Sie auch diese Beispiele ab?

  91. @Stephan Schleim: Vielleicht (nicht)

    Möglicherweise reden wir aneinander vorbei. Denn ich habe ja nie bezweifelt, dass es Situationen geben kann, in denen das Kontextwissen deutlichere Voraussagen erlaubt.

    Nur haben Sie (zumindest dem Anschein) nach behauptet, dass es keine Situationen geben könne, in denen das Gehirnwissen deutlichere Voraussagen erlaubt.

    Und dazu gibt es nebenan bei Markus A. Dahlem gerade ein Beispiel zu Schmerzen ohne Ursache. Markus A. Dahlem aber lässt bewusst offen, ob es von außen her erkennbar ist – etwa weil gewisse Trigger dennoch von außen kommen müssen. Und ich bin mir recht sicher, dass Antsprechendes in anderer Richtung auch für die beiden von Ihnen gerade genannten Beispiele gilt – der Skifahrer weiß um die Lawinengefahr und der Gefangene um die Todesgefahr.

    Was sich realisiert ist nur deswegen aus einer Perspektive genauer zu beurteilen, weil das Verhalten der anderen Perspektive äußerst wahrscheinlich ist. Man erwartet nicht die Lawine oder den Schuss – wenn man es aber tut, dann kann die äußere Situation trotzdem erstmal identisch sein und dann doch ganz anders verlaufen, weil der Skifahrer sich abrupt hinter einen Stein sichert oder der Gefangene abrupt duckt – beides ist ohne historische Kenntnisse aus Sicht der Umwelt NICHT vorhersehbar, wohl aber aus der Sicht des Gehirns.

    Darum auch ist Ihre Vehemenz gegen die Aussagekraft des Neurodeterminismus ebenso falsch wie deren Vehemenz gegen die Aussagekraft des Soziodeterminismus.

  92. @Chrys

    »…dieser Hund erschafft Information gerade dadurch, dass er sich verhält, wie er sich verhält — eine Information, die zuvor nicht im System war und worüber folglich auch keinerlei Wissen hat bestehen können.«

    Hat das nicht erhebliche Konsequenzen für eine religiös motivierte Vorstellung vom freien Willen? Eigentlich kann man dann doch gar nicht wissen, wie man sich als nächstes verhalten wird.

  93. @all, @Stephan: Hyman’s Anliegen

    Stephan,
    Du hattest Steven E Hyman (2012), The Diagnosis of Mental Disorders: The Problem of Reification, Annu. Rev. Clin. Psychol. 2010. 6:155–79 zitiert.

    Hier die Summary Points, die m.E. zeigen, dass sein Anliegen (nämlich das bessere “mapping” von psychiatrischen Entitäten auf neuronale und genetische Entitäten) dem Mainstream der heutigen neurobiologisch (reduktiv, individualistisch) ausgerichteten Psychiatrieforschung eher entspricht als widerspricht (was mir Dein Zitat nahezulegen schien) – insbesondere kommen hier nicht, wie von Dir gefordert, psychosoziale Faktoren in den Blick:
    “1. DSM-III responded to a strong desire for interrater reliability by developing operationalized diagnostic criteria.
    2. DSM-III and DSM-IV arbitrarily treat every disorder as a category discontinuous from normal and from other disorders and eschew quantitative or dimensional approaches to disorder descriptions.
    3. DSM-III split large clusters of disorders, such as anxiety disorders, into a fairly large number of disorders that have arguably become reified: They are treated as if they were valid in most settings.
    4. Evidence for excessive and scientifically premature splitting is the great degree of comorbidity
    among individuals with any DSM-IV diagnosis.
    5. One result of promulgating highly specified operationalized criteria to describe heterogeneous disorders is that many patients meet no criteria and receive the diagnosis of Not Otherwise Specified (NOS).
    6. Family and molecular genetic studies map very poorly onto strict DSM-IV disorder categories but help explicate the heterogeneity of clinical presentations.
    7. Progress would seem to require seeing psychopathology afresh rather than through the lens of the DSM-IV. One way of accomplishing this is to establish new large groupings of disorders in the DSM-V based upon the most compelling current neurobiological and genetic hypotheses followed by bottom-up reanalysis.
    8. It is also time, with due care, to introduce quantitative scales into the DSM-V.” (p. 173)

    Zum Holsboer-Interview hatte ich übrigens hier kritisch Stellung bezogen.

  94. @Noït Atiga: sich im Kreis drehen

    Hier könnte ich nur noch meinen Beitrag wiederholen, den ich Ihnen gestern um 10:51 Uhr geschrieben habe.

    Nur haben Sie (zumindest dem Anschein) nach behauptet, dass es keine Situationen geben könne, in denen das Gehirnwissen deutlichere Voraussagen erlaubt.

    Nein, das habe ich nicht behauptet – wie ich in meinem o.g. Beitrag schrieb, habe ich behauptet, dass man die wissenschaftlichen Belege für die Vorhersagekraft der verschiedenen Quellen einmal sauber und neutral untersuchen sollte.

    Ich zitiere jetzt hier zum letzten Mal diesen Satz aus meinem Beitrag, an dem Sie (zum x-ten Mal) erkennen können, dass ich dem Gehirn erst einmal weder eine besonders große noch eine besonders kleine Rolle beimesse:

    Menschliches Verhalten ist eine Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt…

    Die Vorhersagekraft ist eine offene Frage, die wir jedoch nur dann wirklich untersuchen können, wenn wir den strikten Neurodeterminismus überwinden; ich will jedoch lieber die Daten entscheiden lassen als eine reduzierte Ideologie.

  95. @Balanus: religiöser freier Wille

    …für eine religiös motivierte Vorstellung vom freien Willen?

    Was soll das denn jetzt? Und wieso religiös motiviert?

    Religiös motiviert war z.B. die einflussreiche calvinistische Sichtweise, inklusive der doppelten Prädestination, derzufolge ein Gott die Menschen in die Auserwählten und die Verdammten unterteilt hat – und der Mensch durch nichts vermag, von der einen in die andere Gruppe zu gelangen.

  96. @Balanus: Goethe nicht lesen

    Und wenn ich das Lesen nur vortäusche, weil ich Analphabet bin, was ist dann, interagiere ich dann auch noch mit dem Dichter bzw. dessen Gedanken? (Wobei „Gedankenlesen“ laut Stephan ohnehin nicht möglich ist — was auch bedeutet, dass Sie nicht erkennen können, ob einer liest oder nur so tut).

    Wenn Sie die Gedanken eines Toten, die nur noch in Schriftform überliefert sind, dadurch nicht zur Kenntnis nehmen, dass Sie die Schriften nicht lesen, interagieren Sie nicht mit dem Toten oder dessen Gehirn.

  97. @Hoppe: Danke!

    Ach, Christian, wie konnte ich dein Angemerkt! nur übersehen? Warum haben sie das nicht im Heft abgedruckt?

    Allen, die meinen Beitrag nicht verstehen oder nicht verstehen wollen, will ich diese Lektüre dringend empfehlen.

    Gerade das achte Kriterium Hymans, “based upon the most compelling current neurobiological and genetic hypotheses followed by bottom-up reanalysis”, entspricht ja dem von mir kritisierten Neurodeterminismus, der sich auch bei Insel und Holsboer findet.

    Und wie viele andere würde sich Hyman im Gespräch wahrscheinlich gegen diese Reduzierung der Sichtweise auf psychische Störungen verwehren, obwohl er es in seinen wissenschaftlichen Publikationen anders aufschreibt.

    Die 12-Monatsprävalenz psychischer Störungen von 38% gemäß Wittchen et al. bezieht sich übrigens nur auf 47 ausgewählte Störungen; man darf also davon ausgehen, dass die Rate bei allen 300-400 Störungen nach DSM-IV (wie viele sind es eigentlich im ICD-10?) noch einmal höher liegt, wahrscheinlich irgendwo in der Nähe der Hälfte der EU27-BürgerInnen.

  98. @Balanus / Wille und Vorstellung

    »… für eine religiös motivierte Vorstellung vom freien Willen?«

    Die Idee von freiem Willen assoziiere ich allerdings auch eher mit den Idealen der Aufklärung als mit Religion. Religiös motiviert hingegen ist meines Erachtens die Vorstellung, alles Geschehen sei durch einen “höheren Willen” (z.B. auch die “Vorrrsehung”) bestimmt.

  99. @Ano Nym /immer noch Interaktionen

    Dann würden Sie mir also zustimmen, dass beobachtbares Verhalten (hier der wandernde Blick über die Zeilen eines Textes) keine verlässlichen Aussagen über dabei möglicherweise stattfindende Interaktionen erlaubt.

    (Um eine fundierte Sprachkritik wird höflichst gebeten;-)

  100. @Stephan

    »Was soll das denn jetzt? Und wieso religiös motiviert? «

    Nach meiner Beobachtung ist in religiösen Kreisen das Vorhandensein eines echten freien Willens (im dualistischen Sinne) von großer Bedeutung.

    Mit „religiös“ wollte ich lediglich die naturalistische Auffassung vom freien Willen ausschließen.

    (Jetzt werde ich erst mal lesen, was Hoppe da geschrieben hat…)

  101. @Balanus

    Dann würden Sie mir also zustimmen, dass beobachtbares Verhalten (hier der wandernde Blick über die Zeilen eines Textes) keine verlässlichen Aussagen über dabei möglicherweise stattfindende Interaktionen erlaubt.

    Der volljährige Deutsche, der sehen kann, kann mit mindestens 85 % Wahrscheinlichkeit auch lesen. Dass jemand, der dem Anschein nach eine Zeitung liest, das nur vorspiegelt, glaube ich nur dann, wenn er die Zeitung verkehrt herum hält.

  102. @Ano Nym

    »Der volljährige Deutsche, der sehen kann, kann mit mindestens 85 % Wahrscheinlichkeit auch lesen. Dass jemand, der dem Anschein nach eine Zeitung liest, das nur vorspiegelt, glaube ich nur dann, wenn er die Zeitung verkehrt herum hält.«

    Das war nicht die Frage, darum geht es nicht.

    (Davon abgesehen wird berichtet, dass manche Analphabeten hervorragend die soziale Umwelt täuschen können.)

  103. @Stephan Schleim: Hoffentlich in Spirale

    Die Vorhersagekraft ist eine offene Frage, die wir jedoch nur dann wirklich untersuchen können, wenn wir den strikten Neurodeterminismus überwinden; ich will jedoch lieber die Daten entscheiden lassen als eine reduzierte Ideologie.

    So offen ist diese Frage aber für Sie anscheindend nicht, den in jenem Beitrag, auf den Sie sich ganz ausdrücklich beziehen schrieben Sie:

    Ein wesentlicher Unterschied ist aber: Wenn ich eine Vorhersage (sagen wir nach dem Induktionsprinzip) aufgrund von Verhaltensuntersuchungen mache, dann steckt da sowohl Umwelt- als auch Gehirninformation drin, weil dieses Verhalten durch eine Person (mit Gehirn) im Kontext stattfindet. Wenn ich aber nur das Gehirn untersuche, dann habe ich nur einen Teil der Person und obendrein die Umwelt vergessen.

    Und diese Aussage IST falsch, denn damit vernachlässigen Sie ganz eindeutig das Gehirnwissen. In der Situation steckt nämlich nur das derzeit aktive Gehirnwissen, nicht aber das gesamte Gehirnwissen – die so definierte Sicht von außen ist also GENAUSO unvollständig wie die Sicht von innen. Schließlich steckt im Gehirn immer auch die derzeit aktive Umwelt. Und das stimmt auch, wenn ich eine konkrete Zeitspanne beobachte – dann steckt die in dieser Zeit erfolgende Änderung ebenso IM Gehirnverlauf wie IM Situationsverlauf.

    Daher kritisierte ich, dass Ihre Folgerungen aus der zutreffenden Voraussetzung (Menschliches Verhalten ist eine Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt.) falsch sind.

    Und solange dieser Unterschied zwischen richtiger Prämisse und falscher Folgerung nicht verstanden ist, solange werden alle Experimente falsch interpretiert weden – und solange wird es immer wieder sinnlosen Streit über eigentlich zusammengehörende Teilaspekte geben!

  104. @Balanus

    Das war nicht die Frage, darum geht es nicht.

    Sie hatten gefragt:

    Dann würden Sie mir also zustimmen, dass beobachtbares Verhalten (hier der wandernde Blick über die Zeilen eines Textes) keine verlässlichen Aussagen über dabei möglicherweise stattfindende Interaktionen erlaubt.

    Ich hatte darauf – auf zugegeben umständliche Art und Weise – mit “Nein” geantwortet. Ich stimmte nicht zu.

  105. @Balanus II

    Zur Erinnerung: Ich hatte geschrieben:

    Wenn Sie die Gedanken eines Toten, die nur noch in Schriftform überliefert sind, dadurch nicht zur Kenntnis nehmen, dass Sie die Schriften nicht lesen, interagieren Sie nicht mit dem Toten oder dessen Gehirn.

    Also: Aus nicht-Lesen folgt nicht, dass Interaktion stattfindet.

    Daraus lässt sich aber nicht der Satz

    „Aus So-wie-Lesen-Aussehen folgt, dass nicht gelesen wird.“

    herleiten. Es gilt vielmehr mit > 85 % Wahrscheinlichkeit, dass das, was wie Lesen aussieht, auch Lesen ist.

  106. @Noït Atiga: Wieder daneben

    Wieso behaupten Sie, im Verhalten stecke nur “das derzeit aktive Gehirnwissen”, wenn Verhalten auch ein Produkt von (zeitlich in die Vergangenheit ausgedehnten) Lernvorgängen ist? Das ist doch falsch.

    Und wieso behaupten Sie, im Gehirn stecke “immer auch die derzeit aktive Umwelt”, wenn im Gehirn allenfalls die wahrgenommene Umwelt “steckt”? Das war ja gerade der Sinn meiner ganzen Beispiele: Die Lawine, der Genickschuss, die wurden eben (noch) nicht wahrgenommen (weder bewusst noch unbewusst), gerade deshalb lässt das Kontextwissen in meinen Beispielen ja eine bessere Voraussage zu als das Gehirnwissen – und zwar prinzipiell. Mehr muss ich für meine Position gar nicht zeigen. In diesem Punkt irren Sie sich also auch.

    Ich habe nie behauptet, dass Personen-, Verhalten- und Umweltwissen für eine perfekte Verhaltensvorhersage hinreichend ist; der Neurodeterminist (“Wir sind unser Gehirn”) behauptet aber genau dies für das Gehirnwissen.

    Irgendwie hatte ich Diskussionen mit Ihnen besser in Erinnerung; seit Tagen dreht es sich hier jedoch vornehmlich nur darum, dass ich Sie auf Ihre Fehler im Verständnis und der Wiedergabe meiner Ideen hinweisen muss. Haben Sie bitte Verständnis dafür, dass ich das langweilig sowie ermüdend finde und jetzt anderes zu tun habe.

    P.S. Können Sie jetzt eigentlich Ihren eigenen Namen nicht mehr richtig schreiben oder hat Sie hier jemand stümperhaft kopiert?

  107. @Schleim

    Das sich Forschungsgelder in die ein oder andere Richtung verlagern, sodass es aussieht, als ob unser Gehirn alles bestimmt ist was vollkommen anderes, als zu behaupten einem den “neurodeterminismus” zu unterstellen.
    Nur weil ich vermehrt nach Ursachen im Gehirn suche und Umwelteinflüsse rauslasse, heißt das nicht dass ich Umwelteinflüsse leugne.
    Das sind einfach Entwicklungen, die das System völlig natürlich hervorruft. Ab einem gewissen Punkt muss man zugeben, dass es das Bild verzerrt. Das ist aber etwas anderes als was Sie behaupten. Ich kann leider die beiden Artikel nicht lesen, aber ich wette einen Kasten Bier, dass man aus den beiden Artikeln nur diese quantitative Verschiebung wahrnehmen kann, aber keine qualitative Leugnung wie Sie hier suggerieren. Naja aber lesen würde ich die Artikel gerne.

  108. @Stephan Schleim: Ebenfalls

    Wieso behaupten Sie, im Verhalten stecke nur “das derzeit aktive Gehirnwissen”, wenn Verhalten auch ein Produkt von (zeitlich in die Vergangenheit ausgedehnten) Lernvorgängen ist? Das ist doch falsch.

    Nein, das ist richig: Denn in der Sitution gerade hier etwa ist nur ein sehr kleiner Teil meiner gesamten Erfahrung, also meines Gehirnwissens relevant. Und das ist die Entsprechung zu Ihrer Wahrnungs-Beschränkung des Gehirns bezüglich der Umwelt.

    Die Umwelt nimmt also ebenfalls nur einen Teil meines Gehirns wahr, kann auch nur einen Teil davon wahrnehmen. Wie auch mein Gehirn nur einen Teil der Umwelt wahrnimmt und wahrnehmen kann. Die Beschränkung existiert auf beiden Seiten – und beide Seiten müssen annehmen, dass sie das Relevante kennen. Womit beide Seiten durchaus in jeder Umwelt und bei jedem Gehirn falsch liegen (können).

    Und weil Sie das in jedem Beitrag trotz gegenteiliger Behauptung wieder verneinen, darum wird die Diskussion langweilig. Aber ich gebe zu, dass ich bald nicht mehr weiß, wie ich den blinden Fleck verdeutlichen soll…

    Und zum PS: Das war die Folge meiner diskussionsbedingten Ermüdung 😉

  109. @Maier: ja und nein

    Da sich manche Wissenschaftler nicht an die sprachlichen/definitorischen Standards halten, die für eine eindeutige Analyse erforderlich sind, gibt es hier tatsächlich eine Grauzone; insofern gebe ich Ihnen teilweise Recht. Allerdings habe ich hier ja mehrmals schon angedeutet, dass manche Neurodeterministen das womöglich nur so formulieren, um Aufmerksamkeit zu erhalten, jedoch in einer kritischen Diskussion schnell von diesem Standpunkt abrücken.

    Nicht verhandelbar ist meines Erachtens jedoch das Beispiel der psychischen Störungen, bei dem sich hier Christian Hoppe eingeschaltet hat. Wie andernorts die Person mit dem Gehirn identifiziert wird (Crick, Gazzaniga, Swaab), wird hier die Störung mit einer Gehirnstörung identifiziert (Insel, Holsboer und vielleicht auch Hyman).

    Wenn Sie Insels Text in der deutschen Übersetzung nicht lesen können, dann finden Sie womöglich eine Kopie des englischen Originals “Faulty Circuits”, erschienen im Scientific American.

    Wieso sie jedoch das Interview mit Holsboer (Klick auf “PDF Abrufen”) oder zur Not auch nur Hoppes Replik, in der die wesentlichen Stellen zitiert sind, nicht lesen können, das ist mir ein Rätsel. Ich kann auf beide zugreifen, ohne mich mit einem bestimmten Account o.ä. einzuloggen.

    Wie dem auch sei: Wer nicht meint, dass die Person mit ihrem Gehirn identisch ist, der soll es auch nicht behaupten und sich nicht vor den unangenehmen Konsequenzen dieses Fehlers drücken, wenn er es doch tut. Basta.

  110. @Stephan Schleim: So soll es sein.

    Allerdings habe ich hier ja mehrmals schon angedeutet, dass manche Neurodeterministen das womöglich nur so formulieren, um Aufmerksamkeit zu erhalten, jedoch in einer kritischen Diskussion schnell von diesem Standpunkt abrücken.

    Irgendwie abstoßend.

    Wie dem auch sei: Wer nicht meint, dass die Person mit ihrem Gehirn identisch ist, der soll es auch nicht behaupten und sich nicht vor den unangenehmen Konsequenzen dieses Fehlers drücken, wenn er es doch tut. Basta.

    +1

  111. @Stephan Schleim: Vier Seiten

    Vorweg: Ich schätze Ihre Arbeiten sehr – und das ist auch ein wichtiger Grund, warum ich mich hier so investiere. Daher hoffe ich, dass Sie mir meine vielleicht zu deutlichen Worte oben nicht übel nehmen. Aber ich will noch einen Versuch zur Illustration des wissenschaftlichen Problems wagen, der mir auf dem Heimweg einfiel.

    Wären in der Situation (= Umwelt) wirklich alle Informationen über das Gehirn enthalten, so gäbe es keine Kommunikationsprobleme. Dann könnten jedenfalls geschulte Personen in Sekundenschnelle alle Facetten einer Person erfassen (denn für viele situationsrelevante Facetten und sogar für die bedeutsamen zweierbeziehungsrelevanten geht das) – und in der Allgemeinheit wäre das tragisch, unser Leben würde unmöglich. Aber das ist (für das Leben glücklicher-, für die Wissenschaft tragischerweise) nicht der Fall: Auch Situationen sind insofern immer unvollständig – sie sind nur momentane Zustände des großen Netzwerkes. Und daher gibt es Missverständnisse, eine der größten Ursachen für zwischenmenschliche Differenzen aber auch ein Reiz der Gemeinsamkeit. Und in der Kommunikationstheorie gibt es dazu viele Modelle, etwa das heute schulbekannte Vier-Seiten-Modell.

    Und vielleicht wird an diesem Modell deutlich, dass es Informations-Defizite sowohl im Gehirn als auch in der Umwelt gibt und geben muss. Und dass wir allenfalls statistisch klären können, wo das größere Defizit liegt (Einzeluntersuchungen sind dahingehend ein-seitig).

    Wenn wir das aber als Wissenschaftsgrundlage nehmen, dann müssten wir eigentlich diese statistischen Wahrscheinlichkeiten angeben. Was wir aber nicht können, denn wir brauchten dafür die kompletten Informationen über die andere Seite. Da wir die nicht haben, könnten wir sie nur abschätzen, aber auch dabei würden wir sehr oft irren – denn wir schätzen mit unserer Einstellung, also mit unserer Lupe. Und darum werden wir Ergebnisse liefern, die Andere mit ihrer Lupe zu Recht bezweifeln werden. Und diese Zweifel werden wir nicht verstehen, denn mit unserer Lupe ist doch alles klar. Und darum wird uns die Diskussion irgendwann langweilig (sie bringt anscheinend nichts Neues), wenn wir nicht irgendwie in die Meta-Ebene wandern (können) – was natürlich umso schwieriger wird, als wir hier schon in einer Meta-Ebene sind…

    Einen schönen Abend und gutes Schreiben!

  112. @Chrys /Zweiter Versuch

    »…dieser Hund erschafft Information gerade dadurch, dass er sich verhält, wie er sich verhält — eine Information, die zuvor nicht im System war und worüber folglich auch keinerlei Wissen hat bestehen können.«

    Klingt absolut einleuchtend. Ich schließe daraus, dass eine sichere Vorhersage des Verhaltens prinzipiell nicht möglich ist. Für keinen. Auch nicht für den Akteur in Bezug auf sein eigenes Verhalten.

    Was ich nun wissen wollte, war, ob das nicht ein gutes Argument gegen eine falsch verstandene ‘Willensfreiheit’ sein könnte. Falsch in dem Sinne, dass man meint, Verhalten könne bewusst herbeigeführt werden, dass man also im Voraus wissen könne, welches Verhalten man selbst im nächsten Augenblick oder in naher Zukunft zeigen werde.

    Ein solches Wissen ist gemäß den obigen Ausführungen aber aus prinzipiellen Gründen nicht möglich.

    Insofern wäre denen Recht zu geben, die behaupten, es sei eine Illusion zu glauben, man würde seine Verhaltensakte bewusst herbeiführen. Denn so etwas würde voraussetzen, dass man zukünftiges Verhalten sicher vorhersagen kann.

    Begehe ich hier irgendwo einen Denkfehler?


    PS. Die „religiöse Motivation“ war wohl eine Nebenwirkung der aktuellen Beschneidungsdiskussion… 😉

  113. @Balanusn & @Chris: Unwahrscheinlich

    »…dieser Hund erschafft Information gerade dadurch, dass er sich verhält, wie er sich verhält – eine Information, die zuvor nicht im System war und worüber folglich auch keinerlei Wissen hat bestehen können.«

    Klingt absolut einleuchtend. Ich schließe daraus, dass eine sichere Vorhersage des Verhaltens prinzipiell nicht möglich ist. Für keinen. Auch nicht für den Akteur in Bezug auf sein eigenes Verhalten.

    Ein solcher Hund dürfte (als lebender Hund) aber kaum existieren – denn er hätte nur geringe Überlebenschancen.

    Nun kommt es zwar darauf an, wie genau man Information definiert – aber prinzipiell funktionieren lernende Lebewesen (anders etwa als das Doppelpendel) so, dass sie aus ihren Erlebnissen allgemeine Regeln extrahieren. Nach denen sie sich dann aktiv verhalten (was das Doppelpendel nicht kann). Würden sie nämlich jede Reaktion (informationstechnisch) erst bei der Reaktion erzeugen, dann würden sie ihre Überlebenswahrscheinlichkeit auf 50% setzen, also auf Zufall. Und das ist nicht sinnvoll – es ist also sehr unwahrscheinlich, dass sich solche Lebewesen (wenn es sie je gab) evolutionär gegenüber wirklich lernenden behaupten konnten.

    Vielmehr sollten Lebewesen in der beschützten Zeit (= Kindheit) lernen, was ihnen hilft und was ihnen schadet – für den Menschen ist ja gerade die dort bestehende Flexibilität das Auszeichnungskriterium schlechthin. Damit ist natürlich nicht alles vorherbestimmt, aber doch wahrscheinlichkeitsdeterminiert. Das im Detail zu illustrieren ist recht aufwendig, aber man sieht das etwa beim Sprachlernen von Kindern. Sie extrahieren schnell die einfachen Regeln und wenden diese dann erstmal überall an – bis sie merken, dass es dort Ausnahmen gibt oder abweichende Regeln. Daher sollte es (auch wenn das Sprachlernen nicht in jeder Hinsicht verallgemeinerbar ist) bei 100% exakter Kenntnis des Gehirns möglich sein, zumindest Wahrscheinlichkeits-Aussagen über das zukünftige Verhalten zu machen.

    Allerdings werden wie nie eine exakte Kenntnis eines einzelnen Gehirns haben – denn bei mehreren Milliarden Nervenzellen ist schon die Kenntnis der einzelnen Zellzustände dieses einen Gehirns nahezu unmöglich, ganz zu schweigen von den exakten Auswirkungen der etwa drei bis vierstelligen Verbindungen jeder einzelnen Zelle! Insofern ist zumindest der Hund kein Argument gegen die (falsch verstandene) Willensfreiheit.

  114. @Ano Nym

    »Es gilt vielmehr mit > 85 % Wahrscheinlichkeit, dass das, was wie Lesen aussieht, auch Lesen ist.«

    Ich glaube, jetzt verstehe ich.

    Im Ergebnis genügt mir das. Dies und die einseitige „Interaktion“ dürften sich mit meinen neurodeterministischen Vorstellungen vereinbaren lassen.

  115. @Noït Atiga /Vier-Seiten-Modell

    Dieses Modell illustriert sehr schön, dass bei der Kommunikation keine Informationen übertragen werden, sondern nur Zeichenmuster. Der „Geist“ eines Individuums ist total isoliert, Gefühle und Gedanken können nicht übermittelt werden.

    Jedes Individuum befindet sich subjektiv im Mittelpunkt des Universums. Alles, was ist, ist um es herum.

    Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefallen mir zerebrozentristische Vorstellungen.

    PS
    »Insofern ist zumindest der Hund kein Argument gegen die (falsch verstandene) Willensfreiheit.«

    Schade. Aber vielleicht besteht noch Hoffnung, der Hund soll uns ja nur als Modell dienen.

    Gegen Ihre Ausführungen habe ich ansonsten nichts einzuwenden. Der Begriff „wahrscheinlichkeitsdeterminiert“ gefällt mir.

  116. @Balanus: Nicht zurückfallen

    … denn das verwiesene Modell ist ein rein (kommunikations)psychologisches, also externes, und sollte nur der Verdeutlichung ggü. Stephan Schleim dienen.

    Schließlich ist ein rein zerebrozentrische oder neurodeterministische Modell nur die einfachste Erkenntnisstufe, wenn man so sagen will. Denn als Menschen kennen wir zunächst nur unsere Sicht = die unseres Gehirns. Die rein situative (= externe) Sicht ist dann der ablösende Schritt, man meint, nun alles besser über die Situation erklären zu können. Und doch kommt danach (mindestens) noch die integrative Sicht – die Stephan Schleim im Grundsatz treffend dargelegt hat: Menschliches Verhalten ist die notwendige Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt.

    Wenn Sie das mit allgemein bekannten Entwicklungen vergleichen wollen, dann am besten mit der Kindesentwicklung. Zunächst gehört das Kind quasi automatisch zur Familie = rein interne Sicht (also wenn es das Selbstbewusstsein hat) – dann kommt die Pubertät und damit die konsequente Abnabelung = rein externe Sicht – und dann kommt, hoffentlich, die Reintegration: Individuum in der Gruppe = externe und interne Sicht bedingen sich gegenseitig und sind beide unvollständig.

  117. @Noït Atiga /Kein Rückfall

    Jetzt muss ich doch noch einmal Stephans epistemische These aufgreifen:

    Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen? Ein starker Neurodeterminist müsste behaupten, wir könnten das zukünftige Verhalten eines Menschen vollständig voraussagen, wenn wir alles Wissen über sein Gehirn hätten.

    Kein Neurodeterminist, der bei Sinnen ist, würde so etwas behaupten, egal, wie stark er ist.

    Verhalten ist notwendigerweise situationsbedingt, Ziel und Zweck des Verhaltens ist im Wesentlichen das Überleben in einer sich ständig verändernden Umwelt.

    Folglich kann ein Neurodeterminist nur behaupten, dass das Gehirn die biologische Basis allen Verhaltens ist. Und dass, damit zielgerichtetes Verhalten überhaupt möglich ist und nicht alles im Chaos versinkt, die Hirnprozesse im Wesentlichen deterministisch ablaufen müssen.

    Ende der Geschichte, zumindest auf der Ebene der Neuronen.

    Auf der darüber liegenden Beschreibungsebene kommen Psyche und Geist ins Spiel, soziale Interaktionen und dergleichen. Alles, was auf der Ebene der psychischen Prozesse stattfindet, lässt sich — zumindest im Prinzip und nach Auffassung der Neurodeterministen — wunderbar mit den diesen Prozessen unterliegenden neurophysiologischen Prozessen erklären.

    Ich versuche mal, das anhand eines Beispiels zu illustrieren:

    Wenn Herr Schleim auf dem ‚Ball der einsamen Herzen‘ das Tanzbein schwingt, dann bewegt er sich aus eigenem Antrieb rhythmisch zu den mit dem Gehör wahrgenommenen Druckschwankungen der Luft. Diese Druckschwankungen erlebt er dank seiner genetischen Ausstattung als Musik. In den Jahren zuvor hat sich die Feinstruktur seines Gehirns durch Lernprozesse so verändert, dass er situationsgerecht das Verhaltensmodul ‚Tanzen‘ abrufen kann.

    Das alles könnte der Untersuchungsgegenstand des Neurodeterministen sein.

    Den Psychologen interessiert das alles nur am Rande. Der sieht, wie Herr Schleim sich im Rhythmus der Musik bewegt, der kann nach der Motivation und den äußeren, sozialen Umständen für das interessante Verhalten fragen, und so fort. Der mag dann sagen, Tanzen ist die Interaktion von Musik und Körper und Gehirn.

    Dem wiederum braucht der Neurodeterminist nicht zu widersprechen, denn er sagt ja nur, dass nicht die Musik das Tanzbein bewegt, sondern dass Herr Schleim selbst der Autor seiner Bewegungen ist.

  118. @Balanus / Der Hund und die Frage

    Das von Christian Hoppe vermutlich spontan gewählte Beispiel mit dem Hund unterstellt implizit, dass der Hund in einer Konfliktsituation zwischen Flucht oder Angriff zu entscheiden hat. Hoppes Argument geht dahin, dass es bei vollständiger Kenntnis des Systems “Hund”, oder vielleicht auch “Hund + Umgebung”, grundsätzlich immer möglich sein sollte vorherzusagen, wie der Hund sich dabei entscheidet.

    Da die Annahme der vollständigen Kenntnis für praktische Fälle nicht realistisch zu erfüllen ist, kommt natürlich hierdurch eine unvermeidbare Ungewissheit für Vorhersagen über künftiges Verhalten hinein. Da man auch von sich selbst nicht behaupten kann, vollständige Kenntnis des Systems “Ich” oder gar “Ich und meine Umgebung” zu haben, wäre damit wohl schon ein hinreichender Grund gegeben, warum man sein eigenes Verhalten nicht mit völliger Sicherheit antizipieren kann. Wenn ich die Frage richtig verstanden habe, vielleicht wäre das schon eine Antwort 😉

    Die ursprüngliche Frage zielte aber darauf, ob die Ungewissheit einzig durch unvollständige Kenntnis erklärt werden kann, und ob ein hypothetischer, allwissender Daemon bei einem deterministischen System vorab prinzipiell wissen können sollte, was exakt geschehen wird. Die Frage lässt sich nur genauer studieren an dynamischen Systemen, die wesentlich einfacher sind als ein Hund, und wo wir selbst “allwissend” sind.

    Ein Standarbeispiel dazu wird [hier] illustriert. Allerdings sollte man dort “rational numbers” durch “real numbers” ersetzen, denn für die rationalen Zahlen ist das beschriebene System total vorhersagbar. Das gilt sogar noch für alle berechenbaren Zahlen, und das sind alle, die ein normaler Mensch sich so vorstellen kann. Erst für die unberechenbaren Zahlen zeigt sich das typische Verhalten des Systems: es lässt sich da nämlich nicht mehr vorhersagen, ob ihr Weg bei der Iteration im nächsten Schritt in die linke oder die rechte Intervallhälfte führen wird. Und das liefert, grob gesagt, auch genau die Information, die dabei erzeugt wird — links oder rechts, in jedem Schritt ein bit. Dies wiederum wird durch die Entropie ausgedrückt, die für dieses System den Wert 1 hat.

    Wenn man so will, ist hier der tiefere Grund für die Unvorhersagbarkeit der Umstand, dass es unberechenbare Zahlen gibt, und, schlimmer noch, dass fast alle reellen Zahlen unberechenbar sind, auch wenn das vielleicht nicht so leicht zu begreifen ist. Hier führen eben alle Wege zu Turing.

  119. @Balanus, alle: Tanzverhalten

    Zufälligerweise habe ich heute Morgen selbst noch über das Beispiel “Tanz” nachgedacht:

    Tanz ist (im Großen und Ganzen; ich sage nicht, dass es keine außergewöhnlichen Gegenbeispiele gibt, ebenso wie bei “Kunst”) eine erlernte Kulturpraxis, bei der man sich alleine, als Paar oder als Gruppe zu Musik bewegt. Bei den üblichen Paartänzen (in meinem Fall: Salsa) folgt dies nach bestimmten Regeln, die durch Unterricht, Imitation und zahlreiche Wiederholungen gelernt und gefestigt werden.

    Das Tanzverhalten ist nun vor allem von diesen erlernten Mustern abhängig (auch bei sog. “Improvisation”), für die bestimmte Hirnstrukturen aber auch bestimmte Körperfunktionen notwendig sind. Das ist, was der Tänzer/die Tänzerin mit auf die Tanzfläche (die aktuelle Umwelt) bringt.

    Dort ergibt sich dann aber – einen entsprechenden Erfahrungsstand oder Stil vorausgesetzt – das Tanzverhalten nicht durch ein zufälliges Abspulen der gelernten Muster, etwa aufgrund von Gehirnrauschen, sondern in Abhängigkeit von und in Reaktion auf (sprich: in Interaktion mit) Musik.

    Z.B. wird man bei diesem Lied (Al Delory: Via, 1996) aufgrund von Verhaltensuntersuchungen vorhersagen können, dass bei dem Break bei ca. 2:33 Minuten etwas Bestimmtes passiert.

    Ich schließe nicht aus, dass man dieses “Etwas” durch Gehirnuntersuchungen genauer spezifizieren kann, ohne jedoch das Kontext- beziehungsweise Umweltwissen wird man überhaupt keine besondere Vorhersage über (z.B. mein) Tanzverhalten zum Zeitpunkt 2:33 Minuten treffen können.

    In diesem Sinne ist das Tanzverhalten prinzipiell auf das Gehirn irreduzibel und irrt folglich der strikte Neurodeterminist.

    Dies ist noch einmal eine anschauliche Zusammenfassung meiner Position.

  120. @Noït Atiga

    »Würden sie nämlich jede Reaktion (informationstechnisch) erst bei der Reaktion erzeugen, dann würden sie ihre Überlebenswahrscheinlichkeit auf 50% setzen, also auf Zufall.«

    Das wird gewiss auch niemand behaupten, dass die Reaktionen eines Organismus per Zufall 50:50 instantan entschieden werden. In der Umkehrung folgt daraus aber nicht, dass das Verhalten eines Hundes oder das Wachstum eines Broccoli (für einen Allwissenden) strikt vorhersagbar sind. So einfach ist es dann ja doch nicht.

  121. @Chrys: identische Systeme

    Präzise Vorhersagen für das Verhalten eines bestimmten anderen Systems (z.B. Mensch, Hund), wären nur dann möglich, wenn beide Systeme identisch wären. Identische Lebewesen gibt es aber nicht.
    Z.B. Mensch: jeder Mensch hat seine individuellen Erfahrungen im Gedächtnis abgespeichert. Selbst wenn man in der Lage wäre, ein Gehirn komplett und im Detail auszulesen – so kann man das Verhalten eines anderen Menschen nie vorhersagen. Da diese Daten, dann von einem anderen individuellen System (Mensch )neu bewertet würden; diese Umdeutung ist eine Verfälschung

  122. @KRichard

    Ja, das ist im Grunde genau die Problematik mit irreduziblen Prozessen. Um das Ergebnis eines solchen Prozesses exakt zu kennen, hat man im allgemeinen keine andere Möglichkeit, als diesen (oder einen identischen) Prozess laufen zu lassen, da ist keine generelle Abkürzung. Was aber explizit nicht ausschliesst, dass in speziellen Fällen doch eine Abkürzung existieren kann — man beachte die Quantoren.

    Und das steckt auch bei Turing drin: es existiert keine algorithmische Abkürzung, mit der sich vorhersagen liesse, ob eine Turing Maschine bei einem beliebigen Input anhält. Um das im konkreten Fall herauszufinden, bleibt einem normalerweise nur die Möglichkeit, das betreffende Progamm laufen zu lassen und abzuwarten, was passieren wird. So kommt man an Grenzen des methodisch Erfahrbaren.

  123. @S. Schleim: Gutes schlechtes Beispiel

    Ihr Tanzbeispiel integriert nämlich quasi perfekt (falsch) die Bedeutung unserer Erwartung als Wissenschaftler – wenn Sie den Break vorhersehen, dann gehen Sie das Experiment nämlich mit Ihrem Wissen an, einem Wissen, dass Sie so nicht beobachten können – jedenfalls nicht in den Körpern oder der Umwelt. Sondern dass Sie allenfalls in einem Gehirn finden, etwa dem Ihren (oder wenn Sie eine Kapelle haben, denen der Musiker). Und damit fördern Sie den zeitlich begrenzten Neurodeterminismus.

    Nun weiß ich nicht, wie sehr Sie mit den Gepflogenheiten von Profitänzern vertraut sind. Aber bei denen reichen teils die ersten Takte – um das gesamte Programm dieses Tanzes zu determinieren; die Musik gibt nur noch die Geschwindigkeit vor. Und ein des konkreten Tanzes Neuling (wie für Wissenschaftler erforderlich) kann dann aus der aktuellen Umwelt wirklich gar nichts ablesen – aus dem Gehirn dieser Tänzer fast alles. Bei weniger profihaften Tänzern wird das Gehirn weniger Vorhersage ermöglichen – die aktuelle Umwelt aber auch nicht viel mehr. Das Tanzverhalten ist also prinzipiell NUR auf das Gehirn reduzibel.

    Sie haben im Beitrag die Bedeutung der Vorgaben der Neurodeterminismus-Wissenschaftler treffend kritisiert. Sie machen aber nun für Ihre Beispiele entsprechende Vorgaben – die Ihnen aber nicht bewusst sind, weil sie für Sie normal sind. (Und vermutlich mache ich gerade eben ebensolche Vorgaben, die mir nicht bewusst sind – weil für mich normal.)

    Wenn Sie die Tanz-Situation richtig bewerten wollen, dann müssten Sie bei jedem Experiment damit exakte Wahrscheinlichkeiten angeben.
    Einerseits die Wahrscheinlichkeit für die in der Situation (nicht in Ihrem oder meinem Gehirn!) enthaltene Zukunftskenntnis – also welche Aussage macht der aktuelle Takt für den/die folgenden. Sollte die Kapelle improvisieren, dann ist das nahezu unmöglich – wird aber durch historische Kenntnis leichter, denn das Anfangsmuster schränkt üblicherweise die Anschlüsse ein (zumindest bei Menschen – aber das ist teils sehr individuelle Kulturkenntnis).
    Andererseits die Wahrscheinlichkeit für die im Gehirn enthaltene Zukunftskenntnis – also welche Assoziationen weckt die Gehirnrepräsentation des aktuellen Taktes für folgende Gehirnrepräsentationen. Und das ist gerade bei erfahrenen Tänzern sehr viel – selbst bei Improvisationen.

  124. @Chrys,@Balanus,@KRichard: Zeithorizont

    Niemand bestreitet, dass eine Vorhersage auf lange Zeit unmöglich ist. Die Frage ist doch nur, wie genau man relativ nahe Reaktionen vorhersehen kann. Und beim Hund müsste ein allwissender Daemon das für seine Reaktion auf einen jetzt (= im Zeitpunkt der Vorhersage) erfolgenden Befehl vorhersagen können. Die Reaktionsinformation muss sich im Gehirn des Hundes befinden – und sei es nur als Wahrscheinlichkeit (wenn denn dessen Gehirn auf Wahrscheinlichkeiten beruht – was nach aktuellen Erkenntnissen eher unwahrscheinlich ist).

    Und Ihr Beispiel (@Chrys) ist als Vergleich für Lebewesen fast völlig untauglich – fehlt ihm doch jedes Gedächtnis. Es gibt dort (mangels Gedächtnis) keine Rückwirkung der Erfahrung auf den Algorithmus – und das ist bei Lebewesen anders, zumindest wenn sie ein Gehirn haben. Dann wird nämlich alles Erlebte als abstrakte Repräsentation gespeichert und diese abstrakte Repräsentation bestimmt das zukünftige Verhalten. Ein allwissender Dämon könnte diese abstrakte Repräsentation also lesen – und damit das zukünftige Verhalten vorhersagen, mit umso größerer Genauigkeit je näher das Verhalten dem Vorhersagezeitpunkt ist.

    Darum auch können Lebewesen keine derart irreduziblen Prozesse sein – auch wenn sie damit noch lange nicht vorhersehbar werden, denn die Zahl der theoretisch möglichen Gehirnzustände ist astronomisch. Und sie sind umso weniger vorhersehbar, als wie @KRichard ausführte kein Gehirn dem anderen gleicht.

  125. @Noït Atiga: immer noch nicht verstanden

    Sie haben die Logik des Beispiels/der Beispiele immer noch nicht verstanden:

    Der Punkt ist, dass man durch das Kontext-, Verhaltens- und Umweltwissen zum Zeitpunkt, bevor der (insbesondere erfahrene) Tänzer die ersten Takte gehört hat, sehr wohl eine Vorhersage über das Verhalten zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten machen kann – durch das Gehirnwissen über den Tänzer allein jedoch nicht.

    Mehr brauche ich für meinen Standpunkt gar nicht zu zeigen.

    Das Tanzverhalten ist also prinzipiell NUR auf das Gehirn reduzibel.

    Auch wenn Sie das noch so fett drucken, ändert das nichts daran, dass Ihr strikter Neurodeterminismus durch meine Argumente im Text und meine Beispiele in der Diskussion hinreichend widerlegt ist.

  126. @Noït Atiga: Herleitung Ihres Namens

    Ich tausche eines der beiden As gegen ein R und eines der beiden Ts gegen ein O – und plötzlich kann ich aus Ihren Buchstaben das lateinische ignoratio formen, so wie in ignoratio elenchi; das scheint mir die zumindest inhaltlich wesentliche zutreffendere Herleitung Ihres Namens zu sein, da Sie sich hier ständig um ein Beweisziel bemühen, das gar nicht zur Debatte steht.

  127. @Stephan Schleim: Schade

    … dass Sie sich so auf die persönliche Ebene begeben müssen.

    Denn mit dem Beweisziel gab es nie ein Problem. Ich habe Ihnen im Kern immer zugestimmt und tue es noch heute – nur sind Sie anscheinend nicht ausreichend soziologisch geschult. Wüssten Sie doch sonst, dass Ihre Umweltdefinitionen nicht zu halten sind, sondern dass Sie an deren Stelle unhinterfragt (Ihre oder andere) Gehirndefinitionen setzen.

    Und deswegen sind auch Ihre Beispiele immer wieder unsauber oder zumindest unvollständig. Und darum auch habe ich die ganze Zeit auf vielen verschiedenen Wegen versucht, Ihnen diese Folgerungsprobleme darzulegen. Denn diese Folgerungsprobleme führen bei Experimenten zu Fehlern – und die sind ebenso gravierend wie die der Neurodeterministen.

    Noch einmal:
    Ihre Aussage ist korrekt, wenn Sie schreiben: Menschliches Verhalten ist die notwendige Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt.

    Ihre Aussage ist falsch, wenn Sie beim Tanz annehmen, die Break-Vorhersage gehöre zur Umgebung. Der Break gehört nämlich erst dann zur Umgebung, wenn er sich ereignet. Vorher ist er allenfalls eine Möglichkeit der Umgebung, eine ihrer Potenzen – deren Realisierung in bestimmten Situationen wahrscheinlich ist (aber dann nahezu ebenso wahrscheinlich aus Sicht der geschulten Tänzergehirne). Denn diese Möglichkeit muss sich nicht zwingend ereignen – selbst bei einer CD kann der Strom ausfallen. Die Umwelt weiß also nicht, was kommt – sie kann es nur vermuten; wie auch der Tänzer.

    Wenn Sie sich doch mal etwas ausführlicher mit der Soziologie beschäftigen wollen, dann kann ich zum hiesigen Thema das Grundlagenwerk von Luhmann empfehlen: Soziale Systeme. Ähnlich für das Gehirn schon Hayek mit Sensory Order, wozu Michael Blume nebenan ein die Promotionsarbeit von Christoph Sprich vorgestellt hat und ein Interview mit ihm.

    Und wenn man diesen sehr wahrscheinlichen Thesen folgt, dann ist man doch wieder recht nahe an einem weiten Neurodeterminismus in der Form, dass letztlich nur das System Gehirn bestimmt, wie es reagiert. Sprich: Informationen und Impulse kommen von außen – aber von außen kann niemand vorhersehen, wie das Gehirn reagieren wird. Man kann von außen allenfalls Wahrscheinlichkeiten für gewisses Verhalten angeben. Und das erklärt dann sehr gut, warum alle Erziehungsversuche ebenso erfolglos sind wie meine Erklärungsversuche hier: Sie haben Ihr Modell und ich meines. Da ich aber meines nur in Zeichen ausdrücken kann, lesen Sie die Zeichen immer mit Ihrem Modell. Und so streiten sie doch immer…

  128. @Stephan

    (Vorbemerkung: Das Nachfolgende habe ich geschrieben, bevor ich Noït Atigas letzten Kommentar gelesen habe.)

    »Ich schließe nicht aus, dass man dieses “Etwas” durch Gehirnuntersuchungen genauer spezifizieren kann, ohne jedoch das Kontext- beziehungsweise Umweltwissen wird man überhaupt keine besondere Vorhersage über (z.B. mein) Tanzverhalten zum Zeitpunkt 2:33 Minuten treffen können.

    In diesem Sinne ist das Tanzverhalten prinzipiell auf das Gehirn irreduzibel und irrt folglich der strikte Neurodeterminist.«

    Stell Dir vor, ein Dämon könnte in Dein Gehirn eindringen und würde alles wissen, was Du weißt. Dann ist ihm auch bekannt, wie Du die Umwelt siehst, in der Du Dich gerade bewegst, was Du beim Hören der Musik empfindest, welche Tanzschritte Du gelernt hast, und so weiter und so fort. Er würde auch wissen, welche Tanzfigur Du zu einem bestimmten Zeitpunkt eines Liedes geplant hast.

    Was er aber genauso wenig wissen kann wie Du selbst, ist, ob Du nach zweieinhalb Minuten diese Tanzfigur auch wirklich ausführen wirst. Es treffen nämlich sekündlich neue Informationen aus der Umwelt ein, die für das weitere Verhalten relevant sein können.

    Ich finde, die Nichtvorhersagbarkeit widerlegt den wahren Neurodeterminismus in keiner Weise. Es sei denn, man definiert den Neurodeterminismus so eigenwillig, wie Du es meiner Ansicht nach tust.

    Im realen Leben gibt es natürlich keinen solchen Dämon. Und auch die Hirnforschung wird so rasch keine Methoden entwickeln können, um das gesamte Wissen eines Gehirns in Echtzeit auszulesen. Insofern magst Du Recht haben, wenn Du an Noït Atiga schreibst:

    »Der Punkt ist, dass man durch das Kontext-, Verhaltens- und Umweltwissen zum Zeitpunkt, bevor der (insbesondere erfahrene) Tänzer die ersten Takte gehört hat, sehr wohl eine Vorhersage über das Verhalten zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten machen kann.«

    Wenn aber die Behauptung wäre, diese Vorhersage sei aus dem Gehirnwissen heraus aus prinzipiellen Gründen nicht möglich, weil eben im Gehirn kein Wissen über die Umwelt und den Kontext des Verhaltens existierte, dann hielte ich das für falsch.


    PS. „Herleitung Ihres Namens“: Du kannst es wohl nicht lassen… klarer Fall von Neurodeterminismus 😉

  129. @Noït Atiga: Soziologie und Umwelt

    Ich habe hier “Umwelt” gar nicht groß definiert, daher kann ich wohl kaum eine falsche Definition angewendet haben. Ich sprach allgemein von Umwelt-, Kontext- und Verhaltenswissen.

    Wenn ich als Salsa-DJ (analog zum Wissenschaftler im Experiment) die Tanzumwelt (Tanzfläche + Musik) maßgeblich gestalten kann, dann kann ich zum Zeitpunkt t0, im Moment, in dem ich auf “play” drücke und weiß, dass die Musikausstattung zuverlässig funktioniert, mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, dass sich die (erfahrenen) Tänzer bei dem Lied zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten auf bestimmte Weise verhalten werden (was erfahrene Salsa-Tänzer des Mambo-Stils bei so einem Break alles machen, das lässt sich wiederum durch Verhaltensbeobachtungen lernen). Zum Zeitpunkt t0 ist es unmöglich, dieses Wissen über das Verhalten t = 2:33 Minuten aus dem Gehirn des Tänzers alleine abzuleiten.

    Um einen strikten Neurodeterminismus (Der Mensch ist sein Gehirn; Verschaltungen legen uns fest; Verhalten lässt sich allein aus Gehirnwissen vorhersagen) zu widerlegen, reicht mir schon ein Beispiel. Um mir allerdings nachzuweisen, dass ich mich mit meinem allgemeinen und inklusiven Ansatz Irre, müssten Sie zeigen, dass solche Beispiele prinzipiell unmöglich sind.

    Ich nehme die Soziologie durchaus ernst und bedaure, dass sie in den letzten Jahrzehnten so sehr an Bedeutung verloren hat (in den Niederlanden übrigens etwas weniger als in Deutschland). Wenn ich bei Ihnen jedoch lese:

    Denn diese Möglichkeit muss sich nicht zwingend ereignen – selbst bei einer CD kann der Strom ausfallen. Die Umwelt weiß also nicht, was kommt – sie kann es nur vermuten; wie auch der Tänzer.

    Dann gewinne ich den Eindruck, dass selbst methodische Entwicklungen der Soziologie an Ihnen vorbei gegangen sind, denn kein mir bekannter Soziologe würde behaupten, dass Voraussagen perfekt sein müssen, um gut oder signifikant sein zu können; es gibt eigentlich nie eine perfekte Voraussage, schon nicht in der Physik und erst recht nicht in der Psychologie, Ökonomik oder Soziologie. Warum wurden die statistischen Methoden denn überhaupt erst in die Wissenschaft eingeführt?

    Und wenn man diesen sehr wahrscheinlichen Thesen folgt, dann ist man doch wieder recht nahe an einem weiten Neurodeterminismus in der Form, dass letztlich nur das System Gehirn bestimmt, wie es reagiert.

    Das ist eben Ihr Fehler – aber vielleicht tröstet es Sie, dass Sie damit nicht alleine sind –, dass Sie die Umwelt als unabhängige Variable betrachten, erst diese festlegen und dann sagen, “letztlich” lege “nur” (Zitat N.A.) das Gehirn das Verhalten fest. Ich lasse Ihnen hier im Blog aber nicht durchgehen, dass dies nur dann stimmt, wenn wir erst durch Umwelt und Kontext das Gehirn festlegen und das dann unter den Tisch fallen lassen; und das ist es ja, was sogar der Hirnforscher im Verhaltensexperiment versucht und gelänge ihm dies nicht, er würde keine statistisch auswertbaren Verhaltensergebnisse erzielen.

    Informationen und Impulse kommen von außen – aber von außen kann niemand vorhersehen, wie das Gehirn reagieren wird.

    Ebensowenig kann aber auch die Person vorhersehen, wie die Umwelt sich verändern wird, z.B. welches Lied der DJ als nächstes spielen wird. Das ist eben Ihr blinder Fleck.

    Man kann von außen allenfalls Wahrscheinlichkeiten für gewisses Verhalten angeben.

    Fehler #1: Um mehr als um Wahrscheinlichkeiten ging es hier doch nie; offenbar sind die Entwicklungen der Sozialwissenschaften der letzten ca. 150 Jahre an Ihnen vorbei gegangen.

    Und das erklärt dann sehr gut, warum alle Erziehungsversuche ebenso erfolglos sind wie meine Erklärungsversuche hier:

    Fehler #2: Bitte? Wieso sind “alle Erziehungsversuche erfolglos”? Ich habe gerade mein Essen in der Mensa der Uniklinik Zürich bezahlt und mein Geschirr danach ordentlich abgeräumt usw. usf. Wie können Sie nur behaupten, dass alle Erziehungsversuche unmöglich sind?

    Jemandem eine ignoratio elenchi vorzuwerfen, das ist meines Erachtens kein persönlicher Angriff; dies hier ist es aber womöglich schon, dass ich nämlich langsam den Eindruck gewinne, dass ein gewisser Noït Atiga in einer komischen, verwirrten Gedankenwelt lebt, in der es ihm oder ihr so erscheint, als ob Gene und Gehirne alles festlegen und alle Erziehungsversuche unmöglich sind.

  130. @Balanus: falsch formuliert

    Wenn aber die Behauptung wäre, diese Vorhersage sei aus dem Gehirnwissen heraus aus prinzipiellen Gründen nicht möglich, weil eben im Gehirn kein Wissen über die Umwelt und den Kontext des Verhaltens existierte, dann hielte ich das für falsch.

    Das ist auch falsch, weil du dies falsch (verkürzt) wiedergibst – die Zeitkomponente, die in meinem Satz noch drin steckt und die entscheidend ist, hast du nämlich hier vergessen.

    Der Punkt ist in meinem Beispiel der Unterschied zwischen t0 und t = 2:33 Minuten. Dass du zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten das Verhalten womöglich aus Gehirnwissen besser vorhersagen kannst (es gibt z.B. verschiedene Arten von Breaks, die erfahrene Tänzer mal häufiger, mal seltener tanzen), das steht dahin.

    Das brauche ich für mein Beispiel nicht, denn es geht um die Vorhersage zum Zeitpunkt t0 – und tatsächlich haben wir es in den Sozialwissenschaften (einschließlich der sozialen Hirnforschung) häufig mit Fragen zu tun wie: Wie Verhält sich ein Mensch zum Zeitpunkt t in Umwelt U und nicht nur, wie Verhält er sich in den nächsten 100 Millisekunden.

  131. @Noït Atiga

    Der Umstand, dass der Hund ein lernfähiges System ist und infolge seiner Selbstorganisation auch seine dynamischen Verhaltensregeln variabel sind, macht die Aufgabe für den Daemon keineswegs einfacher. Aber das ist hier ohne Belang, es ändert nämlich nichts daran, dass, salopp ausgedrückt, im Zustandsraum des Systems Hund gewisse “Kipppunkte” existieren, wo der Hund zwischen Flucht und Angriff hin- und herschwankt. Christian Hoppe nimmt nun an, dass jemand wie unser allwissender Daemon stets sicher vorhersagen können sollte, wohin der Hund dann “kippen” wird. Alles strikt deterministisch, dem Daemon sind hier keine Unsicherheiten gestattet. In Hinblick auf die generelle Struktur solcher Probleme kann er dann aber typischerweise nichts anderes tun, als den Hund selbst die “Berechnung” durchführen zu lassen. Nur kennt er das Resultat dann auch keinen Moment früher als der Hund oder sonst irgend jemand, und als Vorhersage kann man das gewiss nicht mehr bezeichnen.

  132. @Chrys /@Noït Atiga 20.07.2012, 13:59

    »Nur kennt er [der Daemon] das Resultat dann auch keinen Moment früher als der Hund oder sonst irgend jemand, und als Vorhersage kann man das gewiss nicht mehr bezeichnen.«

    Ja, schön und nachvollziehbar dargelegt. Dem Hund wird nichts anderes übrig bleiben, als sein Verhalten im Nachhinein abzusegnen.

    Und bekanntlich sind Hunde ja auch nur Menschen (oder war es umgekehrt?)

  133. Lernfähiges System

    Der Mensch ist ein lernfähiges System.
    Unser Handlungswissen, hängt immer sowohl 1.) vom aktuellen Zustand (emotionale, physische und intellektuelle Fähigkeiten) ab, als ein Erlebnis abgespeichert wurde – aber 2.) zusätzlich auch noch von demjenigen aktuellen Zustand (emot. phys., intell.), wenn dieses Ereignis wieder erinnert wird.
    D.h. korrekte Vorhersagen für ein bestimmtes Verhalten sind nicht möglich, weil gespeichertes Wissen beim Erinnern umgedeutet/verfälscht wird – da sich unser Zustand dauernd ändert.
    Wenn aber unpräzises(verfälschtes) Wissen die Basis für weitere neue Erfahrungen wird, dann wird die korrekte Vorhersagbarkeit einer zukünftigen Aktion unmöglich – sogar für einen allwissenden Dämonen.

  134. @Schleim: Ihre ignoratio elenchi

    Den strikten Neurodeterminismus habe ich nie verteidigt!

    Und was Sie oben wieder heranziehen, das ist EIN GEHIRN! – das des DJs. Mit irgendeiner Umwelt hat das nichts zu tun. Vielmehr hängt selbst vor dem Lied noch alles vom Tänzer ab – denn wenn der die ersten Takte gerade nicht mag, dann verlässt er die Fläche. Andererseits wird das Gehirn dieses Tänzers nach wenigen Takten oft genauere Vorhersage ermöglichen als jede normalisierende Verhaltensbeobachtung. Und mit gewisser Wahrscheinlichkeit möglicherweise schon vor dem Auflegen – wenn der Tänzer den DJ kennt.

    Ich bestreite nicht, dass die Umwelt und der Körper auslösende Faktoren für ein Verhalten sind – aber das Gehirn entscheidet, wie es mit diesen Auslösern umgeht. Und das gilt auch in der Erziehung – dort befassen Sie sich bitte mit der einschlägigen Literatur, denn Sie werden wohl wenigstens zugestehen, dass der Schluss con einem Fall auf die Allgemeinheit nicht als wissenschaftlich gilt! (Und selbst der Volksmund sagt: Kindern kann man nichts beibringen, sie machen einem eh alles nach! – Übrigens der Hauptgrund, warum Schelte die Sache selbst nicht verbessert.)

    Insgesamt verdeutlicht Ihre Diskussionskultur aber leider den Eindruck, den ich schon anderswo hatte – Sie kritisieren gern sehr deutlich andere, vertragen aber keine Diskussion, die Sie nicht gewinnen. Sie sind dann nichtmal an der Beseitigung des Missverständnisses interessiert, sondern wollen RECHT haben. Schade – zumal ich Ihrer Kernaussage immer zugestimmt habe, und es stets nur um die Kritik Ihrer Folgerungen ging. Gute wissenschaftliche Diskussion sieht für mich anders aus. Dazu gehörte auch ein wirkliches Eingehen auf die Gegenargumente – wieso ein einzelnes anderes Gehirn für Sie Umwelt sein kann, haben Sie nie begründet.

    Und um das nochmals festzuhalten: Ich behaupte nicht, dass die wirkliche Umwelt (also das im einzelnen Augenblick aktiv auf einen Menschen Wirkende) an der Formung von dessen Verhalten unbeteiligt sei. Aber ich behaupte, dass es Eingangssignale sind, die das Gehirn auf seine Weise behandelt – und diese Weise bestimmt nur das Gehirn.

    Daher kann ich unter der ANNAHME, dass meine Versuchspersonen dieselbe oder eine ähnliche Vorbildung haben (wie ich), in gewissen Situationen bessere Voraussagen aus der Umwelt-Perspektive machen. Aber genauso wie Sie als Beobachter die Situation in die Zukunft vorausberechnen – genauso berechnet auch das beobachtete Gehirn diese Zukunft voraus. Und damit kann ich auch nur aus Gehirnsicht in derselben äußeren Situation teils genauere Aussagen machen – zumindest immer dann, wenn dieses Gehirn nicht dem Standard des Beobachters entspricht.

    Damit müsste ich vor jeder Untersuchung problematisieren, wie wahrscheinlich gewisse Erwartungen bzw. Vorerfahrungen sind, was ich selbst als Spezialwissen mitbringe und was von meinen Erwartungen wie in die Umwelt einfließt oder nicht. Denn in Ihrem Tanzbeispiel schauen Sie sich nicht als Wissenschaftler objektiv diese Tanzfläche an – um dann ohne eigene Vorkenntnisse zu untersuchen, wo Sie auf welche Weise die genaueste Vorhersage her bekommen. Nein, SIE wissen es schon vorher, Sie spielen Marionettentheater. Und wenn Sie das vermeiden wollen – dann müssen Sie richtigerweise eine wirklich soziale Situation formen. Und das hieße (um Ihr Beispiel minimal abzuwandeln) eine Band hinstellen. Dann wird es nämlich spannend, was wann wie wer bestimmt.

  135. @Noït Atiga: Goodbye

    Und wenn man diesen sehr wahrscheinlichen Thesen folgt, dann ist man doch wieder recht nahe an einem weiten Neurodeterminismus in der Form, dass letztlich nur das System Gehirn bestimmt, wie es reagiert. (Noït Atiga, 20.07., 12:18)

    Den strikten Neurodeterminismus habe ich nie verteidigt! (Noït Atiga, 20.07., 16:03)

    Das in Ihrer Formulierung ist mir strikt genug, um offensichtlich falsch zu sein; und Sie leiten dies ja aus Ihrer Meinung nach “sehr wahrscheinlichen Thesen” ab. Ich werde meine Gründe aber nicht zum 100. Mal wiederholen.

    Bitte haben Sie doch Verständnis dafür, dass wir dies hier nicht lösen können; Ihren Rest habe ich daher auch nicht mehr gelesen.

    Übrigens: Auch wenn den Lesenden und Diskutierenden hier bei Menschen-Bilder üblicherweise sehr viel Freiheit eingeräumt wird, stecke ich in meinem Blog immer noch selbst ab, was das Beweisziel ist. Wenn Sie sich daran nicht halten möchten, können Sie ggfs. ein anderes, thematisch bezogenes Beweisziel vorschlagen oder die (sonst sinn- und ergebnislose) Diskussion auch einfach bleiben lassen.

  136. @Stephan Schleim: Widerspruch

    Ihre Antwort spricht wohl für sich – ich möchte nur das erste Zitat meiner Aussagen exakter in den Kontext stellen:

    Und wenn man diesen sehr wahrscheinlichen Thesen folgt, dann ist man doch wieder recht nahe an einem weiten Neurodeterminismus in der Form, dass letztlich nur das System Gehirn bestimmt, wie es reagiert. Sprich: Informationen und Impulse kommen von außen – aber von außen kann niemand vorhersehen, wie das Gehirn reagieren wird. Man kann von außen allenfalls Wahrscheinlichkeiten für gewisses Verhalten angeben. Noït Atiga, 20.07.2012, 12:18

    Ergo: Das System Gehirn bestimmt, wie es reagiert. Die Systeme Umwelt und Körper bestimmen, worauf es reagiert.

    Und damit wird Menschliches Verhalten von Gehirn, Körper und Umwelt bestimmt.

  137. @Chrys, @Balanus, @KRichard: Sorry

    Stephan Schleim hat eine weitere Diskussion ja eindeutig für unerwünscht erklärt und so muss ich Ihnen die Antwort schuldig bleiben – vielleicht ergibt sich anderswo die Gelegenheit zur Vertiefung, es gäbe noch viel zu erörtern und im Dialog zu vertiefen. Danke aber für die vielen wertvollen Einwände.

  138. @Noït Atiga: Klärung

    Wenn andere Ihre Ideen für verständlicher oder sinnvoller halten als ich, warum sollten Sie nicht mit denen weiter diskutieren? Ich spreche hier doch nur für mich.

    Und damit wird Menschliches Verhalten von Gehirn, Körper und Umwelt bestimmt.

    Schön, Zustimmung – und wenn wir dies jetzt einfach mal Umwelt-Körper-Gehirn-Interaktionismus nennen und nicht Neurodeterminismus, dann sind wir uns endlich einmal einig.

    Ein Exkurs in die Wissenschaftstheorie und Logik

    Zu Ihrer (unzutreffenden) wissenschaftstheoretischen Belehrung eben noch ein Hinweis vom Wissenschaftstheorie-Dozenten. Sie schrieben in ziemlich belehrendem Stil:

    Und das gilt auch in der Erziehung – dort befassen Sie sich bitte mit der einschlägigen Literatur, denn Sie werden wohl wenigstens zugestehen, dass der Schluss von einem Fall auf die Allgemeinheit nicht als wissenschaftlich gilt!

    Mein Einzelfall war aber gegen Ihre Allaussage gerichtet und kein Versuch, eine allgemeine Erziehungstheorie zu begründen, wie Sie es mir unterstellen. Ihre Allaussage war:

    Und das erklärt dann sehr gut, warum alle Erziehungsversuche ebenso erfolglos sind…

    Ich hatte schon die ganze Diskussion über den Eindruck, dass Ihnen der wesentliche Unterschied zwischen All- und Existenzaussagen nicht ganz geläufig ist. Das ist für die Diskussion hier unmittelbar relevant, denn der Neurodeterminist vertritt nämlich eine Allaussage, die ich mit meiner Existenzaussage (daher auch die ganzen Einzelbeispiele) widerlegen will. Das ist ein äußerst wissenschaftliches Vorgehen, vgl. auch dazu das Schlagwort “Falsifikation”.

    Was Sie in Ihrer Aussage gemacht haben (s.o.) war nichts weniger, als eine Allaussage über die Unmöglichkeit von Erziehungsversuchen aufzustellen. Diese habe ich mit meiner Existenzaussage über den Erfolg von Erziehungsversuchen m.E. erfolgreich widerlegt.

    Ich halte es für entlarvend, dass Sie mir hier einen Hang zur Rechthaberei unterstellen, während Sie völlig uneinsichtig sind und im Gegenteil sogar im belehrenden Stil auftreten, obwohl Sie gegen grundlegende Regeln der wissenschaftlichen und Sprachlogik verstoßen haben.

    Aber Schwamm drüber: Jeder kann sich einmal irren; und da Sie hier ja unter einem Pseudonym auftreten, brauchen Sie sich nicht wirklich zu schämen.

    Ich schlage vor, dass wir nun das Kriegsbeil begraben und in ein harmonisches Wochenende gehen.

  139. @Stephan Schleim: Krieg wollte ich nie

    Also Schwamm drauf. Auch wenn ich schon weiß, welche Unterschiede zwischen All- und Existenzaussagen existieren. Und sicher habe ich oben am Ende auch nicht mehr nur rational antworten können, obwohl ich das Kriegsbeil nie ausgraben wollte und es daher umso lieber begrabe. Es ging mir aber um etwas, was ja wohl auch Ihnen wichtig ist: die Logik – die aus meiner Sicht nicht für Ihre Folgerungen reicht. Aber lassen wir das.

    Zur Wissenschaftstheorie nur eine kurze Erklärung: Falsifikation beruht ja auf einer genauen Definition der These und nicht jede scheinbare Gegenaussage ist auch eine Falsifikation, so meinte ich es oben.
    Vielleicht liegt das Problem daher auch nur in der Definition. Klassische Erziehung aber (und so wird der Begriff heute noch überwiegend gebraucht) will ja Modelle und Einstellungen vermitteln – nicht nur Verhaltensergebnisse. Daher sagt ein konkretes Verhalten nicht viel für oder gegen den Erziehungserfolg aus. Sie und ich können den Tisch ja auch aus ganz anderen Gründen abräumen. Und jedenfalls unter dem systemtheoretischen Ansatz (für den insofern einige psychologische Argumente sprechen) ist direkte Vermittlung von Modellen und Einstellungen ausgeschlossen. Vielmehr gruppiert der “Erzogene” selbst – und seine “richtigen Handlungen” können oft aus ganz anderen Überlegungen folgen.
    Aber das macht ein neues Fass auf – was wir wohl besser verschieben, auch wenn mir die dortigen Erfahrungen im hiesigen Zusammenhang sehr wichtig scheinen.

    Ein schönes Wochenende in Harmonie

    PS: Ich schäme mich im Zweifel auch für mein Pseudonym – das hat nämlich seinen Grund nur in einigen Vorurteilen (meiner Disziplin)…

  140. Gehirn = processing device?

    eine Entschuldigung vorweg, ich habe leider nicht alle Kommentare hier lesen können und konnte daher nicht wirklich überprüfen, ob mein supersimpler (bestimmt genialer) Gedanke (den im Betreff!) schon diskutiert wurde.

    Ich weiß nicht. Es entsteht sicher viel im Gehirn, wenn kein Input reinkommt. Ich glaube, dazu gibt es auch konkrete Forschung. Aber für diesen Zweck hat sich das Gehirn bestimmt nicht entwickelt. Die “Eigendynamik des Gehirns” also nur am Rande, ich wollte es bloß erwähnt haben.
    Auch die Tatsache, dass die Informationsverarbeitung genetisch (= mikro-, makroanatomisch, chemisch, etc) moduliert wird, sollte auf keinen zu großen Widerstand stoßen. Dass wiederum eine Wechselwirkung besteht zwischen diesen “hard-wired” Faktoren und der Umwelt.. das bestreitet wer?? Wofür ist das Gehirn noch mal da?

    Das dreckige Wort “deterministisch” nehme ich mal bewusst nicht in den Mund, denn bis zu welchem Grad das Gehirn als deterministische Informationsverarbeitungsmaschine (mit bisweilen recht chaotischem Input) bezeichnet werden kann – keine Ahnung. Ich persönlich wünsche mir jedenfalls, das mein Gehirn halbwegs deterministisch die beste Lösung/Reaktion auf xyz errechnet* (q.e.d.) 🙂

    *dazu darf es auch nachschauen, was es im Laufe seines Daseins so angesammelt hat an Erfahrungen. Wenn es zu chaotisch wird, vielleicht hilft ja der gute alte Bayes weiter?

  141. was ist denn das?

    gerade erst diese BILDunterschrift gefunden:

    “Anders als es uns der Neurodeterminist weismachen möchte, wird das Gehirn selbst von vielen äußeren Einflüssen festgelegt.”

    Können Sie bitte auch nur einen einzigen “Neurodeterministen” nennen?

    Ich bin sprachlos.

    Mein Versuch, einen Vergleich aus dem politisch/militärischen Bereich zu vermeiden: Stefan Schleim jumps the shark

  142. @Noït Atiga: Harmonisches Wochenende

    Danke für Ihre Zusammenfassung.

    Ein harmonisches Wochenende wünsche ich Ihnen auch. Ich denke da an meine Spaziergänge im Kottenforst in meiner Bonner Zeit, Besuche beim Schwarz-, Rot- und Dammwild. Welch wunderbarer Waldspaziergang! In Zürich habe ich es zumindest vorübergehend ähnlich schön.

  143. @Diana: Wo sind die Neurodeterministen?

    Danke, dass Sie meine Bildunterschrift gelesen haben. Die Antwort auf Ihre Frage finden Sie in den ersten drei Absätzen meines Texts.

  144. @Stephan /Zeitkomponente

    »Der Punkt ist in meinem Beispiel der Unterschied zwischen t0 und t = 2:33 Minuten. Dass du zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten das Verhalten womöglich aus Gehirnwissen besser vorhersagen kannst […], das steht dahin.«

    Meine Vorstellung ist, dass bei vollständigem Gehirnwissen auch zum Zeitpunkt t0 (oder noch früher) bereits bekannt ist, was der Tänzer für den Zeitpunkt t = 2:33 geplant hat. Ein geübter Tänzer hat sicherlich den gesamten Ablauf eines Tanzes im Kopf gespeichert (ist vielleicht noch deutlicher zu sehen beim Eiskunstlauf).

    Über den zukünftigen Zustand der Umwelt könnten andere allerdings mehr wissen als man selbst. Wenn zum Beispiel über der Tanzfläche der Kronleuchter sich löst und sich auf den Weg nach unten macht, dann besitzt der DJ, der das sieht, mehr Wissen über die nächsten zwei drei Sekunden als der betroffene Tänzer auf dem Parkett (ist analog zu Deinem Lawinenbeispiel).

    Aber auch ein solcher Vorgang würde nicht widerlegen, dass das Verhalten des Tänzers allein vom Gehirn gesteuert wird.

  145. @Stephan /Interaktion mit Musik?

    »Dort ergibt sich dann aber – einen entsprechenden Erfahrungsstand oder Stil vorausgesetzt – das Tanzverhalten nicht durch ein zufälliges Abspulen der gelernten Muster, etwa aufgrund von Gehirnrauschen, sondern in Abhängigkeit von und in Reaktion auf (sprich: in Interaktion mit) Musik.«

    Mit den Tönen ist es wie mit den Farben: Alles Konstrukte unseres Gehirns. Aber das nur nebenbei. Worauf ich hier hinweisen wollte: „in Reaktion auf“ trifft es m.E. besser als: „in Interaktion mit“, selbst wenn hier ‚Interaktion“ nur im statistischen Sinne gemeint sein sollte, also eher im Sinne von Zusammenspiel verschiedener Einflussgrößen, Wirkfaktoren oder Variablen.

    Ich schreibe es gerne noch einmal: Aus Sicht des Gehirns endet die physikalische Wirkung der Umwelt am Sinnesrezeptor. Der Rest ist home-made. Oder wie @Noït Atiga es formuliert hat:

    »Ich bestreite nicht, dass die Umwelt und der Körper auslösende Faktoren für ein Verhalten sind – aber das Gehirn entscheidet, wie es mit diesen Auslösern umgeht.«

  146. @Stephan /Strikter Neurodeterminismus

    »Um einen strikten Neurodeterminismus (Der Mensch ist sein Gehirn; Verschaltungen legen uns fest; Verhalten lässt sich allein aus Gehirnwissen vorhersagen) zu widerlegen, reicht mir schon ein Beispiel.«

    Ich sehe nicht, dass diese Sätze die Bedeutung der Umwelt und des Körpers für das Verhalten negieren würden.

    Das Gehirn ist schließlich etwas Gewachsenes, es hat sich in einem Körper in einer Umwelt entwickelt, seine Verschaltungen sind das Ergebnis von Genen und Umwelterfahrungen, das Gehirnwissen umfasst die gesamten Umwelterfahrungen der Vergangenheit. Und Verhalten schlussendlich ist ohne einen Bezug zu einer gegebenen Umweltsituation kaum denkbar.

    Das heißt, in allen diesen Aussagen sind Umwelt und Körper unausgesprochen mit enthalten.

    In meinen Augen leugnet der Neurodeterminist also nicht die Bedeutung der Umwelt für das Verhalten, sondern bestreitet lediglich die materielle Unabhängigkeit „geistiger“ Phänomene.

    Ende und Aus!

    Neues Thema: Beschneidung… 😉

  147. @Banalus: Miss Verständnis

    Meine Vorstellung ist, dass bei vollständigem Gehirnwissen auch zum Zeitpunkt t0 (oder noch früher) bereits bekannt ist, was der Tänzer für den Zeitpunkt t = 2:33 geplant hat. Ein geübter Tänzer hat sicherlich den gesamten Ablauf eines Tanzes im Kopf gespeichert (ist vielleicht noch deutlicher zu sehen beim Eiskunstlauf).

    Banalus, du hast genauso wie dein Freund Ignoratio hier das Beispiel nicht verstanden: Der Tänzer weiß zum Zeitpunkt t = 0 noch nicht, welches Lied gespielt wird, deshalb kann es auch in seinem Gehirn keine spezielle Information darüber geben, welche Tanzbewegung er zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten machen wird – dies wird erst in Interaktion mit der Musik festgelegt.

    Das war ja auch die Pointe des Lawinenbeispiels (usw.). Irgendwie scheinen du und Ignoratio aber einer Art panpsychistischem Holismus anzuhängen: Auch wenn ein Reiz noch gar nicht bei einer Person angekommen ist, “weiß” es ihr Gehirn irgendwie doch schon.

  148. @Banalus: Definitorisches

    Das heißt, in allen diesen Aussagen sind Umwelt und Körper unausgesprochen mit enthalten.

    Dann würde der Verzicht auf das einseitig irreführende Wort “Neurodeterminismus” und das Verwenden von Umwelt-Körper-Gehirn-Interkationismus für mehr Klarheit sorgen und Missverständnissen vorbeugen.

    In meinen Augen leugnet der Neurodeterminist also nicht die Bedeutung der Umwelt für das Verhalten, sondern bestreitet lediglich die materielle Unabhängigkeit „geistiger“ Phänomene.

    Dafür gibt es aber ein anderes und schon seit jahrtausenden etabliertes Wort, nämlich: Materialismus.

  149. @Stephan: Neurodeterministen (N=0)

    Wollen Sie aufklären oder Meinung machen?

    Es gibt bestimmt nicht viele, ich würde sogar vermuten keinen einzigen Menschen, der Ihren Aussagen zu der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Gehirn nicht zustimmt. Sie echauffieren sich also über eine Ansicht, die möglicherweise von überhaupt niemandem vertreten wird.

    Glauben Sie nicht? Machen Sie doch mal eine Umfrage. Und fragen Sie mal die Personen, die Sie im Text nennen, ob sie (a) Ihrer Meinung sind oder (b) sich in Ihrer Beschreibung des Neurodeterministen wiederfinden.

    Das alles ist eigentlich nicht so wichtig. Jeder muss mal Dampf ablassen. Gut also, dass es “den Neurodeterministen” gibt. Was für ein Sandsack!
    Ich habe nicht das Geringste dagegen, sich derart ein wenig abzureagieren (von der Diffarmierung der genannnten Personen einmal abgesehen, aber die nehmen es bestimmt sportlich). Leser, die wissen, welche Meinungen in der Psychologie und Neurowissenschaft vertreten sind und welche nicht, dürften entweder verwundert den Kopf schütteln oder sich (wie ich) bestens unterhalten fühlen (besonders über Ihre Reaktionen auf Kritik).

    Leider gibt es möglicherweise auch Leser, die noch nicht mit mit der Psychologie/Neuro community vertraut sind, und die haben sie mit Ihrer Nummer nach bester BILD-Manier manipuliert. Und das finde ich, Unterhaltungswert und comment-hunting hin oder her, etwas bedenklich.

  150. @Diana: widerspricht meiner Erfahrung

    Meine Kritik habe ich nicht nur kürzlich in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift formuliert, wo es der Artikel in kürzester Zeit unter die Top 3 der am meisten gedownloadeden schaffte, sondern auch schon in zahlreichen neurowissenschaftlichen und psychologischen Vorträgen vor Fachpublikum präsentiert und bisher war dort noch niemand so schwer von Begriff, wie leider manche Kommentatoren dieses Blogbeitrags.

    Wenn Ihnen das Hintergrundwissen fehlt, dann steht es Ihnen (oder wahlweise in der Sprache des Neurodeterministen: Ihrem Gehirn) frei, sich die Willensfreiheitsdebatte in den deutschen Feuilletons vor Augen zu führen, wo N > 0 Hirnforscher die hier von mir kritisierten Ansichten vertreten haben.

    P.S. Und zu Ihrer Kritik des Diskussionsstils fällt mir spontan eine andere Redewendung ein: Wie man in den Wald hineinruft

  151. @Stephan /Strikte Neurodeterministen

    »Banalus, du hast genauso wie dein Freund Ignoratio hier das Beispiel nicht verstanden: Der Tänzer weiß zum Zeitpunkt t = 0 noch nicht, welches Lied gespielt wird, deshalb kann es auch in seinem Gehirn keine spezielle Information darüber geben, welche Tanzbewegung er zum Zeitpunkt t = 2:33 Minuten machen wird – dies wird erst in Interaktion mit der Musik festgelegt.«

    Ich glaub‘, jetzt hab‘ ich’s.

    Strikte Neurodeterministen behaupten Deiner Ansicht nach, vollständiges Gehirnwissen gäbe Aufschluss über Ereignisse, die in der Zukunft liegen.

    Wenn das so ist, dann hast Du natürlich unwiderlegbar Recht, solche Neurodeterministen irren gewaltig.

    (Mann, 152 Kommentare hat’s gebraucht bis zu dieser großartigen Erkenntnis)

  152. @Balanus: Neuro-Prädiktion

    Strikte Neurodeterministen behaupten Deiner Ansicht nach, vollständiges Gehirnwissen gäbe Aufschluss über Ereignisse, die in der Zukunft liegen.

    Ja – und sie behaupten sogar, sie könnten mit genügend Gehirnwissen vorhersagen, ob jemand in Zukunft eine Straftat begehen wird; aber das hatten wir hier ja auch schon oft genug.

  153. @Stephan /Prädiktion

    Ich verliere immer wieder aus dem Blick, dass Du mit dem Begriff Determinismus etwas völlig anderes verbindest als ich und der Rest der Welt, sorry 😉

    PS: Habe mir gerade Deinen Artikel gedownloaded, ich hoffe, er ist sein Geld wert…

  154. @Diana: P.S. Facts & Figures

    Davon abgesehen scheitert auch Ihre wenig geistreiche Spekulation zum Haisprung an den Zugriffs- und Kommentarzahlen dieses Blogs.

    (Als jemand, der seit Jahren kein fern mehr schaut, schon gar keine amerikanischen Sitcoms, bitte ich die Verzögerung zu entschuldigen, bis bei mir bezüglich Ihrer wenig freundlichen Provokation der sprichwörtliche Groschen fiel.)

  155. Banale Erfahrungsresistenz

    Lieber Banalus, bist du eigentlich mit deinen Begriffsspielchen hier nicht schon oft genug auf die Nase gefallen, um für dich noch immer in Anspruch zu nehmen, die Bedeutung von Begriffen für “den Rest der Welt” zu kennen?

    Gemäß Duden ist Determinismus die “Lehre, Auffassung von der kausalen [Vor]bestimmtheit allen Geschehens bzw. Handelns” – dementsprechend ist Neurodeterminismus also, dass unsere neuronalen Verschaltungen unser Verhalten festlegen (so wie es bsp. Wolf Singer wortwörtlich formuliert hat). Dass dies falsch ist, wurde nun ja hinreichend belegt (und auch von dir bestätigt).

    Du bist also mal wieder ins Fettnäpfchen getreten; aber aufgrund einer Art Anosognosie für Fettnäpfchen scheinst du das gar nicht mehr wahrzunehmen – ist das einmal ein Beispiel für einen Neurodeterminismus?

  156. @Stephan: Zahlen…

    …sagen nicht viel über Qualität und noch weniger über Richtigkeit. Meistens – und ich meine das gar nicht auf Sie gemünzt, ganz sicher nicht – ist sogar genau das Gegenteil der Fall. Was ich sagen will, das ist kein Argument, zumindest nur ein ganz schwaches. Haben Sie keine anderen?

    Bei ihrem Vortrag (vor Fachpublikum oder nicht spielt keine Rolle) hatte garantiert niemand eine gegenteilige Meinung zu der wie ich finde wenig steilen These, es gäbe eine Interaktion zwischen Hirn, Körper, und Umwelt. Das glaube ich einfach nicht. Nie und nimmer haben Sie damit eine Kontroverse ausgelöst. Dazu ist die Erkenntnis, die sie da vertreten, viel zu banal. Es müssen andere Aussagen gewesen sein. Mal ehrlich, ss wird ja viel Blödsinn geredet bei den Psychologen und Neurowissenschaftlern. Aber zu behaupten, Verhalten mit Wissen über das Gehirn vorhersagen zu können, ohne Wissen über von außen kommende Reize zu kennen… Das wäre wie ein Physiker, der behauptet, er könne die Ballistik einer Kugel mit dem Wissen über die Kugel (Form, Gewicht, Impuls,..) vorhersagen, ohne Wissen über die Umwelt (Dichte, Wind, …) zu kennen. Also, ich bleibe dabei, kein ernstzunehmender Mensch vertritt so einen Blödsinn. Das kann einfach nicht sein. Sie müssen da etwas falsch verstanden haben, vielleicht eine unpräzise Aussage, was weiß denn ich. Vielleicht wollten Sie es sogar falsch verstehen?

  157. @Stephan: jump the shark

    entschuldige, provozieren wollte ich nicht. Vielleicht habe ich mich provozieren lassen? Ich empfand einige Stellen als eine einzige Frehheit (zum Beispiel diese Bildunterschrift). Und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie es diesmal zu weit getrieben haben. Damit haben Sie sich (jedenfalls für mich) im Kampf gegen die Neurowissenschaft* ein wenig lächerlich gemacht. Daher der Hai. Aber lassen Sie sich nicht beirren, ich werde Ihre Beiträge auch weiterhin mit großem Vergnügen lesen.

    * ich weiß, Sie sind nicht gegen DIE Neurowissenschaft. Nur gegen die mit den Bildern.

  158. @Stephan /Determination

    Danke für den Hinweis auf den Duden.

    Im Gegenzug möchte ich Dir mitteilen, womit ich bzw. mein Gehirn interagiert hat, woher also die Verschaltungen in meinem Hirn rühren. Die mich prägende Interaktion erfolgte mit Otfried Höffe bzw. dessen kleines „Lexikon der Ethik“. Darin heißt es:

    [D]ie empirischen Wissenschaften gehen grundsätzlich von der der Idee durchgängiger Determination, nämlich der prinzipiellen Erklärbarkeit aller Phänomene aus Ursachen und Motiven, aus, wobei deren Gesetzmäßigkeiten – wie etwa im subatomaren Bereich – auch durch Wahrscheinlichkeits- und Unbestimmtheitsbeziehungen (Heisenberg-Prinzip) ausgedrückt sein können.

    Voilá, jetzt kennst Du die Ursache meiner Fehlprägung und gehst in Zukunft hoffentlich etwas nachsichtiger mit mir um.

    (Offensichtlich hat Wolf Singer doch ein Stück weit Recht, wenn er sagt, „Verschaltungen legen uns fest“. Gottseidank hat er nicht behauptet, alle Verschaltungen seien für alle Zeiten unveränderbar, so besteht noch Hoffnung für die Zukunft…).

  159. off-topic.. ..und dann aber doch nicht

    ..ein link für Stephan. Weil ich weiß, dass ihn das interessiert:

    http://flowbrain.blogspot.it/2012/07/trick-question-what-has-functional.html

    das ist meilenweit von der peinlichen Grundsatzdiskussion hier entfernt, aber vielleicht beleuchtet es eines: Man muss nicht jedes mal explizit erwähnen, dass es in der Neurowissenschaft um Informationsverarbeitung geht. Es wird vorausgesetzt. Das ist der entscheidende Faktor, der fehlt in Stephans Definition vom “Neurodeterministen”.

    Darf ich einen Versuch machen, wie sie lauten könnte?
    Also gut: kenne (1) den Gesamtzustand des Gehirns zum Zeitpunkt t0 und (jetzt kommt’s: 2) den perzeptuellen (extero- und interozeptiven) Input zum Zeitpunkt t0 –> errechne den für das System optimalen Output für Zeitpunkt t1 (das Verhalten also).

    (Für meinen Gedanken nicht wichtig, aber der Vollständigkeit halber möchte ich trotzdem erwähnen, dass das Ganze dynamisch ist: ständig fließt neuer perzeptueller (extero- und interozeptiver) input nach. Was die neuronalen Vorgänge (und damit auch wieder den Gesamtzustand des Systems zum Zeitpunkt t1+x) beeinflussen sollte.)

    Zum Zeitpunkt t0 kann ich also den Input komplett abkappen und trotzdem den Output (also das Verhalten) vorhersagen (tatsächlich OHNE Intero- und Exterozeption zu kennen, lieber Stephan (letztere nennst du Körper und Umwelt), liebe Diana, lieber Balanus! Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, bis neuer Input nachfließt (t1).

    BÄÄÄM!

    Einschränkungen gibt es natürlich, ir fallen spontan zwei ein: der interne Berechnungsschritt (“Gehirn”) zum dikreten Zeitpunkt t0 ist probabilistisch, es kann also theoretisch (tatsächlich aber sehr selten praktisch) zwei oder mehr “gleich gute” Reaktionen geben. Außerdem reden wir hier über Zeitskalen von ms, für eine Vorhersage von größeren Ordnungen kann selbst der exterozeptive Zustand nur in der Theorie berechnet werden. Eine Vorhersage von Verhalten überschreitet daher sehr schnell die theoretisch verfügbaren Kapazitäten und ist also unmöglich. Aber das ist ein alter Hut für Chaotiker.

    ps: für all das braucht es auch nicht das effekthascherische Präfix neuro. Gibt dann aber nur die Hälfte der Kommentare; also weiter so, lieber Stephan.

  160. Ergänzung

    der mittlere Teil ist doch recht wichtig, denn so wird ja der Gesamtzustand des Gehirns (t0) zum Zeitpunkt t-1 moduliert/determiniert. Sollte selbstverständlich sein, aber bei Stephan weiß man nie, im Zweifel dreht er mir daraus den Strick.

    Und als dritte Einschränkung fällt mir ein, dass man nicht weiß, ob und wie diskret die Informationsverarbeitung tatsächlich ist.

  161. @Mortimer

    Buchtipp. S.Kühnel/H.Markowitsch, Falsche Erinnerungen – Die Sünden des Gedächtnisses
    Das Buch beschreibt sehr gut, wie fehlerhaft die Informationsverarbeitung unseres Gehirns ist.
    Ein schönes Gegenbeispiel zur Idee des Neurodeterminismus

  162. @KRichard

    »Idee des Neurodeterminismus«

    Diese Idee ist doch, dass das Gehirn das Verhalten eines Individuums bestimmt (in Reaktion auf den sensorischen Input). Eine „fehlerhafte Informationsverarbeitung“ könnte der Idee nach lediglich zu einem fehlerhaften Verhalten führen. Wo genau sehen Sie hier ein „Gegenbeispiel“?

  163. @Balanus

    Neurodeterminismus ist die Auffassung, dass Reaktionen des Gehirnes auf eingehende Reize vorbestimmt sind. D.h. wenn ich den eingehenden Reiz kenne, dann kann die Reaktion berechnet werden, da diese immer nach einem vorgegebenen Schema abläuft.

    Im Buch werden viele Beispiele gebracht, welche zeigen wie nachweislich fehlerhaft das Gehirn arbeitet. D.h. die Auffassung, dass alles vorbestimmt ist, ist nicht haltbar.

  164. @KRichard

    »Neurodeterminismus ist die Auffassung, dass Reaktionen des Gehirnes auf eingehende Reize vorbestimmt sind.«

    In dem Sinne, dass ein ganz bestimmter, (theoretisch) vorausberechenbarer Output erzeugt wird? Das war oder ist glaube ich die Position der Behavioristen.

    Das ist natürlich nicht ganz verkehrt. Die Eigenschaften des Nervensystems legen fest, wie auf welche Reize reagiert werden kann (oder eben „falsch“ reagiert werden kann). Deshalb kann man Verhalten, je nach Situation, mal mehr, mal weniger gut vorhersagen. Aber damit hat es sich auch schon.

    Die „Auffassung, dass alles [Verhalten] vorbestimmt ist“, wird von den hier als Neurodeterministen bezeichneten Hirnforschern wohl kaum vertreten.

  165. @Diana, all: Neuroprädiktion

    Ich bin auch nicht allgemein gegen die Neurowissenschaft mit den Bildern, sondern gegen die Neuroübertreibung, die damit manchmal in den Publikationen und Medien einhergeht. Auch die fMRT kann sehr spannend sein, wenn man sie richtig anwendet.

    Diejenigen, die meine Kritik hier für überzogen halten, kennen die entsprechende Literatur einfach nicht (obwohl es hier bei Menschen-Bilder und anderen Quellen im Internet schon oft genug z.B. um die “gefährlichen Gehirne” geht).

    Markowitsch, der größte deutsche Vertreter der Neuroforensik, schrieb z.B. (Was kann die Hirnforschung für die Gerichtsgutachtung beitragen?):

    Hirnforscher analysieren die hirnorganischen Grundlagen unseres Verhaltens. Sie stellen dabei fest, dass es vorhersagbar eindeutige Beziehungen zwischen der Gehirntätigkeit und dem Verhalten (Wahrnehmen, Denken, Handeln) gibt. […] Schon seit dem vorletzten Jahrhundert existierten Fallbeschreibungen, die demonstrieren, dass Menschen sich nach plötzlichen Hirnschäden nachhaltig in ihrer Persönlichkeit veränderten. [Hier folgt dann die verbreitete aber historisch falsche und einseitig neuroderministische Darstellung des Falls Phineas Gages.]

    Unter der Überschrift “Neural Circuitry of a Broken Promise” schlussfolgerten u.a. Thomas Baumgartner und Ernst Fehr:

    The fact that the cheaters’ brain activations during the promise and anticipation stages differ unambiguously from those of the promise keepers, even though both of them perform the same behavior, means that the brain activations alone and not just the observed behaviors are capable of predicting the dishonest act. (Neuron, 2009, S. 767)

    In der Pressemitteilung dazu heißt es:

    Wie der Neurowissenschaftler Thomas Baumgartner erklärt, weisen diese Ergebnisse darauf hin, dass Gehirnmessungen bösartige Absichten schon zu einem Zeitpunkt enthüllen können, bevor die unehrliche oder betrügerische Tat tatsächlich begangen worden ist. «Ein solcher Befund lässt folglich die Spekulation zu, dass Gehirnmessungen in (ferner) Zukunft nicht nur verwendet werden können, um Übeltäter zu überführen, sondern vielmehr vielleicht sogar mithelfen können, betrügerische und kriminelle Machenschaften zu verhindern – eine Vision, die im Science-Fiction-Film ‘Minority Report’ bereits Realität geworden ist.»

    Wer keine Zeit oder keine Lust hat, sich die ausführlichere Diskussion in meinem Buch “Die Neurogesellschaft” anzuschauen, der kann die Diskussion über Gebrochene Versprechen hier bei Gehirn&Geist lesen.

    Ein sehr anschauliches Beispiel ist noch diese Übersichtsarbeit Neuroprediction, Violence, and the Law: Setting the Stage der Neurovorhersager, darunter Kent Kiehl, Michael Gazzaniga, Thomas Nadelhoffer, Walter Sinnott-Armstrong, die im gesamten Artikel ihr Konzept der Neuroprediction verkaufen; sind das alle “niemand”? Im Gegenteil.

    So, Leute, das waren jetzt nur mal ein Paar anschauliche Beispiele, die ich in ein paar Minuten versammeln konnte; die Forschungsliteratur ist voll von vergleichbaren neurodeterministischen Aussagen, Aussagen in den Medien und Forschungsanträgen gehen wohl sogar noch mal ein Stück weiter.

    Wer jetzt weiterhin behauptet, ich würde das übertreiben, der ist einfach nicht gebildet – bitte umgekehrt mal den Neurodeterministen auf seine unzulässige Übertreibung hinweisen, ansonsten kann ich euch einfach nicht mehr ernst nehmen. Meine Geduld ist jetzt erschöpft; wie der Kommentator “X” hier vor einer Weilte einmal ausdrückte: Es ist nicht zum Aushalten.

  166. @Chrys, Mortimer

    Danke noch für diese nützlichen Hinweise – die Diskussion ist hier insgesamt einfach zu epigonal, um diese Beispiele hier noch sinnvoll zu diskutieren. Ich werde sie sicher aber in Zukunft einmal direkt oder indirekt aufgreifen, ohne dann vorher banalisiert oder ignorationiert worden zu sein.

  167. P.S.

    Im Übrigen ist es schon bezeichnend, dass man mir hier den Diskussionsstil vorwirft, den ich (zumindest für mich) mal abundzu mit einem provokanten Witz auflockere, wo manch anderer hier 150 Kommentare braucht, um überhaupt nur zu verstehen, dass es beim Thema Neurodeterminismus um Vorhersage bzw. Voraussage zukünftigen Verhaltens geht; siehe dazu auch schon 150 Kommentare vorher: meinen Beitrag.

  168. TP-Beitrag über Neurodeterminismus

    Vor dem Hintergrund der massenhaften Traumatisierung von Veteranen des Irak – und Afghanistankriegs hat die Frage nach den biologischen Grundlagen von PTSD in den USA eine besondere Bedeutung. Von den konkreten Erfahrungen, die die Soldaten im Krieg gemacht haben, ist allerdings nicht die Rede – wohl aber von ihren Gehirnen.

    Psychologische Ansätze und nicht-medikamentöse Therapien kommen dagegen nicht vor. Das gilt ebenso für One Mind. In den Texten und Veranstaltungen der Organisation fallen Verhaltensstörungen und Geisteskrankheiten ausschließlich in die Domäne der Hirnforschung und sollen pharmakologisch behoben werden. Unbekümmert werden Trisomie 21 und Schizophrenie unter dem Oberbegriff “Hirnstörung” zusammengezählt. Als Hirnkrankheiten gelten unter anderem Depressionen, Sucht, neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer, aber auch Verhaltensstörungen wie ADHS.

    Wirklich ein sehr zu empfehlender Beitrag; vielen Dank für den Link.

    Aber, ach, ich vergaß: niemand würde jemals so etwas behaupten, dass nur das Gehirn und nicht der Rest der Person oder auch die Umwelt eine Rolle spielt; es handelt sich dabei nur um mein Gehirngespinst.

  169. @Stephan Schleim: Störung

    In den Texten […] der Organisation fallen Verhaltensstörungen […] ausschließlich in die Domäne der Hirnforschung und sollen pharmakologisch behoben werden.

    Wird derjenige mit einbezogen, der die Verhaltensnorm vorgibt, oder wird die Norm als gottgegeben hingenommen?

  170. @Ano Nym: Psychiatrische Norm

    “Gottgegeben” ist das falsche Wort – allerdings hat selbst Steven Hyman in dem zuvor hier verlinkten Artikel eingeräumt, dass diese Definitionen, wenn sie erst einmal entschieden wurden und dann in Handbüchern wie dem DSM oder ICD abgedruckt werden, von vielen Forschern zu ernst genommen werden, dass sie verdinglicht, reifiziert werden und viele vergessen, dass sie es hier mit menschlichen Konstrukten zu tun haben.

    Dass daraus bestimmte Probleme entstehen, können Sie dort nachlesen sich aber bestimmt auch selbst denken.

  171. @Stephan Schleim: Psychiatrische Norm

    Ich wollte mit meinem Hinweis auf die Verhaltensnorm “nur” darauf hinweisen, dass es sich auch bei der Normsetzung um nichts anderes als Hirnaktivität, neuronale Aktivität handelt. Warum gilt diese neuronale Aktivität nicht als Störung? Immerhin ist es genausowenig natürlich (im Sinne von normal) Normen zu setzen, wie man sechs Finger an der Hand hat.

  172. @Diana

    »Es gibt bestimmt nicht viele, ich würde sogar vermuten keinen einzigen Menschen, der Ihren Aussagen zu der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Gehirn nicht zustimmt.«

    Nun ja, ich z.B. sehe den Begriff ‚Wechselwirkung‘ sehr kritisch, wenn es um die Gehirn-Umwelt-Beziehung geht. Zwischen Gehirn und Umwelt steht der Körper. Aus der Umwelt gelangen „Informationen“ über die Sensorik ins Gehirn. Körper und Gehirn determinieren, welche Reize aus der Umwelt verarbeitet werden. Die Wirkung des Gehirns auf die Umwelt geschieht ausschließlich über das Verhalten des Körpers. Das Gehirn determiniert das Verhalten des Körpers.

    Deshalb erscheint es mir problematisch, zu sagen, Verhalten beruhe auf der Wechselwirkung (Interaktion) von Umwelt x Körper x Gehirn. Die vom Gehirn ausgehende Steuerung des Körpers kann als Verhalten beobachtet werden, mehr ist nicht. Verhalten ist das Mittel, mit dem das Gehirn auf die Umwelt des Körpers einwirken kann.

    Man muss den Begriff „Wechselwirkung“ schon recht weit fassen, wenn damit die Gehirn-Umwelt-Beziehung bezeichnet werden soll. Lernen geschieht nicht nach der Methode des Nürnberger Trichters.

    Dass das Gehirn Verhalten steuert in Reaktion auf die Umwelt, das allerdings würde in der Tat kaum einer der von Stephan Schleim zitierten Hirnforscher bestreiten wollen (vermute ich mal).

  173. @Ano Nym: Gestörte Psychiatrie

    Man könnte es durchaus als eine Störung (z.B. einen Wahn) bezeichnen, alles standardisieren, klassifizieren, vorhersagen, diagnostizieren und therapieren zu wollen – fällt Ihnen dafür ein guter Name ein?

  174. @Stephan /Sapere aude

    »Sapere aude, Balanus! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. «

    Na, was meinst Du, was ich die ganze Zeit hier mache? Aber was ich sage, erscheint Dir ja banal.

    Wenn Du also Höffe nicht gelten lassen willst, wie wäre es dann mit der Stanford Encyclopedia of Philosophy? Dort heißt es:

    »Causal determinism is, roughly speaking, the idea that every event is necessitated by antecedent events and conditions together with the laws of nature.«

    Daraus folgt, auch beim Neuro-Determinismus geht alles mit rechten Dingen zu. Anders wäre es, wenn behauptet würde, man könne aus einem vollständigen Gehirnwissen heraus zukünftiges Verhalten exakt vorhersagen, egal welchen sensorischen Input es zwischenzeitlich gibt. Oder aber, dass schon beim ersten Atemzug alles zukünftige Verhalten determiniert ist. Das tut aber kein Neurodeterminist, der noch bei Sinnen ist.

    So langsam drängt sich mir der Eindruck auf, dass Du Neuro-Determinismus mit Neuro-Fatalismus verwechselst.

  175. @Banalus: Begriffliches

    Höffes Beschreibung ist falsch, da er eine Seinsaussage (Determinismus) mit einer epistemischen (Erklärenkönnen) verwechselt; ferner ist sie falsch, weil er er nicht die Naturwissenschaften charakterisiert, sondern eine bestimmte Philosophie derselben, nämlich den Naturalismus (siehe nochmals die verlinkten Blogbeiträge bei Menschen-Bilder).

    Die Definition aus der Stanford-Enzyklopädie bezieht sich auf eine bestimmte Form des Determinismus, nämlich einen kausalen, der übrigens nach dem allgemein vorherrschenden Verständnis der Quantenmechanik nicht für unsere Welt gilt.

    Die These des Neurodeterministen dreht sich nicht um dein Credo, ob alles mit rechten Dingen zugeht, sondern um die Gehirndetermination von Verhalten.

    Sapere aude, Balanus! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

  176. Analogien /Sapere aude

    Man könnte es durchaus als eine Störung (z.B. einen Wahn) bezeichnen, alle Ansichten (s)einseitig standardisieren, alle Äußerungen aus eigener Perspektive klassifizieren, alles nur aus eigenem Wissen vorhersagen, allen Andersdenkenden Epigonalität diagnostizieren und über eigene Provokationen therapieren zu wollen – fällt Ihnen dafür ein guter Name ein?

  177. @Ignoratio

    Für mich geht es hier nicht bloß um Unterhaltung, sondern um Fragen, für die es bestimmte zutreffende und unzutreffende Ansichten gibt (wenn auch nicht immer eine eindeutige Lösung). Auch wenn mir insgesamt viel an Höflichkeit liegt, werde ich Ihnen hier nicht nur aus Höflichkeit recht geben.

    Wer nach all den Beispielen, die nicht nur von mir, sondern auch von mindestens zwei anderen Lesern angeführt wurden, immer noch leugnet, es gebe so etwas wie die von mir kritisierten Neurodeterministen, der hat keine Ahnung und will sich auch nicht mit den Fakten auseinandersetzen.

    Und wer dutzende Kommentare braucht, um zu verstehen, dass es u.a. bei meinen Beispielen um die Vorhersage zukünftigen Verhaltens geht und auch andere grundlegende Annahmen dieser Beispiele nicht versteht, der soll meines Erachtens dringend mehr Mut aufbringen, sich seines Verstandes zu bedienen (beziehungsweise diesen hinreichend und kritisch zu schulen).

    Es ist ein unter manchen Naturwissenschaftlern verbreitetes Missverständnis, dass nur die Naturwissenschaften einen Anspruch auf “Fakten” erheben könnten und Theorie/Philosophie nur “Gerede” sei, bei dem es kein richtig und falsch gebe und an dem sich jeder gleichwertig beteiligen könne, auch ohne sich ausführlich über die Sache zu informieren. Zu welchen Peinlichkeiten dieses (Mis-)Verständnis führen kann, haben wir ja nicht nur in der neurodeterministischen Willensfreheiheitsdebatte gesehen, sondern oft genug hier in diesem Blog.

    Ich brauche hier keine Diskussionen mit 100+ Beiträgen und ehrlich gesagt nervt mich die hartnäckige Uneinsicht mancher sogar (z.B. hatten wir hier zum Naturalismus schon 100+ Diskussion, trotzdem haben manche offensichtlich noch nicht verstanden, was Naturalismus ist und was nicht).

    Wenn Sie also nicht damit umgehen können, dass ich es Ihnen sage, wenn Sie sich in einem Punkt meiner Forschung deutlich irren, dann surfen Sie am besten woanders.

  178. @Balanus

    »Daraus folgt, auch beim Neuro-Determinismus geht alles mit rechten Dingen zu.«

    Man sollte stets vorsichtig sein mit Schlussfolgerungen. Wenn deterministische Hundemodelle aus prinzipiellen Gründen keine sichere Vorhersage darüber liefern können, wie der besagte Hoppesche Hund seinen Konflikt lösen wird, dann ist das noch kein Argument für den Determinismus. Denn mit stochastischen Hundemodellen kann man hier zum gleichen Resultat gelangen, nur mit einer ganz anderen Begründung. Wenn also ein empirischer Hund gleichermassen auf deterministische wie stochastische Weise modellierbar ist und mit empirischen Mitteln keine Entscheidung für oder gegen dieses oder jenes Modell gefunden werden kann, dann lässt sich auch nicht behaupten, ein empirischer Hund sei ganz bestimmt deterministisch.

    Ob in der empirischen Welt “alles mit rechten Dingen zugeht”, darüber wird es keine Gewissheit geben können. Ein jeder Hund wird letztlich glauben müssen, was ihm richtig erscheint 😉

  179. @Stephan Schleim: Überheblichkeit

    Sie sind sehr berechenbar – und ich hätte Sie oben nicht abwandelnd zitiert, wenn Sie nicht sowohl:
    1. Das begrabene Kriegsbeil sofort wieder ausgegraben hätten (Stichworte Freund Ignoratio und panpsychichistischer Holismus). Soetwas gehört nicht zum begrabenen Kriegsbeil. Wer es begräbt, gesteht zumindest die Möglichkeit seines eigenen Irrtums ein, schließlich will man das Thema nicht zu Ende diskutieren. Und Sie haben das entsprechende Angebot unterbreitet, nicht ich! Und Kriegsbeile nur zu begraben, um selbst außer Schussweite zu sein aber weiter drauflosschießen zu können – das ist sehr schlechter Stil.
    2. Sie sich nicht ständig weiterhin so abfällig über andere geäußert hätten – alle Ihre Beispiele der sogenannten Neurodeterministen kann man nämlich berechtigterweise anders lesen. Und sie überheben sich gewaltig, wenn Sie sich als den einzigen Klugen auf dieser Welt betrachten.

    Ich will mich nicht auf Ihr Niveau herablassen, denn wie formulierte es Friedrich Rückert: “Das sind die Weisen, die durch Irrtum zur Wahrheit reisen. Die bei dem Irrtum verharren, das sind die Narren.”

    Zur fehlerhaften Logik Ihrer Argumentation nur ein Beispiel:

    Strikte Neurodeterministen behaupten Deiner Ansicht nach, vollständiges Gehirnwissen gäbe Aufschluss über Ereignisse, die in der Zukunft liegen.

    Ja – und sie behaupten sogar, sie könnten mit genügend Gehirnwissen vorhersagen, ob jemand in Zukunft eine Straftat begehen wird; aber das hatten wir hier ja auch schon oft genug.
    Stephan Schleim @Balanus: Neuro-Prädiktion
    22.07.2012, 18:31

    Das “sogar” habe ich hervorgehoben – und es wird wohl jedem klar sein, dass das logisch falsch ist. Was aber die Sache angeht, so bezweifle ich nicht, dass man es heute noch nicht und vielleicht niemals praktisch kann – und Ihre Kritik der entsprechenden Literatur finde ich berechtigt. Sie schießen aber über das Ziel hinaus, wenn Sie selbst die theoretische Möglichkeit jeder Vorhersage komplett ausschließen.

    Jedenfalls der allwissende, und schnell kalkulierende Daemon könnte nämlich vorhersagen, wie jemand nach seinem aktuellen Gehirnzustand in gewissen zukünftig möglichen Situationen reagieren würde. Und dann könnte er Gehirne darauf testen, wie wahrscheinlich gewisse Straftaten für ihren jetzigen Zustand sind. Ob sich diese Straftaten letztlich realisieren, das weiß er natürlich nicht, denn dazu muss der so untersuchte Mensch erst noch in eine entsprechende Situation kommen.

    Nur reicht ja diese Voraussage einer Wahrscheinlichkeit aus – etwa, um jemanden besser einzubinden oder durch positive Erfahrungen umzuprägen. Und das wäre jedenfalls bei Verbrechern, die man wieder in die Gesellschaft aufnehmen will hilfreich. Man könnten nämlich dann genauere Vorhersagen über die Wiedereingliederbarkeit machen, als derzeit aus psychologischer oder statistischer Sicht.

  180. @Noït Atiga: Neuro-Prädiktion

    Der Neuroforensiker entlarvt seinen Neurodeterminismus dadurch, dass er denkt, die Vorhersage der Straffälligkeit nur aus dem Gehirn treffen zu können. Ich denke, dass diese Vorhersage in den meisten Fällen die Umwelt zwingend einschließen muss (was dann auch auf die Ideen zur Prävention durchschlägt); und in den Fällen, in denen das Gehirn allein hinreicht, haben wir es womöglich nicht mehr mit Personen zu tun.

    Ich werde jedoch nicht wie in einer Endlosschleife meine bereits mehrfach angeführten Evidenzen wiederholen.

    Zum Vorwurf der Überheblichkeit: Ich habe schon geschrieben, dass ich hier niemandem bloß aus Höflichkeit recht geben werde; umgekehrt erinnere ich mich nicht, dass Sie es auch nur einmal zugegeben hätten, dass Sie eines meiner Beispiele (bewusst oder unbewusst) missverstanden hätten (daher auch die Sache mit dem “panpsychistischen Holismus”, anders kann ich mir Ihre Reaktionen nicht erklären) – stattdessen warfen Sie mir dann einen blinden Fleck vor.

    Zum Rest Ihrer Beschuldigungen empfehle ich einen Blick auf diese Abbildung; und besagten Waldspaziergang an Stelle der Fortsetzung dieser sinnlosen Diskussion.

  181. @Chrys /empirischer Hund

    »Man sollte stets vorsichtig sein mit Schlussfolgerungen.«

    Schon richtig, aber habe ich denn fehlerhaft geschlussfolgert?

    Wenn der Determinismus (kausal oder probabilistisch) per Definition auf den Naturgesetzen fußt, dann muss das doch auch für den Neuro-Determinismus gelten, oder nicht?

    Ich sehe die Sache mit dem Determinismus so wie Mario Bunge. Laut Wikipedia meint Bunge, „dass durch die Quantenphysik zwar das Kausalprinzip, aber nicht das Determinismusprinzip verletzt wird.“

    Das hat natürlich wichtige Folgerungen für unseren empirischen Hund, der, wie könnte es anders sein, „gleichermassen auf deterministische wie stochastische Weise modellierbar ist“.

    Und der Determinismus impliziert keineswegs Prädiktabilität, wie Stephan meint, Vorhersagbarkeit ist eine andere Baustelle. Das haben wir hier schon des Öfteren festgestellt (Stichwort: Doppelpendel). Seine folgende Aussage dürfte somit nicht ganz richtig sein:

    Ein starker Neurodeterminist müsste behaupten, wir könnten das zukünftige Verhalten eines Menschen vollständig voraussagen, wenn wir alles Wissen über sein Gehirn hätten.


    Nebenbei, ich kann ich gut damit leben, nicht wirklich wissen zu können, ob der Determinismus wahr ist. Ich tue einfach so, als sei er es. Das hat sich in der Vergangenheit bestens bewährt. Zumindest ist mir bislang eine Nominierung für den Darwin-Award erspart geblieben 😉

  182. @Balanus

    Und der Determinismus impliziert keineswegs Prädiktabilität, wie Stephan meint…

    Ich habe hier schon oft genug sauber zwischen metaphysischer (Determinismus) und epistemischer (Wissen, Vorhersage) Ebene getrennt und deutlich gemacht, dass zwischen beiden Ebenen eine Lücke klaffen kann. Die typischen Neurodeterministen treten aber gerade nicht so auf, dass sie sagen: Das Gehirn ist Determiniert aber wir können menschliches Verhalten trotzdem nicht vorhersagen. Nein, damit lassen sich auch kaum Forschungsanträge bewilligen, sie sagen oder suggerieren stattdessen: Wenn wir nur genügend Gehirnwissen hätten, dann könnten wir menschliches Verhalten vorhersagen.

    Nebenbei, ich kann ich gut damit leben, nicht wirklich wissen zu können, ob der Determinismus wahr ist. Ich tue einfach so, als sei er es. Das hat sich in der Vergangenheit bestens bewährt.

    Das ist dann eine Sicht, die gemäß dem naturwissenschaftlichen Mainstream seit ca. 75 Jahren als falsch angesehen wird.

    Das ist wissenschaftstheoretisch natürlich kein Problem, denn einerseits bleibt bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen immer ein Restzweifel, sodass man auch eine abweichende Minderheitenmeinung vertreten werden kann, und andererseits können auch nachweislich falsche Theorien wissenschaftlich sehr erfolgreich sein. Das sowie die passenden historischen Beispiele lernen meine Studierenden dann im Modul über wissenschaftlichen Instrumentalismus.

  183. @Stephan

    »Wenn wir nur genügend Gehirnwissen hätten, dann könnten wir menschliches Verhalten vorhersagen.«

    Wenn mit „Gehirnwissen“ lediglich Wissen über die Funktionsweise des Gehirns gemeint ist, dann sehe ich auch nicht, wieso dieses eine bessere Vorhersage über menschliches Verhalten erlauben sollte.

    Wenn aber mit Gehirnwissen das in einem Gehirn gespeicherte Wissen gemeint ist, dann würde dessen Kenntnis m. E. schon eine bessere Vorhersage über das zukünftige Verhalten erlauben.

    Hätte man auf dieses Wissen von außen Zugriff, könnte man z.B. erkennen, ob jemand einen Anschlag plant oder sich nur einen Film ansehen will.

    »Das ist dann eine Sicht, die gemäß dem naturwissenschaftlichen Mainstream seit ca. 75 Jahren als falsch angesehen wird.«

    Ich rede davon, dass es eine gute Überlebensstrategie ist, von der Wahrheit des Determinismus auszugehen, und Du kommst mir mit der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik und dem wissenschaftlichen Instrumentalismus, über den Du u.a. dozierst.

    Davon abgesehen: Verstehe ich Dich richtig, Du hältst die Frage, ob der Determinismus wahr ist, für längst entschieden?

  184. @Balanus

    Den diversen Modellen darf man sicherlich unterstellen, dass dort alles mit rechten Dingen zugeht, aber theoretische, modellhafte Beschreibungen gehören eben auch zur “platonischen Welt”, wie Roger Penrose es vermutlich ausdrücken würde. Das zu modellierende Phänomen, etwa ein Hund, lebt nun nicht in jener Welt. Und Eigenschaften, die wir in den von uns selbst erdachten und konstruierten Hundemodellen erkennen, lassen sich nicht schlicht und einfach nur dem Hund zuschreiben. Umgekehrt können einem Hundemodell auch wesentliche Merkmale eines Hundes fehlen. Das hatten wir ja so ähnlich schon, aber es erscheint nicht verkehrt, wenn man sich gelegentlich daran erinnert. Gewisse Neurodeterministen sehen das möglicherweise doch alles ganz anders 😉

    Bunges Entwurf eines “probabilistischen Determinismus” entstand im wesentlichen 1954, wie er in seinem Buch “Causality” (Harvard University Press, 1959) schreibt, auf das er in diesem Zusammenhang verweist. Er versteht dabei Unvorhersagbarkeit als ein reines Problem unvollständigen Wissens. Auf p. 330 liest man z.B.

    Prediction is a human—both fallible and perfectible—ability; predictability is an epistemological consequence of the existence and knowledge of laws of any kind, both causal and noncausal. Uncertainty therefore does not entail indeterminacy. Complete determinacy, univocally fixed by the totality of laws, is a necessary but not a sufficient condition for attaining complete predictability; it would not be fair to blame the world for our own shortcomings. Ontological determinism is therefore consistent with epistemological probabilism …

    Ihm war womöglich an einem philosphischen Unterbau für eine deterministische Quantenmechanik gelegen — nach eigenem Bekunden hat er auch ausgiebig mit David Bohm korrespondiert und diskutiert.

    Bunge könnte richtig liegen in dem Sinne, dass jeder Zufall observationell gleichwertig als Pseudo-Zufall darstellbar ist. Dass Unvorhersagbarkeit aber auch als intrinsisches Feature auftritt, hat er jedenfalls seither verpasst.

    Die Bedeutung von Vorhersagen für die Überprüfung theoretischer Konstrukte wird auch von ihm nicht bestritten. Die Frage, was wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen können, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen, sehe ich hier als berechtigt. Die Frage liesse sich auch für Nematoden stellen, um zu beurteilen, wie aussichtsreich eine realistische Computer-Simulation des Wurms überhaupt sein kann, und warum man damit seit 20 Jahren nicht nennenswert vorankommt. Vor diesem Hintergrund wiederum lassen sich die Versprechungen von Vorhaben wie “HBP” und “One Mind” besser einschätzen.

  185. @ Balanus

    Sie „tun so, als ob (der Determinismus) wahr wäre. Das (habe) sich in der Vergangenheit bestens bewährt“.

    Das kann nur aus einer ganz einäugigen Perspektive so scheinen.

    Nehmen wir an, wir hätten das perfekte „Gehirnwissen“ über Mozarts Gehirn zum einem Zeitpunkt kurz vor seinem Tod. Müssten wir dann nicht in der Lage sein, aus einem nachgebauten Modell dieses Gehirns den ungeschriebenen Rest seines „Requiem“ zu extrahieren? Würden wir damit nicht überhaupt über eine Maschine verfügen, die wir endlos Mozart-Symphonien ausspucken lassen könnten? Denn vermutlich stimmen Sie zu, dass für das Komponieren von Musik kein Input des Alltagslebens erforderlich ist. Beethoven hatte schließlich auch keinen akustischen Input mehr.

    Allgemein gesprochen: Wie gehen Sie mit Kreativität um bei Ihrem deterministischen Gehirnwissen?

    Könnten wir aus Theodor Mommsens Gehirn die von ihm nicht mehr verfasste Geschichte des römischen Kaiserreichs herausholen?

    Sie geben zu, dass Sie „so tun“, als wäre der Determinismus wahr. Dabei verleugnen Sie, welch inhumane Konsequenzen diese Position hat. Menschen werden darin zu bloßen Maschinen, deren Selbstempfinden und Lebenspraxis sich in ihrer wissenschaftlichen Rekonstruktion nicht wiedererkennen kann. Sämtliche Bereiche und Leistungen menschlichen Lebens verlieren in dieser wissenschaftlichen Rekonstruktion Sinn und Inhalt. Persönliche Beziehungen, Familie, Staat, Moral, Recht, Religion, Kultur, Künste, Wissenschaft, ebenso wie Freude, Dankbarkeit, Pflicht, Mutterliebe, Freundschaft, Wahrheitssuche etc. sind nicht mehr das, was sie sein wollen, sondern der geistlose Ablauf eines im Gehirn niedergelegten evolutionär entstandenen Programms, leicht modifiziert und vervollständigt durch die Erfahrungen des Lebens.

    Es würde mich interessieren, ob Sie in Ihrem Alltag die gleiche Brille aufhaben, oder ob Sie quasi schizophren Ihre wissenschaftliche Position für den Alltag völlig ausblenden. Wenn jemand sich bei mir bedankt, dann könnte er mir gestohlen bleiben, wenn ich davon ausgehen müsste, dass da nur ein Programm abläuft, und dass eigentlich gar niemand „wirklich“ dankbar ist, und dass es eigentlich eh gar keine Personen gibt. Wie sehen Sie das?

    Wenn wir nicht „wissen“, welche Position die richtige ist, dann sollten wir uns keine aussuchen, in der wir uns selbst gar nicht wiedererkennen können. Wenn es tatsächliche Beweise für Determinismus gäbe, dann würden wir als Freunde der Wahrheit vielleicht zähneknirschend zugeben, dass wir uns in einer solchen Welt eben einrichten müssen. Aber davon sind wir weit entfernt.

    Ein größeres Rätsel als die Frage, ob der Determinismus wahr ist, ist für mich, warum Leute freiwillig diese Position übernehmen. Ich habe zwei vage Hypothesen, vielleicht können Sie mir helfen.

    Die erste lautet, dass man ihn gar nicht auf sich selbst anwendet, sondern sozusagen das einzige Subjekt in einer Welt reiner Objekte bleibt. (Selbstredend gibt sich diese Haltung keine Rechenschaft darüber).

    Die zweite lautet, dass sich die Vertreter für so tolle Burschen halten, dass es an ihnen ohnehin nichts zu verbessern gibt, und dann braucht man auch keine Freiheit.

    Gibt’s noch eine dritte?

    Ach ja, und noch eine Buchempfehlung: Eine teilweise recht bissige Kritik und Abrechnung eines Professors für Geriatrie und Neurowissenschaft an den Auswüchsen der „Neuromanie“:

    Raymond Tallis, Aping Mankind: Neuromania, Darwinitis and the Misrepresentation of Humanity, 2011 (www.acumenpublishing.com)

  186. @Chrys, Fegalo

    Interessante Beiträge – ja, aus der gegenwärtigen Unerklärbarkeit eines Phänomens können wir natürlich weder auf dessen prinzipielle Unerklärbarkeit schließen, noch darauf, dass ihm ein indeterministischer Prozess unterliegt; insoweit stimme ich Bunges Analyse zu.

    Umgekehrt halte ich es aber schon für berechtigt, diese zweigliedrige Gegenfrage zu stellen: (1) Wie viel scheinbarer Indeterminismus ist denn nötig, um vernünftigerweise davon auszugehen, dass die Welt indeterministisch ist? (2) Wie viel Beschränkung unserer deterministischen Modelle ist nötig, um davon auszugehen, dass dem untersuchten Phänomen kein deterministischer Prozess unterliegt?

    Wie ich nicht müde werde zu erwähnen: Die Welt erscheint uns auf förmlich jeder Ebene indeterministisch und auch die Versprechen der Deterministen, das Bezahlen und Durchführen von mehr Forschung und insbesondere das Sammeln von mehr Daten würde die Determinanten schon zutage fördern, haben sich bisher meines Erachtens nicht bewahrheitet (auch wenn es vielleicht eine gute Strategie war, um Fördergelder einzustreichen).

    Zumindest in der klinischen Neurowissenschaft geht diese Werbestrategie ja nun nicht mehr so einfach auf. Wir können den vollständigen Determinismus wohl aus prinzipiellen Gründen nicht beweisen, die Quantenmechanik liefert gewichtige Gründe für einen irreduziblen Indeterminismus, warum legen wir also den Determinismus als eine metaphysische Vorstellung, die eher ins 19. Jahrhundert gehört, nicht endlich ad acta?

  187. @Chrys

    »Dass Unvorhersagbarkeit aber auch als intrinsisches Feature auftritt, hat er [Bunge] jedenfalls seither verpasst.«

    Das wundert mich. Wo ihm doch quantenmechanische Phänomene vertraut sein dürften.

    »Die Frage liesse sich auch für Nematoden stellen, um zu beurteilen, wie aussichtsreich eine realistische Computer-Simulation des Wurms überhaupt sein kann, und warum man damit seit 20 Jahren nicht nennenswert vorankommt.«

    Wird an dieser Simulation denn mit einem vergleichbar großen Aufwand gearbeitet wie z.B in der Teilchenphysik? Wie viele Forscher sind beteiligt, welche Rechenkapazitäten stehen zur Verfügung?

    Mich wundert schon, dass die Funktion von so wenigen Neuronen (320, erinnere ich das richtig?) selbst mit den heutigen Großrechnern nicht simuliert werden kann.

    Ich denke nicht, dass “HBP” und “One Mind” typisch sind für die neurobiologische Forschung.

    Für mich ist z.B. Wolf Singer ein typischer „Neurodeterminist“. Und der sagt sinngemäß, je länger wir forschen und je mehr wir über das Gehirn herausfinden, desto komplizierter wird es, desto weiter scheint das Forschungsziel (umfassendes Gehirnwissen) in die Ferne zu rücken.

    Gewisse „Neurodeterministen“ mögen irren, aber nicht die gesamte Profession, wie Stephan hier suggeriert.

    In einem anderen Zusammenhang hat Stephan mal den Neurochirurgen Volker Surm erwähnt. Den würde ich ebenfalls als „Neurodeterministen“ bezeichnen, denn er sagt:

    »Nennen Sie es Seele oder Psyche: Was den Menschen ausmacht, ist das Ergebnis von zellulären, biochemischen und elektrischen Prozessen in den Neuronenschaltkreisen des Gehirns.«

    (Quelle: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2009/06/Titel-LT/komplettansicht)

  188. @Balanus: Korrektur

    Gewisse „Neurodeterministen“ mögen irren, aber nicht die gesamte Profession, wie Stephan hier suggeriert.

    Habe ich nie getan.

    Das Zitat Sturms wirkt tatsächlich neurodeterministisch (so wie bei Crick oder Gazzaniga: Person = Gehirn). Da wäre es philosophisch interessant, ihn nach der Vereinbarkeit dieser Ansicht mit bestimmten anderen seiner Aussagen über die menschliche Seele zu fragen.

    Das passt zu meinem generellen Eindruck, dass sich manche Naturforscher, v.a. die Neurodeterministen, eben nicht über die philosophische Bedeutung ihrer Aussagen bewusst sind.

    (Christoph Koch bezeichnet sich m.E. auch als Katholik, glaubt jedoch an keine Seele.)

  189. @ Stephan Schleim

    Ihr letzter Kommentar hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es doch noch eine dritten Grund geben könnte, warum man freiwillig (wenn auch immernoch selbstwidersprüchlich) einen Determinismus verteidigt: weil er nämlich unbegrenzten Fortschritt von Erkenntnis und Kontrolle als Versprechen im Gepäck führt, während ein Indeterminismus, da wo er zugestanden wird, prinzipielle Grenzen der Erkenntnis, und damit auch der Manipulierbarkeit der Welt impliziert.

    Allerdings verdrängen die Vertreter des Determinismus zu gerne, dass den theoretischen Vorteilen, die eine Position mit sich bringt, üblicherweise auch Kosten gegenüberstehen, wie ich oben anskizziert habe. Leider will man davon oft nichts wissen. Wenn die Kosten allerdings so hoch werden, dass sie einen antihumanen Umbau unseres gesamten Selbstverständnisses erfordern, wird es bedenklich.

    Da hier Bunge erwähnt wird: Sein Buch „Über die Natur der Dinge“ ist zwar begrüßenswert als eine kohärente Bekenntnisschrift eines rigorosen Materialisten, dabei aber von genau diesem antihumanen Geist durchweht, in dem bewusstes menschliches Leben und Treiben als komplette Selbsttäuschung über seinen wahren, mechanisch-nihilistischen Hintergrund aufgefasst wird.

    Eine solche Position, die in einen materialistischen Determinismus geradezu eingebaut ist, ist natürlich niemals mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu stützen, sondern entspringt anderen, weltanschaulichen Quellen.

    Indeterminismus ließe sich vielleicht einteilen in einen naturalistischen, der echten Zufall mit einschließt, und einen, der zugesteht, dass wir mit den Mitteln der Physik die Bestandteile und Agentien der Welt prinzipiell nicht vollständig abbilden können. Letzterer, dem ich zuneige, und der zum Beispiel auch in vielen gesellschaftlich relevanten Grundüberzeugungen implizit enthalten ist (z.B. Bereiche des Rechts, der Kunst, der Religion), ermöglicht erst, dass wir die Specifica Humana überhaupt beim Wort und ernst nehmen.

    Und solange der Determinismus nicht liefert, bleibt er meiner Ansicht nach ein „freak philosophy“.

  190. @Stephan, Balanus

    »(1) Wie viel scheinbarer Indeterminismus ist denn nötig, um vernünftigerweise davon auszugehen, dass die Welt indeterministisch ist? (2) Wie viel Beschränkung unserer deterministischen Modelle ist nötig, um davon auszugehen, dass dem untersuchten Phänomen kein deterministischer Prozess unterliegt?«

    Für die empirischen Wissenschaften könnte die generische Antwort lauten, dass sich stets sowohl deterministische wie indeterministische Modelle finden lassen, die gleichwertig sind hinsichtlich ihrer empirischen Veri-/Falsifizierbarkeit. Als einen interessanten Lichtblick und Schritt in die richtige Richtung sehe ich da die PhD Thesis von Charlotte Werndl, die ich hier nochmals verlinke [Download Page], sie setzt sich mit derlei Fragen auseinander. Aus der Einleitung, p.11:

    First, unpredictability is a crucial philosophical theme be cause we want to be aware of the limitations of our predictions, and chaos research contributes to our understanding of the kinds of unpredictability scientists can encounter. […] Third, the question of whether the world is deterministic or indeterministic has always been a topic of philosophical debate. And chaos research provides new insights about how deterministic behaviour compares to indeterministic behaviour. […] This dissertation will mainly contribute to our understanding of unpredictability and the topic of whether phenomena are deterministic or indeterministic, that is, the first and the third point, …

    Einen Eindruck, worauf das hinausläuft, erhält man aus Einleitung und Zusammenfassung (dazwischen wird es reichlich abstrakt).

    Aber hier nochmals Bunge (Foundations of Physics, Springer, 1967, p.81):

    The claim that nature is irreducibly random, on the strength that QM is so, presupposes that QM is a final, infallible theory. It is as dogmatic a claim as its negate, classical determinism. Both are ontological hypotheses which may never be conclusively established or disproved.

    Was mir dabei einzig missfällt, ist die Flucht in die Ontologie. Es reicht völlig, wenn wir das alles als Eigenschaften unserer modellhaften Beschreibungen sehen und damit im epistemischen Sektor bleiben.

    @Balanus: »Mich wundert schon, dass die Funktion von so wenigen Neuronen (320, erinnere ich das richtig?) selbst mit den heutigen Großrechnern nicht simuliert werden kann.«

    Beim hermaphroditischen C. elegans sind es 302 Neuronen. Das liegt keineswegs jenseits der verfügbaren Computing Power. Die Struktur der neuralen Vernetzung ist seit 1986 vollständig bekannt [The Structure of the Nervous System of the Nematode Caenorhabditis elegans], vgl. auch den HBP Report to the European Comission:

    Even in C. elegans – the only species whose neuronal circuitry has been completed deciphered – we are still missing essential information, such as data on neural morphologies.

    Na, das sind ja tolle Aussichten. Aber vielleicht sind die Wurmforscher allesamt Trottel, und Henry Markram zeigt denen jetzt, wie man so was macht?

  191. @fegalo: Des Rätsels Lösung

    “Ein größeres Rätsel als die Frage, ob der Determinismus wahr ist, ist für mich, warum Leute freiwillig diese Position übernehmen. Ich habe zwei vage Hypothesen […] Gibt’s noch eine dritte?”

    Ja!

    Leute die das glauben, machen das nicht freiwillig, es ist in ihnen von Anbeginn angelegt gewesen. Gemachte Erfahrungen bringen sie dann endgültig auf diesen Weg. Diese Leute sind so determiniert.

    Sie selbst sind halt anders veranlagt – aber auch determiniert.

    Gruß vom Freak.

  192. @fegalo: Erkenntnisgrenze

    “[….] weil er [der Determinismus] nämlich unbegrenzten Fortschritt von Erkenntnis und Kontrolle als Versprechen im Gepäck führt, während ein Indeterminismus, da wo er zugestanden wird, prinzipielle Grenzen der Erkenntnis, und damit auch der Manipulierbarkeit der Welt impliziert

    Es ist (auch) der Determinismus, der prinzipielle Grenzen der Erkenntnis im Gepäck hat.

    Selbst Stephan Schleim hat ja “schon oft genug sauber zwischen metaphysischer (Determinismus) und epistemischer (Wissen, Vorhersage) Ebene getrennt”

    (Oft genug leider auch nicht)

  193. @Balanus

    Hier ist ein vielleicht noch informativer Artikel, “Understanding the mind of a worm” [PDF].

    The fact that only ~ 300 neurons seem to be enough for an organism to survive in the wild has been a particular challenge to scientists involved in modeling the brain/mind, who have struggled to simulate individual aspects of mental activity, e.g., memory, using many thousands of model neurons (Hertz et al., 1991). It seems there is little hope of understanding how the much more complicated human brain works, until we can explain the behavior of C. elegans in terms of its neural network dynamics.

    Dem letzten Satz lässt sich schwerlich widersprechen.

  194. @Chrys /Wurmforscher

    Danke für den Link zum PDF 🙂

    Das Zitat geht folgendermaßen weiter:

    This is especially so because the complexity of behavior of an organism appears to be related to the complexity of its nervous system. Here behavior refers to the set of actions or reactions in relation to the environment, allowing adaptation to various external stimuli.

    Damit outen sich die Autoren als „Neurodeterministen“ reinsten Wassers. Was bedeutet das nun für die Relevanz ihrer Aussagen?


    Eine kurze Literaturrecherche mit den Stichwörtern C. elegans, neuron* und simulation* ergab 20 Treffer.

    Demgegenüber erbrachte „Higgs boson“ im Titel fast 2000 Treffer.

    Ich habe mal in eine jüngere Wurm-Computer-Arbeit reingeschaut (Bailey et al 2011. Behavioral simulation and synthesis of biological neuron systems using synthesizable VHDL. Neurocomputing 74:2392-2406), um einen kleinen Eindruck von den Schwierigkeiten der Verhaltens-Simulationen bei C. elegans zu bekommen.

    Die Einleitung beginnt mit den Worten:

    The investigation of neuron structures is a difficult and complex task that can yield relatively low rewards in terms of underlying system level function. The structure and connectivity of even the simplest invertebrates is extremely difficult to establish with standard laboratory techniques and is typically time consuming, complex and expensive.

    Dass es möglicherweise doch auch an Computer-Power mangeln könnte, ergibt sich aus folgender Aussage aus dem Abstract:

    However, there exists a trade-off between biological accuracy and simulation time with the most realistic results requiring extensive computation.

    Vielleicht wird ja doch zu wenig in diese Forschung investiert?

    Quelle: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0925231211001913

  195. @fegalo

    Wenn wir eine Maschine besäßen, die in Struktur und Funktion Mozarts Gehirn perfekt gleichen würde, dann müsste sie in der Tat „endlos Mozart-Symphonien ausspucken“ können. Ich wüsste nicht, was dagegen spräche (außer der fehlenden Inspiration durch das reale Leben – das müsste dann ebenfalls simuliert werden).

    »Könnten wir aus Theodor Mommsens Gehirn die von ihm nicht mehr verfasste Geschichte des römischen Kaiserreichs herausholen? «

    Wohl kaum, wir wüssten nur, was Mommsen darüber wusste.

    »Sie geben zu, dass Sie „so tun“, als wäre der Determinismus wahr. Dabei verleugnen Sie, welch inhumane Konsequenzen diese Position hat.«

    „Verleugnen“ tue ich da gar nichts, denn ich sehe keine inhumanen Konsequenzen. Ich bin also allenfalls blind für solche Folgerungen.

    Der physikalische bzw. kausale Determinismus, um den es hier geht, ist ja keine Ausgeburt der Hölle, sondern eine Idee, die seinerzeit irgendwelche klugen Leute gehabt haben.

    Außerdem bin ich beileibe nicht der Einzige, der so tut, als sei der Determinismus wahr. Alle tun das, auch Sie.

    Kein Mensch kann Gedanken lesen. Wenn wir wissen wollen, was ein anderer denkt oder fühlt, sind wir auf seine Verhaltensäußerungen angewiesen. Wir setzen einfach voraus, dass seine Äußerungen mit seinen Gedanken übereinstimmen, dass sein Verhalten (Körpersprache) Ausdruck seines Befindens ist, kurz, dass sein Gehirn sein Verhalten determiniert.

    Gleichzeitig wissen wir, dass wir getäuscht werden können. Wenn ein Mensch auf der Theaterbühne weint oder lacht, dann bewerten wir das anders, als wenn er es im alltäglichen Kontext tut.

    »Persönliche Beziehungen, Familie, Staat, Moral, Recht, Religion, Kultur, Künste, Wissenschaft, ebenso wie Freude, Dankbarkeit, Pflicht, Mutterliebe, Freundschaft, Wahrheitssuche etc…. «

    …sind alles spezielle Leistungen und/oder Konstruktionen unseres Gehirns.

    Zu Ihren Hypothesen, warum Leute freiwillig den (physikalischen) Determinismus für wahr halten:

    »Die erste lautet, dass man ihn gar nicht auf sich selbst anwendet, sondern sozusagen das einzige Subjekt in einer Welt reiner Objekte bleibt. (Selbstredend gibt sich diese Haltung keine Rechenschaft darüber). «

    Für jedes Subjekt gilt das Prinzip der Selbstbestimmung (Selbstdetermination). Man kann aber auch Subjekte als Objekte sehen, ist lediglich eine Frage der Perspektive.

    »Die zweite lautet, dass sich die Vertreter für so tolle Burschen halten, dass es an ihnen ohnehin nichts zu verbessern gibt, und dann braucht man auch keine Freiheit. «

    Freiheit bedeutet Selbstbestimmung.

    »Gibt’s noch eine dritte? «

    Die Position eines durchgängigen Indeterminismus ist sehr viel schwieriger zu vertreten. Wenn die indeterministischen Mikroprozesse sich nicht zu deterministischen Makroprozessen aufsummierten, sähe es schlecht aus für eine geordnete, wohl strukturierte Umwelt. Nichts wäre berechenbar. Es herrschte das indeterministische Chaos.

    Ein Huhn legt immer die gleichen Hühnereier. Ein frisches Hühnerei ist immer nach fünf Minuten Kochzeit hart (zumindest bei normalem Luftdruck). Das alles sind Evidenzen für einen physikalischen Determinismus. Dass bei genauerem Hinsehen kein Ei dem anderen wirklich gleicht und dass beim Kochen auf der atomaren Ebene indeterministische Prozesse ablaufen, braucht uns im Alltag nicht zu kümmern.

    Der Determinismus geht nicht auf Kosten der Humanität. Das ist ein fundamentales Missverständnis. Der Determinismus bringt eine gewisse Verlässlichkeit in die Welt, und was könnten wir uns mehr wünschen, als über unser Handeln selbst zu bestimmen?

  196. Chemie

    Es kann keine Maschine geben, welche ein Gehirn nachahmen kann.
    Organische biochemische Reaktionen sind nicht auf anorganischer Basis reproduzierbar – chemische bzw. physikalische Gesetze erlauben dies nicht.
    Damit stellt sich die theoretische Frage erst gar nicht, ob/wie man Mozart´s Gehirn nachbauen könnte

  197. @fegalo: Psychologie des Determinismus

    …weil er nämlich unbegrenzten Fortschritt von Erkenntnis und Kontrolle als Versprechen im Gepäck führt, während ein Indeterminismus, da wo er zugestanden wird, prinzipielle Grenzen der Erkenntnis, und damit auch der Manipulierbarkeit der Welt impliziert.

    Dass dies eben ein ziemlich blauäugiges Versprechen ist, darauf verweist nicht nur der Wurm, sondern beispielsweise auch eine monogene Erkrankung wie Chorea Huntington. Auf dieses kritische, von Carsten Könneker geleitete Interview zum Versprechen der personalisierten Medizin mit Hans Lehrach und Urban Wiesing hatte ich vorher schon einmal verweisen.

    In der biologischen Psychiatrie verspricht man ja immer: Wenn wir nur genüngend über z.B. die genischen Ursachen wissen, dann können wir neue Medikamente entwickeln. Bei Chorea Huntington weiß man recht viel über das Gen, welches das entstehen der Krankheit womöglich vollständig determiniert, kann diese Kenntnis meines Wissens aber noch lange nicht in eine Therapie umsetzen.

    Ich würde dem Neurodeterministen seine naive Spielwiese ja gönnen, würde das nicht implizieren, dass andere Forschung, die womöglich einen größeren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen besitzt, zugunsten des versprechenden – man könnte nach Popper auch sagen: Schuldschein- – Determinismus nicht erforscht werden kann.

    Als ich 2006 mit meiner Arbeit an der UK Bonn anfing, hatte man den früheren Lehrstuhl für Soziale Psychiatrie gerade durch einen für Mäusegenetik ersetzt. Mir wäre nicht bekannt, dass man Patienten der Psychiatrie schon einmal nachweislich durch diese Arbeit an genetisch veränderten Mäusen geholfen hätte, während beispielsweise der soziale Dienst in der psychiatrischen Behandlung unerlässlich ist – sofern man nicht will, dass die Patienten gleich nach der Entlassung wieder kommen (was in gewisser Weise ja “gut fürs Geschäft” ist).

  198. @ Balanus

    „Ich wüsste nicht, was dagegen spräche…“

    Ich hatte gehofft, auch Ihnen wären diese Folgerungen zu absurd. Ich habe mich geirrt.

    „Wenn wir wissen wollen, was ein anderer denkt oder fühlt, sind wir auf seine Verhaltensäußerungen angewiesen. Wir setzen einfach voraus, dass (…) sein Gehirn sein Verhalten determiniert“.

    Das stimmt ja nicht. Wir setzen mitnichten voraus, dass sein Gehirn irgendetwas determiniert, sondern dass er schlicht seinen Intentionen, Gedanken und Emotionen Ausdruck verleiht.

    Wenn ich mir jetzt eine Antwort zu Ihrem Kommentar überlege, dann beziehe ich (=>mens) mich auf den Inhalt desselben, und zwar untersuche ich diesen anhand meines Repertoires an Wissen, Überzeugungen und Annahmen (alles mental), wobei ich mir über den jeweiligen Status (Wissen, Annahme etc.) meiner eigenen Propositionen möglichst klar Rechenschaft gebe. Ferner bewege ich mich im Rahmen freiwillig akzeptierter Normen, wozu der Bezug auf eine Basis des gemeinsam Zugestandenen gehört, die Akzeptanz der Regeln logischen Argumentierens und anderes mehr. Allein in Hinsicht auf dieses freiwillige Einhalten von Normen habe ich nicht die geringste Ahnung, wie man hier noch Hirndeterminismus einbauen könnte. Wenn Sie ein hartes Argument vorbringen könnten, dann würde ich meine Meinung ändern, aber doch nicht deswegen, weil Ihr Gehirn mein Gehirn determinieren würde, sondern weil ich vorher freiwillig die Spielregeln des rationalen Diskurses akzeptiert habe. Auch hier ist mir bewusst, dass ich den Vertrag damit jederzeit kündigen kann, um beispielsweise ein religiöser Schwärmer zu werden usf.

    Noch ein Beispiel: Wenn ich vor einem Bild stehe – sagen wir ein klassisches Landschaftsbild von Claude Lorrain – dann ist das, was ich sehe, nicht das Ergebnis eines Reizes, den mein Gehirn zwangsverarbeitet nach dem in ihm bereit liegenden Programm, sondern ich habe die Möglichkeit, absichtlich auf bestimmte Strukturen zu fokussieren oder diese auszublenden. So kann ich mich zum Beispiel ganz allein auf die Kalt-Warm-Kontraste der Farben konzentrieren, und diese dann auch deutlich wahrnehmen, während ich gleichzeitig vom Bildinhalt komplett abstrahiere. Und im nächsten Augenblick etwas anderes. Das heißt: das was mein Wahrnehmungsapparat „verarbeitet“ wird durch meine Intention gesteuert, durch meine absichtliche Suche nach einer bestimmten Information etc. Natürlich können Sie jetzt behaupten, meine Entscheidungen für diese oder jene Suche seien auch wieder determiniert usw. ad infinitum, aber könnten Sie jenseits einer Beteuerung auch dafür argumentieren?

    „Die Position eines durchgängigen Indeterminismus…“

    …wird von niemandem vertreten. Schließlich bestreitet niemand die Existenz von Naturgesetzen. Ob es auf der Ebene der Quanten Indeterminismus gibt, ist an dieser Stelle unerheblich.

    Ein Huhn legt deswegen immer die gleichen Eier, weil es so gebaut ist, dass es eine bestimmte Art von Eiern legt. Es legt Eier, weil es ein Lebewesen ist. Leben ist aber keine deterministische Folge irgendwelcher Naturgesetze. Dies dennoch zu behaupten, wäre eben nichts als das: eine bloße Behauptung, welche noch die Schwierigkeit hat, die physikalischen Prozesse nicht angeben zu können, welche zur Entstehung des Lebens führen. Auch hier gilt wieder: Der Materialismus darf nicht immer nur behaupten, er muss auch liefern. Aber wie eigentlich stets, wenn es interessant wird, tut er es nicht!

    Der Feststellung, dass das Leben keine Folge von Naturgesetzen ist, widerspricht nicht die Beobachtung, dass auf der physischen Ebene der Lebewesen alles gemäß den bekannten Naturgesetzen abläuft. Nur das Lebendigsein selbst mit seinen typischen Äußerungsformen des Wachsens, Fortpflanzens, Wahrnehmens und auch Denkens ist kein Ausfluss irgendwelcher Naturgesetze. Und darum stellt sich die Frage des Determinismus/Indeterminismus auch nicht im Hinblick auf Planetenbahnen im Sonnensystem, sondern in Hinblick auf lebendige Äußerungen, zum Beispiel Willensbekundungen. Erst hier geht es um die Frage: Determinismus oder nicht.

    „Der Determinismus geht nicht auf Kosten der Humanität.“

    Ich glaube Ihnen, dass Sie den Determinismus nicht so verstanden wissen wollen. Allerdings ist diese „In-„ (oder besser: „Anti-„)humanität eine logische Folge des Determinismus, nicht das Ergebnis des Wollens oder Nichtwollens seitens seiner Vertreter. Wenn gewisse Neurodeterministen den Verbrecher als hilflose Durchlaufstation von Kausalprozessen definieren und damit von Schuld, Verantwortung, Einsicht etc. und freisprechen, dann geht die Tür auf für die Abschaffung sämtlicher kultureller Errungenschaften. Die menschliche Lebenswelt zeichnet sich dadurch aus, dass sie in ihrem Selbstverständnis eine Emanzipation von den rein animalischen Abläufen ist, und der zentrale Begriff dazu heißt „Freiheit“. Und noch viel mehr ist sie eine Emanzipation von rein physikalischen Abläufen.

  199. @ Freak

    Es ist also so:

    Deterministen sind richtig determiniert, Indeterministen dagegen falsch.
    Verstanden.

  200. @Balanus

    »Damit outen sich die Autoren als „Neurodeterministen“ reinsten Wassers.«

    Aha, und woran erkenne ich das? Gelten unter Biologen die Ausdrücke “appears to be related to” und “is exclusively determined by” als synonym?

    Wenn ich es richtig sehe, haben Bailey et al. eine spezielle Library zur Modellierung von Neuronen entwickelt, die softwareseitig eine um einen Faktor ca. 20 verbesserte Performance bringt in einer Simulation der 80 Neuronen, mit denen C. elegans seine Fortbewegung koordiniert. Mehr Performance ist immer vorteilhaft. Wenn man aber nur das ändert, macht man noch immer die gleichen Fehler wie zuvor — nur schneller.

  201. @Chrys

    »Gelten unter Biologen die Ausdrücke “appears to be related to” und “is exclusively determined by” als synonym?«

    Das erste ist scientifically correct, das zweite wäre die unausgesprochene Überzeugung, die dahinter stehen könnte.

    In dem Zitat würde „is exclusively determined by” aber auch keinen rechten Sinn ergeben. Wichtiger war mir ohnehin der zweite Satz des Zitats:

    Here behavior refers to the set of actions or reactions in relation to the environment, allowing adaptation to various external stimuli.

    Reactions in relation to the environment”, und nicht “interactions with…”.

  202. @Balanus

    Die gegebene Spezifizierung von Verhalten (“Here behavior refers to the set of actions or reactions in relation to the environment, allowing adaptation to various external stimuli.”) lässt sich wortgetreu auch übernehmen für Organismen, die unzweifelhaft nicht “neurodeterminiert” sind, z.B. Myxomyceten.

    Eine unausgesprochene neurodeterministische Überzeugung der Autoren kann ich da nicht herauslesen. Aber ganz unabhängig davon, viel signifikanter ist die im Satz davor gegebene Einschätzung,

    It seems there is little hope of understanding how the much more complicated human brain works, until we can explain the behavior of C. elegans in terms of its neural network dynamics.

    Mit mehr Vernunft als Grössenwahn wäre ein “Worm Brain Project” vorstellbar, um erst einmal beim Wurm herauszufinden, ob die phantastischen Hoffnungen der Forscher auf das Machbare überhaupt realistisch sind. Sollte das erfolgreich gelingen, kann man immer noch das Budget aufstocken und im grossen Stil weitermachen. Andernfalls sollte man die Angelegenheit vergessen und sich vielleicht methodisch etwas Neues einfallen lassen.

  203. @fegalo: Humane Logik

    “Allerdings ist diese „In-„ (oder besser: „Anti-„)humanität eine logische Folge des Determinismus, […]”

    “[…], dann geht die Tür auf für die Abschaffung sämtlicher kultureller Errungenschaften.”

    Ich gewinne langsam die Überzeugung, sie wollen mir meinen Glauben einfach schlecht reden. Wie bitte wollen sie aus einem Sein oder Nichtsein, egal ob Determinismus, Indeterminismus oder der Existenz Gottes, logisch schließen welche humanitären Folgen das hätte?

    Aus der Prämisse 1, der Determinismus ist wahr, folgt logisch zumindest erst mal gar nichts. Zum logischen Schließen muss noch eine weitere Prämisse her, die den Determinismus mit etwas anderem verbindet, hier mit Schuld und Verantwortung. Also z.B. Prämisse 2: Wenn der Determinismus zutrifft, dann gibt es keine persönliche Schuld. Diese zweite und alle ähnlichen Prämissen halte ich für falsch. Sie fegalo sind es, der diese Ansicht mit einigen Neurodeterministen teilt, wie Roth und Konsorten. Sie alle könnten sich aber irren, bezüglich dessen, was genau Schuld und Verantwortung ist.

    Vergleichen Sie das mit dem Feuer. Hitze, Helligkeit und Verbranntes gibt es, ganz ohne das Phlogiston. So ist das auch mit der Humanität. Persönliche Beziehungen, Familie, Staat, Moral, Recht, Religion, Kultur, Künste, Wissenschaft, ebenso wie Freude, Dankbarkeit, Pflicht, Mutterliebe, Freundschaft, Wahrheitssuche etc. gibt es auch ohne eine metaphysische Freiheit. Sie sind nur nicht mehr das, was sie – ihrer Meinung nach – sein sollen. (Und meiner Meinung nach sind sie schon gar nicht das, was Balanus meint, “spezielle Leistungen und/oder Konstruktionen unseres Gehirns”.)

    Tür zu!

    Es gab mal eine Zeit, da hatten die Menschen Angst, wenn die Erde nicht im Mittelpunkt der Welt stehen würde, und damit sie selbst auch nicht mehr, dann wäre alles ganz furchtbar und schrecklich. Nun glauben heute ja nur noch wenige an ein geozentrisches Weltbild, aber die schlimmsten Befürchtungen sind ausgeblieben. Und ich vermute stark, auch wenn viele Menschen einmal an den Determinismus glauben, werden wir uns weiterhin human verhalten, gegenseitig loben und tadeln, belohnen und bestrafen oder einfach weiterbügeln.

  204. @ Joker

    „Wie bitte wollen sie aus einem Sein oder Nichtsein, egal ob Determinismus, Indeterminismus oder der Existenz Gottes, logisch schließen welche humanitären Folgen das hätte?“

    Ich schrieb nichts von humanitären Folgen, sondern von logischen Folgen des Determinismus für unser Selbstbild als Menschen. Welche humanitären das hat, hängt davon ab, inwieweit solche Überzeugungen in der Gesellschaft Fuß fassen. Dass ein ideologisches Menschenbild (unter dem Deckmantel der Wissenschaft) humanitäre Folgen haben kann, dafür liefern die Geschichte des Marxismus und Kommunismus ausreichend Beispiele.

    „Aus der Prämisse 1, der Determinismus ist wahr, folgt logisch zumindest erst mal gar nichts.“

    Das haben Sie an anderer Stelle schon einmal behauptet, aber es bleibt falsch. Denn natürlich folgte etwas aus der Wahrheit des Determinismus. Zum Beispiel, dass das Verhalten von Menschen über die (materiellen) Determinanten manipulierbar wäre. Und zwar theoretisch komplett. Was aus so einer Auffassung heraus für Projekte ersonnen würden, überlasse ich Ihrer Phantasie. Betroffen wären jedenfalls mindestens die Bereiche des Rechts (da fängt man ja schon an), der Pädagogik und der Sozialpolitik.

    „Prämisse 2: Wenn der Determinismus zutrifft, dann gibt es keine persönliche Schuld.“

    Ihre Prämisse 2 ist keine Prämisse, sondern bereits Folge. Natürlich dann, wenn wir die Begriffe Schuld und Verantwortung im Rahmen einer „Alltagsmetaphysik“ betrachten. Nun sind Delinquenten, Richter und Pädagogen allerdings brettharte Alltagsmetaphysiker und werden es auch bleiben. Allzu sehr können die Leute aber auch gar nicht irren, denn beides bleibt gebunden an ein persönliches Gefühl, das sie haben (oder im Falle des Delinquenten manchmal auch nicht).

    „Persönliche Beziehungen, Familie, Staat, Moral, Recht, Religion, Kultur, Künste, Wissenschaft, ebenso wie Freude, Dankbarkeit, Pflicht, Mutterliebe, Freundschaft, Wahrheitssuche etc. gibt es auch ohne eine metaphysische Freiheit. Sie sind nur nicht mehr das, was sie – ihrer Meinung nach – sein sollen.“

    Hier geben Sie ja selbst zu, dass der Determinismus nicht folgenlos ist. Es ist übrigens nicht nur meine Privatmeinung, sondern die Idee der metaphysischen Freiheit ist in einige dieser Institutionen regelrecht eingebaut. Sie geben ja hier auch zu, dass wir dann an unser Verständnis von Schuld und Verantwortung herangehen müssten. Sind das keine Folgen? Können Sie garantieren, dass die Gesellschaft dadurch besser wird? Ich bin ziemlich sicher, dass das Gegenteil der Fall wäre.

    „Und ich vermute stark, auch wenn viele Menschen einmal an den Determinismus glauben, werden wir uns weiterhin human verhalten, gegenseitig loben und tadeln, belohnen und bestrafen oder einfach weiterbügeln.“

    Das vermute ich auch, denn Menschen werden sich immer verhalten, wie Menschen sich eben verhalten, ob sie sich selbst nun richtig oder falsch deuten. Allerdings wären sie schizophren, außer beim Bügeln.

    Es geht doch hier auch um die Kohärenz unseres Selbstverständnisses. Was ist das denn für eine verschrobene Sichtweise, dass unser ganzes Sozialleben gar nicht so ist, wie es scheint, sondern ein bloßes „just goin‘ through the motions“. Und dann auch noch dafür zu plädieren, einfach weiter zu machen.

    Insofern haben Sie recht: Ja, ich will Ihnen Ihren Glauben schlechtreden.

  205. @fegalo

    »Ich hatte gehofft, auch Ihnen wären diese Folgerungen zu absurd.«

    Warum?

    »Wir setzen mitnichten voraus, dass sein Gehirn irgendetwas determiniert, sondern dass er schlicht seinen Intentionen, Gedanken und Emotionen Ausdruck verleiht.«

    „Intentionen, Gedanken und Emotionen“ sind was? Mentale Zustände? Wenn ja, worauf basieren sie? Sind sie Folge oder Ursache von neuronalen Aktivitäten?

    Was ich wissen will: Auf welcher Grundlage diskutieren wir hier eigentlich?

    »Leben ist aber keine deterministische Folge irgendwelcher Naturgesetze.«

    Sondern?

    Die naturgesetzliche Entstehung des Lebens war sicherlich nicht zwingend, nicht vorprogrammiert, aber unter den gegebenen Bedingungen offenbar möglich. Für das Mitwirken nicht-materieller Phänomene oder Kräfte gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Damit lassen sich die bestehenden Wissenslücken über die Enstehung des Lebens nicht sinnvoll schließen.

    Warum soll man Leben bzw. das „Lebendigsein“ nicht als eine emergente Eigenschaft selbstorganisierender, selbsterhaltender, dynamischer Systeme betrachten dürfen? Was wäre denn die Alternative?

    »Erst hier [in Hinblick auf lebendige Äußerungen, zum Beispiel Willensbekundungen] geht es um die Frage: Determinismus oder nicht.«

    Ich habe das starke Gefühl, Sie verbinden den physikalischen Determinismus mit einem festgeschriebenen Ablauf sämtlicher Hirnaktivitäten, allenfalls leicht moduliert durch Umwelteinflüsse. Nun, für den Nematoden C. elegans mag das zutreffen. Aber komplexere Nervensysteme wie das unsere haben unendlich viel mehr Freiheitsgrade. Durch die Art der neuronalen Verknüpfungen und Interaktionen ist offenbar all das möglich, was Sie als Widerlegung des Determinismus ansehen (z. B. Kreativität, Handlungsfreiheit).

  206. @Joker

    »Persönliche Beziehungen, Familie, Staat, Moral, Recht, Religion, Kultur, Künste, Wissenschaft, ebenso wie Freude, Dankbarkeit, Pflicht, Mutterliebe, Freundschaft, Wahrheitssuche etc. gibt es auch ohne eine metaphysische Freiheit.«

    Aber nicht ohne ein funktionierendes Nervensystem.

  207. @fegalo: Zur besseren Gesellschaft

    “Hier geben Sie ja selbst zu, dass der Determinismus nicht folgenlos ist.”

    Sie konstruieren hier einen scheinbaren Widerspruch aus der Mehrdeutigkeit des Folgen-Begriffs. Es ist zu unterscheiden zwischen a) logischen Folgerungen, b) kausalen Folgen

    Zu a)
    Aus der Prämisse 1 alleine, der Determinismus ist wahr, ließen sich logisch nur semantisch uninteressante Ableitungen folgern, wie K1: Es ist wahr, dass der Determinismus wahr ist; oder K2: Der Determinismus ist nicht falsch.

    Zu b)
    Wenn jemand, der bisher den Determinismus für falsch hielt, ihn jetzt für richtig hält, dann hat das sowohl Ursachen als auch kausale Folgen. Eine der Folgen wird es sein, dass er über Begriffe nachdenkt, die von metaphysischen Hintergrundannahmen abhängig sind und diese, falls nötig, neu interpretiert.

    “die Idee der metaphysischen Freiheit ist in einige dieser Institutionen regelrecht eingebaut”

    Was von uns eingebaut wurde, kann auch von uns wieder ausgebaut werden (siehe Phlogiston)

    “Können Sie garantieren, dass die Gesellschaft dadurch besser wird?”

    Als epistemisch beschränktes Wesen, als das ich mich begreife, kann ich Ihnen leider keinerlei Garantien über zukünftige Gesellschaftszustände geben. Vielleicht kann ich Sie aber beruhigen, indem ich Ihnen versichere, dass ich eine sozialverträgliche Person bin, die in die Gesellschaft gut integriert ist. Ich fühle mich für mein Verhalten verantwortlich und sehe mich, fundiert durch meine Philosophie, auch theoretisch in der Verantwortung für meine Handlungen. Eine Schizophrenie wurde bei mir bisher nicht diagnostiziert.

    In der Literatur finden Sie unter dem Stichwort “Semikompatibilismus” einige ausführende Gedanken, die sich teilweise mit meinen überschneiden. (Ich wollte diesen Begriff eigentlich vermeiden, er erzeugt bei mir immer die Assoziation von “Halbwahrheit” und “Halbhirn” , aber sei´s drum.)

    Für die gesellschaftliche Entwicklung ist es tatsächlich unwichtig ob der Determinismus wahr ist oder falsch. Entscheidenden Einfluss hat möglicherweise schon der zunehmende Glaube, dass er zutreffend ist. Daher halte ich es auch für wenig hilfreich den Determinismus zu verteufeln, und ihn mit Verantwortungslosigkeit zu paaren, solange es plausible Argumente gibt, die nahelegen, dass der Zusammenhang gar nicht so eng ist, wie er zunächst erscheint. Der Glaube an die eigene Verantwortungslosigkeit zieht vermutlich verantwortungsloses Handeln nach sich.

    Vielleicht überprüfen Sie diesbezüglich noch mal ihre eigene Position. Sie müssten dem Determinismus gar nicht zustimmen, Sie müssten sich nur auf ein Gedankenexperiment einlassen, was wäre wenn er war wäre, und Argumente neu abwägen. (Eine Lektüre in der das Thema angeschnitten wird, die ich empfehlen kann: Freiheit und Verantwortung; Ulrich Pothast). Helfen Sie den Zusammenhalt in der Gemeinschaft zu stärken. Eventuell wäre sogar eine Notlüge erlaubt, was meinen Sie? Die Gesellschaft könnte es Ihnen Danken, auch Indeterministen tragen Verantwortung.

  208. @Joker: Exkurs in Logik

    Aus der Prämisse 1, der Determinismus ist wahr, folgt logisch zumindest erst mal gar nichts.

    Also ich denke schon, dass daraus logisch etwas folgt, beispielsweise:

    (1) Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest. (Irre ich mich, wenn ich das übrigens in beide zeitliche Richtungen lese?)

    (2) Der Indeterminismus ist unwahr.

    Grüße von Ihrem Korinthenkacker. 🙂

  209. @fegalo: nicht zwingend

    Das haben Sie an anderer Stelle schon einmal behauptet, aber es bleibt falsch. Denn natürlich folgte etwas aus der Wahrheit des Determinismus. Zum Beispiel, dass das Verhalten von Menschen über die (materiellen) Determinanten manipulierbar wäre. Und zwar theoretisch komplett. Was aus so einer Auffassung heraus für Projekte ersonnen würden, überlasse ich Ihrer Phantasie. Betroffen wären jedenfalls mindestens die Bereiche des Rechts (da fängt man ja schon an), der Pädagogik und der Sozialpolitik.

    Dem stimme ich nicht ganz zu. Dass wir Verhalten von Menschen durch Eingriffe z.B. ins Gehirn oder andere Körperteile beeinflussen können, das wissen wir schon lange (schreibe ich mit einem Glas japanischen Biers neben meinem Laptop), dafür brauchen wir keinen Determinismus (auch wenn uns manche Neurodeterministen diese triviale Kenntnis natürlich als neue Erkenntnis verkaufen und so tun, als wäre es das Ende der Welt, wenn dies ein indeterministisches Universum wäre).

    Ferner folgt aus der Wahrheit des Determinismus (also der metaphysischen These) noch lange nicht, dass wir den jeweiligen Gesamtzustand auch wirklich wissen können (epistemisch).

    Schließlich, selbst wenn die metaphysische wie auch die epistemische These war wäre, hieße auch das noch lange nicht, dass entsprechende Manipulationsversuche technisch möglich sind (ich erinnere noch einmal an mein Beispiel mit Chorea Huntington).

    P.S. Dass das Recht nicht zwingend auf das Konstrukt der Willensfreiheit angewiesen ist, wurde immer wieder vertreten; siehe dazu z.B. auch den Beitrag Klaus Günthers “Die naturalistische Herausforderung des Schuldstrafrechts” in unserem Sammelband “Von der Neuroethik zum Neurorecht”.

  210. @ Stephan Schleim

    Das Vertrackte und auch Faszinierende an diesem Fragenkomplex ist doch, dass niemand eine Beeinflussbarkeit des Mentalen durch die Physis bestreiten kann oder will (das schreibe ich neben einem Glas Neuseeländer Sauvignon Blanc), wir aber (außer Balanus) notorisch unfähig sind, die Art der Abhängigkeit und des Verhältnisses insgesamt innerhalb einer Theorie zu fassen. Es gelingt bislang nicht einmal, festzustellen, ob „Mentales“ Substanz oder Eigenschaft ist oder ob diese Kategorien insgesamt vollkommen an der Sache vorbeigehen.

    Ich habe auch wenig Befürchtung, dass auf der Ebene der technischen Umsetzung dramatische Dinge passieren, etwa dass Menschen – beispielsweise mittels einer Determinismus – basierten Hirnsteuerungstechnologie – sich gegenseitig in Sklaven-Zombies verwandeln.

    Aber es reicht mir schon, wenn z.B. in der Psychologie oder in der Pädagogik sich ein Meinungsklima bildet, als läge darin ihre jeweilige Zukunft, als wäre das die Zukunftsluft, in deren Richtung man zu schnuppern hätte. Ich habe keine Lust auf Lehrer für meine Kinder, die in der hergebrachten Pädagogik nur einen unfähigen Vorläufer einer zukünftigen „Neuro-Pädagogik“ sehen, also einer Neuauflage des Nürnberger Trichters sozusagen.

    Das Scheitern von utopischen Prophetien ist eine altbekannte Tatsache. Das Blöde ist, dass es in der Regel Andere sind – meist unsere Jugend – die den Preis für idiotische Experimente oder Weltanschauungen bis zu deren offensichtlichen Scheitern zu entrichten haben.
    Wie schmeckt denn so ein japanisches Bier?

  211. @Stephan: Korinthen

    “Also ich denke schon, dass daraus logisch etwas folgt, beispielsweise:
    (1) Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest. []
    (2) Der Indeterminismus ist unwahr.”

    Ich bin auf der Suche nach fehlenden Prämissen. Schau doch bitte mal genau nach, Du hast da wohl mindestens zwei Korinthen übersehen.

    P0: Der Determinismus ist wahr

    Um (1) logisch schließen zu können benötigt man zusätzlich zu P0 z.B.:

    P1: Der Determinismus besagt, dass der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ festlegen.

    Um (2) logisch folgern zu können, hilft:

    P2: X und InX sind nicht gleichzeitig wahr. (Für alle möglichen X)

    Bemerkungen:
    – Andere Prämissen (bzw. Korinthen) sind denkbar.
    – Die Anzahl der Prämissen muss nicht auf eins beschränkt sein.
    – Die Prämissen müssen nicht wahr sein (nach wahren Prämissen war nicht gefragt; z.B. Sekt und Insekt habe ich schon gemeinsam erlebt)

  212. @Stephan: Urwelttheorie

    “Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest. (Irre ich mich, wenn ich das übrigens in beide zeitliche Richtungen lese?)”

    Ach, es gibt so viele Definitionen für Determinismus und was man als Naturgesetz zu verstehen hat. Ich finde schon den Begriff “Zustand” sehr unglücklich. Das ist ja schon eine Abstraktion der Welt, als wenn sie mal zum Stand kommen könnte in einem “Punkt der Zeit” und dann noch alle dynamischen Parameter vorhanden wären. Auch “festlegen” oder, alternativ gerne benutzt, “bestimmen” klingen so anthropomorphisch in meinen Ohren. Naturgesetze legen doch nichts fest, etwa wie Architekten festlegen, wo die Tür hinkommt.

    In Ermangelung geeigneter Begriffe, benutze auch ich die gewohnten.

    Für die Idee vom zureichenden Grunde (Determinismus), muss der Weltverlauf nicht als umkehrbare Funktion darstellbar sein. Es ist also kein Problem, wenn zwei Teilchen zu einem verschmelzen können und mit dem entstandenen Teilchen nicht eindeutig festgelegt ist mit welchem Impuls die Ursprungsteilchen versehen waren oder wann überhaupt eine Verschmelzung stattgefunden hat. Sicher wird sich ein Physiker finden lassen, der dann sagt, unsere Welt sei aus allen diesen rechnerisch möglichen Ursprungszuständen entstanden (Viele Urwelttheorie).

  213. @Joker: Unwissenschaftlichkeit

    Diese Prämissen sind doch im richtigen Denken so natürlich, dass man sie als Wissenschaftler nicht zu hinterfragen braucht. Oder wollen Sie etwa das Gegenteil behaupten?

  214. @Noït Atiga: Ironie?

    “Diese Prämissen sind doch im richtigen Denken so natürlich, dass man sie als Wissenschaftler nicht zu hinterfragen braucht.”

    Ist das ironisch gemeint?

    Was ist den gemeint mit richtigem Denken? Logisches Schließen kann ja wohl nicht gemeint sein.

    Was ist den gemeint mit natürlichen Prämissen? Unterscheiden diese sich von Definitionen oder empirisch gewonnenen Erkenntnissen?

    Man braucht zwar nicht ständig alles zu hinterfragen, aber gerade als Wissenschaftler sollte man dies zumindest bei passender Gelegenheit mal machen, bzw. gemacht haben.

    Das leider viele Naturwissenschaftler diesen Rat nicht befolgen, sieht man am Determinismus. Nur so kann ich mir erklären, dass einige von ihnen diesen quasi als bewiesen betrachten, anstatt ihn als unbeweisbare metaphysische Spekulation zu erkennen, der nichts weiter liefert als den Rahmen in dem sie Erklärungen suchen und anerkennen.

  215. @Joker: Ja, Ironie

    Ich bin nämlich ganz bei Ihnen. Aber oben hatte man mir und anderen aus dem eigenem ‘richtigen’ Denken heraus Unvermögen vorgeworfen und mich über Wissenschaftstheorie und Logik belehren wollen, als ich gerade das tat, was Sie wie ich zu Recht (zumindest prinzipiell) von Wissenschaftlern fordern – ‘natürliche’ Prämissen hinterfragen, die nicht aufgeführt waren, sondern nur im Kopf des Experimentators existierten.

    Und das hat mein Bild von einem bisher sehr geschätzten Wissenschaftler doch kräftig angekratzt, leider. Zumal ich ihn lieber als Verbündeten hätte, denn viele seiner grundlegenden Anliegen teile ich.

  216. @Joker /Frage an den Experten

    »Ach, es gibt so viele Definitionen für Determinismus und was man als Naturgesetz zu verstehen hat.«

    Meinst Du damit nur unterschiedliche Formulierungen des gleichen Sachverhaltes, oder tatsächlich unterschiedliche Auslegungen des Begriffs.

    Stephan folgert aus dem (philosophischen?) Determinismus folgendes:

    »Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest.«

    Diese Definition lässt aber keinen Raum für die Effekte des quantenmechanischen Zufalls. Ein solcher Determinismus wäre folglich unwahr, mit der Konsequenz, dass der Indeterminismus wahr wäre – was aber unserer alltäglichen Beobachtung vom naturgesetzlichen Lauf der Dinge zuwiderliefe.

    Nun könnte es ja sein, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen dem philosophischen und dem physikalischen Determinismus. Ist das so?

  217. @Joker: triviale Logik

    Dann würde prima facie nie etwas alleine aus einer Prämisse der Form “A ist B” folgen. Darüber brauchen wir uns hier aber wohl nicht zu streiten. Wissen um die Definition, was Determinismus allgemein heißt, sowie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten habe ich als bekannt vorausgesetzt. Im strengen (doch auch trivialen?) Sinne haben Sie aber recht, ja.

    Ihren Hinweis auf den irreführenden “Zustand” finde ich berechtigt und nachvollziehbar. Irgendwie musste ich mich eben ausdrücken. Für bessere Definitionen und Ausdrucksweisen habe ich aber immer ein offenes Ohr, sofern sie nicht übertrieben banalisiert und ignorationiert wurden. 😉 Gerade deshalb schreibe ich meine Beiträge ja, um auch etwas dazu zu lernen, denn was ich schon weiß, das weiß ich eben schon (auch eine triviale Logik).

  218. @Noït Atiga

    Meine Kritik scheint Sie ja wirklich getroffen zu haben. Ich bin auch nicht ganz glücklich darüber, wie diese Diskussion hier gelaufen ist; wenn wir uns aber nicht einmal auf so etwas Grundlegendes einigen können wie dass z.B. in einem System S zum Zeitpunkt t noch keine Information über das eingetretene Ereignis E vorhanden ist, bevor Information über E von S verarbeitet wurde, dann weiß ich auch nicht, wie wir je einen gemeinsamen Nenner etwa zur Diskussion von derartigen Gedankenexperimenten/Beispielen finden können.

    Es wird gelegentlich wieder Beiträge über ähnliche Themen geben und ich will mir Ihre möglichen Beiträge dann wieder ernsthaft durchlesen in der Hoffnung, dass die Diskussion dann besser läuft.

  219. @Banalus: Determinismus

    »Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest.«

    Diese Definition lässt aber keinen Raum für die Effekte des quantenmechanischen Zufalls.

    Das ist ja gerade der Witz und der Grund, weshalb ich vor ein paar Tagen auf die verbreitete Interpretation der Quantenmechanik verwiesen habe.

    Ein solcher Determinismus wäre folglich unwahr, mit der Konsequenz, dass der Indeterminismus wahr wäre – was aber unserer alltäglichen Beobachtung vom naturgesetzlichen Lauf der Dinge zuwiderliefe.

    Das ist erstens eine non sequitur, da es eine offene Frage ist, ob diese Interpretation der Quantenmechanik inklusive irreduziblem Zufall wahr ist.

    Zweitens zeigt es m.E., dass du gar keine konkrete Definition von “Determinismus” im Kopf hast. Du scheinst nur zu denken, Determinist müsse man als Naturwissenschaftler sein (“die rechten Dinge”), ganz gleich was das bedeutet.

    Drittens nehmen wir im Alltag gar keine quantenmechanischen Prozesse wahr und bedürfen wir deshalb der Gedankenexperimente wie dem mit Schrödingers Katze.

    Viertens komme ich (wieder einmal, Balanus alias Humpty Dumpty) zu dem Ergebnis, dass eine Diskussion mit dir oft wie eine Diskussion mit Humpty Dumpty ist:

    “I don’t know what you mean by ‘glory,’ ” Stephan said.
    Balanus smiled contemptuously. “Of course you don’t—till I tell you. I meant ‘there’s a nice knock-down argument for you!’ ”
    “But ‘glory’ doesn’t mean ‘a nice knock-down argument’,” Stephan objected.
    “When I use a word,” Balanus said, in rather a scornful tone, “it means just what I choose it to mean—neither more nor less.”
    “The question is,” said Stephan, “whether you can make words mean so many different things.”
    “The question is,” said Balanus, “which is to be master that’s all.”

  220. @Stephan Schleim: Einverstanden

    Persönlich bin ich nicht getroffen, denn ich bin menschlich und kann mich daher irren und aus meinen Irrtümern nur lernen – darum will ich auch über meine blinden Flecke diskutieren. Getroffen worden ist, wie oben dargelegt, nur mein Bild von Ihnen – ich will es aber gern in kommenden Diskussion wiederherstellen oder gar verbessern oder auch den Treffer als Irrtum bzw. Missverständnis erkennen.

    In der von Ihnen oben angegebenen Definition finde ich mich wieder und in dieser Form schien es aus meiner Sicht nie eine Diskrepanz zu geben. Diskrepanzen gab es für mich nur darüber, wann die Informationsverarbeitung beginnt, was alles schon Informationsverarbeitung ist, wer alles Informationensverarbeitung betreibt und welche Informationsverarbeitung wie die Zukunft vorhersagen kann, ggf. auch als Wahrscheinlichkeit.

    Aber ich stimme Ihnen zu, wir verschieben das nun besser endgültig in neue, hoffentlich fruchtbarer verlaufende, zukünftige Diskussionen.

  221. @Stephan

    »Zweitens zeigt es m.E., dass du gar keine konkrete Definition von “Determinismus” im Kopf hast. «

    Determinism: The world is governed by (or is under the sway of) determinism if and only if, given a specified way things are at a time t, the way things go thereafter is fixed as a matter of natural law.

    http://plato.stanford.edu/entries/determinism-causal/

  222. @ Balanus: Determinismus

    “Meinst Du damit nur unterschiedliche Formulierungen des gleichen Sachverhaltes, oder tatsächlich unterschiedliche Auslegungen des Begriffs.”

    Beides. Und den Determinismus würde ich nicht als einen Sachverhalt bezeichnen, er beschreibt nur wie eine Sache (das Universum) sich verhält: gesetzmäßig.

    Wenn ich schreibe “den” Determinismus, habe ich schon unterschlagen, dass es “den” Determinismus gar nicht gibt und ich mir hier auf einen speziellen, einen metaphysischen Determinismus beziehe.

    “Nun könnte es ja sein, dass es einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen dem philosophischen und dem physikalischen Determinismus. Ist das so?”

    Radio Eriwan:
    “Im Prinzip ja! Aber nur, wenn es einen Unterschied gibt zwischen dem philosophischen und dem physikalischen Universum!”

    Ansonsten denke ich, eher nicht.

    Der Begriff “determiniert” hat auf jeden Fall innerhalb der Naturwissenschaften, ja schon innerhalb der Physik, unterschiedliche Bedeutung. Nicht immer korrespondiert dazu gleich ein entsprechender “Determinismus”.

    Sowohl die von Stephan eingebrachte Definition als auch die von plato.stanford.edu, lassen meiner Ansicht nach offen, welche Konsequenzen aus der Quantenmechanik zu ziehen sind. Die sich ergebende Zufälligkeit könnte ein epistemisches Problem sein, kein ontologisches. Auch Quanteneffekte können verursacht sein, nur der Blick auf diese Ursachen könnte uns für immer verwehrt sein. Und diese Auffassung vertrete ich, egal was die Physiknobelpreisträger dazu mehrheitlich denken. Die Freiheit nehme ich mir, schließlich ist das ja eine metaphysische Frage und keine physikalische, da ist so einiges erlaubt.

    Um den Anschluss an das Thema dieses Posts nicht ganz zu verlieren: Beim Neurodeterminismus, demzufolge das Gehirn (!) alles (?) festlegt, muss es sich schon um etwas ganz Besonderes handeln. So eine Art Bereichsdeterminismus, der aus dem biologischen, psychologischen Umfeld stammt und sich auf spektakuläre Weise zu einem Holismus aufgebläht hat.

  223. @Joker /Definitionen

    »Sowohl die von Stephan eingebrachte Definition als auch die von plato.stanford.edu, lassen meiner Ansicht nach offen, welche Konsequenzen aus der Quantenmechanik zu ziehen sind.«

    Gerade da sehe ich einen Unterschied.

    Stephans Definition scheint mir nämlich selbstwidersprüchlich zu sein.

    Wenn der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t‘ festgelegt ist, dann können manche Naturgesetze nicht gelten.

    Wenn aber alle bekannten Naturgesetze gelten, dann kann der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t‘ nicht festgelegt sein.

    Der Grund hierfür liegt jeweils in den Gesetzmäßigkeiten der Elementarphysik. Nach Stephans Definition dürfte es z.B. kein deterministisches Chaos geben.

    Die Definition von plato.stanford.edu beinhaltet keine Vorhersage, sie verzichtet auf einen festgelegten Zustand zum Zeitpunkt t‘. Es wird nur gefordert, dass ab einem Zeitpunkt t sich die Dinge gemäß den Naturgesetzen weiter entwickeln (oder dass die Naturgesetze festlegen, wie der Lauf der Dinge ist). Der zukünftige Zustand zum Zeitpunkt t‘ bleibt somit offen. Ein deterministisches Chaos ist mithin möglich.

    »Beim Neurodeterminismus, demzufolge das Gehirn (!) alles (?) festlegt, muss es sich schon um etwas ganz Besonderes handeln.«

    Na ja, es geht ja nur um die Determinanten des Verhaltens. Speziell, ob die Umwelt Verhalten determinieren kann, oder ob der Organismus sein Verhalten eigenständig determiniert.

    »The truth of determinism is not inconsistent with the view that mental states matter to the causation of behaviour and that human beings are capable of being guided by reason, including the law’s commands.«

    (Stephen J. Morse, in: ‘Law and Neuroscience’ von Michael Freeman, 2011, S. 543)

    (Man sieht, ich stehe mit meinen Ansichten nicht allein… 😉

  224. @ Balanus: Chaos

    “Nach Stephans Definition dürfte es z.B. kein deterministisches Chaos geben.”

    Wieso das nicht? In der Definition steht “festgelegt”. Es ist weder von Beobachtbarkeit noch von Meßbarkeit des Zustands zum Zeitpunkt t die Rede. Warum könnten nach dieser Definition die Naturgesetze nicht so sein, dass aus kleinen Unterschieden große Veränderungen resultieren? Auch von Berechenbarkeit kann ich nichts entdecken, falls dass irgendwie ein Problem sein könnte.

    Mit welchen versteckten Prämissen arbeitest Du?

    Eine Unterscheidung die Ulrich Pothast in “Freiheit und Verantwortung” einführt halte ich für sehr hilfreich, ich zitiere sie besser ganz:

    “Ich unterscheide zwischen Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesetzen der Natur (alias
    » Naturgesetzen«). Die Gesetze (» Naturgesetze«) sind von Menschen formulierte Aussagen mit weitem Geltungsanspruch. Sie gehören nicht selbst der Natur an, denn sie haben eine sprachliche, gewöhnlich kunstsprachliche Gestalt. Die Gesetzmäßigkeiten hingegen sind die solchen Aussagen zugrundeliegenden Regelhaftigkeiten, die die empirische Forschung an der Natur beobachtet. Sie gehören zur Natur selbst als Eigenschaften der Zustände und Verläufe, die wir in bzw. an ihr beobachten.” (S. 34; Fußnote 2)

    Den Terminus “Naturgesetze” aus Stephans Definition muss man als “Gesetzmäßigkeit der Natur” interpretieren, um meiner Vorstellung des Determinismus gerecht zu werden. Die Definition lautet dann also:

    “Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest”

    Und eine meiner Fragen an Dich lautet dann:
    Warum könnten nach dieser Definition die Gesetzmäßigkeiten der Natur nicht so sein, dass aus kleinen Unterschieden große Veränderungen resultieren?

  225. @Humpty Dumpty: Chaos, deterministisches

    Der Grund hierfür liegt jeweils in den Gesetzmäßigkeiten der Elementarphysik. Nach Stephans Definition dürfte es z.B. kein deterministisches Chaos geben.

    Falsch – das deterministische Chaos (bsp. Doppelpendel, das ich meine hier kürzlich erst zitiert zu haben) macht gerade den Unterschied zwischen der epistemischen (was wir von der Welt wissen) und metaphysischen Ebene (wie die Welt ist) klar. Wie oft müssen wir das hier eigentlich noch wiederholen? Im Ausdruck “deterministsich” steckt ferner gerade drin, dass es metaphysisch festelegt ist, obwohl es epistemisch chaotisch erscheint, deswegen heißt das Doppelpendel beispielsweise auch Chaospendel.

    Ferner scheinst du mir immer noch nicht zu begreifen, dass ein irreduzibler Quantenzufall den Determinismus (in meiner sowie in der Definition aus der Stanford Encyclopedia) eben gerade widerlegt.

    Dass du damit reagierst, dann müsse Determinismus eben etwas anderes bedeuten, weil er sonst falsch wäre, untermauert nur meinen Verdacht, dass ich hier mit Humpty Dumpty diskutiere.

    Meine Empfehlungen: Erst Definitionen (Hypothesen) sauber aufschreiben, dann Welt untersuchen, dann Definitionen (oder Hypothesen) als widerlegt verwerfen oder als vorläufig bestätigt akzeptieren.

  226. @Joker

    Wenn ein chaotischer Prozess sich dadurch auszeichnet, dass er bei exakt gleichen Anfangsbedingungen exakt gleich verläuft, dann war mein Beispiel falsch gewählt, ich hatte da etwas anderes im Sinn.

    Zweiter Versuch:

    Ich ersetze das „Universum“ in Stephans Definition durch einen bestimmten kleinen Teil des Universums, passend zum Thema, und sage:

    Der Determinismus ist genau dann wahr, wenn der Zustand eines Ionenkanals zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur den Zustand eines Ionenkanals zum Zeitpunkt t’ festlegen.

    Da aber der Zustand eines Ionenkanals nur stochastisch beschrieben werden kann und zu keinem Zeitpunkt t‘ festgelegt ist durch den Zustand zum Zeitpunkt t, wäre der Determinismus klarerweise unwahr.

    Problem gelöst, Ende der Diskussion!

    Oder doch nicht? Immerhin schreiben Peter Schulte und Ansgar Beckermann am Ende ihrer kleinen Abhandlung über den Determinismus: „Letztlich lässt sich deshalb nur sagen: Die Frage, ob der Determinismus wahr ist, ist völlig offen.“

    http://www.philosophieverstaendlich.de/stichworte/determinismus.html

  227. @Stephan

    »Ferner scheinst du mir immer noch nicht zu begreifen, dass ein irreduzibler Quantenzufall den Determinismus (in meiner sowie in der Definition aus der Stanford Encyclopedia) eben gerade widerlegt.«

    In der Tat, das begreife ich nicht. Bis 2005 hat z.B. Ansgar Beckermann das auch noch nicht begriffen. Wie’s heute aussieht, weiß ich nicht.

    Und ich denke auch nicht, dass eine Definition eines Begriffs für alle Zeiten unveränderbar ist (siehe die Vorstellung von einem probabilistischen Determinismus).

  228. Purer Zufall?

    Angenommen wir hätten beliebig viel Zeit dafür, könnten wir denn “echten” von “unechtem” Zufall überhaupt unterscheiden?

    Anders gefragt, liesse sich methodisch entscheiden, ob eine scheinbar faire Münze tatsächlich beliebig lange “indeterministische” Zufallsfolgen von Kopf und Zahl produzieren kann? Oder lässt sich niemals ausschliessen, dass nicht irgendwann doch eine verborgene “deterministische” Gesetzmässigkeit dahinter zum Vorschein kommt?

    Und was folgt daraus für den Determinismusstreit?

  229. @Humpty Dumpty: Beckermann

    In der Tat, das begreife ich nicht. Bis 2005 hat z.B. Ansgar Beckermann das auch noch nicht begriffen. Wie’s heute aussieht, weiß ich nicht.

    Nein, wieder falsch: Ansgar Beckermann ist sich des Unterschieds zwischen Metaphysik und Episteme beziehungsweise Welt und Modell durchaus bewusst. Gerade deshalb kommt er auch zu der Schlussfolgerung:

    Letztlich lässt sich deshalb nur sagen: Die Frage, ob der Determinismus wahr ist, ist völlig offen.

    Denn nur weil wir beispielsweise nicht entscheiden können, welche Interpretation der Quantenmechanik wahr ist, ist die Frage noch offen.

  230. @ Balanus: Du hast noch ein 3. Versuch

    Der Determinismus ist genau dann wahr, wenn der Zustand eines Ionenkanals zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur den Zustand eines Ionenkanals zum Zeitpunkt t’ festlegen.

    Wenn das eine Definition sein soll, nur zu. Es vereinfacht die Kommunikation nicht, der Begriff ist schon mehrdeutig, auf eine Bedeutung mehr oder weniger wird es aber sicher nicht ankommen.

    Wenn das ein Kriterium beschreiben soll, zum Test ob der Determinismus zutrifft, so wie Stephan ihn definiert hat (oder plato.stanford.edu; oder wie Ansgar Beckermann ihn benutzt; oder wie ich an ihn glaube), dann ist die Aussage des Satzes falsch! Richtig wäre: Der Determinismus ist nicht genau dann wahr, … . Das angegebene Kriterium ist sogar weder hinreichend noch notwendig.

    Ein notwendiges Kriterium ist:
    Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur legen den Zustand eines Ionenkanals zum Zeitpunkt t’ fest.
    (ein anderes Kriterium: V = U x K x G)

    Ein hinreichendes Kriterium wäre z.B (für die Gültigkeit des Determinismus ab t, wenn ein Ionenkanal zum Zeitpunkt t existiert):
    Der Zustand eines Ionenkanals zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest.

    (Humpty Dumpty: “Ionenkanal – so nenn ich ab jetzt den Urknall”)

    “In der Tat, das begreife ich nicht.”

    Ich hoffe, Dir geholfen zu haben.

  231. @ Chrys: Ich mach nur einen Versuch

    “Und was folgt daraus für den Determinismusstreit?”

    Lass uns eine Münze werfen! – Richtig?

  232. Determinismus

    Angenommen wir hätten beliebig viel Zeit dafür, könnten wir denn “echten” von “unechtem” Zufall überhaupt unterscheiden?

    (…)

    Und was folgt daraus für den Determinismusstreit?

    Daraus folgt, dass ein Systemteilnehmer nicht den Determinismus oder Indeterminismus seines Systems feststellen kann.

    Andererseits kann ein Systemteilnehmer ohnehin nicht den Determinismus seines Systems feststellen, das folgt aus der Logik oder Sprachlichkeit.

    Das Feststellen eines Determinismus benötigt umfassendes Systemwissen wie den Betriebszugriff.

    Was D. überhaupt ist oder sein soll? A: Das Feststellen der Gleichartigkeit von Zustands- und darauf angewendeten Regelmengen, wobei Schnittmengen möglich sind, und so eine Reproduzierbarkeit erreicht werden kann, was die Persistierung und Historisierung von Daten erfordert.

    Man sollte also die Finger davon lassen…

    Was Roth & Co so treiben ist unterirdisch, selbst wenn der D. gegeben wäre, dürfte das keine Folgen haben auf das Strafrecht. Gerade dann müsste verstärkt konditioniert werden.

    MFG
    Wb

  233. @Joker /Statt eines dritten Versuchs…

    »Ich hoffe, Dir geholfen zu haben.«

    Na ja, nicht wirklich, sorry. Trotzdem Danke für die Mühe 🙂

    Ich habe keine neue Definition des Determinismus-Begriffs versucht (wie könnte ich). Das mit dem Kriterium kommt schon eher hin. Ich habe eigentlich nur versucht zu verdeutlichen, wieso ich mit der von Stephan genannten Definition, also mit dem Festgelegtsein künftiger Zustände, so meine Schwierigkeiten habe.

    Sollte ich beurteilen, ob ich der Idee des Determinismus etwas abgewinnen kann oder nicht, würde ich nach Stephans Definition sagen: Nein, so stelle ich mir den Lauf der Welt nicht vor.

    Nach der Stanford-Definition hingegen würde das Urteil anders ausfallen. Da – nach meinem Verständnis – nicht behauptet wird, der Determinismus lege einen zukünftigen Zustand fest, könnte ich mich mit dieser Vorstellung durchaus anfreunden.

    Falls Du noch genügend pädagogischen Impetus in Dir verspüren solltest, vielleicht hilft es mir, wenn Du mir zeigst, wo ich die Stanford-Definition falsch verstehe.

    Besten Dank im Voraus! 🙂

  234. @Dr. Webbaer / Apropos Roth

    Gerhard Roth (oder sein Gehirn) hat den Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit erkannt, womit er (oder es) alle Rätsel der Geisteswelt durch einen ultimativen neurobiologischen Dualismus zu erklären vermag: Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht. Wer hätte das gedacht?

  235. @Humpty Dumpty: hanebüchen

    Sollte ich beurteilen, ob ich der Idee des Determinismus etwas abgewinnen kann oder nicht, würde ich nach Stephans Definition sagen: Nein, so stelle ich mir den Lauf der Welt nicht vor.

    Tja, vielleicht liegt das daran, dass bei deiner Wiedergabe auch die Hälfte meiner Definition von “Determinismus” fehlt:

    Nach der Stanford-Definition hingegen würde das Urteil anders ausfallen. Da – nach meinem Verständnis – nicht behauptet wird, der Determinismus lege einen zukünftigen Zustand fest, könnte ich mich mit dieser Vorstellung durchaus anfreunden.

    Daran ist erstens falsch: Der Determinismus selbst legt gar nichts fest, sondern ist ein abstraktes Konzept, das eine bestimmte Definition hat.

    Zweitens geht es gemäß meinem Definitionsvorschlag nicht nur um die Festlegung des Zustands zum Zeitpunkt t’ durch den Zustand zum Zeitpunkt t, sondern um die Festlegung durch den Zustand zum Zeitpunkt t und die im Universum geltenden Naturgesetze.

    Drittens denke ich, dass, korrekt verstanden, meine Definition mit derjenigen aus der SEP weitgehend übereinstimmt: Es geht beim Determinismus um die Festlegung des Folgezustands durch die Naturgesetze.

    (Dass fraglich ist, was so ein Zustand überhaupt ist, steht jetzt erst einmal dahin.)

  236. @Joker: zur besseren Gesellschaft

    Ich muss wohl auch einmal etwas pingeliger werden. Es geht um die Folgen des Determinismus für das Selbstverständnis des Menschen.

    Zu a) „Logische Folgerungen“

    „Aus der Prämisse 1 alleine, der Determinismus ist wahr, ließen sich logisch nur semantisch uninteressante Ableitungen folgern“

    Hier habe ich doch ganz klar von den logischen Folgen gesprochen, die sich ergeben, wenn wir das üblicherweise indeterministische Selbstverständnis des Menschen durch eine deterministische Beschreibung ersetzen, (und nicht von den Folgen des Determinismus aus sich selbst heraus). Die Folgen für dieses Selbstverständnis sind daher alles andere als tautologisch. Wir reden also von den Folgen einer Umdeutung. Es ist dann zum Beispiel eine logische Folge einer solchen Umdeutung, dass die bisher behauptete Verantwortung eines Delinquenten für seine Tat zumindest nicht mehr die gleiche ist wie unter der Voraussetzung des Indeterminismus mit metaphysischer Freiheit (um es nur ganz vorsichtig zu formulieren. S.u. => Semikompatibilismus)

    Zu b) „Kausale Folgen“

    Kausale Folgen stellen sich erst ein, wenn der Glaube an den Determinismus übernommen wird und zu Verhaltensänderungen führt: Nicht der Determinismus ändert etwas – denn er ist ja ohnehin wahr oder eben falsch – sondern der Glaube oder Nichtglaube ändert eventuell das Verhalten von (bislang indeterministisch denkenden ) Einzelpersonen oder gar von Institutionen oder ganzen Gesellschaften, und zwar aufgrund der Änderung der Beschreibung/Selbstbeschreibung (die eben vorher indeterministisch war).

    In der Literatur finden Sie unter dem Stichwort “Semikompatibilismus” einige ausführende Gedanken, die sich teilweise mit meinen überschneiden.

    Semikompatibilismus habe ich im Internet recht übereinstimmend als eine Position definiert gefunden, welche Wahlfreiheit negiert, aber am Gedanken der Verantwortlichkeit festhält.

    Damit hätte ich innerhalb meines Verständnisses von Verantwortung zumindest die Schwierigkeit, dass ich die Übernahme von Verantwortung ohne Freiheit nicht im wirklichen Sinne als „Verantwortung übernehmen“ verstehen kann, wenn sie nicht ein bloßes „Sich-unter-ein-Joch-Beugen“ bezeichnen soll. Und genau durch dieses Element der Freiheit ist sie in meinen Augen in besonderer Weise etwas Menschliches.

    Im Begriff der Verantwortung muss Freiheit mitgedacht sein, sonst ist auch die Rede von und der Umgang mit „Schuld“ ebenso wie im Fall der „Entschuldigung“ in unserer Lebenspraxis nur eine leere Hülse: Auf der Seite dessen, der sich entschuldigt, ebenso wie auf der Seite dessen, der die Entschuldigung entgegennimmt. Und „Schuld“ selbst ist dann nicht mehr als das „Schuldgefühl“, dessen wir uns am besten durch die neuesten Psychotechniken entledigen, denn wer hätte was davon.

    Man muss definitorische Kunststücke aufführen (ohne dass diese große Überzeugungskraft entfalten könnten), um die in unseren Institutionen und in unseren Sitten fraglos enthaltene Voraussetzung individueller Freiheit herauszuoperieren. Die Idee der Freiheit kann nämlich nicht “ausgebaut“ = herausgenommen werden, da sie nicht von irgendjemandem „eingebaut“ wurde, denn sie ist konstitutiver Bestandteil dieser Institutionen, wie am Beispiel von „Recht“ und „Verantwortung“ besonders deutlich wird.

    Im Übrigen habe ich gar nichts gegen – private – sublime und reflektierte Metaphysiken eines Semikompatibilismus oder ähnlicher Positionen. Meine Rede zielt gegen die Positionen des Determinismus, mit denen z.B. Roth und Singer in der öffentlichen Debatte auftreten. Denn diese greifen mit ihren Thesen eben jene „Alltagsmetaphysik“ der Freiheit an. Jene Alltagsmetaphysik, deren Geltung gleichzeitig die Grundlage für unser gesamtes Wertesystem ist.

  237. @ Balanus: Na gut

    “Falls Du noch genügend pädagogischen Impetus in Dir verspüren solltest, vielleicht hilft es mir, wenn Du mir zeigst, wo ich die Stanford-Definition falsch verstehe.”

    Dazu bedarf es keines pädagogischen Impetus, schick mir einfach dein Gehirn, ich schau mal nach.

    So, genug gescherzt (obwohl echte Neurodeterministen – zählst du dich immer noch dazu? – dies gar nicht als Scherz erkennen können, die würden das einfach machen).

    Wo könnte es denn hapern, Textverständnis, Logik, Englisch … Ah, versuchen wir es erstmal mit einer Übersetzung:

    Englisch:
    Determinism: The world is governed by (or is under the sway of) determinism if and only if, given a specified way things are at a time t, the way things go thereafter is fixed as a matter of natural law.

    Deutsch:
    Determinismus: Die Welt wird beherrscht (oder ist unter der Herrschaft) Determinismus genau dann, wenn, bei einer bestimmten Art und Weise die Dinge zu einem Zeitpunkt t, wird der Lauf der Dinge danach als eine Frage des Naturrechts fixiert.

    (Dank an den Google-Übersetzer, translate.google.de)

    Zum Vergl.:
    Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest.

    Ich erkenne nur unwesentliche Unterschiede:
    Die Welt wird vom Determinismus beherrscht, wenn / [Der Determinismus ist wahr, wenn];
    fixiert / festgelegt;
    Dinge in einer bestimmten Art und Weise / Zustand;
    Naturrecht / Gesetzmäßigkeit der Natur

    Welche Unterschiede betrachtet dein Gehirn als relevant?

  238. Balanus, Bunge, Determinismen

    Bei Bunges Auffassung von Determinismus, dem Balanus anhängt, ist lediglich verlangt, dass eine (möglicherweise probabilistische) Gesetzmässigkeit existiert, nach der sich neue aus bestehenden Zuständen entwickeln. Bunge schreibt:

    This is why I have proposed (Bunge 1959a) redefining determinism as the conjunction of two logically independent principles: Lucretius’ and lawfulness.

    (Hervorhebung von mir. Lucretius’ principle = ex nihilo nihil)

    Stephans Version (Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Naturgesetze legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest.) lässt in der gegebenen Formulierung in der Tat offen, ob hierbei der neue Zustand als eindeutig festgelegt zu betrachten ist, wie es beim klassischen Determinismus der Fall ist, wo probabilistische Gesetzmässigkeiten à la Bunge ausgeschlossen sind.

    Balanus scheint insbesondere anzunehmen, dass nur Bunges Determinismus mit “deterministischem Chaos” verträglich ist — was allerdings ein Irrtum wäre.

  239. @Joker /Wesentliche Unterschiede

    »Welche Unterschiede betrachtet dein Gehirn als relevant? «

    Nun, die Formulierung:

    „…the way things go thereafter…“

    beschreibt nach meinem Dafürhalten ein Geschehen, eben wie sich der Zustand der Dinge im Laufe der Zeit im Rahmen der Naturgesetze ändert. Fixiert ist hier lediglich die Art und Weise der Veränderungen, nicht der zukünftige Zustand selbst, der Endzustand bleibt unbestimmt (der Ionenkanal kann offen oder zu sein, die Katze lebendig oder tot).

    Wenn Stephans Formulierung („Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt t sowie die Gesetzmäßigkeiten der Natur legen den Zustand des Universums zum Zeitpunkt t’ fest.“) das Gleiche meint, soll’s mir recht sein.

    Ich hatte das halt so verstanden, als seien nicht nur die Art und Weise der Veränderung, sondern auch die nachfolgenden Zustände selbst (eindeutig!, ja, Chrys) festgelegt, als sei der Endzustand quasi vorab fixiert. Ein allwissender Dämon müsste demnach z. B. wissen, ob zu einem Zeitpunkt t‘ ein bestimmter Ionenkanal offen oder zu ist. Das könnte er aber nur, wenn ihm versteckte Variablen bekannt sind, die als Ursache für quantenmechanische Ereignisse fungieren (vielleicht ist es so, wer weiß?).

    So, das kann man jetzt als meinen dritten und letzten Versuch lesen, den von mir empfundenen Unterschied zwischen den beiden Definitionen deutlich zu machen.

  240. @Chrys

    »Balanus scheint insbesondere anzunehmen, dass nur Bunges Determinismus mit “deterministischem Chaos” verträglich ist…«

    Keineswegs. Die Bungesche Variante des Determinismus habe nur ins Spiel gebracht, weil Stephan meint, die Gesetzmäßigkeiten der Quantenmechanik würden den Determinismus widerlegen (für den „klassischen“ Determinismus lasse ich das durchaus gelten, nur nicht für den „modernen“).

  241. @Balanus

    »Keineswegs.«

    Okay, das hatte ich oben wohl etwas missverstanden. — Der Sachverhalt beim deterministischen Chaos ist tatsächlich nicht so trivial, und man kann eigentlich gar nicht oft genug betonen, dass auch formale Systeme, die keinerlei stochastischen Regeln unterliegen und vollständige Systemkenntnis gestatten, sich auf eine strikt unberechenbare Weise verhalten können. Also besser einmal zuviel als einmal zuwenig.

  242. @ Balanus: Gratulation

    Gelungener 3. Versuch. Du ziehst in den olympischen Endkampf mit ein.

    Danke für deine Erläuterungen, denn jetzt meine auch ich verstanden zu haben, wie Du die Begriffe benutzen möchtest:

    Determinismus = Indeterminismus (*)

    @Chrys: Das würde uns eine Seite der Münze ersparen.

    Damit bist Du nicht allein. Stephen Hawking benutzt den Begriff laut Wikipedia (Determinismus) ähnlich:

    “Der Physiker Stephen Hawking verwendet den Begriff „Determinismus“ für alle Interpretationen der Quantenmechanik, auch für die einschlägig als „indeterministisch“ bezeichneten Varianten. Er begründet diese Wortwahl damit, dass so der mögliche falsche Eindruck der Regellosigkeit vermieden werde.”

    In der Stanford-Definition interpretierst du den Begriff Fixierung nicht als punktgenaue Festlegung, sondern eher wie in der Medizin. Der fixierte Patient kann nicht aus dem Bett fallen, aber es gibt Freiheitsgerade, z.B. ob er nach links, rechts, oben oder unten schaut. Nachvollziehbar.

    In vielen Zusammenhängen spielt der beschriebene Unterschied keine wesentliche Rolle. Es ist meistens gleichgültig, ob es einen ontologischen oder nur einen epistemischen Zufall gibt. In den anderen Fällen – eigentlich nur philosophische, metaphysische Diskussionen wie hier – müssen wir dann eben aus dem Kontext einer Äußerung erschließen, wie der Begriff Determinismus jeweils gemeint ist. Damit werde ich wohl fortan leben müssen.

    (*) Genauer: “moderner” Determinismus = Quanten-Indeterminismus

  243. @Chrys

    Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht.

    Die Wirklichkeit ist doch die Wirkung der Welt auf das Erkenntnissubjekt, also so wie dieses inklusive seiner Meßapparate die Welt zu spüren bekommt, die Realität ist die Sachlichkeit; insofern kann hier nicht gefolgt werden.

    Zuletzt hat der Schreiber dieser Zeilen Folgendes zum Thema zK genommen:
    1.) Meinungsbeitrag und weitere Beiträge
    2.) Gutachterstreit um Breivik – tl;dr: Breivik ist nicht verrückt der allgemeinen Kriterienlage folgend, sollte aber dennoch als verrückt behandelt werden

    Sie sind doch klug, was ist I.E. am aktuellen Determinismus-Streit dran, liegt da auch für Sie ein Doppelfehler vor? (1. D. eines Systems nicht für Systemteilnehmer feststellbar 2. Wäre der D. feststellbar, gäbe es keine “logischen” sozialen Folgerungen)

    MFG
    Dr. Webbaer (der Determinismus-Streitereien von Wirtschaftssystemen her kennt bzw. von unterstützenden IT-Systemen – dort aber nicht ohne Grund ausgetragen)

  244. Quanten-Indeterminismus /@Joker

    »(*) Genauer: “moderner” Determinismus = Quanten-Indeterminismus«

    Leider noch nicht genau genug.

    Wenn ich es als Gleichung formulieren müsste, dann eher so:

    “Moderner” Determinismus = Quanten-Indeterminismus + „klassischer“ Determinismus,

    wobei „klassischer“ Determinismus für die üblichen Kausalbeziehungen oberhalb der Quantenebene steht.

    Ich reime mir das so zusammen:

    Quantenzustände ändern sich spontan ohne Verursachung (klassischer Indeterminismus).

    Ein Makromolekül-Komplex (wie z.B. ein Ionenkanal) kann aufgrund von Quantenereignissen spontan seine Konformation ändern. Ist das nun noch klassischer Indeterminismus, oder bereits probabilistischer Determinismus, denn schließlich können wir die Quantenereignisse als Ursache für die Konformationsänderung betrachten.

    Eine Nervenzelle kann spontan depolarisieren, z.B. aufgrund der Aufsummierung von spontanen Konformationsänderungen der Ionenkanäle. Indeterminismus oder probabilistischer Determinismus? Ich meine Letzteres, denn es gibt eine Ursache für die Spontanentladung.

    Die Spontanaktivitäten der Neuronen sorgen für ein Grundrauschen im Gehirn, sagen wir ruhig: ein indeterministisches Grundrauschen, verursacht letztlich durch indeterministische Quantenphänomene.

    Nun wissen wir aber, dass mit einem solchen allein Grundrauschen kein Staat zu machen ist. Ein funktionierendes Gehirn ist auf eine geordnete, determinierte Aktivität der Neuronen angewiesen. Also funktioniert das Gehirn im Wesentlichen und überwiegend deterministisch.

    Langer Rede kurzer Sinn: Wenn man die Begriffe „Neuro“ und „Determinismus“ zusammenbringt, und mit „Neuro“ die moderne Hirnforschung meint, dann kann mit „Determinismus“ nur der moderne Determinismusbegriff gemeint sein, denn sonst passt das alles nicht zusammen.

    Die Münze behält also ihre beiden Seiten (probabilistischer Determinismus vs. Indeterminismus).

  245. @Dr. Webbaer

    Nachdrücklich festgestellt sei, dass es sich bei dem Satz, “Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht,” keineswegs um eine Satire über Gerhard Roth, sondern offenbar um dessen eigene und ernstgemeint Worte handelt.

    Es ist bemerkenswert, wie Roth in einem Sumpf aus selbstgebrauter Metaphysik herumstochert, aus dem dann ein Dualismus emporquillt, der noch abstruser ist als der, gegen den so smarte Hirnforscher wie er doch gerade ins Feld gezogen waren.

    Meine Meinung zum Dualismusstreit geht dahin, dass Fragen wie die, ob die Welt nun deterministisch oder indeterministisch sei, einfach nur ill-posed questions sind. Nicht der empirischen Welt kommen diese Eigenschaften zu, sondern nur unseren modellhaften Beschreibungen dieser Welt. Wenn wir, platt gesagt, die Phänomene der Quantenmechanik nach Bohr oder nach Bohm beschreiben können, ganz nach Belieben, dann ist es schlicht sinnlos danach zu fragen, welches davon die “Wahrheit” ist. Und für andere Bereiche der empirischen Forschung, jenseits der Quantenmechanik, gilt das ganz entsprechend.

  246. @Dr. Webbaer / Korrektur

    Determinismusstreit hätte es heissen sollen, nicht Dualismusstreit. Gerhard Roth bringt mich noch um den Rest meines Verstandes …

  247. @Balanus: Ebenen & Serie Philosophie

    Schön, dass du das einmal so ausführlich aufgeschrieben hast, von den Quanten bis zum Gehirn.

    Ich denke, dass es klarer ist, ohne Indeterminismus als “modernen” Determinismus zu bezeichnen. Die Vorgänge erscheinen uns auf allen Ebenen indeterministisch, d.h. in gewissem Sinne zufällig. Ob dahinter nun wirklicher Zufall steckt oder nicht, wer weiß…?!

    Nun gibt es aber probabilistische Gesetze, die diese Vorgänge beschreiben. Wenn du probabilistische Kausalität als Kausalität auffasst, dann sind auch indeterministische Prozesse nicht notwendigerweise eine Widerlegung der kausalen Geschlossenheit der Welt (um die es dir ja auch geht). Im Interesse der Klarheit würde ich aber die Annahme der Kausalen Geschlossenheit von der Annahme des Determinismus trennen, denn die Welt könnte kausal geschlossen sein, auch wenn sie indeterministisch ist (je nach Kausalitätsbegriff eben).

    Warum sollten wir aber gerade diesen Kausalitätsbegriff verwenden und keinen anderen?

    Chrys hat das hier schön formuliert und das kommt auch meiner gewissermaßen agnostischen, aber neugierigen Haltung sehr nahe:

    Wenn wir, platt gesagt, die Phänomene der Quantenmechanik nach Bohr oder nach Bohm beschreiben können, ganz nach Belieben, dann ist es schlicht sinnlos danach zu fragen, welches davon die “Wahrheit” ist. Und für andere Bereiche der empirischen Forschung, jenseits der Quantenmechanik, gilt das ganz entsprechend.

    Diese Probleme können wir m.E. nicht hier bei Menschen-Bilder lösen. Ich empfehle aber z.B. die Serie Philosophie aus “Spektrum der Wissenschaft”, insbesondere die Teile 6 (Elke Brendel: Was können wir von der Welt wissen?), 7 (Michael Esfeld. Das Wesen der Natur) und 8 (Marcel Weber: Ursache und Wirkung – am Beispiel der Gene).

    Meines wissens sind die PDFs alle frei abrufbar, auch ohne Abonnement.

  248. @Chrys

    Meine Meinung zum Dualismusstreit geht dahin, dass Fragen wie die, ob die Welt nun deterministisch oder indeterministisch sei, einfach nur ill-posed questions sind. /blockquote>

    Beruhigend, dass Sie das auch so sehen. Dieser Neuro-Determinismus, die Sache mit dem “freien” Willen und die regelmäßige Missachtung der Trennung von Theoretisierung und Welt sind merkwürdig populär geworden. Extra-grausam und geradezu schmerzhaft beim Lesen dann auch derart inspirierte politische Kommentare, von anderen Bemühungen, auch auf wissenschaftsnahen Blogs einmal abgesehen.

  249. “Wenn ich es als Gleichung formulieren müsste, dann eher so:
    “Moderner” Determinismus = Quanten-Indeterminismus + „klassischer“ Determinismus,
    wobei „klassischer“ Determinismus für die üblichen Kausalbeziehungen oberhalb der Quantenebene steht.”

    Also doch das Textverständnis?

    Man muss da nichts hinzuaddieren, die Theorie des “Quanten-Indeterminismus” beinhaltet schon die üblichen Kausalbeziehungen oberhalb der Quantenebene.

    Die Theorien über die wir hier zum Schluss diskutieren sind alles komplette Weltbeschreibungen, metaphysischer, kausaler, klassischer, probabilistischer Determinismus oder Indeterminismus, Quanten-Indeterminismus. Davon bin ich zumindest ausgegangen. (Ob man das auch über den Neurodeterminismus sagen kann, bezweifle ich.)

    Diese Theorien unterscheiden sich NICHT bezüglich der Naturgesetze (die mathematischen Formulierungen), die sie für korrekt halten. Es sind immer dieselben, eben die Gesetze, welche die Naturwissenschaftler zur Zeit für korrekt halten. Manche dieser Gesetze sind probabilistisch (die mathematischen Formulierungen enthalten eine Zufallsvariable) andere sind deterministisch (kommen ohne Zufallsvariable aus). Der klassische Determinismus azkeptiert also nicht nur die deterministischen Naturgesetze, er erkennt auch die Wellenfunktion als korrekte Weltbeschreibung an.

    Die Theorien unterscheiden sich in ihren Aussagen über die Gesetzmäßigkeiten in der Natur, die den gefundenen und formulierten Gesetzen zugrundeliegen. Über die Wellenfunktion sagt der Determinismus, sie zeigt uns eine epistemische Grenze auf. Wir können zwar keine deterministischen Naturgesetze entdecken, vermuten (glauben) aber dass solche existieren. Der Indeterminismus sagt dem entgegengesetzt, dass es keine solchen Gesetzmäßigkeiten in der Natur gibt, dass hier ein ontischer Zufall existiert. Der Terminus Quanten-Indeterminismus soll den Indeterminismus kennzeichnen, der eine unverursachte Ursache bei Ereignissen in der Quantenebene postuliert. Andere Indeterminimus-Theorien könnten, ganz unabhängig von Quanten (und unter Anerkennung aller anderen Naturgesetze), eine solche unverursachte Ursache z.B. bei mentalen Prozessen vermuten.

    “Die Münze behält also ihre beiden Seiten (probabilistischer Determinismus vs. Indeterminismus)”

    Dann behält die Münze auch einen Rand. Könnten wir zumindest auf den schreiben “klassischer Determinismus”? So dass ich selbst zumindest eine kleine Chance bekäme.

    Und bitte, bitte: klassischer Determinismus soll seine klassische Bedeutung behalten dürfen.

    Also nicht:

    “wobei „klassischer“ Determinismus für die üblichen Kausalbeziehungen oberhalb der Quantenebene steht.”

    Sondern:

    Klassischer Determinismus bedeutet, Kausalbeziehungen bestehen auch auf der Quantenebene.

    Danke.

  250. Gerhard Roths Wirklichkeit

    Zugegeben, der Satz:

    »Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht. «

    hätte auch eine Satire auf Roths „Neurodeterminismus“ sein können.

    Ist aber tatsächlich O-Ton Roth. Und sogar ein viel zitierter und kritisierter Satz, zumindest in der philosophischen Literatur (es scheint hier ein merkwürdiges Missverhältnis zu geben von Roths wissenschaftlichem Output in der Hirnforschung und seiner Rezeption in der Philosophie).

    Dummerweise ist mir nun nicht ganz klar, was hinter Chryssens, na, ich sag mal, Kritik steckt. Roth mag ein philosophischer Dilettant sein, gut, das bin ich auch, aber welcher „abstruse“ Dualismus quillt denn da nun bei dessen Stochern im metaphysischen Sumpf empor?

    Roth unterscheidet hier zwischen einer Welt, wie sie uns erscheint (Wirklichkeit), und der Welt, wie sie tatsächlich ist (Realität). Vielleicht nicht besonders elegant, aber im Kern eigentlich zutreffend. Stephan würde das vielleicht als eine banale Einsicht bezeichnen, womit er noch nicht einmal Unrecht hätte, aber was bitteschön ist daran „abstrus“?

  251. Roth-Zitat

    »Die Wirklichkeit wird in der Realität durch das reale Gehirn hervorgebracht.«

    Ist halt ziemlich dull, die Realität ist die Sachlichkeit, man muss schon mal Realist sein, darf also keine antirealistischen Positionen vertreten.

    Dazu kommt noch die Sache mit dem Gehirn als ‘real’, das zudem auch noch die Wirklichkeit, also das von Menschen direkt oder indirekte Bemerken von Wirkung, ‘hervorbringen’ soll.
    Man fragt sich da beispielsweise, ob jemand der ohne es zu bemerken überfahren wird, “wirklich” überfahren wird.

    Wer Realist ist und humorlos, könnte aber so glücklich werden, no prob.

    MFG
    Dr. Webbaer

  252. Moderation: abstrus = verboten

    Auch wenn ihr hier im Gegensatz zu Deutschlands Ex-Verteidigungsminister das Wort “abstrus” korrekt (und m.M.n. in diesem Kontext inhaltlich völlig treffend) verwendet, muss ich euch leider darauf hinweisen, dass es, zu Guttenberg sei dank, hier bei “Menschen-Bilder” nicht erlaubt ist.

    Chrys hat es erst gestern eingebracht und es hat sich schon zweimal vervielfältigt. Wenn das in diesem Tempo weiter geht, dann ist diese Diskussion bald so verworren, dass wir uns nicht mehr verstehen können, eben -zensiert-.

  253. ‘abstrus’

    Also für Dr. Webbaer wäre ‘-zensiert-‘ in diesem Zusammenhang gar keine unpassende Adjektivierung – aber der ist dickfällig und vieles gewohnt, also gerne zensieren…

  254. @Balanus / Realität und Wirklichkeit

    »Roth mag ein philosophischer Dilettant sein, gut, …«

    Nein, nicht gut. Gerhard Roth ist u.a. promovierter Philosoph, da darf man wohl mehr fordern, als Sophistereien um die Worte “Realität” und “Wirklichkeit”.

    Wir sind damit zu einer Aufteilung der Welt in Realität und Wirklichkeit, in phänomenale und transphänomenale Welt, Bewusstseinswelt und bewusstseinsjenseitige Welt gelangt.

    Aha, das “wirkliche” Hirn ist dann so etwas wie ein Phaenomenon, das “reale” Hirn entsprechend ein Noumenon. Solches ist grundsätzlich auch nicht auf Roths eigenem Mist gewachsen, und dazu hatte es auch keiner Hirnforschung bedurft. Roth behauptet nun also, dass ein transphänomenales Noumenon schöpferisch auf die Wirklichkeit wirkt, indem es selbige hervorbringt.

    In Roths Wirklichkeit geht folglich nicht alles mit rechten Dingen zu, da diese durch transphänomenale Ursachen determiniert wird. Um so erstaunlicher aber doch, dass er das alles durch neurobiologische Hirnforschung herausfinden konnte, die sich ja nun leider auf die Wirklichkeit beschränken muss.

    Und die Idee, die Wirklichkeit werde von transphänomenalen Entitäten hervorgebracht und determiniert, ist ja nun nicht gerade sonderlich originell.

    »Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.«
    — Sprüche Salomos 16,9; Die Bibel

    Biblischer Neurodeterminismus?

  255. Ein letztes Mal… „abstrus“ 😉

    “Abstrus” und “absurd” sind beim ersten Hören zwei sehr vornehm klingende Fremdwörter, zur allgemeinen Einschüchterung bestens geeignet, am Ende aber doch nur pseudointellektuell, zwei Fremdwörter eben, von denen die, die sie gebrauchen, nicht wissen, was sie eigentlich bedeuten und diejenigen, denen sie entgegen geschleudert werden, geradezu einschüchtern. Zwei modische Adjektive, die durch häufigen Gebrauch ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt sind. Zwei irgendwie auch schick klingende Adjektive, die immer dann gerne gebraucht werden, wenn einem nichts Besseres, Genaueres, Konkreteres einfällt. Adjektive wie “abstrus” und “absurd” sind Adjektive aus dem Wortschatz der “Bluffer”.

    (Hajo Steinert, 17.02.2011, dradio.de)

  256. @Joker

    » […] echte Neurodeterministen – zählst du dich immer noch dazu?«

    Darauf habe ich noch nicht geantwortet.

    Nach Stephans Definition müsste ich mich wohl dazu zählen. Für mich ist das Gehirn die Steuerungszentrale für jegliches Verhalten, das nicht mehr mit einem simplen Reiz-Reaktions-Schema erklärt werden kann. Die Umwelt kann nur über das Gehirn „wirksam“ werden.

    Wo und in welchem Zusammenhang wurde der Begriff Neurodeterminismus eigentlich geprägt? Er scheint mir eine Art Kampfbegriff bestimmter Geisteswissenschaftler zu sein.

  257. @Chrys

    »Gerhard Roth ist u.a. promovierter Philosoph…«

    Ach, das wusste ich gar nicht. Dann kann man allerdings die Messlatte etwas höher legen.

    »Roth behauptet nun also, dass ein transphänomenales Noumenon schöpferisch auf die Wirklichkeit wirkt, indem es selbige hervorbringt.«

    Das also ergibt die genaue Analyse seiner Aussagen? Ich als oberflächlicher Leser hätte gedacht, Roth schreibt davon, dass das reale (physische) Gehirn sich ein Bild von der realen (physischen) Außenwelt macht. In der realen Welt gibt es keine Farben und Töne, das sind, nach Ansicht der Neurodeterministen, im Gehirn stattfindende Interpretationen bestimmter physikalischer Reize.

    »In Roths Wirklichkeit geht folglich nicht alles mit rechten Dingen zu, da diese durch transphänomenale Ursachen determiniert wird.«

    Roth hört Töne, wenn Klaviersaiten angeschlagen werden. Die gleichzeitig anwesende Zimmerlinde hingegen hört nichts. Wo werden hier die Naturgesetze verletzt?

  258. Versuch einer Begriffsklärung

    “Wenn man die Begriffe „Neuro“ und „Determinismus“ zusammenbringt, und mit „Neuro“ die moderne Hirnforschung meint, dann kann mit „Determinismus“ nur der moderne Determinismusbegriff gemeint sein, denn sonst passt das alles nicht zusammen.”

    Wenn man zwei Begriffe zusammenbringt entsteht ein neuer. Dieser beschreibt mehr als die Summe seiner Teile (oder anderes oder spezifischeres oder …). Man denke nur an den Witz mit Abteilungsleiter und Zitronenfalter.

    Mit Neuro wird, so vermute ich, weniger “die moderne Hirnforschung” gemeint sein, sondern Neuronen. (vrgl. Psychodisco, sind Psychologen oder mentale Zustände Namensbestandteil?). Determinismus könnte darauf hinweisen, a) dass Neuronen determiniert sind oder b) dass Neuronen etwas determinieren. Neurodeterminsmus muss also nicht aus dem Begriff des Determinismus abgeleitet sein, der Theorie über das Weltgeschehen. (Es muss also nicht so sein wie beim Quanten-Indeterminismus, des sehr wohl vom mataphysischen Indeterminismus abgeleitet ist.) Vielmehr können beide Begriffe einen gemeinsamen Ursprung haben, determiniert. Daher könnte es sich auch beim Neurodeterminismus durchaus um eine wissenschaftliche Theorie handeln, die falsifiziert werden kann (wenn sie das nicht schon ist). Während es sich beim klassischen Determinismus eindeutig um eine metaphysische Theorie handelt, die empirisch nicht widerlegt werden kann.

    Im Zweifelsfall muss man auf die Definition schauen – Jeder Fall ist ein Zweifelsfall! – Dass es Stephan schwer fällt, überhaupt eine sinnvolle Definition für “Neurodeterminismus” zu liefern, sagt er ja selbst. Versuchen wir herauszufinden, um was es geht.

    Für eine erste Annäherung an eine Definition findet sich im Blog:
    “Für den Neurodeterministen legt das Gehirn alles fest, lässt sich der Mensch auf sein Gehirn reduzieren”
    “das Gehirn legt den Menschen fest”

    Das spricht für die Variante b), dass die Neuronen (das Gehirn) alles festlegen, oder zumindest alles was den Menschen ausmacht.

    Man könnte spezifizieren oder differenzieren was ein Neurodeterminist behauptet, was genau die Neuronen festlegen.
    b1) alles
    b2) alles, was den Menschen ausmacht
    b3) das Verhalten einer Person
    b4) das phänomenale Erleben einer Person

    Man könnte noch weiter differenziern, legen die Neuronen fest,
    bt1) nur einen aktuellen Status (z.B. das momentane Erleben),
    bt2) einen länger befristeten stabilen Zustand (z.B. eine Verhaltensdisposition) oder
    bt3) die komplette Zukunft einer Person.

    Im Verlauf des Blogposts und den sich anschließenden Kommentaren finden sich aber auch Belege, dass Neurodeterministen daran zu erkennen sind, das sie meinen, Neuronen (bzw. das Gehirn) seien auf eine ganz bestimmte Art und Weise determiniert.

    Z.B. wenn die Rede ist von den “psychopharmakologischen Pillen” oder den Theorien über die Ursachen von psychischen Störungen (Holzbohrer).

    Das spricht für die Variante a)

    Auch hier ließe sich wieder weiter differenzieren, ich erspare mir und dem Leser das.

    Weitere Aspekte, die zwar mit den Varianten a) und b) zusammenhängen, sicher aber nicht von allen Neurodeterministen gleichartig vertreten werden, kommen auch noch ins Spiel.

    Im Fall a) ist es die Frage, wenn das Gehirn durch materielle Substanzen determiniert würde, in wie weit wären wir dann in der Lage, über die Gabe von solchen Substanzen, oder durch chirurgische Eingriffe in die materielle Neuronenstruktur, gewünschte Ergebnisse zu produzieren. Wie gezielt lässt sich ein Chemiecocktail herstellen und platzieren, oder wie spezifisch lassen sich Operationsmethoden entwickeln?

    Im Fall b) ist es die Frage, wenn das Gehirn alles festlegen würde, in wie weit könnten wir diesen Zustand ermitteln und erkennen, und welche Vorhersagen wären damit möglich?

    Spätestens hier finden sich auch Anknüpfungen an metaphysische Theorien. Diese sind aber nach meinem Verständnis nach, mit meiner Begriffsdeutung, nicht so trivial, wie sie in der Diskussion manchmal unterstellt werden (speziell von Balanus). So halte ich es z.B. für nicht widersprüchlich, wenn ein Neurodeterminist ein (Quanten-)Indeterminist ist. Ein Neurodeterminist muss nicht das Vorhandensein von Quantenprozessen im Ganzen leugnen. Es reicht zu behaupten, dass diese auf Ebene der Neuronen nicht relevant sind. In Analogie zu Gesetzen der Mechanik, könnte auch er versuchen, Gesetze zu entdecken, die Gehirn und Verhalten in einem deterministischen Zusammenhang beschreiben.

    tl;dr

    Neurodeterministen sind eine heterogene Gruppe von Wissenschaftlern, die Stephan Schleims Ansichten über die wahren Relationen zwischen Gehirn, Körper, Umwelt und Psyche in mindestens einer Hinsicht widersprechen und Gesetzmäßigkeiten postulieren, wo Stephan (noch) keine sieht.

  259. @Balanus / Die Gehirne des Dr. Dr. Roth

    Es beruhigt mich jedenfalls ganz ausserordentlich, dass selbst ein Apologet von Roths Thesen dieselben einwandfrei als philosophischen Dilettantismus erkennt. Germanistik hat Roth u.a. auch noch studiert, sodass er, als personifizierte deutsche Bildungselite, sich halbwegs allgeminverständlich artikulieren können sollte. Versuchen wir es mal, was will uns der Meister hier sagen:

    Dasjenige Gehirn, das mich hervorbringt, ist mir selbst unzugänglich, genauso wie der reale Körper, in dem es steckt, und die reale Welt, in welcher der Körper lebt. … Dies bedeutet, dass das reale Gehirn eine Wirklichkeit hervorbringt, ..

    Wenn das kein Dualismus ist, was ist es dann? Ein Dualismus, nach dem alles, was wir über die Welt wissen können, nur als epistemische Wirklichkeit erkennbar wird, welche aus einer unzugänglichen ontischen Realität hervorgebracht ist. Woher kann Roth dann aber wissen, dass diese Realität überhaupt vorhanden ist? Und wenn wir über diese Realität nicht mehr wissen können als die nächstbeste Zimmerlinde, woher will er dann insbesondere wissen, dass dort ausgerechnet ein Gehirn diese Hervorbringung der Wirklichkeit besorgt?

  260. @Jokers Begriffsklärung

    Hmm, warum war mir selbst gar nicht in den Sinn gekommen, dass man Neurodeterminismus auch so lesen kann, dass das Gehirn nicht die (das Erleben und Verhalten) festlegende Instanz ist (deine Variante b), sondern festgelegt wird (deine Variante a)? Da fällt mir spontan gar nicht ein, wie ich dir prinzipiell widersprechen kann.

    (Zwei Minuten später) Also da fällt mir immer noch nichts dagegen ein – aber ich habe letzte Nacht auch zu viel getrunken und zu wenig geschlafen.

    Aus meinen Beispielen geht aber meines Erachtens deutlich hervor, dass es sich im Post sowie der Diskussion um Neurodeterminismus vom Typ b handelt. Einen ernsthaften Neurodeterminismus vom Typ a würde ich gar nicht so nennen, sondern Umwelt-Körper-Gehirn-Interaktionismus (UKGI).

    Wie dem auch sei, sowohl Variante a als auch b spiegelt nur einen Teil dessen wider, wofür wir meiner Meinung nach gute Gründe haben, dass nämlich unser Erleben und Verhalten die Folge eines UKGI ist.

  261. @ Stephan: Kurze Ergänzung

    “[D]ass man Neurodeterminismus auch so lesen kann, dass das Gehirn festgelegt wird”, war auch mir neu. Ich habe das nur aus den Beispielen gelernt, die du eingebracht hast und die ich oben mit angeführt habe. (Mit “Holzbohrer” war natürlich Florian Holsboer gemeint. Da hatte ich mir eine Eselsbrücke mit Dünnbrettbohrer gemacht, und bin die nicht bis zum Ende gegangen. Der Esel bin ich.)

    Auch die Gruppe “One Mind for Research”, forscht ja nicht daran, was Hirnzustände in der Folge bewirken, sondern forscht daran wie man mittels pharmazeutischer Mittel bestimmte “Hirnerkrankungen” beeinflussen (determinieren?) kann. In deinen Worten, deiner Kommentarüberschrift zu entnehmen, ist das auch eine Form von “Neurodeterminismus”
    (https://scilogs.spektrum.de/blogs/blog/menschen-bilder/2012-07-14/warum-der-neurodeterminist-irrt/page/2#comment-19782)

    “Da fällt mir spontan gar nicht ein, wie ich dir prinzipiell widersprechen kann.”

    Du musst mir auch nicht unbedingt widersprechen, und schon gar nicht prinzipiell. Laut Definition reicht es, wenn du den Neurodeterministen widersprichst, bzw. diese dir.

    Aber nun schlaf dich erst mal aus und werde wieder nüchtern, das Wochenende steht vor der Tür.

  262. Roth-Exegese /@Chrys

    »Wenn das kein Dualismus ist, was ist es dann? Ein Dualismus, nach dem alles, was wir über die Welt wissen können, nur als epistemische Wirklichkeit erkennbar wird, welche aus einer unzugänglichen ontischen Realität hervorgebracht ist.«

    Nun ja, solcherart Dualismen gibt es ja viele (z.B. Natur/Kultur, Subjekt/Objekt, Innensicht/Außensicht), ohne dass man sie gleich „verworren“ o.ä. nennen würde.

    Dass für alle tierischen Organismen Wahrnehmungsgrenzen existieren, ist ja evident. Und die Existenz von Erkenntnisgrenzen ist recht wahrscheinlich. Denn was können wir schon wissen über die ontische Realität z.B. der Atome oder des Higgs-Bosons? Wir haben da doch nur Modelle.

    »Woher kann Roth dann aber wissen, dass diese Realität überhaupt vorhanden ist?«

    Vielleicht daher, dass wir bestimmte Aspekte dieser Realität registrieren und zu Wahrnehmungen verarbeiten können (sonst wären wir nicht hier). Aus dem bisschen an elektromagnetischen Wellen, Druckschwankungen und frei diffundierenden Molekülen und was sonst noch so registriert werden kann, konstruieren die Organismen mittels ihrer Gehirne ihre ganz spezifische Wirklichkeit.

    Meine Wirklichkeit ist vermutlich eine ganz andere als die meines Hundes, obwohl wir uns so ziemlich den gleichen Lebensraum teilen ;-). Und die beiden Fliegen, die da oben unter der Lampe kreisen, leben höchstwahrscheinlich in noch einer anderen Wirklichkeit.

    Entscheidend dabei ist, dass Konstrukt und Realität eine hinreichend große Schnittmenge haben, sonst wird es schwierig mit dem Fortgang der Evolution.

    Kurz, wenn ich Roths Texte genauso wohlwollend lese wie ich es z.B. mit Stephans Texten immer tue, dann habe ich schon das Gefühl zu verstehen, was Roth mit seinem philosophischen Geschwurbel zu sagen versucht.

  263. @Balanus

    Ein Wesenzug menschlichen Denkens scheint es ja zu sein, dass wir unsere Erlebnis- und Vorstellungswelt nach Mustern von Komplementarität ordnen, was sich durch die zahlreichen komplementären Begiffspaare und Symbole wie wahr/falsch, gut/böse, Tag/Nacht, Yin/Yang etc. in unserer Sprache niederschlägt. Ein philophischer Dualismus, wie ich es meinte, wird es erst, wo etwas davon zur philosophischen Doktrin erhoben wird. Und Roths Ansatz ist von dieser Art, wenn auch das Paar real/wirklich überhaupt keine Komplementarität ausdrückt. Wohlwollend, wie wir sind, können wir ihm hier vielleicht phänomenal/transphänomenal durchgehen lassen.

    Der Haken bei der Sache ist aber, dass alles Transphänomenale, was Roth “real” nennt, in den empirischen Wissenschaften methodisch strikt ausgeschlossen ist, denn das ist pure Metaphysik. Davon gänzlich unbeeindruckt kocht Roth nun einen verworrenen Brei aus Metaphysik und Neurobiologie, den er dann als seine aus wissenschaftl. Forschung gewonnene Erkenntnis an uns alle verkaufen will. Da ist für einige von uns aber schwer zu ertragen.

    Das Dilemma, in das sich Roth hineinmaneuvriert hat, ist schon nachvollziehbar:

    Wie alles, was ich wahrnehme, ist auch dieser Sinneseindruck [vom Gehirn selbst] ein Konstrukt des Gehirns. Das Gehirn erzeugt also ein Konstrukt von sich selbst. … Das bedeutet aber, dass dieses Gehirn, das ich betrachte und als meines identifiziere, nicht dasjenige Gehirn sein kann, welches mein Wahrnehmungsbild von diesem Gehirn hervorbringt. Würde ich beide Gehirne miteinander identifizieren, so käme ich zu der Schlussfolgerung, dass mein Gehirn sich als echte Teilmenge enthält. … Um derartige absurde Schlussfolgerungen zu vermeiden, müssen wir zwischen einem realen Gehirn, welches die Wirklichkeit hervorbringt, und dem wirklichen Gehirn, unterscheiden.

    Offensichtlich macht Roth hier bereits etwas falsch, oder?

  264. @Chrys: Roths Realität

    Weißt du, wie Roth das herausgefunden haben will, dass das “reëlle” Gehirn das “wirkliche” erzeugt? Denn schließlich kann er als Biologe und Mensch in der “Wirklichkeit” doch auch nur die Rothsche Wirklichkeit untersuchen und nicht die “Realität”.

    Und ad phänomenal/transphänomenal: Was ist denn dann das Transphänomenale? Das, was das Phänomen übersteigt; was ist das aber? Und wie können wir darüber etwas wissen?

  265. @all: Neurophilosophie-Lesekreis

    Hallo allerseits. Wer hätte denn daran Interesse, hier bei Menschen-Bilder an einem Neurophilosophie-Lesekreis teilzunehmen?

    Wir könnten dafür z.B. einen bestimmten Aufsatz oder Auszug aus einem Buch lesen, zur Einleitung könnte jemand anders oder ich einen kurzen Beitrag schreiben und dann wird das hier diskutiert.

    Die Diskussion hier zur “Wirklichkeit” ist doch schon einmal ein gutes Beispiel, wie so etwas aussehen könnte; nebenbei sei übrigens auf Christian Hoppes Blog Wirklichkeit verwiesen, worin es auch schon einmal einen Beitrag zur Wortbedeutung von Wirklichkeit gab.

    In Frage kämen “Klassiker” der Neurophilosophie aber z.B. auch das neue Buch Georg Northoffs, “Das disziplinlose Gehirn – Was nun, Herr Kant?: Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie”, würde mich interessieren.

  266. Phänomenal/transphänomenal /@Chrys

    Diese zuletzt zitierten Rothschen Gedankengänge sind schon ganz schön strange, keine Frage.

    Aber ich habe ohnehin so meine Schwierigkeiten mit gewissen philosophischen Betrachtungen zu biologischen Phänomenen.

    Sieht man auch hier an der Diskussion um die Bedeutung der Umwelt bei Verhaltensäußerungen. Philosophisch und psychologisch könnte ich Stephan zustimmen, V = U x K x G. Aber biologisch nicht, da trifft es V = G x K mMn besser.

    Christian Hoppe hat vor knapp fünf Jahren ebenfalls über den neuronalen Determinismus (und Willensfreiheit) gebloggt. Im Diskussionsstrang fand ich folgende schöne Passage meines Sprachkritikers Helmut Wicht, passend zu Roths „phänomenal/transphänomenal“:

    Nun pflegen wir unsere Hirnvorgänge/Bewusstseinsvorgänge grob in zwei Klassen zu sortieren: jene, die in mehr oder weniger unmittelbarem Zusammenhang mit einer äusseren, jetzt gerade vorhandenen objektiven “wirklichen Wirklichkeit” zusammenhängen, und eben jene, die wir als “innere Wirklichkeiten” ansehen.

    Um dieses Spannungsfeld zwischen äußerer Welt und innerem Erleben geht es wohl auch Roth. Und um die unüberbrückbare Grenze zwischen außen und innen. Vermutlich… 😉

  267. @Stephan, Balanus / Gerhard Roths Welt

    Roths lapidare Aussage, Sinneseindrücke seien Konstrukte des Gehirns, ist sicherlich problematischer, als es auf den ersten Blick aussieht. Hier wird die Konstruierbarkeit eines kognitiven Vorgangs (Wahrnehmung) durch neurophysiologische Prozesse behauptet oder angenommen. Einmal abgesehen davon, dass weder er noch sonst jemand den empirisch-wissenschaftl. Nachweis einer solchen Konstruierbarkeit vorzeigen kann und ergo die Angelegenheit als neurobiologische Folklore gesehen werden muss, ist sich Roth der problematischen Aspekte dabei zumindest ansatzweise bewusst geworden.

    Um sich vor absurden Schlussfolgerungen seiner Überlegungen zu schützen, postuliert Roth, er habe zwei unterscheidbare Gehirne, nämlich ein “reales”, das die Wirklichkeit in Gestalt von Sinneseindrücken konstruiert, und ein “wirkliches”, welches in dieser Wirklickeit als Phänomen existiert und für Roth als sein Gehirn identifizierbar ist.

    Eigentlich geht es dann aber weiter. Roths “wirkliches” Hirn ist doch offenbar nur dann ein Hirn, wenn es imstande ist, Sinneseindrücke zu konstruieren (die besagte neurobiologische Folklore hat sich ja auch durch die Erforschung phänomenaler, also “wirklicher” Gehirne ergeben). Wir müssen daher unterstellen, dass Roths “wirkliches” Gehirn wiederum eine Wirklichkeit hervorbringt, in der dann ein “wirklich wirklicher” Gerhard Roth lebt, der dort ein “wirklich wirkliches” Gehirn als das seine identifizieren kann, und dessen “reales” Gehirn gerade das “wirkliche” Gehirn des “wirklichen” Gehard Roth ist.

    So liesse sich das ad infinitum fortsetzen, und Gerhard Roth hat dann sogar mindestens abzählbar unendlich viele Gehirne.

  268. Ad Roths Welt/@Chrys

    »Hier wird die Konstruierbarkeit eines kognitiven Vorgangs (Wahrnehmung) durch neurophysiologische Prozesse behauptet oder angenommen. Einmal abgesehen davon, dass weder er noch sonst jemand den empirisch-wissenschaftl. Nachweis einer solchen Konstruierbarkeit vorzeigen kann und ergo die Angelegenheit als neurobiologische Folklore gesehen werden muss […]. «

    Ja genau, und dann gibt es auch noch Philosophen, die das zur Grundlage ihrer Philosophie machen. Neurobiologische Folklore-Philosophie, sozusagen.

    Ich verstehe ja auch nicht, welche Schwierigkeiten der Neurophilosoph Gerhard Roth mit dem Gehirn hat. Warum ausgerechnet bei der Erforschung dieses Organs besondere Probleme mit der Realität und Wirklichkeit auftreten sollen und weshalb er meint, hier zwischen einem „realen“ und einem „wirklichen“ Gehirn unterscheiden zu müssen. Analog wäre von einem Nephrologen zu fordern, streng zwischen einer „realen“ und einer „wirklichen“ Niere zu unterscheiden. So ein Ansatz führte dann wohl zu einer neuen philosophischen Disziplin, der Nephrophilosophie. Und im Gefolge dann vielleicht auch zu einer Hepato- und Pulmophilosophie.

    Gott bewahre uns davor…

  269. Roths Welt

    fMRT-Messungen zeigen, dass beim Denken an ein Erlebnis die gleichen Gehirnbereiche aktiv sind, wie beim ursprünglichen Erlebnis. Sogar die Hirnaktivität beim Denken an eine Bewegung ist die gleiche als wie beim tatsächlichen Ausführen einer Bewegung.

    Dies zeigt, wie hier vom Gehirn eine Wahrnehmung aus dem Gedächtnis (Erinnerung) re-aktiviert wird. Diese Wahrnehmung ist nicht das ganze Gehirn, sondern nur eine durch Focussierung der Aufmerksamkeit herausgehobene Teilmenge

  270. Noch mehr Korinthen

    Vier Wissenschaftler sitzen in einem Zug auf ihrer ersten Englandreise. Sie schauen aus dem Fenster, eine Unterhaltung kommt auf:
    Der eine Philosoph (Phänomenologe): “Seht, dort ist ein schwarzes Schaf!”
    Der Biologe : “In England sind die Schafe anscheinend schwarz.”
    Der Psychologe: “In England gibt es mindestens ein schwarzes Schaf.”
    Der andere Philosoph (Logiker): “In England gibt es mindestens ein Schaf, dessen eine Seite schwarz ist.”

    A)

    Joker:
    “P2: X und InX sind nicht gleichzeitig wahr. (Für alle möglichen X)”

    Stephan (vermutlich auf P2 bezogen):
    “[D]en Satz vom ausgeschlossenen Dritten habe ich als bekannt vorausgesetzt”

    P2 ist nicht der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Er ist nur eine Prämisse, vermutlich sogar eine empirisch falsche.

    – P2 schließt nicht aus, dass X und InX außer “wahr” und “falsch” nicht auch einen dritten Wahrheitswert haben könnten, z.B. “halbwahr” oder “weder wahr noch falsch”.

    – P2 ist auch nicht der Satz vom (ausgeschlossenem) Widerspruch. P2 ist schwächer, denn X und InX könnten beide gleichzeitig falsch sein.

    – Es könnte auch X “oder” InX, gleichzeitig wahr und falsch sein. Das “oder” im letzten Satz ist ein ausschließendes oder, da sich ja tatsächlich aus P2 schließen lässt, dass nicht beide gleichzeitig wahr sein dürfen.

    B)

    Stephan:
    “Dann würde prima facie nie etwas alleine aus einer Prämisse der Form “A ist B” folgen.”

    Das ist richtig, bis auf die bereits erwähnten trivialen Folgerungen (wie z.B. Erweiterungen mit “nicht nicht”), wenn mit folgen, “logisch folgen” gemeint ist. Die Logik, in der hier gemeinten Form, beschäftigt sich in erster Linie mit der Verknüpfung von mehreren Aussagen, also mindestens zwei. Seltener mit der Verkürzung oder Erweiterung einer einzigen Aussage.
    Was aus einer einzigen sprachlichen Aussage folgt, damit beschäftigt sich unter anderem die Semantik. Wenn diese logisch sein soll, wenn daraus eine Begriffslogik entstehen soll, benötigt man aber auch wieder mehrere Prämissen. Am geeignetsten sind zeitlich stabile Prämissen, sonst droht Humpty Dumpty.


    Der sich ebenfalls im Abteil befindliche Bauer, Besitzer des Tiers: “Das ist eine Ziege. Sie ist gescheckt, das kann man auf diese Entfernung nur nicht erkennen.”

  271. @ fegalo: Logischer Fehlschluss

    “Jene Alltagsmetaphysik, deren Geltung gleichzeitig die Grundlage für unser gesamtes Wertesystem ist.”

    Viele glauben – wie Sie – dass unser Alltagsmetaphysik die einzige und unverzichtbare Grundlage für unser Wertesystem darstellt. Aber ist das so? Hat sich unser Wertesystem nicht schon vor bekanntwerden jeglicher Metaphysik begonnen zu entwickeln? Ich meine evolutionär, schon im Tierreich. Und ist es nicht auch so, dass auch wissenschaftliche Erkenntnisse zur Grundlage unseres Wertesystems geworden sind? Wie begründen wir z.B. die rechtliche Gleichstellung aller Menschen?

    Die Alltagsmetaphysik wird gerne genommen, um unser Handeln zu erklären und zu rechtfertigen. Aber sie ist eine nachgeschobene Erklärung und Rechtfertigung, sie ist nicht der Ausgangspunkt. Natürlich kann sie sich ändern, weiterentwickelt werden oder auch ersetzt werden. Wenn unser Wissen zunimmt, wir andere Rechtfertigungen finden, werden wir nicht angewiesen sein auf das historisch, aus Unkenntnis Erwachsene.

    Wenn Sie bei Verantwortung nicht mehr an eine begriffliche Definition denken würden, in der auf metaphysische Freiheit rekurriert wird, sondern Verantwortung als Phänomen verstehen würden, das gar nicht verschwinden kann, wäre viel geholfen. Ich wiederhole mich, Verantwortung kann sowenig verschwinden, wenn metaphysischer Glaube sich verändert, wie Feuer verschwinden kann, wenn es kein Phlogiston mehr gibt.

    Wenn Roth und Singer fordern, das Strafrecht zu ändern, habe ich immer den Eindruck sie würden dem Richter, der Gesellschaft und nicht zuletzt sich selbst, Freiheitsgerade einräumen, die, wenn der Determinismus zutreffen würde, diese gar nicht hätten. Wie *ZENSIERT* diese Folgerungen sind, kann man erahnen, wenn man ähnliches für das Zivilrecht einmal gedanklich durchgespielt. Es müssten weder Leistungen erbracht werden noch welche bezahlt werden, weil alle Vertragspartner bei Vertragsabschluss ja determiniert waren, also rechtlich nicht verantwortlich.

    Die Frage, “Dürfen wir Täter bestrafen?”, enthält ein dürfen. Aus deterministischer Sicht ergeben sich hier mehrere logische Möglichkeiten wie man sie behandeln kann. Ich erwähne nur zwei.

    1) Es könnte sich um eine nicht beantwortbare Frage handeln, wie Fragen “Was war früher, vor aller Zeit?”. Wenn sie nicht beantwortet werden kann, dann kann sich auch nicht mit Nein beantwortet werden. Wir würden dann nur erklären können (deterministisch beschreiben), dass wir Täter bestrafen (oder auch nicht, falls das Strafrecht geändert wird).
    2) Auch in einer determinstischen Welt könnte sich eine Moral ausbilden. Wenn es eine Antwort auf Fragen der Form “Dürfen wir …?” gibt, dann kann man anhand einer solchen Moral auch die Frage entscheiden, was ein Täter ungestraft darf und was nicht “Darf er …?”.

    Wenn Roth, Singer und Sie aus dem Determinismus schließen, dass dann niemand mehr für seine Taten verantwortlich wäre, begehen sie eine Variante des naturalistischen Fehlschlusses. Aus einem Sein folgt kein Sollen. Ebenso gilt:

    Nur weil etwas notwendigerweise geschieht (determiniert ist), ist es nicht schon (moralisch) gerechtfertigt!

  272. @ Stephan: Neurophilosophie-Lesekreis

    “Wer hätte denn daran Interesse, hier bei Menschen-Bilder an einem Neurophilosophie-Lesekreis teilzunehmen?”

    Für mich klingt das interessant. “Das disziplinlose Gehirn” werde ich mir gleich mal bestellen. Soll ich die wirkliche oder die reale Version nehmen?

  273. @Joker: Halbwahrheiten

    P2 schließt nicht aus, dass X und InX außer “wahr” und “falsch” nicht auch einen dritten Wahrheitswert haben könnten, z.B. “halbwahr” oder “weder wahr noch falsch”.

    “halbwahr” und “weder wahr noch falsch” sind keine Wahrheitswerte. Als Wahrheitswerte gelten (implizit) nur “wahr” und “falsch”. Ich hatte angenommen, dass “InX” für “nicht X” steht. Mit dieser Interpretation ist für alle wahrheitswertigen Aussagen X (X und InX) falsch.

    – P2 ist auch nicht der Satz vom (ausgeschlossenem) Widerspruch. P2 ist schwächer, denn X und InX könnten beide gleichzeitig falsch sein.

    X und InX können nicht beide falsch sein, wenn “InX” für “nicht X” steht.

    Es könnte auch X “oder” InX, gleichzeitig wahr und falsch sein. Das “oder” im letzten Satz ist ein ausschließendes oder, da sich ja tatsächlich aus P2 schließen lässt, dass nicht beide gleichzeitig wahr sein dürfen.

    “Gleichzeitig wahr und falsch sein” ist eine Aussage über den Wahrheitswert mindestens zweier Aussagen. “Gleichzeitig wahr” heißen zwei Aussagen A und B dann, wenn A und B. “Gleichzeitig falsch” heißen sie, wenn nicht A und nicht B.

    Für alle wahrheitswertigen Aussagen X sind die “zwei” Aussagen X und nicht X weder “gleichzeitig wahr” noch “gleichzeitig falsch”.

    Der Satz “Es könnte auch X exklusiv-oder InX, gleichzeitig wahr und falsch sein” ist sinnlos, was nicht am überflüssigen Komma liegt.

  274. Warum der Neurodeterminist Recht hat

    @fegalo:

    Hier habe ich doch ganz klar von den logischen Folgen gesprochen, die sich ergeben, wenn wir das üblicherweise indeterministische Selbstverständnis des Menschen durch eine deterministische Beschreibung ersetzen, (und nicht von den Folgen des Determinismus aus sich selbst heraus). Die Folgen für dieses Selbstverständnis sind daher alles andere als tautologisch. Wir reden also von den Folgen einer Umdeutung. Es ist dann zum Beispiel eine logische Folge einer solchen Umdeutung, dass die bisher behauptete Verantwortung eines Delinquenten für seine Tat zumindest nicht mehr die gleiche ist wie unter der Voraussetzung des Indeterminismus mit metaphysischer Freiheit (um es nur ganz vorsichtig zu formulieren. S.u. => Semikompatibilismus)

    Mit dem indeterministischen Selbstverständnis ist wohl gemeint, dass der Mensch das Gefühl hat, sein Wille bestimme sein Handeln, selbst dann, wenn es Gründe (=Determinanten) für sein Handeln gibt. Das erscheint mir widersprüchlich, aber nun gut.

    Der Neurodeterminist behauptet, „wir sind unser Gehirn“, alles Verhalten bzw. Handeln geht vom Gehirn aus (G à V).

    Stephan behauptet, Verhalten ergibt sich aus der Interaktion von Umwelt, Körper und Gehirn (U x K x G à V).

    Welche dieser beiden Annahmen liegt der Rechtsprechung implizit zugrunde? Ich behaupte, die des Neurodeterministen.

    Man kann dies schön am aktuellen Kölner Beschneidungsurteil exemplifizieren:

    Der beschuldigte Arzt hat das Messer geführt und ist für sein allein Handeln verantwortlich (Wegen der Identität von „Ich“ und „Gehirn“ [„wir sind unser Gehirn“] könnte die Handlung des Arztes auch dessen Gehirn zugeschrieben werden.)

    Der Arzt war voll zurechnungsfähig, das heißt, es lagen keine körperlichen Einschränkungen oder Störungen vor, die die Funktion des Gehirns beeinträchtigt hätten (neurologische Erkrankungen, Psychosen, Drogen, etc.).

    Die Prüfung der äußeren Umstände (Umwelt) hat aber ergeben, dass der Arzt (bzw. dessen Gehirn) nicht über die hiesige Rechtslage informiert war und hat darum auf „Verbotsirrtum“ erkannt.

    Schlussendlich trägt für die Justiz also der Mensch (= Gehirn) die volle und alleinige Verantwortung für sein Handeln, wobei Umwelt und Körper aber mildernde Umstände begründen können.

    Womit gezeigt wäre, dass der Neurodeterminist Recht hat, unser Rechtssystem fußt letztlich auf dem (Neuro-)Determinismus.

  275. @ Ano Nym: Voll richtig

    @ Ano Nym

    Was Sie schreiben ist vollkommen logisch und richtig – falls man einige zusätzliche Prämissen als wahr unterstellt.

    1. Die Bedeutung von “wahr” und “falsch” wäre immer die gleiche und eindeutig definiert.

    2. Es gäbe nur eine, die klassische Logik. Und genau diese müsste immer angewendet werden. Ein Einstiegspunkt für Interessierte über nichtklassische Logiken, unter anderem mehrwertige, befindet sich hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Logik#Nichtklassische_Logiken

    3. “wenn “InX” für “nicht X” steht”. Steht es aber nicht. So wie es in P2 dasteht, handelt es sich zunächst nur um eine Konkatenation von Buchstaben. (Sekt / InSekt ; halt / Inhalt; o Nym / Ino Nym, stabil / Instabil)

    Sowohl durch die Überschrift, in der das Wort Korinthen Verwendung findet, als auch durch den vorgeschobenen Dialog, wollte ich den Leser warnen, dass im Folgenden auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten keine Rücksicht genommen wird. Offensichtlich habe aber auch ich einige versteckte Prämissen mit eingebracht. Neben der Bedeutung der Worte, Satzzeichen und Klammern auch z.B. die Bedeutung von X als Variable und wie man eine Ersetzung vorzunehmen hat. So kommt auch der allwissende Dämon, im Dialog der Bauer, nicht ohne dogmatisch gesetzte Vorannahmen aus.

    Zur Übung, nach der Lektüre über nichtklassische Logiken, könnten Sie ja meinen Korinthen-Post nochmal lesen, dabei die hier erwähnten Prämissen nicht anwenden und kämen dadurch eventuell zu einer anderen Bewertung.

  276. @Balanus: Rechtschaffend

    Der Neurodeterminist behauptet, „wir sind unser Gehirn“, alles Verhalten bzw. Handeln geht vom Gehirn aus (G à V).

    Stephan behauptet, Verhalten ergibt sich aus der Interaktion von Umwelt, Körper und Gehirn (U x K x G à V).

    Welche dieser beiden Annahmen liegt der Rechtsprechung implizit zugrunde? Ich behaupte, die des Neurodeterministen.

    a) Sehen Sie da keine Probleme im Zusammenhang mit der sog. mittelbaren Täterschaft, in der der unmittelbare Täter in der Regel weder geistes- noch hirnkrank ist, aber seine Rolle im Geschehen als mehr oder weniger willensfreies Werkzeug des eigentlichen Täters gesehen wird und daher straffrei ist?

    b) Was ist mit sozialadäquatem Verhalten? Hier ist ja schon im Begriff ausgeschlossen, dass ein Verhalten dem Individuum (und damit seinem Gehirn) zugeschrieben werden können soll.

  277. @ Balanus; cc: @ fegalo

    “Womit gezeigt wäre, dass der Neurodeterminist Recht hat, unser Rechtssystem fußt letztlich auf dem (Neuro-)Determinismus.”

    Diese Konsequenz ist offensichtlich falsch. Dir muss daher ein Fehler in der Folgerungen passiert sein, oder, falls dies nicht so ist, muss mindestens eine der Prämissen falsch sein (ich vermute sogar beides). Dann hätten wir eine Reductio ad absurdum. War das Dein Beweisziel?

    PS. Eine rhetorische Frage: Du bist doch Biologe, oder?

  278. @Joker: Hirninkontinenz

    “wenn “InX” für “nicht X” steht”. Steht es aber nicht.

    Das hätte mir als Antwort völlig ausgereicht.

    Ihren Bedarf an nicht-klassischer Logik können Sie nebenan, in der Talkshow von Michael “Britt” Blume genießen, wo ein Beteiligter bereits die Vermutung geäußert hat, dort sollten “Menschen anderer Meinung vorgeführt” werden.

  279. @Ano Nym

    »a) Sehen Sie da keine Probleme im Zusammenhang mit der sog. mittelbaren Täterschaft, in der der unmittelbare Täter in der Regel weder geistes- noch hirnkrank ist, aber seine Rolle im Geschehen als mehr oder weniger willensfreies Werkzeug des eigentlichen Täters gesehen wird und daher straffrei ist?«

    Nein, da sehe ich kein Problem. Fehlender eigener Wille kann Straffreiheit begründen. Denn es handelt sich hier im Grunde um eine neurologische oder psychische Störung.

    »b) Was ist mit sozialadäquatem Verhalten? Hier ist ja schon im Begriff ausgeschlossen, dass ein Verhalten dem Individuum (und damit seinem Gehirn) zugeschrieben werden können soll.«

    Diesen Einwand verstehe ich nicht. Wenn ein Individuum sein Verhalten willentlich dem sozialen Umfeld (wie gefordert) adäquat anpasst, wem sonst könnte ich das Verhalten zuschreiben?

  280. @Joker

    »Dann hätten wir eine Reductio ad absurdum. War das Dein Beweisziel?«

    Ich bin kein Logiker. Ich wollte nur mal darauf hinweisen, wie es so läuft in unserem Rechtssystem.

    Du kennst ja sicher diesen Einwand mancher Indeterministen: „Herr Richter, nicht ich war es, sondern mein Gehirn.“
    Dem antwortet der neurodeterministische Richter: „Mein Guter, du bist dein Gehirn. Schuldig!“

  281. @Balanus

    Nein, da sehe ich kein Problem. Fehlender eigener Wille kann Straffreiheit begründen. Denn es handelt sich hier im Grunde um eine neurologische oder psychische Störung.

    A will den C töten und vergiftet zu diesem Zweck dessen Nahrungsvorrat, den der B dem C über dessen Magensonde zuführt. B und C wissen nichts von der Vergiftung der Nahrung. C stirbt.

    Wo ist hier eine neurologische oder psychische Störung des unmittelbaren Täters B?

    Wenn ein Individuum sein Verhalten willentlich dem sozialen Umfeld (wie gefordert) adäquat anpasst, wem sonst könnte ich das Verhalten zuschreiben?

    Das Verhalten des Individuums, das an einer roten Ampel hält, ist nicht dem Individum sondern dem staatlichen Regelungswillen zuzurechnen. Ich jedenfalls bin da ein willenloses Werkzeug. Einen Willen zu der Frage, ob ich anhalte oder nicht, bilde ich mir nur, wenn es nicht mehr grün aber noch nicht rot ist.

  282. @ Ano Nym: Danke

    “wo ein Beteiligter bereits die Vermutung geäußert hat, dort sollten “Menschen anderer Meinung vorgeführt” werden”

    Ich hab´s gelesen. Das kann nur jemand geschrieben haben, dem einmal der “Aufstieg bis in die Spitze der Hierarchie” gelungen war.

    Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nein, ich möchte hier niemand vorführen.

    Mir geht es immer noch um die Gedanken:

    1) Aus, der Determinismus ist wahr, folgt logisch nichts.

    2) Die Folgerungen, die (aus Determinsmus und versteckten Prämissen) insbesondere hinsichtlich der Verantwortung gezogen werden, beruhen auf einem naturalistischem Fehlschluss. Denn daraus, dass ein Geschehen determiniert ist, folgt nicht schon dessen Rechtfertigung.

    Zugegeben um das nachvollziehen zu können, muss man nicht die klassische Logik verlassen. Aber man muss doch gewohnte und weithin als selbstverständlich hingenommene Prämissen in Frage stellen, bzw. sogar verneinen. Hierzu wieder dienten mir die als selbstverständlich angesehenen Prämissen der Logik als ideales Demonstrationsobjekt.

    Insofern würde ich gerne hier im Blog weiter kommunizieren.

    Ihre Ausführungen zur klassischen Logik sollten für die hier Beteiligten zu keinem wesentlichen Erkenntnisgewinn beigetragen haben. Vielleicht sollten Sie diese besser im anderen Blog einbringen.

    Danke aber nochmal für Ihr Nachhaken. Das gab mir die Gelegenheit zu vielleicht nicht notwendigen aber möglicherweise doch hilfreichen Klarstellungen.

  283. Magensonde und Ampel/ @Ano Nym

    »A will den C töten und vergiftet zu diesem Zweck dessen Nahrungsvorrat, den der B dem C über dessen Magensonde zuführt. B und C wissen nichts von der Vergiftung der Nahrung. C stirbt.

    Wo ist hier eine neurologische oder psychische Störung des unmittelbaren Täters B?«

    In diesem Falle dürfte es auf das Nichtwissen bezüglich der wahren Inhaltsstoffe der Nahrung ankommen. Die Nahrungszuführung über eine Magensonde stellt in der Regel keine Straftat dar. Ich plädiere folglich für Freispruch.

    »Das Verhalten des Individuums, das an einer roten Ampel hält, ist nicht dem Individum sondern dem staatlichen Regelungswillen zuzurechnen. Ich jedenfalls bin da ein willenloses Werkzeug. Einen Willen zu der Frage, ob ich anhalte oder nicht, bilde ich mir nur, wenn es nicht mehr grün aber noch nicht rot ist.«

    Das Verhalten an der Lichtzeichenanlage hatten wir doch schon mal diskutiert. Dort mag die Handlungsfreiheit eingeschränkt sein, aber eine Fernsteuerung durch den Staat findet nicht statt.

  284. @Joker: Volltreffer

    Mir geht es immer noch um die Gedanken:

    1) Aus, der Determinismus ist wahr, folgt logisch nichts.

    2) Die Folgerungen, die (aus Determinsmus und versteckten Prämissen) insbesondere hinsichtlich der Verantwortung gezogen werden, beruhen auf einem naturalistischem Fehlschluss. Denn daraus, dass ein Geschehen determiniert ist, folgt nicht schon dessen Rechtfertigung.

    Beides stimmt, viel mehr gäbe es dazu auch nicht zu sagen. Aber mit einer solchen Feststellung kriegt man natürlich kein Buch vollgeschrieben und keine Einladung zu Scobel.

  285. @Balanus: Einspruch!

    In diesem Falle dürfte es auf das Nichtwissen bezüglich der wahren Inhaltsstoffe der Nahrung ankommen. Die Nahrungszuführung über eine Magensonde stellt in der Regel keine Straftat dar. Ich plädiere folglich für Freispruch.

    Dem Plädoyer schließe ich mich an, doch wo ist die neurologische oder psychische Störung beim Irrenden und Freizusprechenden?

    Das Verhalten an der Lichtzeichenanlage hatten wir doch schon mal diskutiert. Dort mag die Handlungsfreiheit eingeschränkt sein, aber eine Fernsteuerung durch den Staat findet nicht statt.

    Sie hatten das seinerzeit beendet, wenn ich mich richtig erinnere, indem Sie sinngemäß schrieben “Ach so meinen Sie das.”. Das was ich meine ist: Es liegt an der LZA nicht nur deterministisches Verhalten vor, dieser Determinismus ist sogar für jeden Außenstehenden klar. Wenn man dem Außenstehenden die Ampelsteuerung in die Hand gibt, kann dieser willentlich den Verkehrsfluss über das Verhalten der einzelnen Verkehrsteilnehmer fernsteuern. Im Regelfall führt die Ampelsteuerung aber ein verkehrsplanerisches (also hoheitliches gleich staatliches) Programm aus.

  286. Rechtssystem

    Hier war ja ganzschön ‘was los am Montag – eben nur ein Einspruch @Balanus, der nichts geringeres behauptet, als dass unser Rechtssystem neurodeterministisch sei.

    Moment mal: Haben die Neurodeterministen nicht selbst behauptet, ein neues Strafrecht müsse her?

    Nun ja, überspringen wir mal den auf der Hand liegenden Einwand (“Moment mal”), dann sehen wir inhaltlich recht schnell, dass allein schon das Vorhandensein von §20, 21 StGB (Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit) hervorragend zu V = U x K x G passt.

    Ergo: Weder ist das Recht neurodeterministisch, noch braucht es einen Neurodeterministen.

  287. Ad Neurodeterminismus vs. Rechtssystem

    TP, 10.10.2005: [Nicht der Mensch mordet, sondern sein Gehirn]

    Die Hirnforscher fordern deshalb eine Änderung des Strafrechts: Da unser Verhalten nicht von selbstbestimmten Entscheidungen, sondern vom limbischen System abhänge, “muss im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden”, fordert Roth in einem Beitrag für die Zeitschrift Information Philosophie. Wer von Genen und Neuronen gesteuert werde, sei nicht schuldfähig.

    Und weiter:

    Der Frankfurter Strafrechtler und Rechtsphilosoph Klaus Lüderssen warnt daher auch, mit der neurowissenschaftlichen Intervention in die Gesellschaft drohe ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, als die Hirnforschung ihren Anfang nahm. Damals gingen Mediziner und Strafrechtsreformer eine unheilige Allianz ein.

  288. @Ano Nym & @Balanus: Kunterbunt

    1. Die ‘neurologische Störung’ des Nichtwissenden ist sein Nichtwissen.

    2. Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer, denn deren Handlungsfreiheit ist überhaupt nicht eingeschränkt. Die Anlage gibt nur ein buntes Zeichen, auf das jeder Verkehrsteilnehmer nach seinem (Gehirn)Verständnis reagiert.
    Ist der Verkehrsteilnehmer ein ‘Deutscher’, dann reagiert er meist wie @Ano Nym – quasi ferngesteuert. Ist er ein ‘Franzose’, dann analysiert er zumindest als Fußgänger noch die Situation – schließlich ist das Zeichen nur ein Hinweis und die Überquerung bei Grün teils gefährlicher als bei Rot. Ist er ein ‘Indianer’, dann stimmt er vielleicht einen Freudengesang an – weil er die grünen Männchen als Erscheinungen seines Gottes betrachtet.
    Wir dürfen bei der Untersuchung nämlich nicht stillschweigend unsere Erfahrungen und unsere erlernten Verhaltensmodelle als gegebenen voraussetzen. Wobei auch ich das gerade im Sinne einer Standardisierung getan habe (‘Deutsche’, ‘Franzosen’, ‘Indianer’).

  289. ‘Deterministisches’ Rechtssystem

    Auch die Diskussion zwischen ‘Neurodeterministen’ und Juristen leidet unter nicht erklärten Prämissen. Denn selbst wenn die Schuld als moralische Kategorie mit moralischer Begründung nicht haltbar wäre, kann sie aus deterministischer Sicht als moralische Kategorie funktional sein.

    Das Strafrecht lässt sich nämlich determinismuskompatibel lesen – auch wenn ich damit den Streit um die Einflüsse von Umwelt und Körper nicht neu aufmachen will, sondern deren Einfluss bei der Gehirnformung und -auslösung voraussetze: Die strafrechtlichen Normen sind in ihrem Sanktionsaspekt als Reaktion auf schematisierte Gehirnzustände interpretierbar (darauf will ich mich hier beschränken – denn der allgemeine Präventionsaspekt als Verstärkung zukünftiger Umwelteinflüsse ist etwas komplexer).

    1. Der objektive Tatbestand reicht uns eben nicht, sondern es braucht noch den subjektiven Tatbestand. Sprich das Gehirn des Täters muss zum Zeitpunkt der Tat um die Folgen seines Handelns gewusst und diese zumindest billigend in Kauf genommen haben.

    2. Rechtswidrigkeit ist ausgeschlossen, wenn der Täter nur bestimmte Rechtsgüter angemessen verteidigt. Aber dazu kommt es nicht nur auf die objektive Lage an, sondern auch auf den Willen des ‘Täters’. Auch hier wird also auf die Situation des Gehirns zurückgegriffen.

    3. Die Schuld kann aus vielen Gründen ausgeschlossen sein und dabei wird auch auf den ‘limbischen Determinismus’ Rücksicht genommen.
    – Beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) etwa entfällt die Schuld und damit die Strafbarkeit auch dann, wenn die Abwehr eigentlich unangemessen war. Allerdings nur, wenn das Gefühlsleben des Abwehrenden stark betroffen war – weil er selbst, einer seiner Angehörigen oder eine andere ihm nahestehende Person angegriffen wurde.
    – Beim Verbotsirrtum (§ 17 StGB) entfällt die Schuld, wenn das Gehirn des Täters nicht wusste, dass es Unrecht tat – und das aufgund der ihm zugänglichen Informationen nicht wissen konnte.
    – Bei der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) entfällt die Schuld, wenn das Gehirn des Täters nicht wusste, dass es Unrecht tat – und das aufgrund seines allgemeinen Zustands nicht wissen konnte. Oder wenn es ob seines allgemeinen Zustandes nicht nach diesem Wissen handeln konnte.
    – Wenn dieser Zustand des Gehirn nicht ganz so tragisch war, dann wird zumindest noch die Strafe reduziert (§ 21 StGB).

    Überall aber geht es um Annahmen über die Determiniertheit des Gehirn-Verhaltens: Dass ich um Tatsachen nicht weiß – kann mein Gehirn nicht ändern. Dass ich für mich und Nahestehende einspringe – kann mein Gehirn nicht ändern. Dass ich um das Recht nicht wissen kann – kann mein Gehirn nicht ändern. Dass ich ein krankes Gehirn habe – kann mein Gehirn nicht ändern. Dass ein Teil meines Gehirns krank ist – kann mein Gehirn nicht ändern. Zumindest im Tatzeitpunkt nicht.

    Also immer dann, wenn das Gehirn vollkommen machtlos war – immer dann entfällt die Strafbarkeit. Sonst aber mutet man dem Gehirn zu, selbst tätig zu werden, ggf. seinen Körper auf der Suche nach dem richtigen Wissen zu benutzen oder seine Umwelt zu ändern. Und wenn es das nicht allein kann – sich ändern zu lassen, je nach Schweregrad durch juristische Stafe oder psychologische Hilfe. Und insofern ist die Abstufung Tatbestand-Rechtswidrigkeit-Schuld auch eine Einordnung der Anpassungsfähigkeit.

    1. Tatbestandliche Fehler werden die meisten Gehirne zukünftig korrigieren, daher ist keine Bestrafung nötig – sondern allenfalls Belehrung. (Wenn bestimmte tatbestandliche Fehler als gravierend angesehen werden, dann gibt es sogenannte Fahrlässigkeitsdelikte – das Recht wirft also hier nicht die Handlung selbst vor, sondern die fehlende Sorgfalt.)
    2. Ausnahmsweise nicht rechtswidrige Handlungen, die der Handelde wegen des Rechtfertigungsgrundes vorgenommen hat, wird sein Gehirn natürlich unterbinden, wenn sie zukünftig rechtswidrig sind – das Recht bestätigt also beide Ebenen seiner Entscheidung.
    3. Bei nicht schuldhaften Handlungen muss unterschieden werden.
    3a. Fehlende rechtliche Informationen muss das Recht dem Gehirn bereitstellen – also formuliert das Recht seine Wertungen und entschuldigt heute (so beim Beschneidungsurteil).
    3b. Fehlende Gehirnfunktionen müssen therapiert werden – also straft das Recht nicht, sondern behandelt soweit nötig und erforderlich.
    3c. Teils fehlende Gehirnfunktionen kann das Gehirn prinzipiell selbst korrigieren – also straft das Recht, aber gütlicherweise weniger und setzt damit Anreize zu weiterer Eigenänderung.

    Letztlich haben also sowohl @Balanus als auch @Stephan Schleim Recht:
    Zum Zeitpunkt der Tat geht das Recht von einem Neurodeterminismus aus – also von einer Determination der Handlung aus der Informationsverarbeitung im Gehirn (Körper und Umwelt sind insofern nur Input – so Balanus).
    Insgesamt aber geht das Recht von einer formenden Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt aus (so Stephan Schleim).
    Und es ist diese Unterscheidung der Rechtes (und der Gesellschaft) in der Zeit, die strikte Neurodeterministen immer wieder vergessen – und darum zu absurden Folgerungen gelangen.

  290. @Noït Atiga: Danke…

    für die Ausführungen, die im Wesentlichen das treffen, was ich auch meine. Siehe unten.

  291. @Ano Nym

    »Dem Plädoyer schließe ich mich an, doch wo ist die neurologische oder psychische Störung beim Irrenden und Freizusprechenden? «

    Wo habe ich behauptet, Nichtwissen sei eine neurologische oder psychische Störung? Nichtwissen resultiert aus der gegebenen Umwelt, in der sich das Gehirn entwickelt und organisiert hat (mit anderen Worten: Wissen erworben hat).

    »Wenn man dem Außenstehenden die Ampelsteuerung in die Hand gibt, kann dieser willentlich den Verkehrsfluss über das Verhalten der einzelnen Verkehrsteilnehmer fernsteuern.«

    Bei näherem Hinsehen steuert der Außenstehende die LZA und nichts weiter. Ob im Gefolge die Verkehrsteilnehmer die LZA beachten, liegt nicht im Einflussbereich des Außenstehenden.

  292. Rechtssystem /@Stephan

    »Moment mal: Haben die Neurodeterministen nicht selbst behauptet, ein neues Strafrecht müsse her?«

    Was manche (vermeintliche) Neurodeterministen gesagt oder behauptet haben, ist für die Erkenntnis, dass unserem Rechtssystem faktisch neurodeterministische Vorstellungen zugrunde liegen, nicht von Belang.

    Die §§ 20 und 21 StGB (Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit) zielen lediglich auf die äußeren Umstände der individuellen, allein durch das Gehirn verursachten Tat (ausgehend vom Leitsatz: „Wir sind unser Gehirn“). Das Gericht will wissen, wie das Gehirn zu dem geworden ist, was es ist.

  293. @Chrys

    Obwohl ich kein Logiker bin, habe ich das deutliche Gefühl, dass nur einer der beiden Sätze wahr sein kann:

    a) „Nicht der Mensch mordet, sondern sein Gehirn.“

    b) „Wir sind unser Gehirn.“

    Davon abgesehen: Das Konzept der moralischen Schuld ist zu unterscheiden von der rechtlichen Schuld. Das Prinzip der moralischen Schuld setzt womöglich mehr Freiheit voraus, als in einer physikalisch geschlossenen Welt möglich ist.

    Kurz: Der Neurodeterminismus, so wie ich ihn verstehe, leugnet nicht die Verantwortung des Akteurs für sein Handeln, im Gegenteil. Fraglich ist bloß, ob das Individuum auch für seine moralische Verfasstheit, seinen Charakter, seine Empathiefähigkeit, seine Wünsche und so weiter verantwortlich ist.

  294. @Noït Atiga: Begriffe

    1. Die ‘neurologische Störung’ des Nichtwissenden ist sein Nichtwissen.

    Das Nichtwissen ist aber keine neurologische Störung sondern, wie Sie richtig schreiben, nur eine ‘neurologische Störung’. Wirklich (und nicht nur in Anführungszeichen) gestört ist nur, was seine ihm aufgetragene oder beigelegte Funktion nicht erfüllt. Es ist aber gerade niemandem Aufgetragen oder beigelegt, zu wissen, was nur der mittelbare Täter weiß.

    2. Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer

    Die Hypothese, dass der Verkehr unabhängig vom Zustand der LZA fließt, ist statistisch signifikant falsifizierbar. Würden Sie dem widersprechen wollen?

    , denn deren Handlungsfreiheit ist überhaupt nicht eingeschränkt.

    Zur Handlungsfreiheit habe ich mich überhaupt nicht geäußert. Kollisionen von Handlungsfreiheit und determiniertem Verhalten müssen Sie mit jemand anderem verhandeln.

  295. @Balanus: Kleine Klarstellung

    Die §§ 20 und 21 StGB (Schuldunfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit) zielen lediglich auf die äußeren Umstände der individuellen, allein durch das Gehirn verursachten Tat (ausgehend vom Leitsatz: „Wir sind unser Gehirn“). Das Gericht will wissen, wie das Gehirn zu dem geworden ist, was es ist.

    Nein, denn die Vorgeschichte selbst interessiert das Gericht gerade NICHT.

    Und auch die äußeren Umstände sind jedenfalls bei den §§ 20, 21 StGB kaum relevant, denn dort geht es nur um Unfähigkeit wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit.
    Es geht also nur um den ZUSTAND des Gehirns zum Zeitpunkt der Tat.

    Was Sie aber vermutlich meinen ist: Das Gericht muss die Vorgeschichte und die Nachgeschichte als Anhaltspunkte heranziehen – denn es kann den Zustand des Gehirns ja nicht direkt auslesen. Das sind aber nur Indizien, wenn Sie so wollen, denn eigentlich interessiert sind die Richter nur am Zustand des Gehirns bei Begehung der Tat.

  296. @Balanus: Gefunden

    »Dem Plädoyer schließe ich mich an, doch wo ist die neurologische oder psychische Störung beim Irrenden und Freizusprechenden? «

    Wo habe ich behauptet, Nichtwissen sei eine neurologische oder psychische Störung?

    Hier: Balanus Magensonde und Ampel/ @Ano Nym 06.08.2012, 21:09

    »A will den C töten und vergiftet zu diesem Zweck dessen Nahrungsvorrat, den der B dem C über dessen Magensonde zuführt. B und C wissen nichts von der Vergiftung der Nahrung. C stirbt.

    Wo ist hier eine neurologische oder psychische Störung des unmittelbaren Täters B?«

    In diesem Falle dürfte es auf das Nichtwissen bezüglich der wahren Inhaltsstoffe der Nahrung ankommen. Die Nahrungszuführung über eine Magensonde stellt in der Regel keine Straftat dar. Ich plädiere folglich für Freispruch.

    und zuvor hier: Balanus @Ano Nym 06.08.2012, 14:02

    Nein, da sehe ich kein Problem. Fehlender eigener Wille kann Straffreiheit begründen. Denn es handelt sich hier im Grunde um eine neurologische oder psychische Störung.

    Zur LZA:

    Bei näherem Hinsehen steuert der Außenstehende die LZA und nichts weiter. Ob im Gefolge die Verkehrsteilnehmer die LZA beachten, liegt nicht im Einflussbereich des Außenstehenden.

    Vom Betreiber der LZA ist intendiert, dass die LZA den Verkehrsfluss steuert. Und das tut sie natürlich auch. Die Hypothese, der Verkehrsfluss ist unabhängig vom Zustand der LZA, ist falsifizierbar. Sie wissen aber selbst – jedenfalls sofern Sie nicht in einem Kellerloch von der Außenwelt abgeschottet gehalten werden –, dass die Hypothese sogar falsch ist.

  297. @Ano Nym: Begriffene Prämissen

    Das Nichtwissen ist aber keine neurologische Störung sondern, wie Sie richtig schreiben, nur eine ‘neurologische Störung’. Wirklich (und nicht nur in Anführungszeichen) gestört ist nur, was seine ihm aufgetragene oder beigelegte Funktion nicht erfüllt. Es ist aber gerade niemandem Aufgetragen oder beigelegt, zu wissen, was nur der mittelbare Täter weiß.

    Prinzipiell schon – aber das ist eine Entscheidung des Systems Recht.
    Das sieht man leicht daran, dass Nichtwissen teils als neurologische Störung gilt – bei Fahrlässigkeitsdelikten.

    Die Hypothese, dass der Verkehr unabhängig vom Zustand der LZA fließt, ist statistisch signifikant falsifizierbar. Würden Sie dem widersprechen wollen?

    Für den Verkehr nicht – für die Person schon.

    Für das System Verkehr (Netzwerk aus verschiedenen Gehirnen) können wir als Beobachter statistische Aussagen ausgehend vom Zustand der LZA machen. Aber die hängen sehr stark von unseren Kenntnissen über das System ab – deutsche und französische Systeme variieren insofern sehr stark.

    Beruht die statistischen Aussagen doch auf den statistischen Erfahrungen mit den Determinationssystemen von Einzelpersonen (Gehirnen) oder bestimmten Mischungen von ‘Gehirnen’. Mit ‘deutschen’ Gehirnen haben wir die Erfahrungen gemacht, dass dieser eine Input LZA meist den Output bestimmt. Mit ‘französischen’ Gehirnen hat sich jedoch erwiesen, dass dieser eine Input LZA wenig aussagekräftig ist – der Output hängt etwa ebenso stark von der Verkehrssituation ab. Und bei vielen ‘afrikanischen’ Gehirnen weit mehr von der Verkehrssituation denn der LZA.

  298. @ Noït Atiga: Den Nerv getroffen

    “Es geht also nur um den ZUSTAND des Gehirns zum Zeitpunkt der Tat.”

    Nein, es geht nur um den Zustand der PERSON zum Zeitpunkt der Tat.

    ” denn eigentlich interessiert sind die Richter nur am Zustand des Gehirns bei Begehung der Tat.”

    Nein, denn eigentlich interessiert sind die Richter nur am Zustand der PERSON bei Begehung der Tat.

    Sie setzen voraus, was einige Neurodeterministen uns glauben lassen wollen, aber Begrifflich einfach nicht geht. Dass diese Begriffsverwirrung immer weiter fortgeführt wird, nervt ohne Ende. Sie sind mit VERANTWORTLICH wenn dieser Unfug nicht bald aufhört. Zeigen sie Reue, das wird bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigt.

    “Zum Zeitpunkt der Tat geht das Recht von einem Neurodeterminismus aus”

    Sie irren. Das Recht geht bestenfalls von einem Personendeterminismus aus. Daher befasst es sich auch mit Personen, nicht mit Gehirnen, was ja durchaus auch möglich wäre. Eine Person war betrunken oder hatte eine Hirnverletzung erlitten, nicht, ein Gehirn war betrunken oder verletzt.

    Aber geht das Recht überhaupt von einem Determinismus aus? Determinieren Personen das Geschehen? Ich behaupte, das Recht urteilt nur über den unterstellten spezifischen Anteil, den der Täter dazu beigetragen hat. Das Recht enthält sich weitgehend eines Bekenntnisses zu Determinismus oder Indeterminismus. Wenn es sich doch äußert, dann in Richtung Indeterminismus.

    Wenn ein Täter etwas bestimmt hat, bei einer Entführung z.B. den Aufenthaltsort einer anderen Person, dann ist mit “bestimmt” sicher nicht “determiniert” gemeint, wie der Begriff von Neurodeterministen verwendet wird.

    In deren (und meiner) Auslegung von determiniert, ist mir kein “deterministisches” Rechtssystem bekannt.

    Ich hab in Gesetzestexten nach Gehirn, Neuronen und Determinismus gegoogelt, habe aber nicht Passendes gefunden.
    Wenn Sie mir daher einen solchen Text vorlegen könnten, der ihre Position belegt, nicht nur eine Interpretation eines solchen, würde ich mich eventuell noch überzeugen lassen.

    Für die bestehende Begriffsverwirrung bleiben sie aber in jedem Fall in der Verantwortung.

  299. @Noït Atiga: Schon?

    Das Nichtwissen ist aber keine neurologische Störung sondern, wie Sie richtig schreiben, nur eine ‘neurologische Störung’. Wirklich (und nicht nur in Anführungszeichen) gestört ist nur, was seine ihm aufgetragene oder beigelegte Funktion nicht erfüllt. Es ist aber gerade niemandem Aufgetragen oder beigelegt, zu wissen, was nur der mittelbare Täter weiß.

    Prinzipiell schon

    Ist das nun Zustimmung oder Ablehnung der Aussage, dass einer, der nicht weiß, was ihm nicht aufgetragen ist, keiner neurologischen Störung unterliegt?

  300. @Noït Atiga

    Nichtwissen [gilt] teils als neurologische Störung gilt – bei Fahrlässigkeitsdelikten.

    Dafür haben Sie einen Beleg zitierbereit?

  301. @Noït Atiga: Schreibstil

    Die Hypothese, dass der Verkehr unabhängig vom Zustand der LZA fließt, ist statistisch signifikant falsifizierbar. Würden Sie dem widersprechen wollen?

    Für den Verkehr nicht – für die Person schon.

    Ich verstehe Ihre Antwort nicht. Stimmen Sie meiner o.g. (kursiv gesetzten) Aussage, dass die Hypothese falsifizierbar ist, nun zu oder nicht? Neben “Ja” oder “Nein” ist vielleicht noch sinnvoll “keine Ahnung” oder dergleichen möglich.

    Aber “Für Verkehr” oder “Für Personen” ist keine sinnvolle Antwort.

  302. @Noït Atiga: Ampeln und Determination

    Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer, denn deren Handlungsfreiheit ist überhaupt nicht eingeschränkt.

    An der diesem Satz finde ich einiges zu bemängeln:

    1) Wenn die Ampel keinen determinierenden Einfluss auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer hat, warum wird dann vielfach von ihr Gebrauch gemacht, um den Verkehrsfluss zu steuern? Es ist ja nicht so, dass wir alle an eine Kreuzung heranfahren, alle aussteigen, uns an den Rand setzen und philosophieren (wie bei diesem Fußballspiel) oder würfeln, wer als erster fahren darf. (Übrigens ähnelt es an den vielfach vorhandenen Four-Way-Stops in den USA ein bisschen dieser Absurdität, was manchmal dazu führt, dass niemand als erster Fahren will.)

    Hinter den Wörtern “Franzose”, “Deutscher” usw. verbirgt sich in diesem Kontext nichts anderes als V = U x K x G. Natürlich sieht es so aus, als würde allein G determinieren, wenn man erst einmal U und K festgelegt hat; es bleibt ja sonst nichts übrig. Dass G allein aber nicht determiniert, sieht man nicht nur am kulturellen Kontext, sondern eben auch daran, dass man bei einem Krampf im Bein für das Bremspedal oder einem Riss in der Bremsleitung eben doch über rot fährt.

    2) Ampeln sowie die meisten Geschehnisse im Verkehr sind für die Willensfreiheitsdebatte ziemlich uninteressant. Wir denken beim Heranfahren in der Regel gerade nicht darüber nach, was nun für oder gegen das Darüberfahren spricht, sondern verhalten uns gemäß dem gelernten Verhalten (mit den erwähnten aber erlernten Kulturunterschieden).

    Das heißt gerade nicht, dass man nicht allgemein entscheiden kann, diesen Regeln nicht zu folgen (und dann Unfälle zu provozieren, von der Polizei verfolgt zu werden usw. – das Verkehrssystem determiniert den Menschen eben allgemein doch zur Konformität oder man ist ein außergewöhnlich guter Verkehrskrimineller) oder eben doch zu folgen, weil man nicht nur die Zweckmäßigkeit, sondern auch die Notwendigkeit dieser Regeln einsieht.

    3) Dein Gegensatz von Determination und Freiheit setzt ein bestimmtes Freiheitsverständnis voraus – vielleicht bin ich aber gerade deshalb frei, weil ich für mich selbst entscheide, mich an die Verkehrsregeln zu halten, mich also u.a. von den Ampeln determinieren zu lassen.

  303. @Joker: Mea culpa, teilweise

    I. Sie haben vollkommen Recht: Es geht um Personen.

    Nur: Schon heute interessiert den Richter nicht die Person als ganze, sondern im subjektiven Bereich nur deren Psyche, deren seelische Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit. Die Gutachter in Schuldfragen sind entsprechend geschulte Psychiater und Psychologen.

    Unter der Prämisse, dass die Psyche auf das Gehirn zurückgeht, folgt dann aber: Das Recht interessiert sich für das Gehirn. Und diese Prämisse habe ich zwar nicht aufgeführt – insofern mea culpa – aber sie schien mir hier doch nahezu ungefragt geteilt.

    II. Und doch geht es um deren Seele allein (meinetwegen darf die auch außerhalb des Gehirns liegen, aber das nimmt wohl kein Jurist an). Signifikant insofern § 20 StGB

    Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

    Dort geht es eben nicht um betrunkene Personen, sondern um die durch diese Betrunkenheit gestörten Seelen oder Bewusstseine.

    Was die ‘Determinierung’ angeht – so stimme ich Ihnen zu, wenn es um den objektiven Tatteil geht. Im Rahmen dieser Kausalität werden Tat-Anteile unterstellt. Allerdings sehe ich kein Bekenntnis zur einem Indeterminismus?

    Was aber den subjektiven Anteil angeht, so geht das Recht schon von einem (Mit)Determinismus aus. Ja es fordert ihn geradezu, denn der Täter muss
    1. Vorsatz gehabt haben – also Wissen der Tatumstände und Wollen (bzw. billigendes Inkaufnehmen) der Folgen,
    2. bewusst aus Notwehr (oder anderem Rechtfertigungsgrund) gehandelt haben – denn die objektive Notwehrlage genügt nicht (fehlt es am Rechtfertigungsvorsatz dann wird bestraft) und
    3. in dieser Situation oder allgemein die hypothetische Möglichkeit zum Handeln nach dem Recht gehabt haben – also seine Seele musste das Unrecht erkennen und vermeiden können (sonst wird nicht bestraft).

    Allerdings haben Sie insofern Recht, als meine Ausführungen oben zu unsauber waren: Das Recht fordert nicht klassische Determiniertheit, sondern nur Zurechenbarkeit. Aber diese Zurechenbarkeit geht auf Determiniertheit insofern zurück als eine Entscheidung der Seele (nicht der Person!) für die Tat erforderlich ist – an der es fehlt, wenn die Person etwas ohne Wollen der Seele vermirklicht (1+2) oder wenn die Seele krank war (3).

  304. @Noït Atiga: ‘Determ.’ Rechtssystem

    Diese Interpretation würde ich ja gerne einmal mit ein paar RichterInnen gegenlesen, sollte ich mal wieder einen Kurs an der Deutschen Richterakademie halten. Das wäre sicher amüsant – vielleicht für das lockere Abendprogramm bei einem Glas Wein geeignet.

    Du fängst bei deinem (ersten) 1. so schön damit an, kombiniert von subjektivem und objektivem Tatbestand zu schreiben; in der Folge ist dann aber nur noch davon die Rede, was das Gehirn (ggf. nicht) “tut” oder (ggf. nicht) “kann”.

    Einmal zwei Gegenbeispiele für eine strikt neurodeterministische Interpretation eines Strafrechts:

    1) Wenn man jemanden aus niedrigen Beweggründen mit einer Pistole tot schießt, dann ist das Mord. Wenn aber jemand heimlich die Patronen durch Platzpatronen ersetzt hat oder der andere so ein robust gebauter Rocker ist, dass ihn selbst sechs Schüsse in die Brust nur verletzen, dann ist es allenfalls versuchter Mord. Ergo: Nicht das Gehirn (des Täters) allein, sondern auch die Umwelt und der Körper (ggf. auch des Opfers) legen Tat und Strafe (mit) fest und zwar bei identischem Gehirnzustand des Täters zum Tatzeitpunkt!

    2) Ab ca. drei Promille Blutalkohol wird im Allgemeinen die Schuldunfähigkeit angenommen und zwar unabhängig davon, wie sich das auf das Gehirn des Einzelnen auswirkt. Ergo: Das Gehirn des Täters allein legt die Schuldfähigkeit nicht fest.

    Zum Zeitpunkt der Tat geht das Recht von einem Neurodeterminismus aus – also von einer Determination der Handlung aus der Informationsverarbeitung im Gehirn (Körper und Umwelt sind insofern nur Input – so Balanus).

    Ob einem die Arme amputiert sind, ob Waffen frei verfügbar sind, ob ein anderer einen tiefst gedemütigt hat usw., alles das und noch viel mehr sind Faktoren, die bei der Tatsache, wenn jemand tot geschossen wurde, berücksichtigt werden: Nämlich bei der Feststellung, ob jemand überhaupt der Täter sein kann und, wenn ja, aus welchen Motiven er gehandelt hat, wie stark das Vorausplanen und wie schwierig das Überwinden der Hemmschwelle gewesen sein muss.

    Wenn man über solche fundamentalen Probleme und Fehler der strikt neurodeterministischen Beschreibung hinwegsieht, dann, ja, dann stimme ich dir vielleicht zu, dass man ein Strafrecht neurodeterministisch lesen und solche sprachlichen Konstruktionen produzieren kann:

    Also immer dann, wenn das Gehirn vollkommen machtlos war – immer dann entfällt die Strafbarkeit. Sonst aber mutet man dem Gehirn zu, selbst tätig zu werden, ggf. seinen Körper auf der Suche nach dem richtigen Wissen zu benutzen oder seine Umwelt zu ändern.

    Ich denke, es ist aber ziemlich klar, dass so ein Strafgesetz nicht mehr viel mit dem gemein hat, was in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt etabliert ist.

    Als Satire kann ich deinem Kommentar aber sehr viel abgewinnen.

  305. @Stephan Schleim: Ampeln

    1) Wenn die Ampel keinen determinierenden Einfluss auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer hat, warum wird dann vielfach von ihr Gebrauch gemacht, um den Verkehrsfluss zu steuern?

    Weil man kein besseres Mittel hat, Menschen zu steuern. Und weil man auf entsprechend konformes Verhalten hofft – letztlich aber liegt die Entscheidung bei jedem einzelnen Fahrer.

    Hinter den Wörtern “Franzose”, “Deutscher” usw. verbirgt sich in diesem Kontext nichts anderes als V = U x K x G.

    Nicht in meiner Perspektive, denn ich hatte diese bewusst in einfache Anführungszeichen gesetzt. Ich habe damit typisierte Gehirne bezeichnet, eben gerade nicht Situationen. Deutlich wird das an derselben Ampel mit demselben Verkehrsfluss.

    Spannend wird es, wenn ich keine genaue Kenntnis habe – und voraussagen will, was passiert. Als Beobachter kenne ich die aktuelle Verkehrssituation und die aktuelle Ampelschaltung – kann ich nun vorhersagen, was passiert? (wobei ich mal Unfälle wie Krampf und Riss ausblende.)

    Leider nicht – denn dazu muss ich wissen, wo die Ampel steht (was mir das Aussehen der Kreuzung nicht sagt). Und selbst wenn ich das weiß, selbst dann kann ich nur statistisch relevante Aussagen machen – und selbst dafür muss ich unterstellen, dass die Fahrer überwiegend aus dem Kulturkreis der Ampel kommen. Dass muss aber nicht der Fall sein – etwa bei einem Fussballspiel könnten es auch nur Deutsche in Frankreich sein oder nur Franzosen in Deutschland. Und all diese Dinge kann ich weder aus der Umwelt noch aus der Situation erkennen. Dann bin ich eben auf die Gehirne angewiesen, nur auf sie.
    Und das bin ich auch wenn sich die sonstigen Umwelt- oder Körperfaktoren ändern.

    2) Ampeln sowie die meisten Geschehnisse im Verkehr sind für die Willensfreiheitsdebatte ziemlich uninteressant.

    Ja – ich hatte diesbezüglich auch nur auf Ano Nym geantwortet, denn ich sehe diese Beispiele für die Willensfreiheit als relativ unwichtig an. Und doch gibt es bezüglich der ‘Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln’ durchaus gravierende kulturelle Unterschiede – ‘Deutsche’ akzeptieren nahezu fraglos, ‘Franzosen’ machen ihre eigene Regel daraus.

    3) Dein Gegensatz von Determination und Freiheit setzt ein bestimmtes Freiheitsverständnis voraus – vielleicht bin ich aber gerade deshalb frei, weil ich für mich selbst entscheide, mich an die Verkehrsregeln zu halten, mich also u.a. von den Ampeln determinieren zu lassen.

    Gern, damit habe ich überhaupt kein Problem. Aber dann liegt die letzte Entscheidung doch wieder bei mir und meinem Gehirn. Und wie ich mich entscheide hängt natürlich von den früheren Erfahrungen und Formungen durch Umwelt und Körper ab.

  306. @ Joker

    Ich fange mit dem angeblichen „naturalistischen Fehlsschluss“ an:

    “Wenn Roth, Singer und Sie aus dem Determinismus schließen, dass dann niemand mehr für seine Taten verantwortlich wäre, begehen sie eine Variante des naturalistischen Fehlschlusses.“

    Das ist kein naturalistischer Fehlschluss, denn nirgends schließe ich vom Sein auf ein Sollen. Vielmehr ergibt sich einfach, dass die Bestrafung eines Täters unter den Bedingungen eines Rothschen Determinismus ungerecht wäre.

    Alltagsmetaphysik

    Am Beispiel der Verantwortung lässt sich die Stärke einer Alltagsmetaphysik, die Verantwortung nur mit Freiheit zusammen denken kann, schön demonstrieren. Sie nennen „Verantwortung“ einfach ein “Phänomen“, aber das ist nicht richtig, denn es ist mehr als das. Wir können zum Beispiel jemanden dazu auffordern, endlich Verantwortung zu übernehmen. Wie wollen Sie das in Ihren Kategorien ausdrücken?

    Er soll endlich ein Phänomen an den Tag legen?

    Er soll endlich zu verantwortlichem Handeln determiniert sein, oder sich selbst determinieren?

    Was sind überhaupt Aufforderungen in einer determinierten Welt? Determinanten?

    Sie schreiben, dass Verantwortung im Determinismus nicht verschwinden wird. Weil beides kompatibel ist?

    Nein, es ist eher so, dass „Verantwortung“ deswegen nicht verschwinden wird, weil es unerheblich ist, ob der Determinismus die richtige oder die falsche Deutung liefert. Unsere Praxis der Verantwortlichkeit ist schlicht stärker fundiert als der Glaube an einen metaphysischen Determinismus. Daher sagt das Weiterbestehen der Verantwortung gar nichts über die Wahrheit oder Unwahrheit des Determinismus oder nur über die logische Möglichkeit desselben, sondern darüber, dass unsere allgemeinen Theorien oft gar nicht leitend für unserer alltägliches Handeln sind, sondern nur der Versuch, es im Lehnstuhl umfassend zu rekonstruieren.
    Beim Feuer haben Sie dasselbe: Das Feuer brennt deswegen nicht schlechter ohne eine Theorie des Phlogiston, nicht weil es das Phlogiston nicht gibt, sondern weil es für das Brennen egal ist, ob jemand eine richtige oder eine falsche Theorie dazu hat.

    Eigentlich wüsste ich umgekehrt gerne mal von Ihnen, was für ein Problem Sie mit der Idee einer wie auch immer gearteten metaphysischen Freiheit eigentlich haben? Es ist ja wirklich nicht schwer, zu demonstrieren, dass man einen Großteil der gesellschaftlichen Praxen, die ich weiter oben bereits angeführt habe, unter den Bedingungen eines Determinismus nicht mehr adäquat rekonstruieren kann. Und ich glaube kaum, dass Sie jenseits des Hinweises, dass die Theorie des Determinismus die Praxis der Verantwortung nicht zum Verschwinden bringt, explizieren können, was genau Verantwortung innerhalb des Determinismus ist.

  307. @Stephan Schleim: Warum so einseitig???

    Zusammenhanglos kannst du die Interpretation gern zur Belustigung vorlegen – wenns dich freut. Und ich habe damit keineswegs eine Beschreibung innerhalb des juristischen Systems versucht (und würde mich hüten, das in diesem zusammenhanglos so darzustellen).
    Aber es ging ja nicht um juristische Beschreibungen und du hast dich in deinem Post oben doch auch nur auf die §§ 20, 21 StGB bezogen, oder?
    Und ich habe in diesem Zusammenhang geschrieben – daher stellte ich keineswegs in Abrede, dass ohne Handlung nichts bestraft wird. Und ich hätte alles Objektive durchaus ausführlicher darlegen können, nach deiner Ansicht müssen (sorry) – aber es ging nur um die Antwort auf die subjektiven Fragen. Das Objektive habe ich als gegeben vorausgesetzt. Und in der Schuld gibt es keinen objektiven Teil, allenfalls einen objektivierbaren.

    Um es nochmal klarzustellen:
    1. Es braucht objektiven und subjektiven Tatbestand für die Norm selbst.
    2. Es braucht ggf. objektive und subjektive Verwirklichung der Rechtfertigung.
    3. Und es braucht objektiviert feststellbare subjektive Schuld.

    Und wenn die Seele aus irgendwelchen Gründen objektiv nicht in der Lage war den Erfolg herbeizuführen – dann wird die Person nicht wegen Erfolges bestraft, sondern wegen Versuchs (soweit der strafbar ist). Und wenn sie so von außen genötigt wird, dass selbst der Versuch unterbleiben muss – dann hat sie noch mehr Glück (oder ist schon eingesperrt).

    Aber soweit etwas Objektives vorliegt, soweit interessiert sich das Strafrecht nur noch für den seelischen Bezug darauf. Und die Seele hängt nach heute wohl allgemeiner Meinung mit dem Gehirn zusammen.

    Deine Gegenbeispiele sind dann auch nur Begünstigungen des Täters (auch aufgrund von verbleibenden Zweifeln – in dubio pro reo). Wenn die Tat durch irgendeinen Zufall ohne die intendierten Konsequenzen bleibt, dann hat er ebenso Glück wie wenn er betrunken war. Allerdings darf man bei letzterem Fall nicht das bewusste Betrinken vergessen… Und doch bleibt in beiden Fällen ein zumindest impliziter Vorwurf an die Seele des Täters, wenn auch ggf. ohne Strafsanktion.

    Und warum du jeden Neuroderterminismus zu einem strikten Neurodeterminismus machen musst, das bleibt dein Geheimnis. Es ist aber ein Fehlschluss, von den (im Prozess) verwendeten Indizien auf die erforderliche Wertung zu schließen. Was du nämlich zu Armen, Waffen, Demütigungen etc. anführst – all das sind Indizien für die Handlungenszurechnung und für die Beweggründe der Seele, also für die Verwirklichung einer Abweichung in der Seelen-Struktur des ‘Täters’ von einer Norm.

    Die Seelenstruktur allein wird nicht bestraft. Die Handlung allein wird nicht bestraft. Sondern nur die Verbindung beider kann zu Strafe oder Heilungszwang führen.
    Und (das ist der Fehler der strikten Neurodeterministen) vielleicht hat die Seele Glück, nie in Versuchung zu kommen – dann kann sie noch so abweichend sein, wie sie will. Aber wenn der Input kommt…

    Also immer dann, wenn das Gehirn vollkommen machtlos war – immer dann entfällt die Strafbarkeit. Sonst aber mutet man dem Gehirn zu, selbst tätig zu werden, ggf. seinen Körper auf der Suche nach dem richtigen Wissen zu benutzen oder seine Umwelt zu ändern.

    Ich denke, es ist aber ziemlich klar, dass so ein Strafgesetz nicht mehr viel mit dem gemein hat, was in Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt etabliert ist.

    Warum das so sein muss, musst du mir mal genauer erklären – zumindest wenn ich mit Jokers treffendem Einwurf Gehirn sicherheitshalber durch Seele ersetze. Wenn die Seele krank war, wird die Person nicht bestraft. Wenn sie nicht wissen konnte, wird die Person nicht bestraft. Wenn die Seele ihren Willen nicht in Handlung umsetzen konnte, wird die Person nicht bestraft. Was weicht da bitte vom aktuellen Strafrecht ab (außer der anderen Formulierung)?

  308. @Ano Nym: Semantischer Holismus…

    Bitte Aussagen nicht so stark trennen – sie ergänzen sich gegenseitig:
    “Es ist aber gerade niemandem Aufgetragen oder beigelegt, zu wissen, was nur der mittelbare Täter weiß.” – das ist prinzipiell so, aber dieses Prinzip ist eine Entscheidung unseres Rechtes.

    Darum aber gilt: Wo das Recht jemanden zum Wissen verpflichtet, also bei Fahrlässigkeitsdelikten, dort kann das seelisch bedingte Nichtwissen eine neurologische Störung sein – die dann ggf. entschuldigt.

    “Die Hypothese, dass der Verkehr unabhängig vom Zustand der LZA fließt, ist statistisch signifikant falsifizierbar.” Im Prinzip ist die These falsifizierbar – die Falsifikation bringt aber nicht weiter, denn sie ist kulturabhängig, DEN Verkehr gibt es nicht. Daher braucht es noch die Kulturvariable zur Sinnhaftigkeit. Und selbst dann werden allenfalls Korrelationen falsifiziert/verifiziert, keineswegs Determinationen.

  309. @Noït Atiga: ??? (drei Fragezeichen)

    Bitte Aussagen nicht so stark trennen – sie ergänzen sich gegenseitig:
    “Es ist aber gerade niemandem Aufgetragen oder beigelegt, zu wissen, was nur der mittelbare Täter weiß.” – das ist prinzipiell so, aber dieses Prinzip ist eine Entscheidung unseres Rechtes.

    Es ist nicht strittig, dass es eine Entscheidung des Souveräns ist, den unmittelbaren Handelnden (übrigens genaus genauso wie das Opfer) einer Tat, die in mittelbarer Täterschaft begangen wird, nicht zu bestrafen.

    Es geht mir darum festzustellen, dass das Nichtwissen,
    das den unmittelbar Handelnden zum scheinbaren Täter (verwirklicht den objektiven Tatbestand) macht, keine Störung (im medizinisch-pathologischen Sinne) darstellt, sondern nur ein Informationsdefizit, das alle anderen Menschen – bis auf den mittelbaren Täter – mit ihm teilen.

    Wo das Recht jemanden zum Wissen verpflichtet, also bei Fahrlässigkeitsdelikten, dort kann das seelisch bedingte Nichtwissen eine neurologische Störung sein – die dann ggf. entschuldigt.

    Fahrlässigkeit ist in § 276 Abs. 2 BGB definiert:

    „Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“.

    Daran lehnt sich auch die hier ins Spiel gebrachte strafrechtliche Fahrlässigkeit an. Vom Nichtwissen steht da genau nichts. Und dass Nichtwissen eine neurologische Störung sein kann auch nicht. (Was ich unterschreiben würde ist, dass es neurologische Störungen gibt, die zu Nichtwissen führen, z.B. chemisch induzierte ‚Filmrisse‘). Aber das wäre die falsche Richtung.

    Hier wurde behauptet, das Nichtwissen des unmittelbaren Täters sei eine neurologische Störung. Sie machen daraus, dass es eine neurologische Störung seien kann. Und so schreiben wir hier fleißig aneinander vorbei.

  310. @Ano Nym: Teils, teils

    Soweit Sie Störung im medizinisch-pathologischen Sinne definieren, ist nicht jedes Nichtwissen eine solche Störung.

    Aber bestimmtes Nichtwissen kann dennoch eine solche Störung sein – und damit wie jede neurologische Störung im juristischen Sinne entschuldigen.
    Wenn man etwa bei Fahrlässigkeitsdelikten um das Risiko bestimmter Handlungen wissen muss, um das Erfordernis bestimmter Vorkehrungen oder um das bestehen bestimmter Rechtsvorschriften etc. Beruht das Nichtwissen dann auf einer von der Norm abweichenden Gehirnfunktion (etwa bei geringerem IQ), so kann das durchaus eine neurologische Störung sein (jedenfalls im juristischen Sinne).

  311. Gefunden /@Ano Nym

    Ad “Nichtwissen”:

    Ich glaube, ich verstehe jetzt, wo es hakt: „Fehlender eigener Wille“ habe ich als „neurologische oder psychische Störung“ bezeichnet, aber Sie meinten mit „mehr oder weniger willensfreies Werkzeug“ nicht „fehlender eigener Wille“ im Sinne einer Störung, sondern im Sinne von ‚fehlendes Wissen‘. Korrekt?

    LZA:

    »Die Hypothese, der Verkehrsfluss ist unabhängig vom Zustand der LZA, ist […] falsch […].«

    Darauf kommt es hier nicht an. Niemand bestreitet, dass sich die allermeisten Verkehrsteilnehmer adäquat verhalten, aus eigenem Antrieb, wohlgemerkt. Weil sie um die möglichen Konsequenzen wissen.

  312. @Noït Atiga: Thema läuft aus dem Ruder

    Balanus hatte in seinem Kommentar vom 06.08.2012, 13:02 behauptet: “alles Verhalten bzw. Handeln geht vom Gehirn aus (G à V)”

    Darauf hatte ich gefragt, ob er keine Probleme im Zusammenhang mit der sog. mittelbaren Täterschaft hat, in der der unmittelbare Täter (er ist ja keine, er Handelt nur) in der Regel weder geistes- noch hirnkrank ist, aber seine Rolle im Geschehen als mehr oder weniger willensfreies Werkzeug des eigentlichen Täters gesehen wird und daher straffrei ist?

    Der Angesprochene antwortete wie folgt:

    „Nein, da sehe ich kein Problem. Fehlender eigener Wille kann Straffreiheit begründen. Denn es handelt sich hier im Grunde um eine neurologische oder psychische Störung.

    Daraufhin habe die mittelbare Täterschaft konkretisiert:

    „A will den C töten und vergiftet zu diesem Zweck dessen Nahrungsvorrat, den der B dem C über dessen Magensonde zuführt. B und C wissen nichts von der Vergiftung der Nahrung. C stirbt.“

    und gefragt:

    „Wo ist hier eine neurologische oder psychische Störung des unmittelbaren Täters B?“

    Balanus’ Antwort war: „In diesem Falle dürfte es auf das Nichtwissen bezüglich der wahren Inhaltsstoffe der Nahrung ankommen. Die Nahrungszuführung über eine Magensonde stellt in der Regel keine Straftat dar. Ich plädiere folglich für Freispruch.“

    Ich vermute, dass Balanus an dieser Stelle die neurologische Störung schon nicht mehr im Auge hatte und nur noch die juristische Beurteilung fokussierte, denn er fragt auf meine Bemerkung »Dem Plädoyer schließe ich mich an, doch wo ist die neurologische oder psychische Störung beim Irrenden und Freizusprechenden?«:

    „Wo habe ich [Balanus] behauptet, Nichtwissen sei eine neurologische oder psychische Störung? Nichtwissen resultiert aus der gegebenen Umwelt, in der sich das Gehirn entwickelt und organisiert hat (mit anderen Worten: Wissen erworben hat).“

    Es geht hier also tatsächlich um den Fall, in dem das Nichtwissen schlicht etwas nicht zu wissen meint.

  313. @Balanus: Gefunden

    Ad “Nichtwissen”:

    aber Sie meinten mit „mehr oder weniger willensfreies Werkzeug“ nicht „fehlender eigener Wille“ im Sinne einer Störung, sondern im Sinne von ‚fehlendes Wissen‘. Korrekt?

    Genau.

    LZA:

    »Die Hypothese, der Verkehrsfluss ist unabhängig vom Zustand der LZA, ist […] falsch […].«

    Darauf kommt es hier nicht an. Niemand bestreitet, dass sich die allermeisten Verkehrsteilnehmer adäquat verhalten, aus eigenem Antrieb, wohlgemerkt. Weil sie um die möglichen Konsequenzen wissen.

    Richtig ist: Es kommt gar nicht drauf an, warum sich die allermeisten Verkehrsteilnehmer so verhalten. Wichtig ist nur, dass sie sich bestimmt, determiniert verhalten. Denn der Kontext dieser Aussage war die Behauptung Noït Atigas:

    2. Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer

    Ich sage: Er tut es.

  314. @Ano Nym: D’accord

    In diesem Rahmen ist das nur eine ‘neurologische Störung’. 😉

    Aus Spass an der Diskussion aber eine Korinthe: Würde das Strafrecht nicht auch dort unter bestimmten Umständen zu einer neurologischen Störung gelangen können?
    Wenn B den C über eine Magensonde ernährt, dann hat er ja eine gewisse Garantenstellung und damit eine Sorgfaltspflicht. Geht die dann nicht auch soweit, dass er die Nahrung auf erkennbare Probleme untersuchen muss? Und würden man dann nicht sagen, dass er etwa eine Blausäurevergiftung erkennen muss? Dass er andernfalls wegen fahrlässiger Körperverletzung strafbar wäre?
    Außer es liegt bei B die neurologische Störung vor, dass er Blausäure nicht riechen kann?

  315. @Noït: Störung

    Jetzt muss ich doch einmal mit deiner Verwendung des Störungsbegriffs aufräumen:

    Dass man in der Psychiatrie/Psychologie (folglich im StGB, in §20 übrigens erst seit 1975) von “Störung” spricht, liegt u.a. an der unbekannten Ätiologie und Essenz dieser abweichenden Zustände.

    Wenn du jetzt Nichtwissen als Störung bezeichnest, dann begehst du m.E. einen Kategorienfehler; das gibt es nicht, mit Ausnahme der Asognosien [richtig: Anosognosien], wo das Nichtwissen gerade im Nichtwissen um eine Störung besteht.

    Entsprechend funktioniert auch dein Beispiel mit dem niedrigen IQ nicht. Zunächst einmal ist der IQ ein psychologisches Konstrukt, für das es viele verschiedene Operationalisierungen gibt; was du meinst, ist also eine Form von allgemeiner Intelligenz (was auch immer das konkret sein mag).

    Wenn jemand nun etwas nicht weiß, beispielsweise wie er einen Computer anschaltet, weil er nicht intelligent genug ist, dann besteht die Störung nicht im Nichtwissen um das Anschaltenkönnen, sondern allenfalls in der mangelnden Intelligenz; korrekterweise das auch nur dann, wenn die Intelligenz dermaßen eingeschränkt ist, dass sie nicht nur zu Dysfunktionalität, sondern auch zu subjektivem Leiden führt.

    Und, ach ja, noch zu deinem neurodeterministischen Strafrecht:

    1) Meine Ergänzung mit “strikt” ist eine Klärung, weil die Diskussion sonst noch undeutlicher wird (wie wir gesehen haben, ist “Determinismus” ein vielseitiger Begriff); und

    2) “psychische Störung” als Gehirnerkrankung zu definieren, begeht natürlich ein weiteres Mal den neurodeterministischen Fehlschluss: Vor ca. 150-200 bzw. gefühlten 1.000 Kommentaren hatten wir hier schon die Diskussion darum, dass wir diese bisher eben nicht als reine Gehirnzustände erkannt haben, sondern auch diese durch Umwelteinflüsse, Körper und Erfahrung vermittelt sind, also auch hier gilt: V = U x K x G.

    Ich wollte das mit “Satire” keineswegs abwerten; ich finde deinen Versuch durchaus originell. Ich hatte jedoch den Eindruck gewonnen, du würdest tatsächlich davon ausgehen, man könne das bestehende StGB in dieser Gehirnsprache interpretieren.

  316. @Stephan: Störung o wirkliche Diskussion

    Warum können wir nicht auf die jeweiligen Beiträge eingehen? Warum musst Du immer wieder mit Neuem anfangen, ohne das Alte mal wirklich weiter zu diskutieren? Warum habe ich das (möglicherweise falsche) Gefühl, dass du dieser Diskussion ausweichst?

    Zu meinem Versuch oben: Man kann das bestehende Strafrecht so lesen – wenn man Psyche mit Gehirn gleichsetzt (was vielleicht etwas gewagt ist). Und dass ich nicht das Selbstverständnis des Strafrechts beschrieb, das hatte ich dort vorangestellt: “Das Strafrecht lässt sich nämlich determinismuskompatibel lesen …”

    Und Neurodeterminismus (der war dort gemeint) kann zwei Bedeutungen haben:
    1. Ein strikter Neurodeterminismus, der alles auf ewige Zeit allein festlegte, der ist abwegig – da bin ich mit dir einer Meinung.
    2. Ein dynamischer Neurodeterminismus aber ist denkbar und sinnvoll. Danach bestimmt das aktuelle Gehirn wie sein Träger jetzt worauf reagiert. Allerdings wirkt diese Reaktion wie alle Umwelteinflüsse auch auf den zukünftigen Reaktionsmechanismus des Gehirns zurück.

    Und das hatten wir in der Tat schon mal. Nur hatten wir es nicht geklärt.
    Ich bin ja ganz bei dir, dass sich das Gehirn als Reaktion auf die Summe aller seiner durch den Körper vermittelten Umwelteinflüsse formt.

    Aber dazu muss es an eigene Kategorien anschließen und für längerfristige Änderungen ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand etwas Zeit erforderlich. Also sollte der aktuelle Zustand recht genaue Aussagen darüber machen können, wie eine Reaktion auf bestimmte Umwelt- bzw. Körpereinflüsse jetzt ausfallen würde – zumindest für einen allwissenden Dämonen. Schließlich sollte der genaueres wissen haben als unsere Psychologen, die diese Vorhersage ja schon heute teils mit recht großer Wahrscheinlichkeit treffen können.

    Und aus diesem dynamischen Neurodeterminismus folgte auch, dass ‘psychische Störungen’ als Gehirnerkrankung lesbar sind. Sie sind heute so wie sie sind Gehirnzustände. Die auf verschiedenen Wegen heilbar sind:
    – auf psychischen über die Umwelterlebnisse,
    – auf biologischem über den Köper oder
    – auf technischem über das Gehirn selbst.
    Damit habe ich nichts darüber gesagt, welcher Weg heute (oder generell) sinnvoll oder realistisch ist. Aber ich habe gesagt, dass es heute einen Zustand gibt, der sich aus verschiedenen Perspektiven beschreiben lässt und auch aus verschiedenen Perspektiven theoretisch korrigieren. (Dass das nicht so ganz theoretisch ist hat Markus A. Dahlem nebenan etwa mit Schmerzen ohne Ursache dargestellt.)

    Und bei Depressionen kombiniert man heute schon medikamentöse und psychische Behandlung – einfach weil die rein psychische manchmal nicht zu verkraften wäre oder das Problem noch verschärfen würde, die rein medikamentöse aber keine dauerhafte Besserung bringt. In der Kombination aber kann man chemisch die akuten Abwehrreaktionen mildern und psychisch vermittelt die Gehirnstruktur dauerhafter umbauen lassen.

    Und dieser dynamisch Neurodeterminismus scheint mir keineswegs unsinnig, sondern vielmehr für die experimentelle Arbeit sehr hilfreich…

    PS zur Störung: Ich hatte geschrieben, dass bestimmtes Nichtwissen eine solche Störung sein kann – du schreibst ja zu Recht, dass das bei Anosognosie (so richtig, oder?) so sei. Und dass der IQ keine Gehirnfunktion beschreibt (sondern günstigstenfalls damit korreliert) war auch dort angedeutet, denn es ging primär um die “von der Norm abweichende[] Gehirnfunktion”. Aber ich will gern zugestehen, dass ich auf diesem Nebenschauplatz insofern unsauber formuliert habe und dass das meiste Nichtwissen nur auf eine neurologische Störung zurückgeht.

  317. @Balanus / Neuro-Logik

    »Obwohl ich kein Logiker bin, habe ich das deutliche Gefühl, dass nur einer der beiden Sätze wahr sein kann: …«

    “Ich bin mein Gehirn.” Derlei Sätze werden nach meinem Gefühl neurodeterministisch bevorzugt dahingehend gedeutet, dass ein Ich lediglich eine Art Halluzination ist, die Gehirne ihren Trägern zu vermitteln pflegen.

    Anders gesagt, ein Ich wäre dann ungefähr das, was dabei herauskommt, wenn ein menschliches Gehirn sich vorstellt, es sei ein Mensch.

  318. @Noït: Determinismus – ich geb’s auf

    Ja, du hast versucht, das Strafrecht “determinismuskompatibel” zu lesen und dann mit sehr viel personifizierter Gehirnsprache (und zugegeben einem gewissen Maß an Originalität) ausgeführt, wie du dir das vorstellst.

    Der Punkt ist nicht, einfach “Seele” oder “Psyche” durch “Gehirn” zu ersetzen, denn das Recht bezieht sich auch nicht auf Seelen oder Psychen die nun womöglich durch Gehirne zu ersetzen wären, sondern auf Personen und die haben mitunter juristisch relevante psychische oder neuronale Prozesse. So oder so scheint mir also diese “deterministische” Lesart, ob sie nun strikt neuro- oder seelendeterministisch ist, weder sinnvoll noch für das deutsche Strafrecht zutreffend.

    Um nur mal zurück zu deinem ersten Beispiel zu gehen, wo du schriebst:

    Der objektive Tatbestand reicht uns eben nicht, sondern es braucht noch den subjektiven Tatbestand. Sprich das Gehirn des Täters muss zum Zeitpunkt der Tat um die Folgen seines Handelns gewusst und diese zumindest billigend in Kauf genommen haben. (7.8., 14:32 Uhr)

    Mit dieser Ausdrucksweise, was “uns eben nicht reicht”, suggerierst du meines Erachtens, dass es dir nicht nur um eine neurodeterministische Interpretation des Strafrechts geht, sondern du paraphrasierst, was Richter in der Praxis tatsächlich machen, nämlich den subjektiven Tatbestand über den Gehirnzustand festzustellen. Das machen Richter i.d.R. aber gerade nicht und es reicht uns gerade nicht, den Gehirnzustand festzustellen, denn wir können zumindest mit heutigen Mitteln den Gehirnzustand ohne umfassendes Kontext- und Umweltwissen nicht einmal sinvoll interpretieren.

    Ferner habe ich hier wieder und wieder deutlich gemacht, dass es mir um einen strikten Neurodeterminismus geht; alles andere als Neurodeterminismus zu bezeichnen, wenn ein Soziobiopsychodeterminismus gemeint ist, das halte ich für verwirrend. Dann ist es auch kein Wunder, wenn wir (aber auch du und andere) permanent aneinander vorbeireden.

  319. @Noït: noch zu den Störungen

    Weil mir daran so viel liegt, zu den psychischen Störungen

    [1] Und aus diesem dynamischen Neurodeterminismus folgte auch, dass ‘psychische Störungen’ als Gehirnerkrankung lesbar sind. [2] Sie sind heute so wie sie sind Gehirnzustände.

    Hier behauptest du doch zwei unterschiedliche Dinge.

    Erstens ist [1] inhaltlich falsch, denn wenn es sich nicht um einen strikten Neurodeterminismus handelt, dann sind psychische Störungen auch nicht reine Gehirnerkrankungen; und das sie das auch empirisch nicht sind, dafür haben wir sehr viele Ergebnisse zu den sozialen Einflüssen (die natürlich auch aufs Gehirn wirken), die psychische Störungen begünstigen.

    Was heißt ferner “lesbar sein als Gehirnerkrankung” (so wie das Recht auch neurodeterministisch “lesbar” sei)? Heißt es einfach, dass eine Person, wenn sie psychisch krank ist, auch einen Gehirnzustand hat, der dem krankhaften psychischen Prozess entspricht?

    Nein, darum geht es dir nicht und daher ist “lesbar” auch das falsche Wort, denn mit [2] reduzierst du psychische Störungen auf Gehirnstörungen. Das ist aber doch falsch! Selbst die APA sieht für das DSM-5 folgende Definition vor, die ganz ausdrücklich meinem V = U x K x G-Modell entspricht, nicht aber dem strikten Neurodeterminismus:

    A Mental Disorder is a health condition characterized by significant dysfunction in an individual’s cognitions, emotions, or behaviors that reflects a disturbance in the psychological, biological, or developmental processes underlying mental functioning.

    Psychische Störungen sind und waren noch nie reine Gehirnzustände. Bitte behaupte dies also doch nicht. Was du für das Recht interpretierst, das stimmt noch nicht einmal in der Mainstream-Psychiatrie – und diese Gutachter werden vor Gericht geladen, um die Psyche der mutmaßlichen Täter und Zeugen zu beurteilen und dies tun sie in der Regel über Umwelt-, Kontext- und Körperwissen (z.B. Blutalkoholspiegel) und in einigen wenigen Fällen mit Gehirnwissen.

    Dass es verschiedene Wege gibt, psychische Störungen zu behandeln, das habe ich nie bezweifelt; da haben wir vor einiger Zeit erst auf den schönen Kommentar Herrn Hoppes verwiesen.

    …die rein medikamentöse aber keine dauerhafte Besserung bringt. In der Kombination aber kann man chemisch die akuten Abwehrreaktionen mildern und psychisch vermittelt die Gehirnstruktur dauerhafter umbauen lassen.

    Nur nebenbei: Ob eine rein medikamentöse Behandlung von Depressionen den meisten Patienten überhaupt etwas bringt, das ist den Meta-Analysen Irving Kirschs zufolge gar nicht so sicher (The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth, 2011).

    Und das mit dem Umbauen der Gehirnstruktur lässt sich auch unterschiedlich verstehen: Den Analysen Robert Whitakers zufolge ist die Behandlung mit Antidepressiva ein großer Prädiktor für die spätere Rückkehr von Depressionen (Anatomy of an Epidemic: Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America, 2011).

  320. @ Stephan: Ich will doch nur spielen

    “Wenn die Ampel keinen determinierenden Einfluss auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer hat, warum wird dann vielfach von ihr Gebrauch gemacht[…]?”

    “Dass G allein aber nicht determiniert […]”

    “[…]das Verkehrssystem determiniert den Menschen eben allgemein doch zur Konformität”

    “[…] mich also u.a. von den Ampeln determinieren zu lassen”

    Diese Zitate bereiten mir einiges Kopfzerbrechen.

    Wenn “determinieren” bedeutet, etwas eindeutig festzulegen, warum genau gibt es dann noch diese Blitzanlagen hinter Ampeln?

    Wenn “determinieren” bedeutet, einen gewissen Einfluss zu haben oder einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit dem Determinierten zu haben, was genau ist dann falsch an der Aussage der Neurodeterministen, das Gehirn determiniert das Verhalten?

    Wenn ich mich indeterminiert dazu entschließe, mich (von Ampeln) determinieren zu lassen, bin ich dann schon determiniert oder immer noch indeterminiert?

    Kann ich gleichzeitig determiniert (durch Ampeln) und indeterminiert (durch Quantenereignisse) sein?

    Ist determiniert und indeterminiert immer ein Gegensatz, oder nur in bestimmten Fällen?

    Wenn jemand sagt, das Verhalten wird determiniert durch Umwelt, Körper und Gehirn (V = U x K x G), ist er dann Determinist?

    Uns allen ist klar, dass “determiniert” mehrere Bedeutungen haben kann. Du führt zur Klärung “strikt” ein.

    Was bedeutet es dann, nicht strikt determiniert zu sein? Ist man dann unstrikt determiniert (also irgendwie anders, aber immer noch determiniert, etwa dynamisch) oder ist man dan strikt indeterminiert?

    Was bedeutet denn “eine strikt neurodeterministische Interpretation”? Ist das eine Interpretation die durchgängig neurodeterministischem Gedankengut folgt, oder ist das eine Interpretation die strikt deterministisch erfolgt (oder strikt neurotisch).

    Mir fällt das Disambiguieren, zu erschließen welche Bedeutung gemeint ist, sehr schwer, wenn, innerhalb eines so begrenzten Kontextes, von ein und demselben Autor, für einen so zentralen Begriff, verschiedene Bedeutungen verwendet werden. Da es in den obigen Zitaten ein leichtes gewesen wäre geeignete Synonyme zu finden (z.B. festlegen, bestimmen, beeinflussen), entsteht der Verdacht, dass Du dort bewusst den Terminus “determiniert” verwendet hast. (Eventuell weil andere, auf die Du Antwortest, ihn an diesen Stellen verwendet haben.)

    Von empirisch arbeitenden, aber auch philosophisch geschulten Wissenschaftlern (wie Dir und Gerhard Roth) wünsche ich mir, sie würden zur Begriffsklärung beitragen und es nicht bei der Verwirrung belassen oder sie gar steigern. Danke für Dein Bemühen.

    Mit deinem Titel “Warum der Neurodeterminist irrt” und den anschließenden Erläuterungen, hast Du implizit die Regeln für ein Sprachspiel festgelegt, speziell für den Umgang mit “determiniert”. Du hast die Macht. Du kannst in diesem Blog ganze Wörter zensieren, Du kannst auch einzelne Bedeutungen zensieren. (Solche Bedeutungen würden bei anderen Spielen natürlich erlaubt bleiben.) Schick die Ampeldeterministen einfach zum Spielen runter auf die Straße zu den LZA, dann könnte man sich hier leichter und vor allem gezielter verständigen.

  321. @Joker: die Nachfragen sind berechtigt

    Du hast recht, diese Diskussion ist ein sprachliches Minenfeld! Entsprechend kann ich dir nicht alle deine Fragen beantworten, das würde den Rahmen sprengen.

    “Neurodeterminismus” (ND) sollte man m.E. nur strikt lesen, d.h. dass allein das Gehirn unser Verhalten determiniert (Singer: “Verschaltungen legen uns fest”). Was manche hier versuchen mit ihrem “dynamischen” oder wie dann auch ND sollte man m.M.n. vermeiden, denn das ist dann kein Neurodeterminismus mehr, sondern z.B. ein Soziopsychobiodeterminismus, den man etwa so formulieren kann, wie ich es mit V = U x K x G versucht habe. Hier meine ich mit “Determinismus” aber keinen metaphysischen, sondern nur, dass Verhalten ein Ergebnis dieser Interaktion ist.

    Nehmen wir einmal ein konkretes Beispiel: In der durch das Libet-Experiment inspirierten fMRT-Untersuchung aus dem Hause Haynes konnte ca. 10s vor der angegebenen Bewusstwerdung mit 60% Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden, ob die VP mit dem linken oder rechten Zeigefinger einen Knopf drückt. Aus dieser signifikant erhöhten Wahrscheinlichkeit folgerten viele, das Gehirn lege unsere Entscheidungen fest, lange bevor uns diese bewusst würden. O-Ton Haynes:

    Suddenly I had this big vision about the whole deterministic universe, myself, my place in it and all these different points where we believe we’re making decisions just reflecting some causal flow. (Nature, 477, p. 25, 2011)

    60% ist weit weg von vollständiger Determination (100%) – aber im Experiment ist man allein schon aufgrund von Messfehlern und “Zufallsrauschen” (also doch Indeterministen?) immer unter 100%. Gerade deshalb plädiere ich ja für einen epistemischen Indeterminismus (komplizierter wird es dann, wenn jemand einen probabilistischen Kausalitätsbegriff verwendet und gleichzeitig sagt, die Welt sei kausal determiniert; siehe den Beitrag aus der Spektrum-Reihe über Philosophie).

    Dass ich keinen vollständigen Ampel-Determinismus vertreten habe der Art: In 100% der Fälle stehen alle vor rot (was übrigens hier in den Niederlanden v.a. für Fahrradfahrer nicht gilt), wurde aus meinen Gegenbeispielen ersichtlich. Ich schrieb ja, dass es sich auch dort um eine V = U x K x G-Relation handelt.

    Das passendere Wort als Soziopsychobiodeterminismus wäre eigentlich entsprechend Soziopsychobiointeraktionismus.

    Diesen Interaktionismus leite ich daraus ab, wie uns die Welt erscheint, wie wir sie beobachten, sie messen können. Daher äußere ich mich gar nicht zu einem metaphysischen Determinismus; am besten sollten wir alle aufhören, vom Determinismus zu reden. Man sieht hier, welche Probleme man sich dann überall damit einhandelt. Niemand braucht so einen Determinismus, auch nicht die Wissenschaftler – anders, als manche manchmal behaupten.

    Die Ampel ist das bisher beste Beispiel für den Soziopsychobiointeraktionismus: Denn der Verkehrsfluss wird sich viel stärker aus den durch Verhaltensbeobachtungen gewonnenen Verkehrsdaten sowie dem Wissen um die Ampelschaltung vorhersagen lassen, als aus jeglichem Gehirnwissen; und diese Kontingenzen (u.a. auch die Blitzer) haben auch Gehirn und Körper der Verkehrsteilnehmer geprägt.

    Ich hoffe, das hat nun etwas zur Klärung beigetragen.

  322. @ Ano Nym: Ende des Sektors

    Noït Atiga sagt, “Der Lichtzeichengeber determin[i]ert keineswegs die Verkehrsteilnehmer”.

    Sie sagen, “Er tut es.”

    Geht es Ihnen hier noch darum, das Wesen der Dinge zu ergründen, oder nur um eine bestimmte Begriffsauslegung? Wenn Sie darauf beharren, dass auch Ihre Auslegung Gültigkeit besitzt, determiniert = beeinflussen (vs. determiniert = eindeutig festlegen), dann befürchte ich, verlassen Sie den Sektor der klassischen Logik. Dann ist sowohl wahr, “Der Lichtanzeiger determiniert die Verkehrsteilnehmer”, als auch, “Der Lichtanzeiger determiniert die Verkehrsteilnehmer nicht”. Das wollten Sie doch vermeiden.

    Ich hoffe, Sie haben sich nicht den Landgerichtsrat Alois Eschenberger zum Vorbild erkoren, über den Ludwig Thoma schreibt:

    “Er kümmerte sich nicht um das Wesen der Dinge, sondern ausschließlich darum, unter welchen rechtlichen Begriff dieselben zu subsummieren waren.”

    (Und ihn deswegen bekanntermaßen in die Geschichte einführte, mit den Worten: “[Er] war ein guter Jurist und auch sonst von mäßigem Verstande.”)

  323. @Stephan / Haynes

    In 2007, Haynes […] put people into a brain scanner in which a display screen flashed a succession of random letters. He told them to press a button with either their right or left index fingers whenever they felt the urge, and to remember the letter that was showing on the screen when they made the decision. The experiment used functional magnetic resonance imaging (fMRI) to reveal brain activity in real time as the volunteers chose to use their right or left hands.

    Die Testpersonen hatten also zwei simultane Aufgaben: eine Entscheidung zu treffen uns sich dabei selbst hinsichtlich des Zeitpunktes der Entscheidungsfindung zu beobachten.

    Erstens wird dabei scheinbar unterstellt, der Prozess der Entscheidungsfindung verlaufe im Bewusstsein komplett entkoppelt vom Prozess der Selbstbeobachtung. Das würde ich doch für recht naiv halten.

    Zweitens kann Haynes bei diesem Experiment doch in keinem einzigen Fall den tatsächlichen Zeitpunkt der Entscheidung kennen, sondern bestenfalls den vermeintlichen Zeitpunkt, der aufgrund subjektiver Selbstbeurteilung von der Testperson benannt wird.

    Drittens, höchstens 60% für korrekte links/rechts Vorhersagen. Nun ja, zum Vergleich, mit einer Wetterprognose, die für morgen stets das gleiche Wetter wie von heute vorhersagt, kriegt man auch bereits eine Trefferquote von 60%, ein tieferes meteorologisches Verständnis braucht es dazu nicht.

  324. @Joker: Verkehrsfluss

    Wenn Sie darauf beharren, dass auch Ihre Auslegung Gültigkeit besitzt, determiniert = beeinflussen (vs. determiniert = eindeutig festlegen), dann befürchte ich, verlassen Sie den Sektor der klassischen Logik. Dann ist sowohl wahr, “Der Lichtanzeiger determiniert die Verkehrsteilnehmer”, als auch, “Der Lichtanzeiger determiniert die Verkehrsteilnehmer nicht”. Das wollten Sie doch vermeiden.

    Natürlich. Sie müssen aber schon die jeweils aktuelle Fassung meiner Aussage angreifen, die steckt in meinem Kommentar vom 07.08.2012, 15:41. Dort hatte ich geschrieben: „Die Hypothese, der Verkehrsfluss ist unabhängig vom Zustand der LZA, ist falsifizierbar.“

    „Verkehrsfluss“ ist eine Abstraktion. Ein Absehen vom konkreten einzelnen Zeitpunkt, vom konkreten einzelnen Fahrzeug. Mathematisch lässt sich das sicher schön als gleitender Mittelwert modellieren. Fahrzeuge, die bei Rot den Haltebalken überfahren sind Ausreißer. Solche Ausreißer falsifizieren natürlich nicht die o.g. Hypothese. Zumindest solange es einzelne Ausreißer sind. Dass der gemeine Franzose prinzipiell zum Ausreißen neigt und der niederländische Radler sich ebenfalls nicht ans Rotlicht hält, ist auch kein geeignetes Argument, um die wohl allen, die hier schreiben und lesen, bekannte Erfahrungstatsache, dass die LZA den Verkehrsfluss steuert, zu widerlegen.

    Mir ging es schließlich um die Widerlegung der Aussage Noït Atigas: „2. Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer“. M.E. ist diese Aussage widerlegt, wenn es eine LZA gibt, an der der Verkehrsfluss durch die LZA gesteuert wird.

    Wenn Sie mir soweit folgen konnten und auch wollten, können Sie nun noch einen Reduktionismus einflechten, der in dem Satz zum Ausdruck kommt, dass der Verkehrsfluss letztlich ‚nichts anderes ist als‘ das die Summe der Verhalten der einzelnen Verkehrsteilnehmer. Dann sind die Ausreißer statistisch eliminiert und Ihre ursprüngliche Formulierung ist in den Schoß der klassischen Logik zurückgekehrt.

  325. @Stephan: Recht

    Wie schon an Joker geschrieben: Das Recht bestraft Personen – aber wenn es um subjektive Tatbestände geht, dann geht es nicht um die Person als Ganzes. Sondern dann geht es um deren Seelen- oder Bewusstseinszustand. Und die Seele oder das Bewusstsein mögen anderswo liegen – in dem Moment aber, wo wir sie/es dem Gehirn zuordnen, in dem Moment interessiert sich das Recht im subjektiven Bereich (nur noch) für das Gehirn.

    Der objektive Tatbestand reicht uns eben nicht, sondern es braucht noch den subjektiven Tatbestand. Sprich das Gehirn des Täters muss zum Zeitpunkt der Tat um die Folgen seines Handelns gewusst und diese zumindest billigend in Kauf genommen haben. (7.8., 14:32 Uhr)

    Der erste Satz ist in der Tat eine Paraphrasierung des Rechtes – der zweite dann die Interpretation. Und im ersten steht nichts vom Gehirn. Im zweiten hingegen steht das, was vor Gericht zwar nicht so formuliert wird – aber im Prinzip versucht. Dass man heute den Gehirnzustand noch nicht genau genug auslesen kann, das habe ich nicht bestritten. Man versucht nur, ihm nahe zu kommen.

  326. @Ano Nym

    »Darauf kommt es hier nicht an. Niemand bestreitet, dass sich die allermeisten Verkehrsteilnehmer adäquat verhalten, aus eigenem Antrieb, wohlgemerkt. Weil sie um die möglichen Konsequenzen wissen.

    Richtig ist: Es kommt gar nicht drauf an, warum sich die allermeisten Verkehrsteilnehmer so verhalten. Wichtig ist nur, dass sie sich bestimmt, determiniert verhalten.«

    Diese Aussage steht im Kontext Ihrer Auffassung, dass der Lichtzeichengeber U (in der Regel) das Verhalten V der Verkehrsteilnehmer determiniert: U (in 98% der Fälle) => V.

    Ich als Neurodeterminist bin hingegen der Auffassung, dass allein das Gehirn Verhalten determinieren kann, also G => V, wobei G das Zusammenspiel von organischem Substrat und elektrischer Aktivität ist, und ferner sage ich, dass U nur der Auslöser für das neurodeterminierte Verhalten sein kann.
    Etwa so: U V.

    Für den oberflächlichen Beobachter der Ampelkreuzung, der keine Kenntnis von den wahren kausalen Zusammenhängen hat, schaut es so aus, als führe U geradewegs zu V, also U => V, in Worten: Die LZA determiniert das Verhalten und somit den Verkehrsfluss, G spielt dabei keine Rolle.

    Dass dieser äußere Eindruck nicht die tatsächlichen Kausalbeziehungen wiedergibt, liegt m. E. auf der Hand.

  327. @Ano Nym : Korrektur

    Es muss heißen:

    Etwa so: U (= G =) V.

    (Die runde Klammer ist durch spitze zu ersetzen)

  328. Neuro-Logik /@Chrys

    »“Ich bin mein Gehirn.” Derlei Sätze werden nach meinem Gefühl neurodeterministisch bevorzugt dahingehend gedeutet, dass ein Ich lediglich eine Art Halluzination ist, die Gehirne ihren Trägern zu vermitteln pflegen.«

    Ich zumindest deute den Satz so, dass das Gehirn das Organ für die Konstitution der Persönlichkeit ist. Im zarten Alter von drei Jahren entwickelt der Mensch ein Selbst-Gefühl (das „Ich“), merkt also, dass er ein eigenständiges Individuum ist.

    Dieses Selbst-Gefühl ist genauso wenig ein Halluzination wie das Sehen der Farbe Rot, sofern die Wellenlänge des eintreffenden Lichts rund 650 nm beträgt.

    Wenn wir auch mit der Niere denken könnten, ließe sich vielleicht die eine oder andere „Neuro-Logik“ vermeiden.

  329. @Stephan: Störung o dynam. Kommunikation

    Warum untersuchst du eine Aussage mit einem explizit falschen Schlüssel? Warum prüfst du einen Satz zum dynamischen Neurodeterminismus mit den Aussagen des strikten Neurodeterminismus?

    Dein Modell eines ‘Soziobiopsychodeterminismus’ will ich ja im Grunde gar nicht anzweifeln – nur bringt es uns in den Erkenntnissen nicht weiter. Es bietet uns keinerlei Vorteile bei der Vorhersage von Ereignissen, wenn wir auf irgendeiner undefinierten Multiplikation von Faktoren beharren. Und dann jeder Leser irgendeine der tausend möglichen Folgerungen daraus zieht.

    Es gibt aber Modelle, die uns genauere Vorhersagen ermöglichen könnten und neben den meisten Erfahrungen anderer Wissenschaften auch mit deiner extrem allgemeinen Aussage kompatibel sind – denn deine Folgerungen daraus sind leider nicht die allein möglichen. Und deine Formel ist wenigstens insofern problematisch, als sie verschiedene Beschreibungsebenen vermischt – was ihre direkte Anwendung zumindest stark verkompliziert.

    Wo ist denn die aktuelle, heutige psychische Störung wie kodiert? Und dabei geht es nur um den jetzigen Zustand. Kann dein Modell in deiner Form darauf irgendeine Antwort geben – nein. Und darum schreiben wir alle hier auch ständig aneinander vorbei. Man kann aber in der Systemtheorie eine sehr sinnvolle Konkretisierung finden, die außerdem recht offen ist. Das Gehirn (gern auch allgemeiner die Seele) ist dann ein offenes System – auf das der Körper und über diesen vermittelt die gesamte Lebensumwelt einwirken:

    Ein offenes System dagegen verfügt über variablisierte Relationen seiner Elemente, die durch nichtprognostizierbare Umwelteinflüsse verändert werden. Die interne Variabilität ermöglicht es dem System, sich in einem dynamischen Umfeld relativ zu stabilisieren (Fließgleichgewicht). Offene Systeme entfalten also im Austausch mit ihrer Umwelt eine Dynamik und variieren ihre Zuständlichkeit, ohne dabei ihre Systemstrukturen vollständig ändern zu müssen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht kausal von außen beeinflusst werden, sondern ihre interne Organisation bei Umweltveränderungen selbst umstellen („Black Box“-Theorem). Dies wird als Selbstorganisation bezeichnet und kann als Paradigma organisierter Komplexität gelten. (Wikipedia)

    Und das hatte ich als dynamischen Neurodeterminismus bezeichnet. Wenn diese Kodierung im Gehirn erfolgt (wovon wir hier überwiegend ausgehen), dann ist die psychische Strörung heute im Gehirn kodiert. Ihre kausalen Ursachen hat sie auch im vergangenen Gehirn – das aber über jeden Input von Körper oder Umwelt geformt wurde.

    Und dann ist das aktuelle Verhalten einer Person das Ergebis der Gehirn-Funktion, wobei Körper und Umwelt die Eingaben sind:
    V = G (U, K).
    Allerdings gilt auch, dass die Funktion des Gehirns zum Zeitpunkt T’ ein Ergebnis der Gehirn-Funktion zum Zeitpunkt T aus Umwelt und Körper sind:
    G’ = G (U, K).
    Aber auch: K’ = K (G, U) und U’ = U (G, K).

    Wobei man all das noch weiter detaillieren müsste.

    Und deine Hinweise auf die Ergebnisse von Depressionsbehandlungen sind damit vereinbar: Medikamente bringen erstmal nichts – jedenfalls nicht langfristig, denn kurzfristige Milderung schien mir bisher immer bestätigt (aber ich lasse mich gern eines besseren belehren). Denn der Organismus stellt sich irgendwie wieder darauf ein. Und dass Antidepressiva für die Rückkehr der Depression sprechen – auch das passt, denn das System Gehirn wurde durch sie nicht dauerhaft geändert. Spätestens nach dem Absetzen sind die Risiken in der Gehirn-Struktur gleichermaßen vorhanden. Und die Auslöser in der Umwelt oft auch. Allerdings kann eine Medikamentenbehandlung das akute Leiden lindern und damit eine psychische Behandlung erst ermöglichen.

    Und die medizinische Beschreibung von psychichen Störungen ist auch damit vereinbar: Es gibt eine Fehlfunktion – und diese spiegelt eine Störung in den psychologischen, biologischen oder Entwicklungsprozessen, die geistigen Leistungen zugrundeliegen, wider. Widerspiegeln (reflects) aber sagt nichts über die aktuelle Verknüpfung aus – die Prozesse können auch früher gestört gewesen sein, die Entwicklungsprozesse müssen es wohl. Wie intensiv nun Psyche mit Gehirn verbunden ist, das ist heiß umstritten – klar ist aber wohl, dass es mindestens Korrelationen gibt. Und dann kann man auf technischem oder medikamentösen Weg möglicherweise nicht die gesamte Psyche erreichen – aber wenigstens ihren gehirngebundenen Teil, zumindest theoretisch.

    Und jedenfalls der Großteil der Forscher glaubt an diese Möglichkeit – und mittlerweile haben wir auf diesem Wege ja einiges erreicht.

  330. @Balanus: Gefangen im eigenen Hirn

    Für den oberflächlichen Beobachter der Ampelkreuzung, der keine Kenntnis von den wahren kausalen Zusammenhängen hat, schaut es so aus, als führe U geradewegs zu V, also U => V, in Worten: Die LZA determiniert das Verhalten und somit den Verkehrsfluss, G spielt dabei keine Rolle.

    Dass dieser äußere Eindruck nicht die tatsächlichen Kausalbeziehungen wiedergibt, liegt m. E. auf der Hand.

    Die Kausalbeziehung zwischen der Wellenlänge des von der LZA ausgesandten Lichtstroms und dem Verkehrsfluss (reduzierbar auf das Verhalten von Verkehrsteinehmern) verschwindet nicht dadurch, dass “tatsächliche” (gemeint sind damit weitere) Kausalbeziehungen hinzutreten.

    Denn diese weiteren “tatsächlichen Kausalbeziehungen” beschreiben nur, was innerhalb des Verkehrsteilnehmers abläuft, also die Prozesse, die durch die auf die Netzhaut des Verkehrsteilnehmers auftreffenden Lichtquanten ausgelöst werden.

    Weder Affirmation noch Leugnung, weder Kenntnis noch Unkenntnis dieser “tatsächlichen Kausalbeziehungen” führt dazu, dass das, was der “oberflächliche Betracher” objektiv beobachtet, verschwindet.

    Die schon früher bemühte heiße Herdplatte wird nicht dadurch gefahrlos berührbar, dass man sich vorstellt, im Einschalten des Heizstroms läge gar nicht der wahre Grund fürs Heißsein. Eine solche Denkweise bewirkt Brandblasen aber keine Erkenntnis.

  331. @Balanus: Metaphysischer Ballast

    Schön, und da haben wir endlich mal deine nackte Metaphysik auf den Punkt gebracht:

    Für den oberflächlichen Beobachter der Ampelkreuzung, der keine Kenntnis von den wahren kausalen Zusammenhängen hat, schaut es so aus, als führe U geradewegs zu V […]

    Dass dieser äußere Eindruck nicht die tatsächlichen Kausalbeziehungen wiedergibt, liegt m. E. auf der Hand.

    Das heißt, wir haben einerseits unsere Beobachtung bzw. Erfahrung bsp. des (Verkehrs-) Verhaltens und auf der anderen Seite deine verborgenen beziehungsweise, wie du es nennst, wahren Kausalzusammenhänge. Diese Wahrheit ist aber nichts, was du beobachtest, sondern was du erfindest, gewissermaßen dein neurodeterministisches Gehirngespinst.

    Die Rede von den wahren Kausalzusammenhängen ist beim gegenwärtigen Stand der Kausalitätsforschung (bsp. Metaphysics of Causation; Woodward, J. [2003]. Making Things Happen: A Theory of Causal Explanation. Oxford University Press; Meixner, Uwe [2001]. Theorie der Kausalität: Ein Leitfaden zum Kausalbegriff in zwei Teilen, mentis Verlag) lange nicht mehr zeitgemäß.

    Werfen wir diese einschränkende, neurodeterministische, “wahre” Metaphysik über Board und wir werden feststellen, dass es für die Beobachtung und Erklärung von (Verkehrs-) Verhalten kaum eine Rolle spielt; in diesen Fällen hat man es nämlich mit dem (ggf. aggregierten) Verhalten von Personen zu tun, nicht von Gehirnen.

    Bye bye Neurodeterminismus.

  332. @Noït: eben sachlich

    1a) Diskussionskultur: Ich habe mich in den letzten Beiträgen bemüht, sachlich zu bleiben; warum wirst du jetzt wiederholt persönlich?

    1b) Diskussionskultur: Du wirfst mir hier ständig schlechten Diskussionsstil vor, den du m.E. vor allem selbst verwirklichst. Beispiel deine Aussage, Nichtwissen sei eine neurologische Störung:

    Ich habe mich um den Nachweis bemüht, dass diese Aussage unsinnig ist, mit einer einzigen Ausnahme (Anosognosien) – und selbst hier könnte man noch darüber streiten, ob nicht eine Äquivokation des Wissensbegriffs vorliegt, ob das dem anosognostischen Patienten nicht vorliegende Wissen nicht eine andere Art Wissen ist als das dem Straftäter fehlenden wissen.

    In jedem Fall hast du nicht angezweifelt, dass meine Analyse deines zumindest unsauber verwendeten Störungsbegriffs zutreffend ist. Anstatt nun deine Aussage, dass Nichtwissen im juristischen Kontext zumindest manchmal als neuronale Störung verstanden werden könne, zurückzuziehen oder wenigstens zu revidieren, reagierst du ganz anders: Prima, die einzelne Ausnahme (hier: Anosognosie) gebe dir doch recht!

    Denkst du wirklich, dass auf diese Art ein diskursiver Fortschritt möglich ist?

    2) Systemtheorie: Ich finde systemtheoretische Überlegungen interessant und lese tatsächlich dafür auch in letzter Zeit einige Arbeiten aus den 1970er Jahren. Vieles davon finde ich interessant.

    Wenn du das “dynamischen Neurodeterminismus” nennst, dann halte ich das für Blödsinn und wie wenig ich von diesem Begriff halte, das habe ich hier schon mehrfach deutlich geschrieben. Ich kann dich aber auch nicht daran hindern, dies so zu nennen.

    3) Zum Beispiel Depression:

    Medikamente bringen erstmal nichts – jedenfalls nicht langfristig, denn kurzfristige Milderung schien mir bisher immer bestätigt…

    Erstens ist die Logik (Konjunktion “denn”) dieses Satzes Verkehrt: Dass ein Medikament kurzfristig Linderung bringt ist gerade keine Begründung dafür, dass es langfristig nicht lindert; dafür gibt es in der Medizin Beispiele zuhauf (etwa der Form: Ich bin langfristig von der bakteriellen Infektion geheilt, denn das Antibiotikum hat kurzfristig die Bakterien getötet).

    Ich hege jedoch keine Hoffnung (Induktionsschluss aus der Erfahrung), dass dich dieser Nachweis zur Korrektur bewegt; du kannst es m.E. aber auch einfach lassen.

    Zweitens, inhaltlich, hilft es kurzfristig auch schon Patienten, einfach nur einen Psychiater zu sehen und mit ihm zu sprechen, ob mit oder ohne Pille.

    Bei den Meta-Analysen von Kirsch und anderen (etwa hier; einen allgemein verständlichen Überblick in Gehirn&Geist, siehe den Artikel Überschätzte Glücksbringer von Jochen Paulus) geht es übrigens vor allem um Kurzzeiteffekte (einige Wochen), da sich quasi die gesamte pharmakologische Forschung auf Kurzzeiteffekte bezieht.

    Du hast behauptet, du ließest dich gerne eines Besseren belehren. Diese Behauptung steht nun im Raum und kann bestätigt oder widerlegt werden.

    Und dass Antidepressiva für die Rückkehr der Depression sprechen – auch das passt, denn das System Gehirn wurde durch sie nicht dauerhaft geändert.

    Auch das entspricht nicht dem Stand der Forschung. Ich verweise nochmals auf Whitaker. (Glaubst du im ernst, dass du dem Gehirn monatelang selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer zufügen kannst, ohne das Neurotransmittersystem bleibend zu beeinflussen? Sorry, das zeigt m.E., wie wenig ernst es dir mit deinem “dynamischen Neurodeterminismus” wirklich ist.)

    Und jedenfalls der Großteil der Forscher glaubt an diese Möglichkeit – und mittlerweile haben wir auf diesem Wege ja einiges erreicht.

    Ja, vor allem Steuergelder zu verbrennen, siehe die Verweise auf u.a. Steven Hyman vor ca. 150 Kommentaren. Wie sich Mehrheiten irren können, v.a. in einem System, das Mehrheitsmeinungen begünstigt (peer review), ist in der Geschichte, Zeitgeschichte und Psychologie hinreichend belegt.

    4) “Mein” Soziopsychobiointeraktionismus:

    Und das hatte ich als dynamischen Neurodeterminismus bezeichnet. Wenn diese Kodierung im Gehirn erfolgt (wovon wir hier überwiegend ausgehen), dann ist die psychische Strörung heute im Gehirn kodiert.

    Darin versteckt sich eine petitio principi die m.M.n. mit deiner unsauberen Verwendung des Störungsbegriffs (s.o.) einhergeht: Was im Gehirn kodiert ist, könnte auch einfach das Symptom einer soziopsychobiologischen Störung sein, nicht die Störung selbst.

    Es ist (aus Sicht deines “dynamischen Neurodeterminismus”) zu zeigen, dass die psychische Störung zum Zeitpunkt t im jeweiligen Gehirnzustand kodiert/realisiert ist; das setzt du in deiner Argumentation einfach voraus, obwohl das zu zeigen bisher noch für keine einzige psychische Störung gelungen ist (siehe z.B. DSM-5).

    5) Erkenntnisse:

    Dein Modell eines ‘Soziobiopsychodeterminismus’ will ich ja im Grunde gar nicht anzweifeln – nur bringt es uns in den Erkenntnissen nicht weiter. Es bietet uns keinerlei Vorteile bei der Vorhersage von Ereignissen, wenn wir auf irgendeiner undefinierten Multiplikation von Faktoren beharren. Und dann jeder Leser irgendeine der tausend möglichen Folgerungen daraus zieht.

    Das ist nicht nur eine unbewiesene Behauptung, sondern auch eine meine Sichtweise diskreditierende haltlose Unterstellung.

    Es ging mir nie um “irgendeine undefinierte Multiplikation von Faktoren”. Meine Gleichung V = U x K x G ist erst einmal eine allgemeine Formulierung, die im Einzelfall mit Inhalt gefüllt werden muss (siehe meinen Blogbeitrag vor über 300 Kommentaren): Mein Ansatz ist demgegenüber völlig offen, dass, je nach Frage, mal U, mal K und mal G einen stärkeren Einfluss hat. Gerade deshalb habe ich sie so allgemein und offen formuliert.

    Die Papers zu bestimmten psychischen Störungen, die ich in jüngster Zeit lese, berichten für soziale Einflüsse z.B. auf Depressionen jeweils viel größere relative Risiken (odds ratios) als es meines Wissens jemals für ein Gen oder einen Gehirnzustand berichtet wurde – und das Milliarden der Forschung in der biologischen Psychiatrie und alle modernen Apparaturen zum Trotz. Für ein ausführliches Review zu den sozialen Determinanten etwa der Depression, siehe Ross, C. E. & Mirowski (2003). Social Causes of Psychological Distress. Aldine Transaction.

    Die empirischen Daten sprechen also ganz deutlich für einen Soziopsychobiointeraktionismus und kaum bis gar nicht für einen Neurodeterminismus, ob dynamisch oder strikt.

    Warum gibst du deine unrealistische und auf falschen Annahmen basierte Metaphysik nicht endlich auf?

  333. @Stephan: Sehr gern!

    … denn dazu bin ich hier.

    1a) Diskussionskultur: Das war nicht als persönlicher Angriff gemeint, sondern als wirkliche Frage(n). Denn ich verstehe das nicht, vielleicht ja auch weil ich zu beschränkt bin. Aber wieso man einen Satz zum “dynamischen Determinismus” mit Erläuterungen zum “strikten Neurodeterminus” zu entkräften versuchst, dass kann ich mir wahrlich aus keiner meiner Perspektiven erklären – und ich kenne einige (leider).

    1b) Diskussionskultur: Ich bin auch nur menschlich – und wenn ich mich konsequent ignoriert fühle (auch wenn das objektiv oder aus deiner Sicht anders sein mag), dann habe ich wenig Lust, meine Fehler plakativ zuzugestehen. Ich habe sie aus sprachlicher Sicht trotzdem deutlich zugestanden, denn als es um die Anosognosien ging habe ich geschlossen (im Deutschen ist das Ende wichtig): Aber ich will gern zugestehen, dass ich … insofern unsauber formuliert habe und dass das meiste Nichtwissen nur auf eine neurologische Störung zurückgeht.
    Mir ist das zwar ein völlig unwichtiges Thema, aber wenn du es nochmal hören willst: Nichtwissen ist (zumindest in der Regel) keine neurologische Störung.

    2) Systemtheorie Über den Blödsinn würde ich gern noch etwas diskutieren. Denn auch wenn ich deiner (unterstellt richtigen) Ansicht nach völlig Unrecht habe, ich habe Schwierigkeiten, das einzusehen.

    Wenn ich das Gehirn (oder Nervensystem) als offenes System betrachte, kann ich doch sagen: Das System ‘Gehirn’ determiniert sein Verhalten und seine Struktur – in Reaktion auf Körper und Umwelt. Oder?
    Und das ist doch dann ein dynamischer Neurodeterminismus – weil das Wie der Reaktion vom Gehirn bestimmt wird, das Woraus und Worauf aber von Körper und Umwelt.

    Ich gebe Dir zu, dass es dort Grenzen gibt, die nicht leicht zu ziehen sind. Etwa was denn mit den chemischen Substanzen ist, die im Gehirn wirken. Ich würde das aber unter den Begriff Woraus fassen wollen – denn mit der Kenntnis eines allwissenden Daemonen könnten wir vermutlich auch vorhersagen, welche Reaktionen das Gehirn bei welchen Substanzmängeln produziert. Und mir scheinen diese Abgrenzungen auch für Vorhersage oder Therapiezwecke sinnvoll.

    3) Zum Beispiel Depression: Zu ‘Zweitens’ lese ich soweit mir zugänglich und komme dann darauf zurück.

    Zu ‘Erstens’ muss mein Sprachverständnis (das ist teils in deinem Sinne unlogisch, sorry) aber monieren: “X – jedenfalls Y, denn Z” bedeutet für mich etwas anderes als für dich. Für mich bedeutet es “X – wenigstens Y, denn Z”, wobei X eine allgemeine Aussage ist, Y ein Teil davon und Z sich auf den anderen Teil von X bezieht. Dann ist nämlich X = Y und Z. Und wenn Z gilt, dann kann X immer noch falsch sein, wenn nämlich Y nicht gilt.

    4) “Dein” Soziopsychobiointeraktionismus: Eine gewisse Annahme steckt schon in meinem dynamischen Neurodeterminismus – aber ich dachte bisher, die wäre allgemeine Meinung.

    Zumindest in der Psychologie scheint sie es mir zu sein: Es lässt sich recht gut zeigen, dass es an der Person liegt, wie diese in bestimmten Situationen reagiert. Wenn man also dieselbe Situation mit verschiedenen Personen durchspielt, dann sind die Reaktionen nicht identisch. Auch wenn die Situation also gestört sein kann – die Reaktion auf diese Störung realisiert sich nicht immer als Störung, sondern kann auch normal sein (und ist es oft). Dann muss die Störungs-Reaktion also zumindest in der Person kodiert sein – nicht in der Situation. Damit aber ist es wahrscheinlich, dass die Reaktion im Gehirn kodiert ist.

    Auch wenn ich durchaus zugestehe, dass es an Untersuchungen zur Beteiligung der Biologie fehlt und durchaus Variationen in der Situation bestehen können. Was aus meiner Sicht aber für eine Gehirnkodierung spricht, sind die Erfolge von Konfliktmanagern und Psychologen. Wenn es nämlich (hauptsächlich) an der Biologie läge, dann sollten die wenig bis keine Erfolge haben. Dass die Biologie auch einen Einfluss haben kann und sicher hat – dass bezweifle ich aber nicht.

    Und auch du stimmst mir anscheinend zu, wenn du schreibst: Was im Gehirn kodiert ist, könnte auch einfach das Symptom einer soziopsychobiologischen Störung sein, nicht die Störung selbst.
    Wenn du mir nämlich zugestehst, Symptom mit (vorläufigem) Ergebnis zu ersetzen – dann bin ich ganz bei dir. Dass das Gehirn ursprünglich nicht zwingend die Störung ist, da bin ich sowieso bei dir. Aber all die Störungen in der Umwelt und im Körper, alle diese Störungen bilden sich (jedenfalls langfristig) im Gehirn ab. Und wenn ich keinerlei Kenntnis über die Vergangenheit einer Person habe – dann könnte ich ihre zukünftigen Verhaltensoptionen und -wahrscheinlichkeiten doch aus dem Gehirn ablesen (jedenfalls theoretisch).

    5) Erkenntnisse: Hier liegt aus meiner Sicht ein völliges Missverständnis vor – an dem meine Formulierung sicher nicht unschuldig ist. Aber ich habe “x” immer als Faktor gelesen, als wie du schreibst allgemein formulierenden. Und ich habe ja auch gar nicht bestritten, dass deine allgemeine Formulierung mit Inhalt gefüllt werden muss – nein vielmehr darauf hingewiesen, dass sie mit viel zu vielfältigem Inhalt gefüllt werden kann. Und daher in dieser Form nicht wirklich falsifizierbar ist.

    Denn letztlich sagst du: Verhalten bestimmt sich aus dem Gehirn, dem Körper und dem ganzen Rest. Schön, aber: Wie bestimmen wir denn die Bedeutung von U, K und G? Wie wollen wir denn sinnvoll irgendetwas erforschen, wenn wir alles immer als unbestimmt ansetzen müssen? Denn dann müssten wir eigentlich auch alle unsere Erfahrung vergessen, schließlich beruht die immer auf konkreten U, K und G.

    Meine (zwar wahrscheinliche aber in dieser Allgemeinheit tatsächlich unbewiesene, aber von einigen Intellektuellen geteilte) Hypothese war: Das Gehirn entscheidet allein, aber es reagiert auf allen Input aus Körper und Umwelt. Wobei eine Reaktion sowohl zu Verhalten führt als auch zu einem Umbau im Entscheidungsapparat Gehirn, also im Gehirn-System. Damit ist das Gehirn autopoietisch.

    Und die empirischen Daten, die du anführst sind damit ebenso kompatibel wie unser Wissen über das Gehirn. Das Gehirn baut sich um und passt sich an – aber eben nicht schrankenlos. Also gibt es gewisse Reaktionen, die jedes Gehirn unabhängig von seiner konkreten Struktur ‘deprimieren’. Aber wie wollen wir das rausfinden – wenn nicht über das Gehirn, also über die Plastizität der Sinnmaschine aller Menschen? (Denn alle Menschen leiden zu lassen, das scheint kein wirklicher Weg zu sein, oder? Und mit Affen – die das Problem möglicherweise nicht haben – können wir auch nicht wirklich interagieren.)

    Dass wir das HEUTE eher (sprich schneller, billiger, humaner und korrekter) über soziologische oder psychologische Untersuchungen finden können – da stimme ich dir voll und ganz zu. Das mag ich ja an deiner Kritik der Neurobiologen, denn heute können die noch nicht viel. Aber deine prinzipielle Kritik schießt aus meiner Sicht über das Ziel hinaus und schadet damit deinem (und meinem) Anliegen.

    Denn hätten wir vollständiges Gehirnwissen, dann könnten wir möglicherweise genauer sagen, welche Situationen den Menschen schaden – und welche nützen. Aber dahin ist es (zumindest) noch ein langer Weg. Und darum dürfen wir die psychologischen Lehrstühle nicht für neurobiologische abschaffen, Hugh!

  334. @ Stephan Schleim: Soziopsychobiointerak

    Sehr geehrter Herr Schleim,

    m.E. haben Ihre Überlegungen zum “Soziopsychobiointeraktionismus” eine hohe Plausibilität und darüber hinaus auch -m.M.n- hohe Relevanz für die Praxis. Mich würde allerdings interessieren, inwieweit Sie ihre Überlegungen zum “Soziopsychobiointeraktionismus” vom biopsychosozialen Modell (klinische Psychologie, Gesundheitspsychologie) unterscheiden resp. differenzieren?

    Beste Grüße
    Christian

    PS.: Welche Relevanz soziale Faktoren bei der Aufrechterhaltung bzw. Bewältigung von psychischen Störungen spielen, zeigen auch Untersuchungen zur “sozialen Unterstützung”.

  335. Gefangen? /@Ano Nym

    »Die Kausalbeziehung zwischen der Wellenlänge des von der LZA ausgesandten Lichtstroms und dem Verkehrsfluss (reduzierbar auf das Verhalten von Verkehrstei[l]nehmern) verschwindet nicht dadurch, dass “tatsächliche” (gemeint sind damit weitere) Kausalbeziehungen hinzutreten. .«

    Es geht nicht um das Verschwinden lassen der Kausalbeziehung, sondern um deren Herstellung, darum, dass diese Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss allein durch das Verhalten der Verkehrsteilnehmer hergestellt wird.

    »Denn diese weiteren “tatsächlichen Kausalbeziehungen” beschreiben nur, was innerhalb des Verkehrsteilnehmers abläuft, also die Prozesse, die durch die auf die Netzhaut des Verkehrsteilnehmers auftreffenden Lichtquanten ausgelöst werden.«

    Die Lichtquanten lösen nur die Depolarisation bestimmter lichtempfindlicher Zellen aus. Damit endet der „Einfluss“ der LZA. Der Rest ist allein Sache des Nervensystems und des Gehirns, welches weit davon entfernt ist, eine simple Reiz-Reaktion-Maschine zu sein. Ein Bordcomputer könnte die Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss ebenfalls herstellen.

    »Weder Affirmation noch Leugnung, weder Kenntnis noch Unkenntnis dieser “tatsächlichen Kausalbeziehungen” führt dazu, dass das, was der “oberflächliche Betracher” objektiv beobachtet, verschwindet.«

    Natürlich nicht. Wir wollen aber wissen, wie es zu dieser Kausalbeziehung kommt. Ist es der durch die LZA gesteuerte Bordcomputer oder ist es das intelligible Verhalten einer Biospezies in Reaktion auf einen Lichtreiz?

  336. Ballast /@Stephan

    »Das heißt, wir haben einerseits unsere Beobachtung bzw. Erfahrung bsp. des (Verkehrs-) Verhaltens und auf der anderen Seite deine verborgenen beziehungsweise, wie du es nennst, wahren Kausalzusammenhänge. Diese Wahrheit ist aber nichts, was du beobachtest, sondern was du erfindest, gewissermaßen dein neurodeterministisches Gehirngespinst. «

    Ganz so gesponnen ist das nicht. Was wir beobachten, ist eine Korrelation zwischen Ampelschaltung und Verkehrsfluss. Was wir aber wissen wollen, ist, ob es einen Kausalzusammenhang zwischen LZA und Verkehrsfluss gibt, und wenn ja, welche Faktoren dabei welche Rolle spielen. Zählt Ursachenforschung heutzutage schon zur Metaphysik?

  337. @Balanus: bestehen vs. herstellen

    Es geht nicht um das Verschwinden lassen der Kausalbeziehung, sondern um deren Herstellung, darum, dass diese Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss allein durch das Verhalten der Verkehrsteilnehmer hergestellt wird.

    Ihnen scheint es um die “Herstellung” zu gehen, ich gebe mich bereits mit dem Bestehen der Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss zufrieden, denn sie falsifiziert die Aussae Noït Atigas:

    „2. Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer“

    Die Lichtquanten lösen nur die Depolarisation bestimmter lichtempfindlicher Zellen aus. Damit endet der „Einfluss“ der LZA.

    Nein. Dort endet der Einfluss nicht, weil die Wellenlänge des Lichts der LZA (in Deutschland, geeignet mathematisch gemittelt usw.) noch das makroskopische Verhalten des Verkehrsteilnehmers bestimmt. Die Wellenlänge legt fest, ob das Fahrzeug anhält oder weiterfährt. Erst im Verkehrsfluss „endet“ der Einfluss der LZA.

    Der Rest ist allein Sache des Nervensystems und des Gehirns, welches weit davon entfernt ist, eine simple Reiz-Reaktion-Maschine zu sein. Ein Bordcomputer könnte die Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss ebenfalls herstellen.

    Im Falle der LZA (in Deutschland, im Auto, im Mittel) verhält sich aber der Verkehrsteilnehmer genau so, als wäre er eine Reiz-Reaktions-Maschine und das ist auch so gewollt. Natürlich kann dieser Mechnismus in einen Bordcomputer einprogrammiert werden:

    http://heise.de/-1662834

    Ja und?

    Wir wollen aber wissen, wie es zu dieser Kausalbeziehung kommt.

    Unterwerfung unter das Recht + Eingeübtes Verhalten.

    Im Falle des Bordcomputers: Programmierung.

    Ist es der durch die LZA gesteuerte Bordcomputer oder ist es das intelligible Verhalten einer Biospezies in Reaktion auf einen Lichtreiz?

    Das interessiert ja nur dann, wenn das Fahrzeug regelwidrig fährt. Im Falle des Bordcomputers ergibt sich dann die spannende Fragestellung, wem der Regelverstoß zuzurechnen ist. Aber das ist bestimmt schon seit Jahrzehnten ausdiskutiert.

  338. @Balanus: Relativieren was das Zeug hält

    Was wir beobachten, ist eine Korrelation zwischen Ampelschaltung und Verkehrsfluss.

    Wenn wir die Ampelschaltung selbst in die Hand nehmen, erfahren wir unmittelbar, dass wie die Schaltung die LZA und die LZA den Verkehrsfluss bestimmt. Wenn wir uns zurücknehmen und die Ampelschaltung wieder auf Automatik schalten, bleibt die Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss bestehen.

    Es handelt sich also nicht bloß um eine Korrelation, sondern schon um echte Kausalität.

  339. @Ano Nym, Balanus: Ampel

    Diese Diskussion ist ein sehr schönes Beispiel für die Verwirrung des Neurodeterministen:

    Es geht darum, das Verkehrsverhalten (am Beispiel einer Ampel) zu erklären und vorherzusagen. Wir haben sehr starke Hinweise darauf, dass die Ampel das Verhalten stark festlegt – und diese Hinweise stammen sowohl aus der Theorie (der Verkehrsordnung) als aus der Praxis (der Beobachtung des Verkehrsgeschehens).

    Doch dieses ganze Wissen ist dem Neurodeterministen nichts wert. Für ihn kann es “wahre” Kausalität (O-Ton Balanus) nur im Gehirn geben.

    Wir können ihm so weit beipflichten, dass in der Regel (von den neuen Roboterautos abgesehen) ein hinreichend funktionsfähiges Gehirn (ebenso wie ein hinreichend funktionsfähiger Körper, ein hinreichend funktionsfähiges Fahrzeug) nötig ist, um korrektes Verkehrsverhalten zu produzieren. In manchen Fällen, wenn das Verkehrsverhalten zusammenbricht, wird uns ein Blick ins Gehirn sogar eine Erklärung dafür geben können (bsp. epileptische Anfälle).

    Das alles ändert aber nichts daran, dass die Untersuchung des Gehirns zum Verständnis, der Erklärung und der Vorhersage von Verkehrsverhalten wenig beiträgt. Die Suche nach der “wahren” Kausalität führt nur in die Irre. Insofern noch einmal mein Plädoyer für eine methodologische Vernunft: Bleiben wir doch auf der Ebene, auf der wir die besten Daten gewinnen.

    Übertragen auf das Verhalten des Menschen allgemein (und auch das Recht im Besonderen) heißt das, dass Neurowissenschaftler erst einmal bessere Erklärungen liefern müssen als die uns bereits vorhandenen. Die Diskussion positiver Beispiele hierfür ist stets willkommen. Der Grund, warum ich in in Menschen-Bilder weniger Neurostudien bespreche als ursprünglich geplant, ist, dass ich diese Untersuchungen bei näherer Analyse meist enttäuschend finde (insbesondere dann, wenn man sie mit dem vergleicht, was die Forscher behaupten herausgefunden zu haben, z.B. sie könnten womöglich bald Träume entschlüsseln).

  340. @Christian: biopsychosoziales Modell

    Wissen Sie, das habe ich mich selbst schon gefragt. Ich sprach vorher noch vom Umwelt-Körper-Gehirn-Interaktionismus, inzwischen vom Soziopsychobiointeraktionismus…

    Vielleicht haben Sie meinen Vermerk in der Diskussion gesehen (@Systemtheorie), dass ich in jüngerer Zeit einige Arbeiten aus den 1970er Jahren lese. Dazu gehören auch Klassiker aus der klinischen Psychologie/Psychiatrie.

    Den klassischen Aufsatz The need for a new medical model: a challenge for biomedicine (Science, 1977) von George Engel habe ich gleich dreimal hintereinander gelesen. Interessant übrigens, dass damals Psychiater noch in Science publizieren konnten, auch ohne vorher zwei Dutzend VPs durch einen millionenteuren Apparat zu schieben oder Gene von hunderten von Menschen nach praktisch irrelevanten Variationen zu untersuchen.

    Was haben wir heute stattdessen? Man wird nur ernst genommen, wenn man sich dem methodischen Diktat beugt; wenn man hingegen auf Anomalien hinweist oder nach Alternativen sucht (bsp. Ein Plädoyer für Pluralismus in der Medizin), dann wird man von ein paar großmäuligen selbsternannten Aufklärern ausgebuht.

    Fragen Sie mich doch bitte in einem Jahr noch einmal, vielleicht kann ich Ihnen dann eine bessere Antwort geben; interessant ist aber doch, aus welcher Richtung ich mich dem biopsychosozialen Modell annähere, nämlich aus der Philosophie und experimentellen Psychologie über den Umweg der bildgebenden Hirnforschung und theoretischen Neurowissenschaft.

  341. @Noït: Abschlussstatement

    Ich würde das jetzt gerne als klärendes Abschlussstatement so stehen lassen, nachdem ich noch einmal hervorhebe, dass ich nicht deinen Ansatz, der mir in mancherlei Hinsicht sinnvoll und originell erscheint, sondern dessen Bezeichnung als “Neurodeterminismus” für Blödsinn halte.

    Am Rande nur noch eine wissenschaftstheoretische bzw. -historische Bemerkung zur Persönlichkeitspsychologie:

    Zumindest in der Psychologie scheint sie es mir zu sein: Es lässt sich recht gut zeigen, dass es an der Person liegt, wie diese in bestimmten Situationen reagiert.

    Ich hatte es eben noch über die 1970er, jetzt gehen wir in die 1950er und 1960er zurück, zum Psychologischen Situationismus. Damals haben Psychologen intensiv nach Verhaltenseinflüssen der Persönlichkeit gesucht, so wie du es hier beschreibst, und meines Wissens sehr wenig gefunden.

    Wir sollten am besten einen Experten fragen aber zumindest als ich nach Groningen kam, ist gerade der letzte Persönlichkeitspsychologe in den Ruhestand gegangen und wurde die Abteilung geschlossen. Es gibt in Groningen keine Persönlichkeitspsychologie mehr, stattdessen wurde die Sozialpsychologie, die soziale Einflüsse auf das Verhalten untersucht, größer und größer.

    Aber das ist nun wirklich ein weites Feld, Luise…

  342. @Balanus

    »Dieses Selbst-Gefühl ist genauso wenig ein Halluzination wie das Sehen der Farbe Rot, …«

    Ausgezeichnet. Doch drängt sich dem unbedarften Neuro-Laien immer wieder der Eindruck auf, dass einige Neuro-Logiker ihren Verstand, ganz wie Ringelnatzens Globus, wohl eher im Hinterteil als im Hirn herumtragen.

    Zur Abschaffung des Ich siehe auch [Gebrauchtes Ich, günstig abzugeben].

  343. Verkehrsfluss /@Ano Nym

    »Ihnen scheint es um die “Herstellung” zu gehen, ich gebe mich bereits mit dem Bestehen der Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss zufrieden, denn sie falsifiziert die Aussae Noït Atigas:

    „2. Der Lichtzeichengeber determinert keineswegs die Verkehrsteilnehmer“ «

    Ich finde nicht, dass die beobachtete Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss irgendetwas über die „Determiniertheit“ der Verkehrsteilnehmer durch die LZA aussagt. Alternativ könnte es sich um die freiwillige Einhaltung einer zuvor getroffenen Vereinbarung handeln („bei Rot halte ich an“).

    Es ist m.E. ein entscheidender Unterschied, ob ich auf etwas reagiere, oder ob ich durch etwas determiniert bin. Was an der LZA tatsächlich der Fall ist, lässt sich nicht allein anhand der Beobachtung des Verkehrsflusses entscheiden. (Stimmt’s, Stephan?).

    »Nein. Dort [am Rezeptor] endet der Einfluss nicht, weil die Wellenlänge des Lichts der LZA (in Deutschland, geeignet mathematisch gemittelt usw.) noch das makroskopische Verhalten des Verkehrsteilnehmers bestimmt.«

    Das ist pure Spekulation, ob das Verhalten „bestimmt“ wird. Wahrscheinlicher ist, dass entsprechend reagiert wird.

    »Im Falle der LZA (in Deutschland, im Auto, im Mittel) verhält sich aber der Verkehrsteilnehmer genau so, als wäre er eine Reiz-Reaktions-Maschine und das ist auch so gewollt.«

    Wenn ein Verhalten „genau so“ erscheint, bedeutet das nicht, dass es auch so ist.

    »Natürlich kann dieser Mechnismus in einen Bordcomputer einprogrammiert werden:

    http://heise.de/-1662834

    Ja und?«

    Bei genügend hoher Komplexität des Computers wäre hinsichtlich des „Verhaltens“ zwischen Mensch und Maschine wohl kein Unterschied feststellbar.

    Die Frage ist, ob man in diesem Falle noch von einer „Fernsteuerung“ durch die LZA sprechen könnte. Heutige Bordcomputer ließen sich zweifellos von außen fernsteuern, sprich determinieren. Aber wenn der Computer selbst darüber entscheiden könnte, ob er das Signal beachtet oder nicht, was dann?

    Wie auch immer, wir brauchen eine entsprechende „Programmierung“ des Signalempfängers. Ohne diese Programmierung geht der Zusammenhang zwischen LZA und Verkehrsfluss verloren.

    Beim Menschen geschieht diese „Programmierung“ durch aktives Lernen und Üben. Deshalb ist das, was wir an der LZA beobachten, ist genau das:

    »Unterwerfung unter das Recht + Eingeübtes Verhalten?«

    Und das ist alles vom Verkehrsteilnehmer genau so gewollt.

  344. @Stephan: Zum Abschlussstatement

    Zum Begriff: Wie wäre es mit Neurosystemismus?

    Zur Psychologie: Ich wollte dort zeitlich nicht soweit zurückgehen, denn ich hänge mit anderer Erklärung den Ergebnissen des Psychologischen Interaktionismus an. Darum meinte ich nur, dass man bei gegebener Situation mit verschiedenen Personen verschiedene Resultate erhält. Und das spricht für eine Kodierung in der Person.

    Dass man dennoch die Persönlichkeitspsychologie erstmal aufgegeben hat, das scheint mir aber logisch. Denn in der heutigen Welt ist die Varianz der Situationen derart groß, dass die Vorhersagekraft einer auf wenigen Kriterien beruhenden Persönlichkeitsbestimmung abnimmt. Schließlich werden die Gehirn-Systeme immer komplexer geformt. Die Beschreibung mit den klassischen Persönlichkeitstypen kann diese Komplexität nicht mehr abbilden – und wie immer bei zu großer Vereinfachung sind die Erfolge dürftig.

    Zur Depression: Whitaker muss ich noch lesen, aber die anderen Aufsätze scheinen mir irgendwas zwischen unseren Ansichten zu bestätigen. Den G&G-Artikel habe ich wohl schonmal gelesen.

    Danach gibt es kurzfristige Milderung nur bei schweren Störungen, wobei dazu allerdings noch zu wenig geforscht wurde. Deinen Einwurf mit dem Sehen eines Psychiaters stimme ich übrigens zu – bei intensiv betreuten Studien ist das auch ein methodisches Problem gerade im Bereich psychischer Erkrankungen. Und dieser Einfluss intensiver Betreuung wird aus meiner Sicht implizit von den Studien bestätigt: Die relative Verbesserung der Depression durch Placebos nimmt mit der Stärke der Depression ab – und das wohl auch, weil die situative Erhöhung der Mitmenschlichkeit bei den kleineren Depressionen schon (fast) reichen dürfte, bei größeren aber nicht.

    Möglicherweise ist das sogar die Ursache für den Rückfall bei medikamentöser Behandlung von kleineren Depressionen. Das Serotonin-System wird ‘normalisiert’ – aber übernormalisiert. Wird doch der Botenstoff sowohl chemisch erhöht als auch psychisch. Das wird vom Gehirn zum neuen Normalwert korrigiert – und damit ist es später noch leichter ‘deprimiert’.

    Insofern wollte ich oben keineswegs behaupten, dass die Chemie überhaupt keine Wirkung hatte – meine Formulierung war unsauber. Ich meinte nämlich nur, dass sie die depressionsauslösende Struktur nicht verbessert (sondern bei zu langer Anwendung sogar verschlechtern kann). Und mit meinen verbesserten Kenntnissen spreche ich mich nun noch mehr gegen die Chemie aus – außer die Depression ist zu groß, wobei wir auch das besser durch Änderungen unserer Sozialstruktur vermeiden sollten…

  345. @Balanus: Umwelt legt den Verkehr fest

    Ich finde nicht, dass die beobachtete Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss irgendetwas über die „Determiniertheit“ der Verkehrsteilnehmer durch die LZA aussagt. Alternativ könnte es sich um die freiwillige Einhaltung einer zuvor getroffenen Vereinbarung handeln („bei Rot halte ich an“).

    Wie bezeichnend, dass du dies aus neurodeterministischer Sicht behauptest, darum ist es aber nicht weniger falsch, denn:

    Es steht gar nicht im alleinigen Ermessen des jeweiligen Individums (und dementsprechend kann auch das individuelle Gehirn nicht der interessanteste Ort für die Untersuchung sein), bei rot zu halten und bei grün zu fahren. Wer nämlich häufig genug bei grün hält und bei rot fährt, der wird, wenn er Glück hat, durch die Verkehrspolizei, wenn er Pech hat, durch einen Lastkraftwagen aus dem Verkehr (und womöglich gleich ganz aus der Lebenswelt) gezogen.

    Du übersiehst, dass die Ampel nur ein Teil des Verkehrssystems ist; auch wenn dieser Teil beispielsweise an Kreuzungen eine entscheidende Rolle für das Festlegen des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer hat (und das können wir auch direkt messen und für die Zukunft vorhersagen), so ist sie doch nicht der einzige Teil des Verkehrssystems, der ein bestimmtes Verhalten erzwingt.

    Übertragen wir dies auf die ganze Gesellschaft, dann sind wir plötzlich bei sozialer bzw. politischer Freiheit. Das wäre dann eine viel interessantere Diskussion als die Scheindiskussion über metaphysische neurodeterministische Unfreiheit.

  346. @Balanus: Kausal aber nicht determiniert

    Ich finde nicht, dass die beobachtete Kausalbeziehung zwischen LZA und Verkehrsfluss irgendetwas über die „Determiniertheit“ der Verkehrsteilnehmer durch die LZA aussagt.

    Die beobachtete Kausalbeziehung (soweit habe ich Sie nun schon, dass Sie dass einräumen?) sagt über die Determiniertheit der Verkehrsteilnehmer (Fahrzeuge) aus, dass diese determiniert sind. Die Beobachtung der Kausalität ist der Nachweis für diese Determiniertheit.

    Alternativ könnte es sich um die freiwillige Einhaltung einer zuvor getroffenen Vereinbarung handeln („bei Rot halte ich an“).

    Für die Beobachtung der Determiniertheit ist es unerheblich, ob sich der Fahrer die Regeln einübt, weil er sie sich einleuchten lässt, oder weil ein Verstoß mit empfindlichen Übel (Bußgeld) bedroht ist.

    Es ist m.E. ein entscheidender Unterschied, ob ich auf etwas reagiere, oder ob ich durch etwas determiniert bin. Was an der LZA tatsächlich der Fall ist, lässt sich nicht allein anhand der Beobachtung des Verkehrsflusses entscheiden. (Stimmt’s, Stephan?).

    Falsche Dichotomie. Meine oder Ihre eingeübte Reaktion auf das Rot der Ampel konstituiert die Determiniertheit. Welche Prozesse im Fahrer ablaufen interessiert (hier) weder mich, noch den, der die LZA plant. Das interessiert nur, wenn einer bei Rot nicht anhält.

    Das ist pure Spekulation, ob das Verhalten „bestimmt“ wird.

    Ich zitiere mich: „Die beobachtete Kausalbeziehung (soweit habe ich Sie nun schon, dass Sie dass einräumen?) sagt über die Determiniertheit der Verkehrsteilnehmer (Fahrzeuge) aus, dass diese determiniert sind.“

    Wahrscheinlicher ist, dass entsprechend reagiert wird.

    Falsche Dichotomie. Die eingeübte Reaktion konstituiert die Determination.

    »Im Falle der LZA (in Deutschland, im Auto, im Mittel) verhält sich aber der Verkehrsteilnehmer genau so, als wäre er eine Reiz-Reaktions-Maschine und das ist auch so gewollt.«

    Wenn ein Verhalten „genau so“ erscheint, bedeutet das nicht, dass es auch so ist.

    Ich habe nicht behauptet, dass der Verkehrsteilnehmer eine Reiz-Reaktions-Maschine ist, sondern, dass er sich (an LZAnlagen) so verhält, als wäre er eine und dass dieses Verhalten gewollt ist. (Diesem Willen liegt eine verkehrsplanerische Vorstellung zugrunde, wie der Verkehrs fließen soll). Sie lesen Dinge, die ich nicht geschrieben habe und positionieren sich dann dagegen. Warum?

    Bei genügend hoher Komplexität des Computers wäre hinsichtlich des „Verhaltens“ zwischen Mensch und Maschine wohl kein Unterschied feststellbar.

    Komplexität ist dafür allerdings nicht hinreichend.
    Aber erneut: Ja und?

    Die Frage ist, ob man in diesem Falle noch von einer „Fernsteuerung“ durch die LZA sprechen könnte.

    Fernsteuerung liegt vor, wenn aus der Ferne gesteuert wird. Aus der Ferne gesteuert wird, wenn eine ferne Stellgröße einen nahen Zielgröße bestimmt. Mit

    ferner Stellgröße = Zustand der LZA
    naher Zielgröße = Verkehrsfluss

    Lautet Ihr Statement: ‚Die Frage ist, ob man davon sprechen kann, dass die LZA den Verkehrsfluss bestimmt, wenn (“in diesem Falle”) nicht ein Mensch sondern ein Computer auf die LZA reagiert.’

    Die Antwort ist “Ja”.

    Heutige Bordcomputer ließen sich zweifellos von außen fernsteuern, sprich determinieren.

    Der Computer in google-Autos ließe sich nicht nur zweifellos von außen durch LZA fernsteuern, er wird sogar von außen durch LZA ferngesteuert. Nämlich genau so wie sich humanoide Fahrer von LZA fernsteuern lassen: Wenn die Ampel ihnen Rot zeigt, halten sie an.

    Wäre diese Fernsteuerbarkeit nicht gegeben, wäre die Zulassung zur Teilnahme am Straßenverkehr nicht erteilt worden.

    Aber wenn der Computer selbst darüber entscheiden könnte, ob er das Signal beachtet oder nicht, was dann?

    Derzeit entscheiden Computer nichts und schon gar nicht selbst. Wenn es Computer gäbe, die selbst entscheiden, hätten diese das, was wir Bewusstsein nennen. So weit ist die Entwicklung nach allem, was mir bekannt ist, noch nicht.

    »Unterwerfung unter das Recht + Eingeübtes Verhalten?«

    Und das ist alles vom Verkehrsteilnehmer genau so gewollt.

    Sie wirken leicht bockig. Zur Erinnerung: Sie hatten gefragt: „Wir wollen aber wissen, wie es zu dieser Kausalbeziehung kommt.“ Ob die Kausalbeziehung gewollt oder widerwillig hergestellt wurde, ändert an der Kausalbeziehung nichts.

  347. An der Ampel /@Stephan

    »Es geht darum, das Verkehrsverhalten (am Beispiel einer Ampel) zu erklären und vorherzusagen. Wir haben sehr starke Hinweise darauf, dass die Ampel das Verhalten stark festlegt – und diese Hinweise stammen sowohl aus der Theorie (der Verkehrsordnung) als aus der Praxis (der Beobachtung des Verkehrsgeschehens).

    Doch dieses ganze Wissen ist dem Neurodeterministen nichts wert.«

    Falsch! Der Neurodeterminist hat nur eine andere Erklärung für die Beobachtung, dass „die Ampel das Verhalten stark festlegt“. Eben eine, die die wesentliche, um nicht zu sagen, alleinige Ursache des Verhaltens in den Eigenschaften des Gehirns vermutet.

    »Das alles ändert aber nichts daran, dass die Untersuchung des Gehirns zum Verständnis, der Erklärung und der Vorhersage von Verkehrsverhalten wenig beiträgt.«

    Richtig, und zwar aus praktischen bzw. methodischen Gründen. Nicht, weil es im Gehirn kein Wissen über das korrekte Verkehrsverhalten gäbe. Wenn ein Verkehrsteilnehmer an einer Ampel steht, und ich als Neurodeterminist wissen möchte, welches Ampelsignal er gerade sieht (welches „Bild“ in seinem Gehirn ist), dann kucke ich mir die Ampel an und mache keinen Hirnscan, der ohnehin nichts anders ergeben könnte, wenn er denn könnte.

    Deshalb habe ich auch gar nichts dagegen einzuwenden, wenn du Verhalten als das Ergebnis des Zusammenwirkens von Umwelteinflüssen und Mensch (Gehirn + Körper) erklären möchtest („Interaktion“ halte ich nach wie vor für irreführend).

    Aus Sicht des Menschen und seines Gehirns kommt es aber alleine auf die Funktion und Struktur des Gehirns an, diese determinieren, wie auf eine gegebene Umweltsituation verhaltensmäßig reagiert werden kann (nicht reagiert werden muss). Das bedeutet in meinen Augen „Neurodeterminismus“, sei er nun dynamisch oder strikt. Wobei mir „dynamischer Neurodeterminismus“ fast wie ein Pleonasmus vorkommt („weißer Schimmel“) und „strikter Neurodeterminismus“ eh nur eine Kunstfigur zu sein scheint.

  348. @Balanus: Neurosystemismus

    Dynamischer Neurodeterminismus war nicht als Pleonasmus konzipiert, auch wenn der zweite Teil oben fehlte:

    Neurodeterminismus – weil das Wie der Reaktion vom Gehirn bestimmt wird, das Woraus und Worauf aber von Körper und Umwelt.

    Dynamisch – weil sich dieses Wie durch jedes Woraus und Worauf ebenso wie durch jede Selbstbeschäftigung in der Zeit ändert.

    Aber nennen wir das doch zur Klarstellung besser Neurosystemismus.

    Insgesamt gebe ich Stephan aber Recht – dass die Ampeln nicht zu den spannendsten Fragen gehören. Und ob sie zur Verdeutlichung geeignet sind, das weiß ich auch nicht (mehr) recht, denn diese Vereinfachung verbinden wir doch alle mit sehr konkreten Vorstellungen unserer Disziplinen (Balanus wohl Biologe, Ano Nym Jurist, Stephan hier eher Soziologe).
    Ich fände daher den von Stephan vorgeschlagenen Neurophilosophie-Lesekreis mit dem daraus folgenden breiteren Bezug durchaus spannend.

  349. @Ano Nym

    »Die beobachtete Kausalbeziehung (soweit habe ich Sie nun schon, dass Sie dass einräumen?) […] «

    Nachdem ich den metaphysischen Kausal-Ballast über Bord geworfen habe, sehe ich zunächst nur einen nicht-zufälligen Zusammenhang, der auf eine mögliche Kausalbeziehung hindeutet, wobei aber über den Mechanismus und die Richtung der kausalen Verknüpfung(en) noch nichts gesagt ist.

    »Die Beobachtung der Kausalität ist der Nachweis für diese Determiniertheit.«

    Wenn ich Stephan recht verstanden habe, kann man Kausalität nicht beobachten. Folglich steht der Nachweis der Determiniertheit (durch die LZA) noch aus.

    »Meine oder Ihre eingeübte Reaktion auf das Rot der Ampel konstituiert die Determiniertheit.«

    Dem stimme ich ausdrücklich zu (Stichwort: Selbstdetermination).

    »Ich habe nicht behauptet, dass der Verkehrsteilnehmer eine Reiz-Reaktions-Maschine ist, sondern, dass er sich (an LZAnlagen) so verhält, als wäre er eine und dass dieses Verhalten gewollt ist.«

    Ich habe nicht behauptet, Sie hätten anderes behauptet. Mir ging es um die Klarstellung, dass an der Ampel Entscheidungen getroffen werden, dass es keinen Reiz-Reaktions-Automatismus gibt, auch wenn es von außen so erscheinen mag.

    »Wenn es Computer gäbe, die selbst entscheiden, hätten diese das, was wir Bewusstsein nennen.«

    Wieso das?

    Die Frage war aber, was es für die Determiniertheit des Bordcomputers durch die LZA bedeuten würde, wenn der Computer selbst darüber entscheiden könnte, ob er das Ampelsignal beachtet oder nicht (ähnlich wie ein Mensch eben).

    (Frage nebenbei: Könnte eine Verkehrssünderin argumentieren, dass die Determinierung durch die LZA versagt hat?)

    »Sie wirken leicht bockig.«

    Sorry, da sind wohl die Emotionen mit mir durchgegangen. Ich werde mich wieder um mehr Sachlichkeit bemühen, derartige Ausfälle sind hier auf Menschen-Bilder absolut unüblich und unverzeihlich, mea culpa.

  350. @Balanus: Balast

    Nachdem ich den metaphysischen Kausal-Ballast über Bord geworfen habe, sehe ich zunächst nur einen nicht-zufälligen Zusammenhang, der auf eine mögliche Kausalbeziehung hindeutet, wobei aber über den Mechanismus und die Richtung der kausalen Verknüpfung(en) noch nichts gesagt ist.

    Schmeißen Sie jetzt den Begriff “Kausalität” über Bord? Dann wäre der Satzteil ab dem zweiten Komma sinnlos. Wenn ich mich von der Kausalität getrennt habe, hat “Kausalbeziehung” und “kausale Verknüpfung” keinen Inhalt mehr.

    Wenn Sie hingegen nicht den Begriff “Kausal-Ballast” über Bord werfen sondern nur die konkreten Indizien, die auf sein Vorhandensein in der gegebenen Situation (LZA und Verkehrsfluss) hindeuten, dann besteht Ihre Bemerkung in der willentlichen Faktennegation. Über Bord werfen kann man ja nur, was auch an Bord ist.

    Das macht doch alles keinen Sinn.

    »Die Beobachtung der Kausalität ist der Nachweis für diese Determiniertheit.«

    Wenn ich Stephan recht verstanden habe, kann man Kausalität nicht beobachten. Folglich steht der Nachweis der Determiniertheit (durch die LZA) noch aus.

    Meine Formulierung ist schlecht. Ich muss mir dazu noch einige Gedanken machen und antworte vielleicht später darauf.

    »Ich habe nicht behauptet, dass der Verkehrsteilnehmer eine Reiz-Reaktions-Maschine ist, sondern, dass er sich (an LZAnlagen) so verhält, als wäre er eine und dass dieses Verhalten gewollt ist.«

    Ich habe nicht behauptet, Sie hätten anderes behauptet. Mir ging es um die Klarstellung, dass an der Ampel Entscheidungen getroffen werden, dass es keinen Reiz-Reaktions-Automatismus gibt, auch wenn es von außen so erscheinen mag.

    Sie hatten geschrieben: »Wenn ein Verhalten „genau so“ erscheint, bedeutet das nicht, dass es auch so ist.« Ich kann damit im Moment nichts anfangen, hatte es aber so interpretiert, dass Sie verstanden haben, ich hätte damit behaupten wollen, dass der Mensch sozusagen ganz generell eine Reiz-Reaktions-Maschine wäre. Das wollte ich nicht.

    Ich würde allerdings nicht unterschreiben, dass an der Ampel – sagen wir beim Umspringen von Grün auf Gelb – eine Entscheidung getroffen wird. Da läuft ein eingeübter Prozess ab, an dessen Ende entweder “Weiterfahren” oder “Bremsen” steht. Im Normalfall. Im Betriebsmodus ‘Ich hab’s eilig’ sieht das möglicherweise anders aus.

    »Wenn es Computer gäbe, die selbst entscheiden, hätten diese das, was wir Bewusstsein nennen.«

    Wieso das?

    Wegen des “selbst”. Heute haben Computer (noch) kein Selbst. Sie sind bislang “nur” komplexe elektrische Schaltkreise, die sich zur Verarbeitung von digitalierten Signalen und Symbolen hervorragend eignen.

    (Frage nebenbei: Könnte eine Verkehrssünderin argumentieren, dass die Determinierung durch die LZA versagt hat?)

    Das hängt davon ab, was die genaue Versagensursache ist.

  351. @Ano Nym: Entscheidung vs. Prozess?

    Ich würde allerdings nicht unterschreiben, dass an der Ampel – sagen wir beim Umspringen von Grün auf Gelb – eine Entscheidung getroffen wird. Da läuft ein eingeübter Prozess ab, an dessen Ende entweder “Weiterfahren” oder “Bremsen” steht.

    Was ist dann der Unterschied zur Entscheidung?

  352. @Ano Nym: Kausalität, ein Vorschlag

    Die Beobachtung der Kausalität ist der Nachweis für diese Determiniertheit.

    Wie wäre es mit: Die Beobachtung des festlegenden Einflusses (hier: es gibt einen signifikanten und replizierbaren Zusammenhang zwischen dem Ampelsignal A und dem Verhalten der Verkehrsteilnehmer V, den wir nicht auf eine andere Variable X zurückführen können, sodass Änderungen in X die Änderungen in A und V bewirken) ist ein Hinweis auf einen kausalen Mechanismus.

    Bei “kausal” sei noch einmal auf Woodward verwiesen und bei “Mechanismus” auf Craver.

    Das wird manchen nicht genug sein aber v.a. in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften können wir vielleicht nicht weiter gehen, ohne uns eine diffuse Metaphysik anzueignen; davon abgesehen ist mir nicht bekannt, dass es in den sogenannten “harten” Wissenschaften ein unstrittiges Verständnis von “kausal” und “Mechanismus” gibt.

  353. Zusammenfassung

    Ich zitiere noch einmal aus meinem ursprünglichen Beitrag vor ca. 350 Kommentaren:

    Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen?

    Am Beispiel des Verkehrsverhaltens haben wir hier deutlich festgestellt, dass Gehirnwissen dafür i.d.R. unerheblich ist, sondern Wissen um die Verkehrsregeln sowie deren Implementation sowie allgemeines Wissen um Verhalten i.d.R. hinreicht.

    Dass es Ausnahmen beziehungsweise Einzelfälle gibt, in denen weiteres Wissen um die Funktionsfähigkeit des Autos, des einzelnen Fahrers beziehungsweise seines Körpers oder Gehirns, eine zusätzliche oder ausführlichere Erklärung bietet, insbesondere bei Fehlfunktionen im Sinne der Verkehrsregeln, das steht dahin.

    Diese Feststellung ist nicht sehr überraschend, wenn man bedenkt, dass die Entwickler der Verkehrsregeln sowie deren Implementeure über wenig bis kein Gehirnwissen verfügten, die Regeln jedoch i.d.R. prima funktionieren. Zu wissen, dass sich menschliches Verhalten beziehungsweise das der Verkehrsteilnehmer durch Regeln steuern beziehungsweise durch Belohnung und Bestrafung konditionieren lässt, ist für die Aufgabe, ein funktionierendes Verkehrssystem zu entwickeln, völlig hinreichend.

    Ein starker Neurodeterminist müsste behaupten, wir könnten das zukünftige Verhalten eines Menschen vollständig voraussagen, wenn wir alles Wissen über sein Gehirn hätten.

    Dass sich der starke Neurodeterminist für das Beispiel des Verkehrs irrt, ist in der Diskussion deutlich geworden. Jedem steht es frei, dieses Beispiel auf andere Kontexte zu übertragen, in denen die Gleichung V = U x K x G weiter gilt, auch wenn die Gewichtung der jeweiligen Variablen in anderen Kontexten unterschiedlich ausfallen kann.

    Jedenfalls ist es bisher keinem starken Neurodeterministen gelungen, deutlich zu machen, warum das Gehirnwissen für allgemeine praktische Kontexte unerlässlich wäre, inwiefern es etwas Wesentliches zur Erkläung von Verhalten hinzufügt.

  354. @Noït Atiga

    Ich würde allerdings nicht unterschreiben, dass an der Ampel – sagen wir beim Umspringen von Grün auf Gelb – eine Entscheidung getroffen wird. Da läuft ein eingeübter Prozess ab, an dessen Ende entweder “Weiterfahren” oder “Bremsen” steht.

    Was ist dann der Unterschied zur Entscheidung?

    Eine Entscheidung liegt vor, wenn der Wille zur Umsetzung gebildet wird.

  355. @Stehpan: Sorry, das war unausgeschlafen

    Das meine ich nicht als persönlichen Angriff, aber als Zusammenfassung einer Diskussion kann es so nicht stehen bleiben.

    Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen?

    Darauf mit “Gehirnwissen [ist] dafür i.d.R. unerheblich” zu antworten ist schon sprachlich Unsinn. Dafür hättest du die Frage stellen müssen:
    Welches Wissen brauchen wir i.d.R., um zukünftiges Verhalten von Menschen vorherzusagen?

    Denn wenn wir deine eigentliche Frage beantworten, dann wird es etwas komplizierter. Wir wüssten nur aus dem Gehirnwissen nämlich:
    – welche Verkehrsregeln gelten,
    – welches Verhalten die Regel ist,
    – welche Situation gerade jetzt im Gehirn ansteht,
    – welche Änderungen nach der Erfahrung des Gehirns zu erwarten sind, etc.
    Wir hätten also eine Prognose in die Zukunft, aber keine Aussage über die Zukunft selbst. Und die Prognose könnte sogar einige deiner Problemfälle einbeziehen. Und bei der Planung über ‘soziales Wissen’ (was übrigens Gehirnwissen des Planers ist) haben wir auch nur Prognosen – diesmal allerdings nicht über die Ampel, sondern über die Konformität der Verkehrsteilnehmer. Beide Prognosen beruhen auf statistischen Erfahrungen.

    Diese Feststellung ist nicht sehr überraschend, wenn man bedenkt, dass die Entwickler der Verkehrsregeln sowie deren Implementeure über wenig bis kein Gehirnwissen verfügten, die Regeln jedoch i.d.R. prima funktionieren.

    Auch das antwortet auf die Frage nach dem nötigen oder hinreichendem Wissen für Konstruktionen – nicht auf den Nutzen vollständigen Gehirnwissens. Wenn ich das auf ein bekanntes Gebiet verschiebe: Wir brauchen weder physikalische noch chemische Kenntnis, um einen Wasserkocher zu bauen oder Regeln für das Kochen bestimmter Lebensmittel aufzustellen. Zu beidem reicht Erfahrungswissen. Und beides funktioniert seit Jahrhunderten.
    Aber wenn wir das physikalische und chemische Wissen komplett haben – dann können wir ohne jede Erfahrung mit Wasser einen Wasserkocher bauen, und ohne jede Erfahrung mit dem Lebensmittel die richtige Kochzeit berechnen. Und dieses Prinzip war sinnvoll – etwa für die Vorhersage bzgl. neuer Situationen (Planeten).

    Jedem steht es frei, dieses Beispiel auf andere Kontexte zu übertragen, in denen die Gleichung V = U x K x G weiter gilt, auch wenn die Gewichtung der jeweiligen Variablen in anderen Kontexten unterschiedlich ausfallen kann.

    Die Gleichung gilt IMMER! Sie ist keine wissenschaftliche Aussage und nicht falsifizierbar. Ich dachte du hättest das oben rausgelesen, wo ich es bewusst nicht so hervorgehoben hatte. Sie sagt nämlich: Verhalten bestimmt sich irgendwie aus dem Gehirn (G), dem Körper (K) und dem ganzen Rest (U). Und damit schließt sie weder irgendetwas noch irgendeine Funktionsweise aus.

    Am Ende allerdings und bei deinem eigentlichen Anliegen kann ich dir wieder zustimmen – “für allgemeine praktische Kontexte [ist Gehirnwissen nicht] unerlässlich”, sondern sind soziale Kenntnisse heute viel bedeutsamer.

  356. @Ano Nym

    Eine Entscheidung liegt vor, wenn der Wille zur Umsetzung gebildet wird.

    Und im Prozess wird kein Wille zur Umsetzung gebildet? Wieso nicht?

  357. Neurosystemismus /@Noït Atiga

    Stephan hat in seiner Antwort an @Joker ja noch einmal deutlich gemacht, was er unter Neurodeterminismus versteht (“Neurodeterminismus” (ND) sollte man m.E. nur strikt lesen, d.h. dass allein das Gehirn unser Verhalten determiniert (Singer: “Verschaltungen legen uns fest”) und dass wir alle am besten aufhören sollten, vom Determinismus zu reden.

    Nun, mit einem ND à la Singer habe ich kein Problem. Ein Satz wie “Verschaltungen legen uns fest” ist natürlich im neurobiologischen Kontext zu lesen. Es wird ja nicht behauptet, dass die Verschaltungen unveränderlich sind und jede zu treffende Entscheidung bereits unabänderlich festliegt. Aber es liegt eben an den Verschaltungen, dass ich nicht wissen kann, wie es sich anfühlt, ein Eichhörnchen zu sein.

    Ich denke, ich hatte schon verstanden, was Sie bewog, von einem „dynamischen“ ND zu sprechen. Aber ich meine halt, im Begriff „Neuro“ ist die Dynamik bereits implizit enthalten. Ein Gehirn, das von der Konstruktion her nicht fähig wäre, die Umwelt wahrzunehmen und zu lernen, wäre ein ziemlich nutzloses Organ.

    Vielleicht werden beim Neurophilosophie-Lesekreis, so er denn kommt, ja noch ein paar schöne philosophische Ismen kreiert 😉

  358. Metaphysische Kausalität /@ Ano Nym

    »Schmeißen Sie jetzt den Begriff “Kausalität” über Bord?
    […]
    Das macht doch alles keinen Sinn.
    «

    Ich hatte lediglich die „metaphysische“ Kausalität über Bord geworfen. An den physikalischen Ereignisketten möchte ich schon noch festhalten.

    Dass einem Farbklecks kausale, also determinierende Wirksamkeit auf das menschliche Verhalten zugeschrieben wird, hat für mich ein metaphysisches Geschmäckle.

    Wenn man sich die Zusammenhänge nämlich genauer anschaut, sieht man leicht, dass es die Selbstdetermination der Verkehrsteilnehmer ist, die deren Verhalten an der LZA bestimmt.


    Ein Computer kann auch ohne ein „Selbst“ „selbst“ entscheiden*. Wie ein Automat das eben so tut:

    Ein Automat (entlehnt aus lat. automatus „freiwillig, aus eigenem Antrieb handelnd“, von gr. ±PÄ̼±Ä¿Â (automatos) „von selbst geschehend“, zu autos „selbst“ und der Wurzel men- „denken, wollen“[1]) ist eine Maschine, die vorbestimmte Abläufe selbsttätig („automatisch“) ausführt.

    (Wikipedia)

    *„entscheiden“ im weiteren Sinne

  359. @Noït: Du bist um 12 Uhr noch schläfrig?

    Wer hier unausgeschlafen war, kann vielleicht ein Blick auf die falsche Schreibweise meines Namens in deinem Kommentar andeuten. 🙂 Dass ich heute morgen beim Verfassen meiner Zusammenfassung recht wach war, lässt sich ganz leicht zeigen:

    Darauf mit “Gehirnwissen [ist] dafür i.d.R. unerheblich” zu antworten ist schon sprachlich Unsinn.

    Nein, es ist kein Unsinn. Erstens habe ich nur an diese Frage aus meinem Beitrag erinnert ohne zu beanspruchen, diese vollständig zu beantworten. Es ging konkret um ein Beispiel, zum weiteren Nachdenken habe ich alle ganz explizit aufgefordert (“Jedem steht es frei, dieses Beispiel auf andere Kontexte zu übertragen…”).

    Zweitens ist auf die Frage, “Was können wir über zukünftiges Verhalten wissen?” durchaus die Antwort “relativ wenig, wenn wir nur über Gehirnwissen verfügen” sinnvoll – das habe ich ja wieder und wieder belegt; andere übrigens auch.

    Wir wüssten nur aus dem Gehirnwissen nämlich:
    – welche Verkehrsregeln gelten,
    – welches Verhalten die Regel ist,
    – welche Situation gerade jetzt im Gehirn ansteht,
    – welche Änderungen nach der Erfahrung des Gehirns zu erwarten sind, etc.

    Hierin äußert sich das Grundproblem der Diskussion mit dir: Du stellst ständig unbewiesene und mit den heute vorhandenen Methoden wahrscheinlich unbeweisbare Aussagen auf. Du führst auch keinen einzigen Beleg an. Deine ganze Argumentation ist allein auf deinen Gedankenkonstrukten basiert.

    Deine Antwort kommt wieder einer petitio principi gleich, weil du hier einfach behauptest, was von deinem Standpunkt aus Beweisziel der Diskussion wäre.

    Das ist keine Diskussion, auch kein Argument, sondern allenfalls verquere Philosophie.

    Formulier es doch einmal genau aus, wie du aus Gehirnwissen die Verkehrsregeln extrahierst. Bei dem Versuch, der scheitern wird, wird dir vielleicht endlich einmal klar, was für einen Unsinn du hier behauptest. Es dir wieder und wieder aufzuzeigen hilft ja leider nichts.

    Wenn du deinen Standpunkt ernst nimmst, dann mach es doch einmal, dessen Möglichkeit du hier behauptest. Lass dir Zeit.

    Die Gleichung [V = U x K x G] gilt IMMER! Sie ist keine wissenschaftliche Aussage und nicht falsifizierbar.

    Das unterstellst du wieder einmal einfach so. So macht man aber keine Philosophie und auch keine Wissenschaft.

    Die Gleichung kann beispielsweise widerlegt werden, indem gezeigt wird, dass ein Gehirn ohne Körper und Umwelt Verhalten aufweist. Denk ‘mal darüber nach. Das ist ein Problem für dich, nicht für mich.

    Ferner würde sie an Plausibilität verlieren, indem man zeigt, dass Variationen der Umwelt oder des Körpers keinen Einfluss auf das Verhalten haben, sondern nur Variationen des Gehirns. Die Wissenschaft zeigt aber gerade das Gegenteil und wir haben wir dutzende Beispiele diskutiert – in 350 Kommentaren!

    Irgendwie stimmt es mich schon traurig, dass du noch nicht einmal das verstehst bzw. verstehen willst.

  360. @Stephan Schleim: Kausalitätsbegriff

    Die Beobachtung der Kausalität ist der Nachweis für diese Determiniertheit.

    Wie wäre es mit: Die Beobachtung des festlegenden Einflusses (hier: es gibt einen signifikanten und replizierbaren Zusammenhang zwischen dem Ampelsignal A und dem Verhalten der Verkehrsteilnehmer V, den wir nicht auf eine andere Variable X zurückführen können, sodass Änderungen in X die Änderungen in A und V bewirken) ist ein Hinweis auf einen kausalen Mechanismus.

    Man kann einen Zusammenhang statistisch signifikant replizieren und sich einen Mechanismus denken, der ihn bewirkt. Das meinte ich aber nicht, als ich von “Beobachtung der Kausalität” schrieb. Ich stellte mir vielmehr vor, dass man die Kausalität quasi erfahren kann, wenn man die Ampelsteuerung selbst in die Hand nimmt. Es stellt sich dann das Gefühl ein, dass der Verkehrsfluss meinem Willen gehorcht, dass ich der Ausgangspunkt der Änderungen des Verkehrsflusses bin.

  361. @Noït Atiga

    Eine Entscheidung liegt vor, wenn der Wille zur Umsetzung gebildet wird.

    Und im Prozess wird kein Wille zur Umsetzung gebildet? Wieso nicht?

    Sie akzeptieren also die Sprachkonvention, “Entscheidung” nur (höchstens) zu solchen Prozessen zu sagen, die auf Willensbildung abzielen?

  362. Wissensextraktion /@Stephan

    »Formulier es doch einmal genau aus, wie du aus Gehirnwissen die Verkehrsregeln extrahierst.«

    Diese Aufforderung richtet sich zwar nicht an mich, aber das macht nichts 😉

    Wenn mit „Gehirnwissen“ das Wissen gemeint ist, das im Gehirn durch die Strukturen und Aktivitäten vorhanden ist, dann brauche ich den Verkehrsteilnehmer nur zu befragen, und schon weiß ich, was er weiß, oder zumindest weiß ich, was er aus dem vorhandenen Wissen wiedergeben kann oder will (in 1000 Jahren tut’s vielleicht auch ein Hirnscan).

  363. Gefühlter Einfluss /@Ano Nym

    »Es stellt sich dann das Gefühl ein, dass der Verkehrsfluss meinem Willen gehorcht, dass ich der Ausgangspunkt der Änderungen des Verkehrsflusses bin.«

    Dieses Gefühl kann sich aber nur dann einstellen, wenn die Verkehrsteilnehmer entsprechend mitspielen, sprich, wenn sie entsprechend instruiert sind und auch willens sind, sich auf das Spiel einzulassen.

    Es gibt da bestimmte Experimente, wo der Proband durch das experimentelle Setting glaubt, er beeinflusse das Verhalten von irgendwelchen Gegenständen, was aber eine Täuschung ist. Leider fällt mir hierzu nichts Genaueres mehr ein (altes Hirn eben ;-))

  364. @Balanus: metaphysisches Geschmäckle

    Ich hatte lediglich die „metaphysische“ Kausalität über Bord geworfen. An den physikalischen Ereignisketten möchte ich schon noch festhalten.

    Dass einem Farbklecks kausale, also determinierende Wirksamkeit auf das menschliche Verhalten zugeschrieben wird, hat für mich ein metaphysisches Geschmäckle.

    Sie wenden sich jetzt nicht mehr gegen den Inhalt, sondern nur noch gegen den Nachgeschmack? Ich zitiere einen Satz aus der Wikipedia:

    “Eine normale europäische Lichtzeichenanlage steuert den Verkehr dabei mit Hilfe der drei Signalfarben Grün, Gelb und Rot.”

    Ich würde das als zutreffend unterschreiben. Was genau schmeckt Ihnen daran nicht?

    in Computer kann auch ohne ein „Selbst“ „selbst“ entscheiden* […] *„entscheiden“ im weiteren Sinne

    Ich möchte nur im engeren Sinne diskutieren.

  365. @Stephan: Schade, aber

    .. mir war schon klar, dass deine Antwort so ausfallen wird. Und entschuldige bitte meinen Tippfehler bei deinem Namen. Ich bin mittags halt schon wieder verschlafen 😉 Aber:

    1. Logik & Sprache: Auf die Frage “Was können wir wissen, wenn wir X kennen.” mit “X ist i.d.R. unerheblich, denn Y reicht.” zu antworten – das ist logischer und sprachlicher Nonsens. Zumal wenn wir alle der Meinung sind, dass das X an Y irgendwie mitwirkt. Und dann ist das nicht nur keine vollständige Antwort, sondern eine zusammenhanglose Feststellung. Mit relativ wenig hättest du schon eher darauf geantwortet, richtig wäre aus meiner Sicht aber:

    Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen?
    Aus heutiger Erkenntnis wissen wir das nicht. Jedenfalls mit unser heutigen Kenntnis sind Aussagen aus psychologischer oder soziologischer Perspektive gehaltvoller. Aber wir nehmen an, dass das Gehirn, Körper und Umwelt an der Entstehung menschlichen Verhaltens beteiligt sind – und darum ist eine Verbindung zwischen der Gehirnstruktur und dem konkreten Verhalten wahrscheinlich. Könnten wir also diese Struktur vollkommen auslesen, dann sollten jedenfalls Wahrscheinlichkeits-Aussagen über zumindest nahes zukünftiges Verhalten möglich sein. Derartige Aussagen liegen aber noch in weiter Ferne.

    2. Erfahrung & Funktion: Das ist nur insofern petitio principi, als ich das Gehirn als Zentrum der Seele ansehe. Aber dieser petitio folgen wir hier alle mehr oder weniger.

    Denn eine Person, die sich nach den Verkehrsregeln verhält, diese Person muss diese Verkehrsregeln in sich tragen. Sie trägt sie unserer aller Meinung nach nicht im Bauch und auch nicht sonst im Körper, sondern im Gehirn oder in ihrer Seele. Wir gehen aber alle davon aus, dass die Seele materiell ist. Also im Gehirn verankert (denn sonst wäre deine Formel ausnahmsweise falsch). Und wir alle hier haben all unser Wissen und Können irgendwo auch in unseren Gehirnen/Seelen verankert.
    Wie diese Regeln (und dieses Wissen bzw. Können) im Gehirn gespeichert sind, das wissen wir (= unsere Gehirne/Seelen) HEUTE nicht. Aber wenn wir vollständiges Gehirnwissen hätten (und nur darum diskutieren wir), dann könnten wir die Regeln daraus extrahieren.

    Übrigens kannst du dir das gern mit simplen neuronalen Netzen verdeutlichen: Was die mal gelernt haben, das steckt im Netz selbst. Obwohl das Netz auch nur auf die Eingaben aus der Umgebung re-agiert. Tauscht man aber das Netz aus, dann gelten die Regeln des neuen Netzes. Und alles Erfahrungswissen nützt uns nur soweit, wie wir von ähnlich geschulten Netzen ausgehen. Sonst müssen wir die Netzstruktur untersuchen – aus der wir Aussagen über die Funktionsformel ableiten können. Oder neues Erfahrungswissen bilden.

    Willst du es ganz simpel, dann stelle dir verschiedene Systeme vor mit je zwei binären Eingängen und je einem binären Ausgang. Kannst du mit diesem Wissen irgendetwas vorhersagen? Nein. Aber du hast zwei Wege: a) Du kannst alle Kombinationen von Eingängen durchprobieren und die Ergebnisse notieren. b) Du kannst dir die innere Struktur anschauen. Jedenfalls mit zunehmender Anzahl und Bandbreite der Eingänge und Ausgänge geht b schneller, zumindest wenn man allgemeines Wissen über den Aufbau von elektronischen Schaltungen hat. Und selbst mit zwei Eingängen kann dein Probieren Jahre dauern – wenn nämlich intern noch Reihenfolge, Dauer und Zeitabstände der Eingaben mitbenutzt werden.

    Gleiches sollte für Gehirne gelten – dass das dort prinzipiell anders ist, das musst DU plausibel machen.

    3. ‘Gleichung’: Was ist denn Verhalten für dich? Allgemein ja wohl eine externalisierte Aktion, oder? Wenn du nun das Gehirn von jedem Externum abschneidest – dann kann es extern nicht reagieren, oder?

    Und an Nützlichkeit mag deine ‘Gleichung’ (wie jede allgemeine Aussage) verlieren, wenn sich einer ihrer Spezialfälle als dauerhaft richtig herausstellt. Aber damit ist sie trotzdem nicht widerlegt, sondern gilt immer noch. Alles was hier diskutiert wurde war aber, dass der Spezialfall des strikten Neurodeterminismus (V = G) nicht stimmt.

    Und traurig stimmt es mich, dass du keine Irrtümer eingestehen kannst. Über das Grundprinzip mögen wir auf ewig verschiedener Ansicht bleiben, da mögen beide Ansichten richtig, falsch oder halbfalsch sein. Aber Teile meiner Kritik oben SIND berechtigt – und das hättest DU mal einräumen können.

  366. @Balanus: Voraussetzungen und Kausalität

    »Es stellt sich dann das Gefühl ein, dass der Verkehrsfluss meinem Willen gehorcht, dass ich der Ausgangspunkt der Änderungen des Verkehrsflusses bin.«

    Dieses Gefühl kann sich aber nur dann einstellen, wenn die Verkehrsteilnehmer entsprechend mitspielen, sprich, wenn sie entsprechend instruiert sind und auch willens sind, sich auf das Spiel einzulassen.

    Was für ein Einwand soll das sein?

    In Deutschland sind zum ‚Mitspielen‘ mit Kraftfahrzeugen nur Personen zugelassen, die mit den Regeln vertrautgemacht wurden und die schon eine gewisse Möglichkeit hatten, das erwünschte Verhalten vor LZAnlagen einzuüben. Die Bedingung Ihres zweiten Absatzes ist also erfüllt.

    Solche Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Sache beobachtbar wird, nennt man allgemein “Voraussetzung”. Voraussetzungen sind ihrer Natur nach kausal, das heißt: Wenn die Voraussetzung entfällt, entfällt die Beobachtung.

    Es ist einfach, neue Voraussetzungen zu finden. Zum Beispiel müssen die Fahrzeuge über einen Energievorrat verfügen. Oder: Die LZA muss am Stromnetz hängen, der Fahrer darf nicht Blind sein usw.

    Doch was soll daraus folgen? Diese Art Einwände machen keinen Sinn!

  367. @Balanus: Neurosystemismus

    Mit Ihrer Formulierung und der von Singer habe auch ich kein Problem. Und so habe ich bisher den Neurodeterminismus gelesen.

    Aber den Einwurf von Stephan finde ich insofern berechtigt, als Determinsmus eher mit absoluter Festlegung assoziiert wird. Und Neuro löst das Problem nicht unbedingt, jedenfalls nicht für die älteren Generationen. Nahm man doch früher an, dass das Gehirn ab einem gewissen Lebensalter statisch ist.

    Darum gefällt mir mittlerweile der Neurosystemismus so – denn lernende Systeme werden mit zunehmendem Alter (Erfahrung) rigider, sie können sich aber trotzdem noch wandeln und bestimmen doch selber wie. Sprich schon der Begriff assoziiert einen Großteil unserer Erfahrungen mit Menschen und ihren Gehirnen. Und diese zunehmende Rigidität ist wohl auch ein Grund, warum wir sterben – die Natur hält sich auf diesem Wege fit, lernen doch Kinder oft unser Verhalten aber nicht nach unseren ‘Formeln’. Ihre Systeme produzieren also zunächst ähnliche Ergebnisse aber reagieren auf Änderungen der Eingaben anders als unsere.

  368. @Ano Nym: Entscheidung vs. Prozess

    AN: Eine Entscheidung liegt vor, wenn der Wille zur Umsetzung gebildet wird.
    NA: Und im Prozess wird kein Wille zur Umsetzung gebildet? Wieso nicht?
    AN: Sie akzeptieren also die Sprachkonvention, “Entscheidung” nur (höchstens) zu solchen Prozessen zu sagen, die auf Willensbildung abzielen?

    Soweit Sie Wille nicht mit bewusstem Willen gleichsetzen: Ja.

  369. Entscheiden und Steuern /@Ano Nym

    »“Eine normale europäische Lichtzeichenanlage steuert den Verkehr dabei mit Hilfe der drei Signalfarben Grün, Gelb und Rot.”

    Ich würde das als zutreffend unterschreiben. Was genau schmeckt Ihnen daran nicht?«

    Wenn ein Computer nicht „entscheiden“ kann, dann kann ein simpler Kasten mit farbigen Lichtern auch nicht „steuern“.

  370. @ fegalo: Erste Antworten

    “Eigentlich wüsste ich umgekehrt gerne mal von Ihnen, was für ein Problem Sie mit der Idee einer wie auch immer gearteten metaphysischen Freiheit eigentlich haben?”

    Ich habe kein Problem mit der Idee metaphysischer Freiheit. Im Gegenteil ich respektiere sie als gleichberechtigte Spekulation über das Sein der Welt, wie auch der Determinismus rein spekulativ ist, und ich erkenne die Idee der Freiheit als ebenso logisch möglich an, wie irgendeinen Gottglauben auch.

    “Sie schreiben, dass Verantwortung im Determinismus nicht verschwinden wird. Weil beides kompatibel ist?”

    Ich schrieb auch, dass mit dem Determinismus so ziemlich alles kompatibel ist. Damit sind auch Theorien kompatibel, nach denen es keine Verantwortung gibt. Meine eigenen Intuitionen gehen allerdings tatsächlich in die Richtung, dass es berechtigt ist von Verantwortung zu sprechen. Mein Punkt ist, es folgt nicht logisch aus dem Determinismus, dass es keine Verantwortung gibt.

    “Und ich glaube kaum, dass Sie [] explizieren können, was genau Verantwortung innerhalb des Determinismus ist.”

    Eine entsprechende Erklärung was Verantwortung sein könnte, stark gekürzt und vereinfacht, viele andere sind denkbar (weder kann noch möchte ich hier dem Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Uni Frankfurt die Arbeit abnehmen):

    Verantwortung ist ein in der Evolution entstandenes emergentes Phänomen. Verstanden als “soziale” Kraft erklärt sie in Gruppen von Individuen deren interaktives Verhalten, speziell solches, das man als belohnen und strafen bezeichnet. Sie ermöglicht den Aufbau und Zusammenhalt sozialer Strukturen. Ein emergentes Phänomen ist sie, weil sie keine Grundkraft ist, sondern nur auf solche zurückgeführt werden kann.

    Die Verantwortung ist vielleicht gut vergleichbar mit den konstitutiven Kräften für die Oberflächenspannung, wie sie in der Physik von Flüssigkeiten beschrieben werden. Die Oberflächenspannung ermöglicht u.a. die Tropfenbildung. Wie die Oberflächenspannung durch Beigaben beeinflusst werden kann, die Tröpfchen zum Platzen gebracht werden können, so kann auch die Wirkung der Verantwortung in der Gesellschaft abgeschwächt werden. Jetzt raten sie mal was ich damit meine. – Genau, wenn man den Individuen einredet sie hätten keine Verantwortung, damit einen Keil in die Gesellschaft treibt, zwischen die Individuen und auch noch in jeden einzelnen hinein, so dass am Ende niemand mehr Verantwortung übernimmt, nicht einmal für sich selbst. Das entspricht einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Der Tropfen platzt.

    (Bitte nageln sie mich nicht auf einzelne Formulierungen diese Charakterisierung fest. Beim Versuch der Formulierung habe ich verstanden warum das Forschungsgegenstand ist. Einfach wohlwollend lesen und ganz nach Bedarf ergänzen oder verbessern.

    @ Ano Nym, Bitte hierzu auch keine Nachfragen von Ihnen. Warten sie bitte auf das Erscheinen meines Buchs und auf die anschließenden Interviews bei Scobel)

    “Es ist ja wirklich nicht schwer, zu demonstrieren, dass man einen Großteil der gesellschaftlichen Praxen […] unter den Bedingungen eines Determinismus nicht mehr adäquat rekonstruieren kann.”

    Wenn Sie Erklärungen dieser Art generell als “nicht mehr adäquat” bezeichnen, wiederholen sie nur noch einmal, dass sie einzig und allein Erklärungen innerhalb ihres metaphysischen Weltbildes akzeptieren. Das ist erst einmal vollkommen in Ordnung, das mache ich auch so. Damit können sie aber nicht beurteilen, ob die Erklärungen innerhalb eines anderen Weltbildes, mit anderen Prämissen, als adäquat anzusehen sind. Dazu würde es reichen, wenn sie innerhalb des spezifischen Weltbildes die allgemeinen Forderungen an Erklärungen erfüllen, wie z.B. widerspruchsfrei zu sein.

    Genau genommen braucht man auch gar keine Erklärung. Der Determinismus wäre auch kompatibel mit Theorien, die die Verantwortung als existent anerkennen, diese aber nicht erklären können. Zur Zeit haben wir ja auch keine Idee was Energie, Raum, Zeit oder Quantenprozesse sind. Wir können uns nicht einmal vorstellen, wie eine solche Erklärung überhaupt aussehen könnte. Es gibt epistemische Grenzen. Ich persönlich bin da in Bezug auf die Herleitung der Verantwortung allerdings optimistisch und vertraue ganz dem Exzellenzcluster in Frankfurt.

    Auf der anderen Seite möchte ich die Erwartungen auch nicht zu hoch schrauben. “Leider zeigen sich […] auf fast allen Konstituentenebenen der anorganischen Natur sowie auch der Lebewesen gravierende Lücken in der wissenschaftlichen Erklärung.” (Brigitte Falkenburg)

    Sind es nun nicht die Vertreter einer Alltagsmetaphysik, die es sich im Lehnstuhl bequem machen? Sie akzeptieren Erklärungen für einige dieser Lücken, die im Wesentlichen aus einer introspektiven Sicht gewonnen wurden, anstatt diese kritisch zu hinterfragen, andere Möglichkeiten in Betracht zu ziehen und die Lücken auf wissenschaftliche Art und Weise zu schließen. Wenn man zufrieden ist braucht man nicht weiter forschen. Dass die auf einer traditionell überlieferten Metaphysik basierenden Antworten, aus der Sicht eines Handelnden, attraktiv, plausibel und unwiderlegbar sind, ist unbestritten.

    Auch hier habe ich wieder nichts gegen ein Leben im Lehnstuhl. Wenn aus dieser selbstzufriedenen Position aber Schreckensszenarien aufgebaut werden, Wesentliches wäre in Gefahr, nur weil metaphysische Überzeugungen wechseln, dann erlaube ich mir doch mal nachzuhaken. Es gab schon immer Vertreter die ähnliche Ansichten äußerten. Was drohte angeblich nicht alles, wenn die Leute nicht mehr glauben würden, die Erde stände im Mittelpunkt der Welt; oder wenn sie nicht mehr glauben würden, Götter würden existieren. Nun ist es eben gefährlich – aus Sicht einiger Apologeten metaphysischer Freiheit – an den Determinismus zu glauben, seufz.

    “Wir können zum Beispiel jemanden dazu auffordern, endlich Verantwortung zu übernehmen. Wie wollen Sie das in Ihren Kategorien ausdrücken? Er soll endlich ein Phänomen an den Tag legen?”

    Relativ simpel: Wenn jemand nach einem Sprechakt unsererseits – der Aufforderung – entweder zur Tat schreitet (z.B. die Loveparade veranstaltet) oder einen Sprechakt seinerseits ausführt, in dem er sich zur Verantwortung bekennt (“Ich stehe zu meiner Verantwortung als Veranstalter der Loveparade”) dann sind das Ereignisse, die jeder wahrnehmen kann. (Dabei spielt es keine Rolle ob es nur um die Kosten für die Müllentsorgung geht oder um Menschenleben). Sowohl Ursache als auch Wirkung sind beobachtbar. Dazwischen wirkt die “soziale” Kraft der Verantwortung, die bestimmte Konsequenzen nach sich zieht und so als Phänomen sichtbar wird. Wo Verantwortung genau beginnt und wie weit sie reicht, ist in keiner Theorie abschließend geklärt (und auch Anlass für Streit bei der Loveparade).

    tl;dr

    Determinismus ist logisch mit Verantwortung vereinbar. Dies zu leugnen birgt Gefahr für den sozialen Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft, insbesondere wenn der Glaube an den Determinismus in Zukunft von immer mehr Menschen übernommen wird.

  371. @Balanus & der andere: Verkehr

    Und das zeigt eben, wie weit bei euch die neurodeterministische Gehirnwäsche schon fortgeschritten ist:

    Um den (Straßen-)Verkehr zu verstehen, seine Regeln zu erkennen und das zukünftige Verhalten von Verkehrsteilnehmern vorherzusagen, wollt ihr den Verkehr nicht dort untersuchen, wo er stattfindet, nämlich im Straßenverkehrssystem; nein, ihr wollt vielmehr das Abbild, die Repräsentation im Gehirn untersuchen. (Meine Hoffnung: Wenn ich es fett drucke, kommt es vielleicht über die Ignoranzschwelle.)

    Balanus, es spielt aus epistemischer Sicht keine Rolle, ob du einen Verkehrsteilnehmer befragst oder das Gehirn eines Verkehrsteilnehmers untersuchst, so oder so kannst du maximal die Repräsentation des Phänomens Straßenverkehr in der Welt untersuchen.

    Ob diese Repräsentation zutrifft oder nicht, das kann euch kein Hirnscan verraten, sondern nur der Abgleich mit der Welt; und in diesem Sinne ist der strikte Neurodeterminismus eben prinzipiell beschränkt, wenn es nicht bloß um Gehirnprozesse geht, sondern um menschliches Verhalten.

    Denn eine Person, die sich nach den Verkehrsregeln verhält, diese Person muss diese Verkehrsregeln in sich tragen. Sie trägt sie unserer aller Meinung nach nicht im Bauch und auch nicht sonst im Körper, sondern im Gehirn oder in ihrer Seele.

    Nein, die Regeln sind in der Welt, nicht im Gehirn; eine Repräsentation derselben ist irgendwo im Gehirn auf eine uns unbekannte Weise realisiert; und diese Repräsentation kann stimmen oder falsch sein. Das wird der Neurodeterminist aber nie wissen können, wenn er so neurosolipsistisch denkt wie ihr.

    Willkommen in Gerhard Roths “Wirklichkeit”.

  372. @Ignoratio: Selbstfalsifikation

    Eben wirfst du mir noch vor, meine Gleichung sei nicht falsifizierbar und damit nicht wissenschaftlich.

    Abgesehen davon, dass man über Falsifikation und Wissenschaftlichkeit noch mehr sagen könnte (das mache ich jedes Jahr mit meinen Studierenden), lieferst du, wohl ohne es zu merken, gleich selbst eine Falsifikationsmöglichkeit für meine Gleichung: Dass nämlich eine immaterielle Seele unser Verhalten (mit-)steuert.

    Wer warf hier gerade wem noch mangelnde Einsichtsfähigkeit in seine Irrtümer vor?

    Manchmal frage ich mich echt, ob du und Balanus irgendwie masochistisch veranlagt seid. Ihr fallt hier so oft auf die Nase, kommt aber immer wieder zurück, um euch die nächste Fuhre abzuholen. 😉

  373. @Noït Atiga: bewusster Wille

    Soweit Sie Wille nicht mit bewusstem Willen gleichsetzen: Ja.

    Gleichsetzen kann man nur Dinge, die verschieden sind. Aber egal:

    Was konstituiert Ihrer Meinung nach den Unterschied zwischen “Wille” und “bewusster Wille”?

  374. @Stephan: Prämissen?

    Immaterielle Seelen werden in der Wissenschaft bisher soweit ich das sehe nicht behandelt.

    Und diese ‘Falsifikation’ habe ich bewusst geliefert – denn sie stand außerhalb aller hier erfolgenden Diskussion. Und DU hast ständig alle anderen Thesen als falsch qualifiziert – mit einer These, die das gar nicht behaupten kann! Denn deine These schließt fast alle vorgetragenen Ansichten als Spezialfälle ein. Was DU nämlich ständig als Zusatzprämissen für diese ‘Widerlegungen’ nutzt, dass gibst du nicht an – weil es dir gar nicht bewusst zu sein scheint.

    Da du deiner Sache ja so sicher zu sein scheinst (wobei Du wieder nur auf den einzigen für dich scheinbar positiven Punkt eingegangen bist), dann publiziere doch diese Formel (oder sag wo du es getan hast).
    Ich verreiße sie dann vergnüglich.
    (Ich bitte dich darum, vorher nochmal nachzudenken – denn das könnte das Ende deiner Karriere sein – jedenfalls auf theoretischem Bereich.)

  375. @Ano Nym: bewusster Wille

    Je nachdem wie man “Wille” versteht, gilt aber Gleichheit oder Ungleichkeit. Dass ich darin einen Unterschied sehe habe ich mit der Formulierung implizit erklärt.

    Bewusster Wille ist mir nur jener Teil unseres Willens, den wir unter konkreter Aufmerksamkeit auf das zu verwirklichende oder zu unterlassende Ziel bilden.

  376. @Balanus: Oho

    Wenn ein Computer nicht „entscheiden“ kann, dann kann ein simpler Kasten mit farbigen Lichtern auch nicht „steuern“.

    Dass die LZA den Verkehr steuert ist eine zutreffende (empirische) Aussage. Ihr Wahrheitsgehalt ist nicht abhängig davon, ob Computer entscheiden können oder nicht.

  377. @Stephan: Verkehr

    Denn eine Person, die sich nach den Verkehrsregeln verhält, diese Person muss diese Verkehrsregeln in sich tragen. Sie trägt sie unserer aller Meinung nach nicht im Bauch und auch nicht sonst im Körper, sondern im Gehirn oder in ihrer Seele.

    Nein, die Regeln sind in der Welt, nicht im Gehirn; eine Repräsentation derselben ist irgendwo im Gehirn auf eine uns unbekannte Weise realisiert; und diese Repräsentation kann stimmen oder falsch sein.

    Hier siehst du vielleicht endlich deinen Fehler: Wo in der Welt sind denn die “Verkehrsregeln”?

    Soweit sie personenunabhängig existieren, soweit sind sie als Buchstaben auf Papier fixiert. Aber ist das schon die Regel? NEIN! Denn diese Buchstaben bedeuten nichts ohne das Sprachverständnis. Und dieses Sprachverständnis braucht Menschen! Oder irgendwelche Aliens die zufällig unsere Sprache sprechen.

    Und dieses Sprachverständnis ist bei jedem Menschen anders – die Regel ist also am genauesten in den Köpfen kodiert. Auch wenn wir vermittels statistischer Verfahren ermitteln können, was denn die meisten Menschen als Regel verstanden haben – oder besser, wie Input und Output für die meisten Menschen verknüpft sind.

    Wenn du ein juristisch-demokratischen Beispiel willst, nimm Art. 22 Abs. 2 GG: Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.
    Weißt du ohne Kenntnis der Sprachbedeutungen irgend etwas? – Nein, denn du musst wissen, was Bundesflagge ist, was Schwarz, was Rot, was Gold, was ist, was -.
    Weißt du ohne Kenntnis der Kultur irgend etwas? – Nein, denn es können drei Punkte sein, oder Kreise oder schmale Streifen oder breite Streifen oder …

    Du musst also SEHR VIEL Wissen über diesen KONKRETEN Kontext haben, um aus dem Kontext irgendetwas ableiten zu können. Das vergessen wir alle – denn für uns ist dieses Wissen normal, oft schon immer existent (in unserem Gehirn). Aber Aliens müssten sehr lange beobachten, bis sie dieses Wissen so zusammentragen können. Einfacher wäre es für sie, unsere Gehirnfunktion nachzubauen – dort ist nämlich alles kodiert (zumindest der materielle Teil).

  378. @Noït Atiga: bewusster

    Je nachdem wie man “Wille” versteht, gilt aber Gleichheit oder Ungleichkeit. Dass ich darin einen Unterschied sehe habe ich mit der Formulierung implizit erklärt.

    Bewusster Wille ist mir nur jener Teil unseres Willens, den wir unter konkreter Aufmerksamkeit auf das zu verwirklichende oder zu unterlassende Ziel bilden.

    Ich neige dazu “Bewusster Wille” für einen Pleonasmus zu halten. Haben Sie ein Beispiel für einen Fall, in dem Sie von einem nicht bewussten Willen sprechen würden? Vielleicht lasse ich mich überzeugen.

    Um das alles noch mal aufzurollen: Ausgangspunkt war der Entscheidungsbegriff. Von Entscheidung wollte ich nur sprechen, wenn ein Prozess auf eine Willensbildung abzielt. Sie müssen das in Ihrer Sprache lesen als:
    Prozesse, die auf eine bewusste Willensbildung abzielen, heißen Entscheidungen.

    Und ich hatte gesagt, dass Fahrer, die auf LZanlagen zufahren, solche Entscheidungen in der Regel nicht treffen. Die Verhalten sich einfach entsprechend dem Verhaltensmuster, das sie eingeübt haben. Also unbewusst.

  379. @Noït: nooit (niederl. für “niemals”)

    Danke, dass du dich um meine Karriere sorgst. Das ist aber nicht nötig. Wenn ich es mit euch hier aushalte, dann kann ich mich ggf. auch gegen störrische Peer-Reviewers wehren (oder sie können mein Paper eben ablehnen). Bisher waren meine Auseinandersetzungen mit Reviewern aber i.d.R. bereichernder. Die Science-Arbeit Engels, die ein ähnliches Modell vorschlägt, habe ich übrigens vor kurzem erst hier zitiert.

    Du scheinst nicht genau zu wissen, worum es bei der Falsifikation geht: Ob es Möglichkeiten gibt, unter denen eine gesetzmäßige Verallgemeinrung widerlegt werden kann. V = U x K x G kann widerlegt werden, indem man zeigt, dass eine andere Variable Einfluss auf das Verhalten hat oder dass eine der drei Variablen keinen hat. Ob die Wissenschaft, die du kennst, schon mit der Möglichkeit immaterieller Seelen gerechnet hat, ist dafür unerheblich (übrigens hat die Wissenschaft das, siehe Descartes, Eccles usw.), sondern nur, ob ein Verhaltenseinfluss der Seele die Formel widerlegen würde und das würde sie. Alternativ könnte es auch ein ferngesteuerter Computerchip sein, der den Menschen implantiert ist, oder ein Homunculus usw. usf.

    Damit ist deine Behauptung, meine Gleichung sei nicht falsifizierbar, widerlegt. Ich habe schon mehrmals eingeräumt, dass sie sehr allgemein ist und je nach Beispiel genauer formuliert werden muss. Dadurch wird sie inhaltsreicher aber auch leichter falsifizierbar, so wie Popper das gefordert hat.

    Zum Schluss scheinst du nicht zu verstehen, was eine Regel ist. Ich habe hier vorher schon Kontingenzen (engl. contingencies) angesprochen – und die sind über Reiz-Reaktions-Relationen in der Umwelt implementiert. Du braucht für Verkehrsregeln keine Sprache (auch wenn diese beim Lernen sehr hilfreich ist). Grün-fahren, rot-halten, diese Regeln sind in der Verkehrsumwelt implementiert, denn wer bei grün hält und bei rot fährt, der wird (z.B. von der Verkehrspolizei oder durch den Unfall) bestraft und zur Not aus dem System Verkehr entfernt. U.a. deshalb funktioniert es allgemein so gut.

  380. @ fegalo: Zum (Fehl-?)Schluss

    Joker schrieb:
    “Wenn Roth, Singer und Sie aus dem Determinismus schließen, dass dann niemand mehr für seine Taten verantwortlich wäre, begehen sie eine Variante des naturalistischen Fehlschlusses.“

    Sie schrieben:
    “Das ist kein naturalistischer Fehlschluss, denn nirgends schließe ich vom Sein auf ein Sollen.”

    “Metaphysische Freiheit” ist kein ethischer Begriff. Er hängt begrifflich nicht mit dem Sollen zusammen, er gehört kategorial zum Sein, zur Ontologie. Er bezeichnet etwas was es gibt. “Ungerecht” und “gerechtfertigt” sind ethische Begriffe.

    Wenn sie aus dem Determinismus, mithin der Abwesenheit metaphysischer Freiheit (Sein), logisch einen Schluss ziehen können, der eine ethische Aussage ist (Sollen), dann muss es eine zugrunde liegende Prämisse geben, die Sein und Sollen verbindet.

    Vielleicht ist es diese (die ich bestreite): Metaphysische Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns. Vielleicht ist es eine andere, die müssten Sie bitte noch benennen.

    Weiter schrieben Sie:
    “Vielmehr ergibt sich einfach, dass die Bestrafung eines Täters unter den Bedingungen eines Rothschen Determinismus ungerecht wäre.”

    Wieso ist die Bestrafung eines Täters einfach ungerecht?
    Wenn die Bestrafung des Täters ungerecht sein kann, dann kann auch die Tat des Täters ungerecht sein. Dann könnte aber auch wieder die Bestrafung gerecht sein.

    Wenn die Tat des Täters nicht ungerecht ist, weil sie determiniert ist, dann kann auch die Bestrafung nicht ungerecht sein. Sie wäre ja genau so determiniert, wie die Tat selbst.

  381. @alle: Vermittlung?

    Was DU nämlich ständig als Zusatzprämissen für diese ‘Widerlegungen’ nutzt, dass gibst du nicht an – weil es dir gar nicht bewusst zu sein scheint.

    Kann mir vielleicht jemand anderes erklären, was Noït hier mit “Zusatzprämissen”, die mir nicht bewusst sind, meint? Sind sie noch irgend jemandem außer Noït bewusst?

  382. @Stephan: Warum sind alle anderen doof?

    Du stellst in deiner Sicht immer nur richtige Prämissen auf und alles was dir von den anderen nicht passt liegt an deren Ungebildetheit – so lebt es sich wahrlich unbeschwehrt. Mit Wissenschaft hat das nur nichts zu tun. Und: Hochmut kommt vor dem Fall…

    Welche andere Variable gibt es denn noch neben Umwelt (U), Körper (K) und Gehirn (G)?
    Umwelt ist doch alles um den Menschen. Und der Homunkulus oder der Chip wären im Körper oder im Gehirn – also Teile von K oder G. Und die Seele hättest Du vermutlich auch noch entweder in K oder U implementiert (ich bin für beides), wenn ich sie als Argument gegen deine Formel vorgebracht hätte.
    Und dass eine der Variablen keinen Einfluss hat, das widerlegt die Formel ja gerade nicht – denn du lässt ja offen welche Bedeutung die jeweiligen Teile haben, also auch die Annäherung an Null (zumal mehr als die Annäherung an Null sowieso nicht beweisbar ist).

    Wenn du wirkliche Auseinandersetzungen wolltest (hier willst du anscheinend nur Recht haben), dann würdest du dich auch mal mit den ganzen anderen Einwürfen beschäftigt haben – aber darauf gibt es vermutlich keine Antwort die in dein Weltbild passt. Michael Blumne hätte das bald mit Trollverhalten assoziiert.

    Und die Regel – ist in den Gehirnen der Verkehrsteilnehmer implementiert. Und wer neu dazukommt, der muss sie von anderen Menschen lernen – bei denen sie wieder im Gehirn sein muss. Und so auch beim Verkehrspolizisten, denn der kann auch nur nach seinem Gehirn handeln und sich nur an das Gehirn des Delinquenten wenden. In der Umwelt ‘implementiert’ ist sie allenfalls im Zeitpunkt der Befolgung. Aber sie ist nicht wie ein Naturgesetz implementiert, sie kann also ohne die Gehirne derjenigen, die sie verinnerlicht haben, nicht existieren.

    Deine Beschreibung wäre also als soziologische brauchbar – aber Soziologie in dieser Form sagt nichts über Ursachen aus oder über Speicherorte. Sie abstrahiert von den Menschen. Und damit interessiert sie sich nicht dafür, wo genau etwas gespeichert ist – sie nimmt die Struktur als gegeben hin. Aber die soziale Struktur ist ein Netzwerk von Menschen und deren Gehirnen. Und so wie die Neuronen(Gruppen) Teile unseres Gehirns sind, so sind die Menschen Teile der Gesellschaft.

    Und zu deinen Prämissen: Das lasse ich gern den Anderen zur genaueren Erklärung. Wenn du selber drauf kommen willst lies dir mal deine Diskussionen etwa mit Balanus oder Joker durch…

  383. @Ano Nym: unbewusster Wille

    Gerade die LZA ist doch oft ein unbewusster Wille – und darum ging es mir. Schließlich denke ich über vieles dort nicht mehr nach. Aber alles das geschieht trotzdem willentlich. Es ist zwar (dem stimme ich zu) ein gewisser Automatismus da – aber dieser Automatismus liegt über dem Refex.

    Im Strafrecht etwa würden wir das doch auch so sehen, wenn etwa jemand aus dem Affekt zuschlägt. Da gab es keinen bewussten Willen, aber einen unbewussten.
    Kann das schon überzeugen? Sonst muss ich noch über bessere Beispiele nachdenken.

  384. @fegalo: Zum (Fehl-!)Schluss

    Joker schrieb:
    “Vielleicht ist es diese (die ich bestreite): Metaphysische Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns.”

    Ja, so ein Blödsinn.

    Die Frage hier ist doch nicht, ob moralisches Handeln möglich ist, sondern welche Handlungen zu rechtfertigen sind. Warum ist es ungerecht, einen determinierten Täter zu verurteilen? Sind determinierte Handlungen gut, böse, gerechtfertigt oder sind sie gar nicht moralisch bewertbar? Wie sind sie rechtlich zu bewerten? Vielleicht gibt es ja sogar Unterschiede zwischen moralischer und rechtlicher Bewertung.

    Also nochmal meine Frage an Sie, aus welchen Prämissen “ergibt sich einfach” die Ungerechtigkeit der Täterbestrafung?

  385. @Noït: Ich finde nicht alle anderen doof

    …ich habe dich aber vor zahlreichen Kommentaren gewarnt, dass ich hier Leuten nicht einfach aus Höflichkeit recht gebe.

    Du willst oft auf eine metaphysische Interpretation hinaus, für die du gar keine empirischen Belege anführst, meines Erachtens nicht einmal anführen kannst. Da gehe ich eben nicht mit.

    Auch deine neue Argumentation ist wieder unlogisch: Du lässt meine Falsifikationsbeispiele mit der immateriellen Seele, der Fernsteuerung per Computerchip oder durch einen Homunculus nicht gelten. Dein Grund: Diese Variablen würde ich dann einfach als Teil von U, K oder G abtun.

    Nach deiner Logik dürfte ich aber U, K und G erst gar nicht unterscheiden, denn G ist (mereologisch) ein Teil von K und dieser ist (mereologisch) ein Teil von U; dann dürfte ich nur behaupten: V = U.

    Dass ich aber dennoch die determinierenden Einflüsse von U, K und G unterscheide, ergibt sich nicht aus Metaphysik, sondern aus der wissenschaftlichen Methodik. Wenn gleich auf der Salsa-Party keine Musik spielt (Umwelt), dann kann ich nicht im Takt tanzen; wenn ich mir auf dem Weg dorthin das Knie verletze (Körper), dann sind meine Tanzbewegungen eingeschränkt; wenn mein Gehirn nicht richtig funktioniert, dann kann ich nicht rechtzeitig die Breaks erkennen.

    Das ist so einfach – dennoch wehrst du dich dagegen und diffamierst es jetzt als Soziologie. Auch das ist offenkundig falsch, denn ich impliziere ja ausdrücklich die Einflüsse von Körper und Gehirn. Man könnte es Soziopsychobiologie nennen und, huch, was für ein Zufall, das tue ich sogar schon seit Wochen!

    Dass ich nicht ernsthaft versucht hätte, mich mit deinen Thesen auseinanderzusetzen, das halte ich für eine weitere steile These. Schon einmal auf den Kommentarzähler geschaut?

    Mit dem Trollvorwurf und auch den Drohungen, meine wissenschaftliche Karriere zu beenden, wenn ich meinen “Blödsinn” publiziere, könntest du schließlich etwas vorsichtiger umgehen. Nicht zuletzt kenne ich auch ein paar Leute an deinem Institut.

  386. @Stephan: Warum persönlich

    Ich habe deine Karriere nicht beenden wollen, im Gegenteil. Ich habe nur gewarnt, dass du es mit dieser zunehmend unfundierten Diskussion hier selber tun wirst. Wenn man sie in einem sauberen wissenschaftlichen Artikel zerpflückt.

    Und das habe ich erst nach zahlreichen Brücken und Handreichungen angesprochen, die dir alle einen Weg aus deinem Irrtum ermöglichen sollten. Und das war mein letzter Versuch, dir klarzumachen, dass du mit deiner hier vertretenen Ansicht gegen die Wand läufst (was ich sehr schade fände). Wenn Du das anders siehst, dann publiziere doch dein hiesiges Theorem. Lass mich sauber darauf antworten und wir werden sehen, was aus deiner Karriere als Theoretiker wird.

    Und das war und ist keine Drohung – vielmehr erklärt schon dein Anspringen auf das ‘Drohen’ mit wissenschaftlicher Auseinandersetzung, dass du deiner Sache doch nicht so sicher sein kannst. Sonst hättest du vor einer wissenschaftlichen Antwort nichts zu fürchten. Zumal ich anders als du keinerlei Weg neben einer Veröffentlichung vorschlug. Und selbst darin lag noch der Hintergedanke, dass du beim Nachdenken für eine Veröffentlichung über deine Fehlannahmen stolperst und diese dann entweder korrigierst oder die Publikation unterlässt.

    Und wen du meinst an meinem Institut zu kennen – das würde mich interessieren. Du scheinst mich da zu verwechseln…

    Aber vielleicht schüttelt ja das Tanzen heute einiges durcheinander und sieht morgen die Welt auch für dich wieder anders aus.

  387. @Noït: Weil inhaltlich nichts mehr geht

    Wie heißt es im Kölschen Grundgesetz? Wat soll dä Käu? Lass uns doch bei Gelegenheit ‘mal ein Kölsch trinken gehen, ich bin nicht nachtragend; oder mit Blick auf meine neue Anstellung gerne ein Weissbier, wenn du gestattest.

    Ich muss jetzt eine ausführliche V = U x K x G Feldstudie machen. Bis bald mal wieder.

    P.S. Und zu der Sache mit der Karriere, les mal Hermann Hesse, Narziß und Goldmund.

  388. Noït Atiga: Vom Leichten zum Schweren

    “Einfacher wäre es für [die Aliens], unsere Gehirnfunktion nachzubauen – dort ist nämlich alles kodiert”

    Erst mal ein kleiner Test für die Aliens. Auch die Beschreibung zum decodieren ist im Codierten enthalten.

    Ifcfm avfhudo avbiruzcdo cvqdg edo hn zmoizcdu epkhdocfm fqtduyfm bkmd bmedsdo cvqdg edo upqhzfmhds

  389. @Joker: So liebe ich das

    Jeden zweiten buchstaben durch den im alphabet folgenden ersetzen alle anderen durch den vorgaenger.

    Das war ja noch einfach – aber danke für den Hinweis auf das auch für die Aliens bestehende Problem der Kodierung im Gehirn. Da war ich zusehr Mensch und nahm zusehr an, dass wir das ja dann wissen. Aber wenn der Code geknackt ost – sollte es doch dort reichhaltige und nuancierte Informationen geben, oder?

  390. @Stephan: Weissbier ist völlig OK

    Also gern auf Groningisch oder Kölsch. Wusste aber gar nicht, dass die Niederlande so auf Weissbier stehen. Da hab ich noch einiges zu erfahren.

    Und ich hoffe, deine Feldstudie zeigt nicht nur Einzelverhalten der Form V = G (K, U) – sondern Parnerschaft der Form V = G1 (K1, K2, U) x G2 (K1, K2, U).

  391. @ Noït Atiga: Schneller als gedacht

    Erstmal Respekt! – speziell für die kurze Zeit, in der Sie diese Lösung gefunden haben.

    Jetzt zum Schweren. Ist die von Ihnen gefundene Lösung die einzig mögliche?

  392. Voraussetzungen und Kausalität /@Ano Nym

    Mein „Einwand“ sollte nur der Klarstellung dienen, dass es das autonome Verhalten der Verkehrsteilnehmer relativ zur Ampel ist, die beim Bediener der LZA das Gefühl erweckt, er sei der Ausgangspunkt der Änderungen des Verkehrsflusses und somit auch des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer.

  393. Aha /@Ano Nym

    »Dass die LZA den Verkehr steuert ist eine zutreffende (empirische) Aussage. «

    So zutreffend wie die Aussage, dass ein Computer anhand bestimmter Faktoren über den Empfänger eines Organs “entscheidet”?

    Wäre es nicht noch zutreffender, zu sagen, dass sich die Verkehrsteilnehmer selbst steuern, indem sie sich u.a. einer LZA bedienen?

  394. Ein Date mit Noït Atiga

    Zwei Gehirne (G1, G2) in Reagenzgläsern stehen nebeneinander, blubbern fröhlich in ihrer Nährlösung vor sich hin, verbunden über ein Datenkabel, und verarbeiten ihre “Wirklichkeit” (G1 [K1, K2, U] x G2 [K1, K2, U]). 🙂

    Ich halte es lieber mit ganzen Personen und gerade Tanz ist gelebte Körperlichkeit (K). Es ist jedes Mal wieder erstaunlich, wie warm die Menschen hier im Zentrum und Westen der Niederlande sind, nicht so kalt wie im Norden.

    Das muss ein Umwelteffekt (U) sein. Ich werde das weiter untersuchen. Jedenfalls auf mich und mein Gehirn (K x G) wirkt sich das schon sehr positiv aus und das lasse ich auch meine Umwelt (U) merken (V).

    Beim Weissbier dachte ich übrigens an Süddeutschland. Dazu ein andermal mehr.

  395. @Stephan: Das blubbert mir falsch

    Wenn es nur Reagenzgläser sind, dann gäbe es in der Funktion von G keine K-Werte mehr und U wäre quasi Null – die Datenkabelwirklichkeit klappt nicht ganz 😉

    Das Gefühl beim Tanzen kann ich aber gut nachvollziehen – nicht umsonst kam ich dir oben mit einem darauf bezogenen Gegeneinwand… Aber gerade darum war ja in jeder der zwei Gehirnfunktionen der andere Körper enthalten – und gab es nur ein Verhalten und eine Umwelt. Deine Nord-Süd-Beobachtung habe ich ebenfalls gemacht – vielleicht sollten wir von U einen besonderen Faktor isolieren, den Sonnenintensitäts-Faktor S?

    Dazu passt ja Süddeutschland – wofür ich die Daumen drücke, bis zum Andermal.

  396. Entscheidung, @Balanus, Ano Nym

    Ich finde die Verwendung von “steuern” bei einer Ampel nicht so problematisch: Die Ampel wurde von den Verkehrsplanern als Steuerungsinstanz installiert und Variationen des Ampelsignals führen zu Variationen des Verkehrsverhaltens und nicht umgekehrt. (Auch hier gibt es moderne Ausnahmen: Beispielsweise verlängern manche Ampeln für Fahrradfahrer in den Niederlanden bei Regenwetter [U] die Grünphasen, damit die Radfahrer weniger im Nassen stehen müssen; oder in den Boden eingelassene Induktionsspulen verkürzen die Wartezeit usw. Es besteht dann also eine beidseitige Interaktion zwischen Ampel und Verkehr.)

    In den Computer ist ein Algorithmus implentiert worden (von Programmierern, die sich an bestimmte Regeln halten), der, in deinem Beispiel, anhand bestimmter Informationen eine Prioritäten- und Eignungsliste für Organspenden berechnet. Hier von einer “Entscheidung” zu reden, fügt m.E. inhaltlich nichts zu, wenn wir doch sagen können, dass der Computer das Ergebnis berechnet, nicht entscheidet.

    Stellen wir uns vor, jemand wäre kurz vor dem Tod, sofern ihm nicht ein Spenderorgan zugeteilt wird, und jetzt muss der Arzt schlechte Nachrichten überbringen. Der Arzt sagt, das täte ihm sehr leid, doch der Computer habe eben entschieden, dass dem Patienten kein Organ zugeteilt wird.

    Das halte ich für Unsinn, denn der Computer hat ja nicht entschieden, nach welchen Regeln die Organe vergeben werden sollen, sondern nur, gegeben die Regeln und Informationen über verfügbare Organe, die Prioritätenliste berechnet. Diese wird wiederum von Gesundheitspersonal ausgewertet, um eine definitive Entscheidung zu treffen, welche Organe an wen gehen.

  397. @Joker: Wirklich schwerer

    Der erste Teil war mit etwas Kryphtographie-Kenntnis nicht so schwer und der Respekt gebührt darum eher meinen Lehrern. Nur ist das schon einige Zeit her und damit sind die komplizierteren Fragen nicht mehr gleichermaßen präsent.

    Ich würde vermuten, dass zwei Kodierungen mit Sinn in derselben Zeichenfolge recht unwahrscheinlich sind. Allerdings gehe ich da wieder von Sinn aus und von der Verwendung aller Zeichen. Im Moment bin ich aber zu uninspiriert, um noch ein anderes Muster zu erkennen. Gibts einen Hinweis?

  398. Noch zur Philosophie der Entscheidung

    In diesem Paper von Dirk Hartmann, Neurophysiology and freedom of the will, das ich Balanus wohl schon einmal vor Jahren empfohlen habe, diskutiert der Autor verschiedene begriffliche Aspekte – im entsprechenden deutschen Aufsatz (Willensfreiheit und die Autonomie der Kulturwissenschaften, Handlung, Kultur, Interpretation, 2000) geht es darum, was notwendige und hinreichende Bedingungen für Willensentschlüsse sind und warum die Neuro-Experimente dafür bisher nicht sehr aussagekräftig sind.

    Im Übrigen weist er darin auch nach, dass das angebliche Grey Walter-Experiment, bei dem die Versuchspersonen sich über ihre eigenen Willensentschlüsse geirrt haben sollen und das kein geringerer als Daniel Dennett genau so darstellt, wahrscheinlich nie stattgefunden hat.

    Es gibt da bestimmte Experimente, wo der Proband durch das experimentelle Setting glaubt, er beeinflusse das Verhalten von irgendwelchen Gegenständen, was aber eine Täuschung ist. (Balanus, 10.08.)

    Tja, so sauber arbeiten sie, manche Neurodeterministen: Wenn die experimentellen Daten nicht mit ihren Überzeugungen übereinstimmen, dann wird zur Not sogar ein Experiment herbei fantasiert.

    Sauberer hat diesen Standpunkt übrigens der Psychologe Daniel Wegner ausgearbeitet (“The Illusion of Conscious Will”).

  399. @ Noït Atiga: Dekodiert

    “Gibts einen Hinweis?”

    Ich kann ihnen leider keinen Hinweis geben und schon gar nicht eine andere Lösung präsentieren, kann aber auch nicht ausschließen, dass es eine gibt. Stellen Sie sich nur vor, was wir alles ausprobieren müssten, um da auf Nummer sicher zu gehen. Haben Sie sich einige der versteckten Prämissen bewusst gemacht, die uns die gefundene Lösung erst als eine gültige Lösung erscheinen lassen? Buchstaben kodieren Buchstaben. Nach a kommt b, … nach z kommt a. Buchstabenfolgen sind Wörter des Deutschen…

    Nach langem Nachdenken (mind at work) habe ich jetzt bemerkt, mein Beispiel ist eigentlich keine Kodierung, es ist eine primitive Verschlüsselung. Wer den Schlüssel hat, der kann entschlüsseln. Nun herrscht aber Konsens, dass das Gehirn die Welt ja nicht einfach umwandelt, sondern irgendwie repräsentiert. Dabei ist unsere wohl berechtigte Hoffnung, dass die Repräsentation nicht noch auf heimtückische Art chiffriert ist. Etwa um sicher zu gehen, dass außer dem Demiurgen kein anderer auf das Repräsentierte zurückschließen kann.

    Schreiten wir zu einer Frage, die dem Problem vielleicht eher gerecht wird. Was ist hier kodiert?

    108358420806128610010040503931100194842

    Ist das Repräsentierte ein Satz, eine Farbe, ein Bildausschnitt oder Teil eines Blogbeitrags? Was würde es Ihnen (oder den Aliens) nutzen wenn auf ähnliche Art wie oben, Hinweise enthalten wären, um was es sich handelt? Was ist eine Dekodierung, was benötigt man zum Dekodieren, was enthält ein Code?

    Lange Rede, kurzer Sinn. Ich vermute doch sehr stark, zum Dekodieren ist Weltwissen nötig. Je genauer die Vorhersage eines Verhaltens werden soll, um so detaillierter muss das Wissen über die Welt sein, in welcher das Gehirn kodiert wurde.

  400. @Balanus: Einwand

    B: »Mein „Einwand“ sollte nur der Klarstellung dienen, dass es das autonome Verhalten der Verkehrsteilnehmer relativ zur Ampel ist, die beim Bediener der LZA das Gefühl erweckt, er sei der Ausgangspunkt der Änderungen des Verkehrsflusses und somit auch des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer.«

    Ihre Klarstellung ist eine Sichtweise. Gegen Sichtweisen kann man schlecht argumentieren. Wenn Sie im einfachen Weiterfahren bei Grün ein “autonomes Verhalten” – also eine weisungsfreie Entscheidung – sehen wollen, kann ich Sie nicht daran hindern, ich kann dann nur darauf hinweisen, dass das nicht mein Sprachgebrauch ist, erstens weil das Grün gerade eine Weisung darstellt und zweitens weil diese Weisung in der Regel reflexmäßig befolgt wird. Reflexmäßiges Befolgen rangiert aber bei mir nicht unter “Entscheiden”.

  401. @Balanus: Sichtweise

    »Dass die LZA den Verkehr steuert ist eine zutreffende (empirische) Aussage. «

    So zutreffend wie die Aussage, dass ein Computer anhand bestimmter Faktoren über den Empfänger eines Organs “entscheidet”?

    Dass ich das Verb “entscheiden” für Prozesse, die auf eine Willensbildung abzielen, reserviert habe, müsste bekannt sein. Bisher hat sich noch kein Computer einen Willen gebildet.

    Wäre es nicht noch zutreffender, zu sagen, dass sich die Verkehrsteilnehmer selbst steuern, indem sie sich u.a. einer LZA bedienen?

    Auch der Soldat im Schützengraben steuert sich selbst? Der Befehl des Kommandeurs ist in Wirklichkeit ein Angebot an den Soldaten, sich autonom für die Befehlsausführung zu entscheiden?

    Nein. Das ist weder zutreffend noch zutreffender.

  402. @Joker: Zweifel bzw. Unterscheidung

    Der vielen Prämissen war ich mir nicht im Einzelnen bewusst, dass es einige sind aber schon – ich hatte noch überlegt, ob ich auf unsere gemeinsame Sprache Bezug nehmen soll. Darum bin ich auch ganz bei Stephan mit seiner Kritik der aktuellen ‘Versprechungen’ der Neurodeterministen.

    Ich vermute doch sehr stark, zum Dekodieren ist Weltwissen nötig. Je genauer die Vorhersage eines Verhaltens werden soll, um so detaillierter muss das Wissen über die Welt sein, in welcher das Gehirn kodiert wurde.

    Hier bin ich auf rein theoretischem Gebiet nicht ganz einverstanden.

    Ich stimme dem zu, dass Weltwissen erforderlich ist – um die Repräsentation des Weltwissens verstehen zu können. Wobei ‘Weltwissen’ schon sehr problematisch ist. Ich denke da etwa an eine abwegige Kodierung wie sie mir aus einem Film in Erinnerung ist – wo der Begriff ‘Mama’ einem Kind mit ‘Rennpferd’ erklärt und immer wieder bestätigt wurde. Wenn man das nur mit Weltwissen erklärt gäbs sicher totale Verwirrung.

    Wo ich nicht ganz einverstanden bin, ist die Vorhersage von Verhalten (zumindest wenn ich die immaterielle Seele ausschließe). Denn Verhalten kann man auch einfach nur nachvollziehen – ohne den genauen Inhalt zu verstehen (sollen ja auch gewisse Menschen machen). Und wenn man das gesamte Gehirn in seiner Funktion kopiert – dann dürften die Stimuli gleich verarbeitet werden und die Reaktion dürfte von allen Anderen als menschlich interpretiert werden. Und sie dürfte die zukünftigen Reaktionen ebenso beeinflussen, wie sie das beim Original getan hätte.

  403. @ Noït Atiga: Noch mehr Zweifel

    “Wenn man das nur mit Weltwissen erklärt gäbs sicher totale Verwirrung.”

    Inwiefern gäbe es Verwirrung, wenn man unter Weltwissen das versteht, was ich geschrieben habe, “das Wissen über die Welt […], in welcher das Gehirn kodiert wurde”? Die Mama / Rennpferd – Bezeichnung gehört doch mit zu der Welt, in der das Gehirn des Kindes kodiert wurde.

    “Und wenn man das gesamte Gehirn in seiner Funktion kopiert”

    Was muss man den kopieren damit die Funktion des gesamten Gehirns eins-zu-eins erhalten bleibt? Weiß man das schon?

    Gehört das Gravitationsfeld in dem sich das Gehirn befindet zur Umwelt? Oder gehört es – soweit es sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort befindet – zum Gehirn selbst? Sprich, ist das Feld ein Eingangs-Parameter der Funktion oder konstituiert es anteilig die Funktion selbst?

    Ist das bei einem Magnetfeld dasselbe? Ich frage u.a. wegen der transkraniellen Magnetstimulation, deren Einsatz ja das Verhalten eines Patienten angeblich deutlich beeinflussen kann.

  404. @Joker: Nur kommunikative Zweifel?

    Welt habe ich dort allgemeiner gelesen – als das aktuelle Wissen der Umgebung. Im Film war nämlich für die ‘Welt’ Mama = Mama. Allerdings kannte das Kind keine Mutter und wuchs auf einem Schiff unter Männern auf, darum kam das Thema kaum zur Sprache und die Assoziation des Kindes beruhte auf Zweitbedeutungen des Ziehvaters. Damit brauchte man für die Interpretation historisches Wissen – nicht nur wissen über das übliche Miteinander.

    Dort sehe ich den theoretischen Vorteil eines (utopischen) Gehirnverständnisses: Mit dem Bezug auf die (bekannten Teile der) aktuelle(n) Welt sollte es möglich sein, die Kodierung jedes Gehirns zu verstehen – und dann sollten auch die Abweichungen oder das Sonderwissen auslesbar werden. Denn das Gehirn speichert ja alles, was es erlebt hat irgendwie ab – was die ‘Welt’ so nicht tut. Auch wenn ich dort durchaus noch einige zusätzliche Hürden erwarte.

    Die Funktionsbestandteile des Gehirns kennen wir noch nicht, ich weiß also auch nicht, was man kopieren oder simulieren muss. Meine Überlegung war daher eine theoretische unter der Bedingung, dass wir das alles wissen. Allerdings scheinen Astronauten kaum Gehirnprobleme gehabt zu haben und damit scheinen Magnet- und Gravitationsfeld nicht konstitutiv zu sein. Daher würde ich es eher zur Umwelt zählen – auch wenn sie umweltähnliche Effekte haben mögen.
    Den Einfluss transkranieller Magnetstimulation erkläre ich mir mit einer Störung der Gehirnfunktion, zumal die Magnetfelder wohl ziemlich stark sein müssen. Sprich die Magnetfelder sind nicht erforderlich und geringe Änderungen nicht problematisch – aber zu starke Felder stören die interne Kommunikation (das würde auch zu den göttlichen Erscheinungen passen).

  405. @ Noït Atiga: Ich ver-zweifel

    “Denn das Gehirn speichert ja alles, was es erlebt hat irgendwie ab – was die ‘Welt’ so nicht tut.”

    Wie bitte?

    Als eine der wichtigsten Funktionen des Gehirns sehe ich es an, dass es filtert. Welche Erlebnisse sind es überhaupt Wert, beachtet zu werden. Z.B. was an der Peripherie des Sehsinns geschieht wird erst mal ausgeblendet (Zählen die noch nicht als Erlebnis?). Wenn dort Bewegung detektiert wird, so kann die Aufmerksamkeit mitsamt Fokus dort hinwandern. Ob das dann dauerhaft gespeichert wird hängt wiederum von vielen Faktoren ab. Es geht weiter damit, zu Unterscheiden was vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis kommt und was nicht.

    Was einmal dauerhaft abgespeichert wurde kann aber auch wieder vergessen werden. Das Gehirn ist plastisch und begrenzt. Es können nicht nur Erlebnisse komplett veschwinden, auch erlernte Bewegungsabläufe, Sprache, alles. Ist das Gehirn eines Demenzkranken kein Gehirn mehr?

    Wenn du jetzt meinst, es wären – zumindest von den Aliens – doch Spuren jedes Erlebnisses im Gehirn zu entdecken, dann sind solche Spuren jedes Ereignisses aber erst recht auch in der Welt vorhanden und zu entdecken.

    Schönes Wochenende, ich geh jetzt einige Erlebnisse löschen, Prost.

  406. @Joker: Spiel mit Erinnerungen

    Schönes Wochenende, ich geh jetzt einige Erlebnisse löschen, Prost.

    Prost – aber weißt du sicher, dass dir das gelingen wird? Bei manchen Menschen führt Alkohol ja dazu, dass sich sonst unterdrückte Wesenszüge oder Erinnerungen manifestieren.

    Zu dumm, dass der Selektionsmechanismus für das Löschen der Erlebnisse unbewusst funktioniert; bei der bewussten Selektion soll allerdings vorläufigen Berichten zufolge EMDR eine Möglichkeit sein.

    Ich mache mich jetzt wieder auf den Weg zu einer V = U x K x G-Feldstudie.

  407. Berechnen statt Entscheiden /@Ano Nym

    »Dass ich das Verb “entscheiden” für Prozesse, die auf eine Willensbildung abzielen, reserviert habe, müsste bekannt sein.«

    Na schön, es geht vielleicht auch ohne diesen Begriff.

    Die Frage war, was es für die Determiniertheit des Bordcomputers durch die LZA bedeuten würde, wenn dieser anhand bestimmter vorgegebener Variablen berechnet, ob z.B. bei Rot gestoppt wird oder nicht.

  408. @Joker: Bitte nicht ver-zweifeln…

    … denn die Diskussion erlebt mein Gehirn als sehr fruchtbar und wünscht sich darum, dass du gestern bei aller Freude nicht zuviel gelöscht hast 😉

    Ich stimme dir zu, dass die ‘Welt’ mit (Überwachungs)Kameras, Computern und Internet Vieles irgendwo gehirnunanhängig konserviert. Soweit ich informiert bin, wird dabei aber noch nicht das ‘Gehirnerleben’ aufgezeichnet. Ich bin meinem Gehirn daher dankbar, dass es den Satz so sauber formuliert hat.

    Denn das Gehirn speichert ja alles, was es erlebt hat irgendwie ab – was die ‘Welt’ so nicht tut.

    Erleben – meinte ich ja grammatisch nur als Erleben im Gehirn. Wobei selbst für die Selektion des Gehirns ein Gehirn-Erleben nötig ist, wenn auch nur sehr unbewusstes. Also auch was in der Peripherie des Sehsinns geschieht gehört zum Gehirn-Erleben.

    Speichern – stand für mich im Zusammenhang mit “irgendwie” nicht für identisch oder reproduzierbar speichern, sondern für Spuren hinterlassen. Ich sehe das Gehirn als äußerst vielfältig verknüpftes Netzwerk, in dem jede Aktion eine (wenigstens minimale) Veränderung hervorruft. Und in dieser minimalen Veränderung ist jedes Erlebnis irgendwie enthalten, egal ob es bewusst oder unbewusst aufgenommen wurde oder nur gefiltert. Denn selbst das Filtern dürfte je nach Erfolg mehr oder weniger tiefgreifende Veränderungen an der Struktur bewirken. Und selbst Priming-Reize dürften die Gehirnstruktur dauerhaft beeinflussen.

    Dauerhaft – ist für mich jede Veränderung, zumindest weil sie die Optionen für zukünftige Veränderungen mitbestimmt. Denn was du mit Langzeitgedächtnis meinst, scheint mir nur das bewusste Speichern zu betreffen. Das ist jetzt nicht ganz leicht zu illustrieren – aber etwa bei der Sprache führt jeder aktive oder passive Gebrauch zu einer Ausdifferenzierung unserer Kenntnis. Und diese Kenntnis ist sehr persönlich, obwohl vielfach nicht bewusst. Aber auch wenn ich an die Studien mit den manipulierten Kartenspielen denke, scheint mir vieles für eine unbewusste interne Erlebnisstatistik zu sprechen.

    Wirkliches Vergessen – scheint mir nur beschränkt möglich zu sein. Schon beim episodischen Gedächtnis ist wohl Vieles nur verschüttet und taucht im Alter wieder auf. Was öfter passiert, ist das Neukombinieren des ‘Gespeicherten’ – durch Erinnern, Träumen oder neue Gehirn-Erlebnisse. Damit wird das Erlebte aber nicht vergessen, sondern nur anders komprimiert gespeichert.
    Das gilt wohl auch für erlernte Bewegungsabläufe, denn grundlegende und einmal ausreichend oft genutzte Abläufe wie Fahrradfahren, Laufen oder Tanzgrundschritte scheinen wir solange nicht zu vergessen, wie sie unkomprimierbar sind (es sei denn wir verlieren sie). Wobei mit jeder Komprimierung zwar etwas verschwindet aber manche Details in Anbetracht ihrer ursprünglichen Bedeutung doch teils ewig erhalten bleiben – wohl so ähnlich wie bei einem immer wieder bearbeiteten und neu komprimierten Jpeg.
    Allerdings ist Vieles auch dann noch nicht wirklich vergessen, wenn wir es nicht mehr aktiv können – eine einmal richtig gelernte Sprache mag komplett verschüttet sein, wir lernen sie aber sehr schnell wieder. Selbst das ursprüngliche Vokabular scheint dort in Teilen noch zu existieren.

    Verlieren – ist hingegen viel leichter, beruht aber auf einer Schädigung des Gehirns, ob nun durch Alkohol, Unfall oder Demenz etc. Damit geht ein Teil des Netzwerkes ein – was man ob des Holismus glücklicherweise nicht sofort merkt. Ich gehe aber davon aus, dass jedes Zellsterben (und jede Zellschädigung) dauerhafte Spuren hinterlässt (wie auch jedes Gehirn-Erlebnis) – wobei diese Spuren meist so unbedeutend sein dürften, dass sie erstmal keine (signifikante) Änderung der psychischen Struktur hervorrufen.

    Spuren in der ‘Welt’ – verbleiben aus meiner Sicht sehr wenige (soweit man andere Gehirne ausnimmt). Vom Erleben eines ‘Gehirns’ gibt es allenfalls bewusste Äußerungen der Person, und die sind schon bei Entstehung gefiltert. Sie werden aber beim Verstehen noch einmal gefiltert – von Menschen oder Aliens. Von Episoden dieses Lebens mag es Aufzeichnungen geben, mit zunehmender Computerisierung auch immer mehr. Nur werden die nach anderen Algorithmen komprimiert und können (jedenfalls bisher) das subjektive Erleben genausowenig widerspiegeln wie die subjektive Komprimierung.

    Darum bin ich überzeugt, dass das Gehirn (jedenfalls über sein Erleben) viel mehr Informationen enthält als die ‘Welt’. Dass wir das (heute) nicht empirisch beweisen können und schon gleich gar nicht auslesen – das scheint mir kein theoretischer Einwand zu sein. Allerdings sind alle die obigen Ausführungen aus den Informationen meines Gehirns entstanden – jenen Informationen, die es aus aller seiner direkten und indirekten Empirie gewonnen und geronnen hat…

  409. @Balanus: Berechnen statt Entscheiden

    Die Frage war, was es für die Determiniertheit des Bordcomputers durch die LZA bedeuten würde, wenn dieser anhand bestimmter vorgegebener Variablen berechnet, ob z.B. bei Rot gestoppt wird oder nicht.

    Mir ist nicht klar, worauf Sie hinaus wollen.

  410. Voraussetzungen /@Ano Nym

    »Mir ist nicht klar, worauf Sie hinaus wollen.«

    Dazu später. Zunächst:

    Ihre Behauptung ist: „Der Lichtzeichengeber determiniert die Verkehrsteilnehmer“.

    Später nennen Sie Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit der Lichtzeichengeber die Verkehrsteilnehmer determinieren kann.

    »In Deutschland sind zum ‚Mitspielen‘ mit Kraftfahrzeugen nur Personen zugelassen, die mit den Regeln vertrautgemacht wurden und die schon eine gewisse Möglichkeit hatten, das erwünschte Verhalten vor LZAnlagen einzuüben.«

    Daraus schließe ich, dass die LZA nur dann die Verkehrsteilnehmer determinieren kann, wenn deren Verschaltungen im Gehirn zuvor durch eine entsprechende Verkehrserziehung festgelegt wurden. (Gleiches gilt dann auch für den Soldaten im Schützengraben, dessen Verschaltungen im Gehirn durch den soldatischen Drill festgelegt wurden).

    Gegen eine so begründete Determination durch die LZA habe ich eigentlich nichts einzuwenden. Denn das entspricht ja im Wesentlichen der Behauptung von G. Roth und W. Singer, die sagen, dass Verschaltungen unsere Verhaltensmöglichkeiten festlegen.

  411. Berechnen statt Entscheiden /@Ano Nym

    Würden Sie auch dann noch von einer Determinierung durch die LZA sprechen, wenn es vom Rechenergebnis der Bordcomputer abhinge, ob das Fahrzeug stoppt oder nicht?

  412. Steuern und Entscheiden /@Stephan

    »Ich finde die Verwendung von “steuern” bei einer Ampel nicht so problematisch: […]«

    Ach, Du bist doch sonst immer so pingelig mit diesen Begriffen – zumindest mir gegenüber… 😉

    Aber macht nix, es gibt Schlimmeres, und was die „Entscheidung“ des Computers angeht, da bin ich flexibel. Wenn also der im Programm implementierte Entscheidungsalgorithmus nicht zu einer Entscheidung führt, sondern bloß zu einem Ergebnis, ist mir das auch Recht.

    Bist Du sicher, dass Du mir das Paper von Dirk Hartmann („Neurophysiology and freedom of the will“) seinerzeit mal empfohlen hast? Meistens besorge ich mir Deine Empfehlungen, und von Hartmann hatte ich bis eben nur „Philosophische Grundlagen der Psychologie“ auf dem Rechner.

    Zum Thema Verkehrsampel:

    Ist es nicht lustig, dass ausgerechnet ich als erklärter Neurodeterminist hier die Freiheit des Menschen verteidige? Dass ich die prinzipielle Selbstbestimmtheit des Menschen auch dann als gegeben sehe, wenn er sich als Verkehrsteilnehmer vor einer LZA oder als Soldat im Schützengraben befindet?

  413. @Balanus: Ermüdungsbruch

    Sie irren über den Gegenstand über den ich schreibe. Der Sachverhalt ist:

    v(t) = a · s(t – b) + c

    Das ist der funktionale Zusammenhang zwischen der Steuergröße s (Lichtsignal) und dem Verkehrsfluss v. Dieser ist dadurch, dass man selbst zum s wird (die Ampelschaltung auf manuell stellt und selbst Rot, Gelb und Grün gibt) sogar erfahrbar. Das ist die Determinierung, die Kausalität über die ich hier schreibe.

    Dass dazu Voraussetzungen erfüllt sein müssen und welche das sind, interessiert mich nicht. Das Training des Fahrers (neurotisch: „Verschaltung der Neuronen“) oder die Programmierung des Google-Autos sind nur solche Voraussetzungen. Genau wie, dass das Fahrzeug einen Energievorrat hat oder dass die Ampel Strom bekommt.

  414. @Balanus

    Würden Sie auch dann noch von einer Determinierung durch die LZA sprechen, wenn es vom Rechenergebnis der Bordcomputer abhinge, ob das Fahrzeug stoppt oder nicht?

    Von Determinierung spreche ich dann und solange, wie der kausale Zusammenhang v(t) = a · s(t – b) + c besteht.

  415. @Balanus: Begriffe

    Ja, manchmal ist es wichtig, nach der Bedeutung von Begriffen zu fragen, z.B. in neuro(tisch)-philosophischen Debatten.

    Was ich damit meine, dass eine Ampel den Verkehr “steuert”, habe ich oben ausformuliert. Da du dazu keine inhaltlichen Fragen hast, gehe ich davon aus, dass du meinen Vorschlag akzeptierst oder zumindest verstehst.

    Ob ein Gehirn Erinnerungen “speichert”, es “entscheidet”, oder ein Computer “entscheidet” sind ganz andere Fragen; schließlich handelt es sich um andere Begriffe in anderen Kontexten.

    Ich habe vorgeschlagen, dass ein Computer anhand einer Eingabe gemäß einem Algorithmus das Ergebnis einer Funktion (z.B. zur Bestimmung der Priorität einer Organspende) “berechnet”. Das ist es, was Computer im allgemeinen tun (vgl. lat. computare).

    Dass dieses “Berechnen” (psychisch) nicht dasselbe ist, wie wenn ich Rechenaufgaben löse, ist klar. Dennoch bedeutet auch das Rechnen bei mir u.a., dass ich anhand von Ausgangsdaten gemäß einem Algorithmus das Ergebnis einer Funktion erziele (wenn meine Rechnung stimmt).

  416. Glaube und Spekulation

    Darum bin ich überzeugt, dass das Gehirn (jedenfalls über sein Erleben) viel mehr Informationen enthält als die ‘Welt’. Dass wir das (heute) nicht empirisch beweisen können und schon gleich gar nicht auslesen – das scheint mir kein theoretischer Einwand zu sein.

    Sprach der, der mir eben noch mit dem theoretischen Einwand kam, meine Formel sei nicht falsifizierbar.

    Übrigens habe ich heute Nacht wieder die Gleichung V = U x K x G bestätigt. Nicht nur konnte ich aufgrund eines funktionsfähigen Körpers und Gehirns mit dem Fahrrad zu einer neuen Latin Party fahren, sondern es reichte auch, mir die Richtungen nur grob zu merken, obwohl ich noch nie in dieser Gegend gewesen war: Denn die Regeln, wann man beispielsweise rechts abbiegen konnte und wann nicht, waren in der Welt implementiert; nämlich u.a. durch Straßen und Brücken.

  417. @Balanus

    Ist es nicht lustig, dass ausgerechnet ich als erklärter Neurodeterminist hier die Freiheit des Menschen verteidige?

    Es ist ausgesprochen ungeschickt, eine Sache gegen Leute, die diese gar nicht bestreiten, und mit Hinweis auf Situationen ‘verteidigen’ zu wollen, wo sie nicht sichtbar ist.

  418. @Stephan: Nicht zu schnell

    Wenn wir mal bei Popper bleiben, so gibst du mir als Theoretiker doch sicher Recht, dass man die logische Falsifizierbarkeit von der praktischen Falsifizierbarkeit trennen muss, oder?

    Und meine These (jedenfalls wenn ich sie auf das Erleben des Gehirns beschänke) kann man theoretisch falsifizieren – nur eben nicht praktisch, weil wir (heute) den direkten Zugang zum Gehirnspeicher nicht haben. Und von den Details der These handelt ja noch der ganze übrige Beitrag oben.

    Übrigens bin ich ob der Verallgemeinerung der heisenbergschen Unschärferelation sogar der Ansicht, dass jedes Auslesen eines Systems das System beeinflusst. Und damit jedes System immer vollständigere Information seines Erlebens oder Zustandes haben muss als irgendein externes System oder ein Teil des Systems.

    Zur Nachtgleichung: Wenn du Straßen als Regeln ansiehst – dann sind die tatsächlich in der materiellen, extraneuronalen Welt, was ich mit ‘Welt’ bezeichne. Aber schon die Abbiegevorschriften sind nicht mehr in dieser ‘Welt’ – es gibt ja keinen ‘Magneten’, der alle Fahrradfahrer nach rechts zwingen würde (wie etwas die Gravitation zum Massezentrum). Und dass man über Straßen fahren muss (und nicht über den Rasen), auch diese Regel ist nicht in der ‘Welt’, sondern nur in unseren Gehirnen. Es könnte auch andersrum sein, als Wurm etwa.

    Und auch mit deiner Orientierung ohne Vorkenntnis hast du nur die geniale Informations(verarbeitungs)struktur deines Gehirns unter Beweis gestellt…

  419. @Noït: bitte genau lesen

    Ich schrieb nicht, dass die Straße eine Regel ist, sondern die Implementierung einer Regel.

    Anders als bei einem Trampelpfad, der dann entsteht, wenn hinreichend viele Menschen denselben Weg z.B. über einen Rasen nehmen, wurde das Verkehrssystem gemäß bestimmter planerischer Prinzipien am Reißbrett entworfen – natürlich unter Berücksichtigung natürlicher wie kultureller Gegebenheiten.

    Gerade aufgrund dieses planerischen, regelhaften und systematischen Charakters des Straßennetzes war es bei meiner Fahrt hinreichend, sich allgemeine Instruktionen der Form “dann ein Stück geradeaus und die breite Straße rechtsab” zu merken.

    Dass das Verkehrssystem in Utrecht nicht zufällig und chaotisch organisiert ist, erlaubte es mir in diesem Fall, beim Ausfüllen meiner Wissenslücke auf das sich lokal ergebende Umweltwissen zu vertrauen, um (sogar ohne Umweg) ans Ziel zu kommen.

  420. @Stephan: Will ich gern, aber

    … ich habe mit Implementierung so meine Schwierigkeit. Denn umgesetzt wurden im Straßensystem ja nicht irgendwelche Bewegungsanweisungen, sondern es wurde nur eine kulturell geprägte Landschafts-Struktur geschaffen. Und die dir gegebene Anweisung bezog sich bei ihrer Kodierung auf die konkrete Struktur.

    Im Indianerland hätte man dir vielleicht gesagt, reite bis zum großen Gebirge und dann nach Norden. Und irgendwie sehe ich nicht, wie da Bewegungs-Regeln in der ‘Welt’ implementiert sind.

    Aus meiner Sicht passiert dort nur Folgendes: Des Wegbeschreibers Gehirn nutzt materielle Gegebenheiten zur Übermittlung seines diesbezüglichen Gehirnwissens. Und dabei muss er sich der Sprache bedienen, die ihr gemeinsam sprecht. Aber letztlich kommt es auf die Übereinstimmung der Interpretation des Senders und des Empfängers an. Wenn ich dir nämlich sage es war grad dreiviertel Fünf – dann verstehst du vermutlich Bahnhof. Bei Viertel vor Fünf aber die Zeit.

  421. @Noït

    Im Indianerland hätte man dir vielleicht gesagt, reite bis zum großen Gebirge und dann nach Norden. Und irgendwie sehe ich nicht, wie da Bewegungs-Regeln in der ‘Welt’ implementiert sind.

    Tja, im Indianerland gibt es auch kein ausgeklügeltes Verkehrssystem, in dem planerische Regeln implementiert sind.

  422. @Stephan: Aber…

    Selbst das ausgeklügelte Verkehrssystem implementiert in seinem materiellen Teil keinerlei Bewegungs-Regeln für Menschen – soweit diese Regeln nicht in deren Gehirnen bestehen.

    Die ganzen bunten Lämpchen, die ganzen farbigen Schilder und die ganzen Straßen mit ihren Strichen sind kein Verkehrssytem – ohne die sie benutzenden Menschen. Und sie werden zum Verkehrssysem nur dann, wenn die Gehirne dieser Menschen mit ihnen irgendwelche Regeln assoziieren. Straßen, Schilder, Lämpchen, Striche selbst sind keine Bewegungs-Regeln und implementieren auch keine. Was sie implementieren sind nur Strukturvorstellungen oder Farbwechselspiele eines Planers (etwa so wie Blütenfarben).

    Materiell implementiert wäre eine Bewegungs-Regel etwa, wenn ein auf die Ampel zugehender Mann nach rechts verschoben würde und eine Frau nach links. Oder wenn sich Männern die rechte Straße zeigen würde und Frauen die linke. Wenn die Straßen also durch irgendeine materielle Kraft wie Schienen oder Weichen wirken würden. Dann wäre die Bewegungs-Regel im materiellen Verkehrssystem und damit gehirnunabhängig implementiert.

    Fehlt dieser Zwang oder dieses gehirnunabhängige Gesetz, so können wir gehirnunabhängig nur beschreiben – also soziologische und damit verallgemeinernde Wahrscheinlichkeits-Aussagen machen.

  423. Saubere Neurodeterministen /(@Stephan

    »Es gibt da bestimmte Experimente, wo der Proband durch das experimentelle Setting glaubt, er beeinflusse das Verhalten von irgendwelchen Gegenständen, was aber eine Täuschung ist. (Balanus, 10.08.)

    Tja, so sauber arbeiten sie, manche Neurodeterministen: Wenn die experimentellen Daten nicht mit ihren Überzeugungen übereinstimmen, dann wird zur Not sogar ein Experiment herbei fantasiert.

    «

    Du kennst diese Versuche also nicht — oder ich habe nicht die richtigen Hinweise gegeben. Wenn ich mich recht erinnere, ging es dabei um die Beeinflussung von irgendwelchen Figuren oder Symbolen auf einem Monitor mittels einer Mouse oder ähnlichem. Die Figuren bewegten sich zufällig und unabhängig von den Manipulationen des Probanden, und dennoch hatten diese oft das Gefühl, sie würden diese Figuren steuern oder beeinflussen.

    Na, noch nie etwas Ähnliches mal gesehen, gelesen oder gehört?

    Zu William Grey Walter schreibt ein Wiki-Autor:

    In den Sechzigern entdeckte Walter den Effekt des „Zufälligen negativen Wechsels“ (CNV), bzw. „mögliche Bereitschaft“. Dabei tritt eine halbe Sekunde bevor sich eine Person einer Bewegung bewusst wird, die sie machen will, eine negative Spitze elektrischer Aktivität im Gehirn auf. Interessanterweise stellt dieser Effekt den Gedanken des Bewusstseins oder freien Willens in Frage und kann als die Reaktionszeit einer Person auf Ereignisse angesehen werden.

    Leider ohne explizite Quellenangabe, aber genannt wird das Nature-Paper von 1964, in dem es um die CNV (contingent negative variation) geht, einem bestimmten Verlauf des aufgezeichneten Aktivitätspotentials (Grey Walter W et al. (1964) Contingent Negative Variation : An Electric Sign of Sensori-Motor Association and Expectancy in the Human Brain. Nature 203, 380-384).

    (http://de.wikipedia.org/wiki/William_Grey_Walter#Gehirnwellen)

    Zuletzt noch eine Frage: Ist nach Deiner Vorstellung das U in der Formel (V = U x K x G) von G unabhängig?

    Ich frage, weil mMn ja nur der Teil von U verhaltensmäßig wirksam werden kann, der von G irgendwie registriert wird.

    Wenn ich V, U, K und G in eine Beziehung zueinander setzen müsste, sähe dies so aus:

    V ist das von G gesteuerte Agieren von K in U.

  424. @Ano Nym

    »Von Determinierung spreche ich dann und solange, wie der kausale Zusammenhang v(t) = a • s(t – b) + c besteht.«

    Verstehe: Für Sie „determiniert“ der Lichtzeichengeber die Verkehrsteilnehmer dann und solange, wie diese sich nach den Lichtzeichen richten (und Treibstoff im Tank ist, etc.).

    Akzeptiert!

    Dann hätten wir also neben dem „probalitistischen Determinismus“ so etwas wie einen „fakultativen Determinismus“, der immer dann in Erscheinung tritt, wenn Individuen auf bestimmte Umweltreize hin ein ganz bestimmtes Verhaltensmuster zeigen.

  425. Entschuldigung

    Ich bin auch nur ein felines Wesen, das ab und zu gestreichelt werden will.

    Miau!

  426. @ Stephan Schleim

    “Fragen Sie mich doch bitte in einem Jahr noch einmal, vielleicht kann ich Ihnen dann eine bessere Antwort geben; interessant ist aber doch, aus welcher Richtung ich mich dem biopsychosozialen Modell annähere, nämlich aus der Philosophie und experimentellen Psychologie über den Umweg der bildgebenden Hirnforschung und theoretischen Neurowissenschaft”

    Lieber Herr Schleim,
    verzeihen Sie mir die verspätete Rückmeldung.
    Ad rem: Ich hoffe doch sehr, dass ich diesbezüglich nicht mehr ganz ein Jahr warten muss, da ich äußerst gespannt bin, welche Überlegungen sie noch dazu anstellen 🙂
    Ansonsten werde ich Sie wohl bei Wort nehmen und in einem Jahr erneut fragen…

  427. “Religiös motivierte Willensfreiheit”

    Balanus (18.07.2012, 12:31): »… eine religiös motivierte Vorstellung vom freien Willen?«

    Das mit dem “religiös motiviert” scheint historisch überraschenderweise sogar zu stimmen. Die Vorstellung vom freien Willen mag diverse unabhängige Wurzeln in der Kulturgeschichte haben, aber zumindest eine davon doch in der christlichen Theologie. So schreibt Mario Bunge (Matter and Mind, p. 98):

    Incidentally, the free will hypothesis started as a theological fantasy that wasa convenient means to blame humans for what might be taken as God’s perversity. (This is how Augustine used free will to combat Manichaeism.) But morally justified punishment presupposes self consciousness, the ability to tell wrong from right, and free will. This is why in advanced nations nonhuman animals, children, and the mentally handicapped, and in recent years victims of injuries to the frontal lobe as well, are exempted from the rigors of criminal law.

    Zu Augustinus vgl. auch [De libero arbitrio].

  428. @Chrys

    »Die Vorstellung vom freien Willen mag diverse unabhängige Wurzeln in der Kulturgeschichte haben, aber zumindest eine davon doch in der christlichen Theologie.«

    Soweit ich weiß, kennt man keine ältere Überlieferung über einen von der Physis unabhängigen, wirklich freien Willen im Sinne eines liberum arbitrium, als eben die von Augustinus.

    Hat doch auch eine gewisse Logik: Wenn man arme Sünder im ewigen Höllenfeuer schmoren lassen will, dann muss die Sünde als wirklich freies Wollen des Bösen verstanden werden.

    Wer also gegen den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, verteidigt im Grunde alte christliche Positionen.

    Ich zumindest finde so etwas recht amüsant 😉

  429. @ Balanus: Sehr amüsant

    “Wenn man arme Sünder im ewigen Höllenfeuer schmoren lassen will, dann muss die Sünde als wirklich freies Wollen des Bösen verstanden werden.”

    Nicht unbedingt. Innerhalb der Kirche wurde diesbezüglich auch schon das Gegenteil vertreten, ein strikter Determinismus. Das ganze läuft dort unter dem Namen “Prädestination”. Auch von Augustinus.

    Wer also für den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, verteidigt ebenso im Grunde alte christliche Positionen.

    Ich zumindest finde so etwas recht amüsant.

  430. @Joker: Wenig amüsant

    Ja, genau darauf habe ich Herrn Balanus schon in Kommentar Nr. 95 hingewiesen (es gibt im Calvinismus sogar die Doktrin der doppelten Prädestination) – aber zugegeben, das ist schon einen guten Monat her.

    Ich finde so etwas wenig amüsant.

  431. Schluss mit lustig

    @Joker

    »Wer also für den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, verteidigt ebenso im Grunde alte christliche Positionen.«

    Aber nein, wer für den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, bestreitet natürlich alte christliche Positionen, einmal die des freien Wollens, sowie die, dass Gott den Willen des Menschen unmittelbar bestimme.

    @Stephan

    Calvins Prinzip der doppelten Prädestination hat rein gar nichts einem Determinismus zu tun, der laut Dirk Hartmann — eine hier auf Menschen-Bilder anerkannte Autorität — besagt, „dass alle Geschehnisse prinzipiell unter Zuhilfenahme von Naturgesetzen erklärbar sind […]“ (WILLENSFREIHEIT UND DIE AUTONOMIE DER KULTURWISSENSCHAFTEN; e-Journal Philosophie der Psychologie, 2005)

  432. @Balanus: Nicht verstanden

    Soso, für unsere Freiheit und Verantwortlichkeit ist es deiner Meinung nach also nicht relevant, ob ein Gott schon vor unserer Geburt unser Schicksal bestimmt hat – Himmel oder Hölle.

    Tatsächlich finde ich Hartmann an jener Stelle nicht überzeugend (dein argumentum ad auctoritatem kannst du dir sparen). Zuerst definiert er nämlich im Kap. 2 seines Aufsatzes “traditionell” unter Bezug auf das Kausalgesetz:

    Traditionell wird die Position des Determinismus auf das sogenannte “Kausalprinzip (“Satz vom zureichenden Grund”) bezogen, das besagt, daß jedes Geschehnis eine Ursache habe. (S. 2 in der e-Version)

    Warum er Determinismus nun im folgenden Aufsatz epistemisch – mit Bezug auf die Erklärbarkeit der Welt – definiert, das leuchtet mir nicht ein.

    Der Determinismus ist nun die Annahme, daß alle Geschehnisse prinzipiell unter Zuhilfenahme von Naturgesetzen erklarbar sind – nur “prinzipiell”, weil wir ja weder alle Gesetze kennen, noch in der Lage sind, alle Situationen zu kontrollieren und zu uberblicken. (ebd.)

    Diese Definition entspricht vielmehr einem optimistischen Naturalismus. Der Unterschied wird sofort klar, wenn man sich überlegt, dass eine Welt kausal völlig determiniert sein kann (“Determinismus”), wir sie aber eben nicht prinzipiell unter Zuhilfenahme von Naturgesetzen erklären können, eben weil sich z.B. manche Phänomene jenseits einer prinzipiellen Messgrenze befinden.

    Wenn du mal einen Satz weiterliest, dann siehst du, dass Hartmann selbst jene Beschreibung als “holzschnittartig” bezeichnet.

    Ferner hatten wir uns hier doch schon auf eine Definition aus der Stanford-Encyclopedia geeinigt. Warum kannst du dich nicht endlich einmal für eine Variante entscheiden, was du mit “Determinismus” meinst, und dann dabei bleiben?

  433. Nicht verstanden /@Stephan

    Wer hat was nicht verstanden?

    »Soso, für unsere Freiheit und Verantwortlichkeit ist es deiner Meinung nach also nicht relevant, ob ein Gott schon vor unserer Geburt unser Schicksal bestimmt hat – Himmel oder Hölle.«

    Das also hast Du aus meinem Kommentar als meine Meinung herausgelesen?

    Dann noch einmal zum Mitschreiben: Der knackige Satz „Wir sind unser Gehirn“ steht m.A.n. für die Auffassung, dass die Autonomie und geistig-seelischen Eigenschaften des Menschen aus den Systemeigenschaften des Gehirns resultieren und dass sein willentliches Handeln weder durch eine innere übergeordnete Instanz noch durch eine göttliche Prädestination bestimmt wird.

    Was den Unterschied zwischen Prädestination und Determinismus angeht, da hätte ich mich statt auf Dirk Hartmann auch auf die Stanford Encyclopedia oder auf Peter Schulte/Ansgar Beckermann (http://www.philosophieverstaendlich.de/stichworte/determinismus.html) berufen können, oder auf sonst wen, es gibt ja genug Philosophen, die diese Dinge klar trennen.

  434. @Balanus: Unsinn!

    Wenn etwa eine calvinistische Prädestinationslehre wahr ist, dann ist der Verlauf der Welt eben auch in einer bestimmten Weise determiniert. Die Stanford-Definition von “Determinismus” bezieht sich explizit auf Naturgesetze; demgegenüber könnte man aber theologisch ebensogut “Gottesgesetze” einführen und in der Ideengeschichte wurde das ja auch gemacht.

    Wenn man einen Gegensatz zwischen Determination und Freiheit sieht, dann ist sowohl eine Natur- als auch eine Gottesdetermination (z.B. Prädestination) für unsere Freiheit relevant; explizit schrieb das beispielsweise auch Adina Roskies in der Einleitung ihres Artikels über Hirnforschung und Willensfreiheit in TICS (vgl. “the challenge from below”/”the challenge from above”).

    Das verstehen auch die meisten Leute. Ich würde es wirklich begrüßen, wenn du diese sinnlose Diskussion hier endlich sein lässt.

  435. @Stephan

    Joker schrieb: »Wer also für den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, verteidigt ebenso im Grunde alte christliche Positionen.«, nämlich die mit der Prädestination verbundene Determination.

    Das habe ich bestritten. Denn wer für den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, der verteidigt nicht die Prädestination, sondern lediglich die deterministischen (naturgesetzlichen) Hirnprozesse (so sollte es zumindest sein) und damit auch die Selbstbestimmung (= Freiheit).

    Ich werde aus Deinen Entgegnungen einfach nicht schlau. Wo genau liegt denn Deiner Meinung nach der Fehler in meiner Argumentation?

    »Determinism: the state of the universe is entirely a function of physical law and the initial conditions of the universe«

    (Adina Roskies in TICS 2006, Vol.10: p420)

  436. @ Balanus: Göttliches

    “Wo genau liegt denn Deiner Meinung nach der Fehler in meiner Argumentation?”

    Nun weiß ich nicht was Stephans Meinung dazu ist, aber ich teile Dir bereitwillig meine mit.

    Du schriebst:

    “Wer also gegen den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, verteidigt im Grunde alte christliche Positionen.”

    Was meinst Du mit “im Grunde”, was macht Positionen zu “christlichen”?

    Eine Position besteht sicher nicht nur aus einem Satz. Denn der eine Satz, “Wir sind unser Gehirn”, kann ja vorkommen, sowohl innerhalb einer Prädestinationslehre als auch in deinem Weltbild. Du nimmst für Dich aber in Anspruch, dass sich Dein Weltbild trotz dieser Überschneidung von ersterem unterscheidet. Es käme auch noch darauf an, durch wen oder was unser Gehirn determiniert wird. Dann musst Du aber auch zulassen, dass auch die Gegner des Satzes sich auf unterschiedliche Weltbilder beziehen können, die sich eben in diesem Fall, also in der Ablehnung des Satzes, überschneiden.

    (Es kommt hier nicht darauf an, dass die alte Prädestinationslehre sagt, der Wille des Menschen sei unmittelbar von Gott bestimmt, und nicht etwa er sei mittelbar über unser Gehirn bestimmt. Die alte Lehre könnte einfach dahingehend spezifiziert werden. Schließlich gibt es auch keinen alten christlichen Text, zumindest keinen mir bekannten, in dem explizit steht, “Wir sind mehr als unser Gehirn”.)

    Eine christliche Position wird demnach daran zu erkennen sein, dass sie von christlich gefärbten Argumenten gestützt wird. Letztlich – im Grunde – beruhen solche Positionen auf christlichen Dogmen. Jetzt ist es natürlich offensichtlich, dass es auch ohne jeden religiösen Bezug sehr gute Argumente gibt, die gegen den zitierten Satz, „Wir sind unser Gehirn“, sprechen.

    Was treibt Dich also an, die Satz-Gegner ständig aufs Neue als quasi Gläubige zu verunglimpfen, sie zumindest in die Nähe von Religiösen zu bringen; dich selbst gleichzeitig aber immer weit davon entfernt anzusiedeln, immer nah an Rationalität und Wissenschaft argumentierend?

    Ich halte das für sachlich falsch, unnötig, wenig hilfreich, vom Wichtigen ablenkend und nervend. Für religiöse Themen gibt es hier andere Blogs. Amen.

  437. @ Balanus: State of the Art

    »Determinism: the state of the universe is entirely a function of physical law and the initial conditions of the universe«
    (Adina Roskies in TICS 2006, Vol.10: p420)

    Vielen Dank für eine weitere Definition oder Beschreibung des Determinismus. (Ich glaube, ich darf mich auch im Namen vom Stephan bedanken. Er würde dies sicher gerne selber tun, ist aber vermutlich vor zwei Tagen schreiend aus dem Zimmer gelaufen und bisher nicht an sein Notebook zurückgekommen.) Gefällt dir diese Definition besser als andere oder eher nicht? Soll sie andere ersetzen, nur näher erläutern oder warum zitierst Du sie hier? Wie darf ich sie verstehen? Ich versuche mal zu übersetzen.

    Determinismus: Der Zustand des Universums ist gänzlich eine Funktion physikalischer Gesetze und des Anfangszustandes des Universums.

    Wenn Funktion als mathematischer Terminus zu verstehen ist, dann frage ich mich wo sich die Quantenfluktuationen verstecken könnten, die du ja immer mit eingefangen haben möchtest in einer solchen Definition. Da steht ja nicht “Determinismus: Eine Wahrscheinlichkeit für jeden Zustand des Universums der sich aus probabilistischen Gesetzen und einem Anfangszustand ergibt”. Um einen eindeutigen Zustand zu erhalten müsste noch ein weiterer Parameter in die Funktion einfließen. Es müsste noch so etwas geben, wie, nennen wir es mal, den “Zufall”, der aus vielen möglichen Zuständen den Zustand, den einen aktualen, auswählt.

    Wenn “Funktion physikalischer Gesetzte” eher bedeuten soll, ein “Ablauf nach physikalischen Gesetzen”, wobei physikalische Abläufe eben manchmal auch zufällig sind, dann hätte ich auch eine passende Definition für Indeterminismus:

    »Indeterminism: the state of the universe is entirely a function of physical law and the initial conditions of the universe«
    (Joker in Menschen-Bilder, Warum der Neurodeterminist irrt, Page 5: Comm 444)

  438. @Joker / Grüsse vom Murmeltier?

    »… frage ich mich wo sich die Quantenfluktuationen verstecken könnten, …«

    Seine Auffassung von Determinismus, wo probabilistische Gesetzmässigkeiten à la Bunge dazugehören, hat Balanus doch vor etwa einem Monat hier schon verteidigt. Wo ist das Problem? Soll er das jetzt nochmals durchexerzieren?

  439. Triebkräfte /@Joker

    »Was treibt Dich also an, die Satz-Gegner ständig aufs Neue als quasi Gläubige zu verunglimpfen, sie zumindest in die Nähe von Religiösen zu bringen; dich selbst gleichzeitig aber immer weit davon entfernt anzusiedeln, immer nah an Rationalität und Wissenschaft argumentierend? «

    „Ständig aufs Neue […] verunglimpfen“? 🙂

    Mein Satz, „Wer also gegen den Satz „Wir sind unser Gehirn“ argumentiert, verteidigt im Grunde alte christliche Positionen“, bezieht sich auf Chryssens Aussage:

    »Die Vorstellung vom freien Willen mag diverse unabhängige Wurzeln in der Kulturgeschichte haben, aber zumindest eine davon doch in der christlichen Theologie.«

    Wenn ich nun die Debatte richtig verstehe, dann wird der Satz „Wir sind unser Gehirn“ so verstanden, dass es für eine Willensfreiheit im starken, augustinischen Sinne keinerlei Hinweise gibt (eine innere, geistige, unabhängige, unbedingte, übergeordnete Instanz, die den Willen lenkt, oder so).

    Das heißt, wenn Philosophen und/oder Theologen für einen freien Willen (im augustinischen Sinne) argumentieren (was hin und wieder noch vorkommt), dann wird, finde ich, in Bezug auf die Freiheit des Willens zugleich eine christliche Sichtweise oder Position vertreten. Siehst Du das tatsächlich anders?

    Da ist doch auch gar nichts Schlimmes dabei. Viele meiner Sichtweisen stimmen mit bestimmten christlichen Vorstellungen überein, so what?


    »Vielen Dank für eine weitere Definition oder Beschreibung des Determinismus.«

    Gern geschehen!

    »…warum zitierst Du sie hier?«

    Weil „function of physical law“ drin vorkommt (was ganz in meinem Sinne ist).

    Und natürlich umfassen physikalische Gesetze auch Quantenfluktuationen, was sonst?

    »»Indeterminism: the state of the universe is entirely a function of physical law and the initial conditions of the universe«
    (Joker in Menschen-Bilder, Warum der Neurodeterminist irrt, Page 5: Comm 444)
    «

    Im Grunde ist mir völlig egal, was vor dem Doppelpunkt für ein Begriff steht:

    Die Idee, dass der Zustand des Universums gänzlich eine Funktion physikalischer Gesetze und des Anfangszustandes des Universums ist, bezeichnet man als ???ismus.

  440. @Chrys: wer murmelt hier?

    Also meines Erachtens ist es Humpty Dumpty, der alle paar Wochen mit einer anderen Definition/Begründung ankommt – natürlich kann man dann bei hinreichender Zeit (das t dieser Diskussion bewegt sich jetzt schon auf zwei Monate zu) sagen, das habe es ja schon einmal gegeben.

    Klar, wenn es letztlich beliebig ist, was ich als Determinismus bezeichne oder was ich damit meine, dass ich mein Gehirn bin oder dass Gehirnverschaltungen mich festlegen, dann ist das hier nicht mehr als Gemurmel und dann kann ich die Diskussion ebensogut von Schimpansen führen lassen, die wild auf einer Computertastatur herumhacken.

    P.S. Und weil ich keine Lust habe, hier täglich das Murmeltier zu grüßen, verkneife ich mir hier einen Kommentar zur oberflächlichen Definition von “Determinismus” bei Roskies – wen meine Meinung dazu interessiert, der kann auch meine entsprechenden Kommentare zum Determinismus weiter oben lesen.

  441. @Joker: away from keyboard

    …ist aber vermutlich vor zwei Tagen schreiend aus dem Zimmer gelaufen und bisher nicht an sein Notebook zurückgekommen.

    Falsch: Ich war damit beschäftigt, mit den Zähnen zu knirschen und mir die noch verbliebenen Haare auszureißen und konnte daher für eine Weile nicht tippen.

  442. @Stephan Schleim / Roskies und Balanus

    Die Definition nach Roskies (“Determinism: the state of the universe is entirely a function of physical law and the initial conditions of the universe.“) passt im Wortlaut haargenau zur Bungeschen Determinismus-Formel,

    Determinism := lawfulness and Lucretius’ principle.

    Ob Roskies dann tatsächlich dasselbe meint wie Bunge und Balanus, ist eine andere Frage und kann durchaus bezweifelt werden, wenn man liest,

    For if the universe is not deterministic, then the other clear scientific alternative is that undetermined events are random [16].

    Roskies bringt andererseits einen Vergleich zwischen Determination und Prädestination hinsichtlich der Bedeutung für die Willensfreiheit zur Sprache, was ja hier gerade in den Kommentaren thematisiert ist, und was sich für den Bungeschen Determinismus wortwörtlich ebenso sagen liesse:

    The physicalist who denies that there are supernatural forces in the universe, and believes instead that the evolution of the universe is entirely determined by its prior state and the operation of natural laws is faced with a challenge to freedom similar to that of divine predetermination.

    Soweit es diese theologischen Dinge angeht, da wäre es sogar reichlich egal, ob Balanus sich dabei auf probabilistische Gesetzmässigkeiten bezieht oder nicht. Kurzum, ich sehe da nirgends einen Grund, warum Balanus heute “seinen” Determinismus anders verstehen sollte als vor einem Monat — und warum wir das jetzt nochmals alles durchkauen sollten.

  443. @Chrys: Exegese

    Mich interessiert gar nicht, wie Bunge “Determinismus” definiert – ich habe meine Definition hier schon ausformuliert und Balanus hat auf meine Frage hin, welche konkrete Definition er im Kopf hat, eine Definition aus der Stanford-Encyclopedia ins Spiel gebracht – danach hat er dann (keine Garantie für Vollständigkeit) u.a. noch Beckermann, Hartmann, Roskies erwähnt. Wenn er zeigen wollte, dass Philosophen Begriffe nicht alle gleich verwenden, dann gebe ich zu, dass ihm das gelungen ist (nichts anderes gilt übrigens für Natur-, Sozial- oder Rechtswissenschaftler).

    Für mich sind Determinismus und Indeterminismus Gegensätze – und irreduzibel zufällige Ereignisse implizieren für mich einen Indeterminismus; für euch wahrscheinlich nicht, sofern die Ereignisse doch noch irgendwie “gesetzmäßig” sind, und ihr nennt das dann “modernen” Determinismus.

    Wieso ich aber das, was schon klar als “Indeterminismus” definiert wurde und in der Willensfreiheitsdebatte, um die es hier auch geht, so verwendet wurde (siehe Libertarianismus/Inkompatibilismus), plötzlich anders nennen soll, das leuchtet mir nicht ein.

    Es ist eben eine Scheindebatte, wenn man meint, die Determinismusfrage mit einem Verweis auf Naturgesetze klären zu können, denn dies verlagert die Diskussion nur auf die Frage danach, was für Naturgesetze man eigentlich meint (deterministische vs. probabilistische?). Wenn man (irreduzibel) probabilistische/indeterministische Naturgesetze zulässt, dann sollte man meines Erachtens auch den Mumm haben, sich zum Indetermismus zu bekennen und das Problem nicht mit einem “modernen” Determinismus unter den Teppich kehren.

    Dieser “moderne” Determinismus tut dann so, als “gehe alles mit rechten Dingen zu”, hat dann aber schlicht keine Antwort darauf, warum das Photon in diesem Fall nach links geht und nicht nach rechts, warum das Atom in diesem Moment zerfällt und nicht im nächsten.

    Wer darauf keine bessere Erklärung hat, als dass es eben Zufallsprozesse sind, der sollte meines Erachtens die Sprache zumindest so integer verwenden, dass er einräumt, dass uns die Welt zumindest indeterministisch erscheint – und wer das nicht tut, der Verwendet die Begriffe “Determinismus” und “Indeterminismus” meiner Meinung nach unseriös; und damit will ich hier nicht meine Zeit verschwenden.

    Zum Schluss noch ein Punkt zum Nachdenken: Wenn es euch nur um “Gesetzmäßigkeit” geht, dann habt ihr ein Problem, dass man jede auch noch so chaotische Versammlung von Messpunkten durch mathematische Transformationen in Gesetzesform gießen kann. Der “moderne” Determinismus ist dann mit jedem möglichen Weltverlauf vereinbar und ist damit letztlich inhaltsleer.

  444. @ Balanus: ???

    “Die Idee, dass der Zustand des Universums gänzlich eine Funktion physikalischer Gesetze und des Anfangszustandes des Universums ist, bezeichnet man als ???ismus.”

    Funktionalismus!?

  445. @Stephan / Exegese continued

    Die Stanford-Definition (“Determinism: The world is governed by (or is under the sway of) determinism if and only if, given a specified way things are at a time t, the way things go thereafter is fixed as a matter of natural law.“) lässt sich ja auch problemlos im Sinne von Bunge deuten, da nur ein Ausgangszustand und eine naturgesetzliche Zeitentwicklung dieses Zustandes gefordert sind. Für Bunge (und Balanus) ist das entscheidende Kriterium, dass der Lauf der Dinge durch Naturgesetze determiniert ist, wobei im Unterschied zum klassischen Determinismus auch probabilistische Gesetzmässigkeiten zugelassen sind. Soweit für mich erkennbar, hat sich Balanus bei den Formulierungen diverser Autoren, die er dazu heranzitiert hat, auch konsequent an diesem Kriterium orientiert. Welche Auffassung von Determinismus Balanus hier vertritt, ist mir jedenfalls inzwischen recht klar, und für Joker schien das vor einem Monat auch noch recht klar zu sein.

    Aber noch mal ganz allgemein. Für abstrakte dynamische Systeme lässt sich stets formal zwischen stochastisch und deterministisch unterscheiden in Abhängigkeit davon, ob bei der Dynamik irgendwie gewürfelt wird oder nicht. Nur reden die Philosophen beim Determinismus gar nicht über solche Systeme, sondern vielmehr z.B. über “die Welt” (Stanford) oder “das Universum” (Roskies). Grundsätzlich stellt sich dann die Frage, inwiefern es überhaupt sinnvoll sein kann, “die Welt” oder das “das Universum” insgesamt als deterministisch oder indeterministisch klassifizieren zu wollen. Bestenfalls könnte man nur hoffen, Naturgesetze so zu klassifizieren. Aber inzwischen ist offenkundig geworden, u.a. bei der Quantenmechanik, dass sich unsere Naturgesetze überhaupt nicht in diese starre Schema pressen lassen. Und dann ist doch der Determinismusstreit per se eine Scheindebatte, die sich seit Jahrhunderten immer nur um Worte dreht, die, bezogen auf “die Welt” oder “das Universum”, undefiniert und somit bedeutungsleer bleiben.

    Bunges Umdefinition von Determinismus löst das Dilemma freilich nicht. Für Bunge besteht die Welt letztlich per definitionem aus dem, was den Naturgesetzen folgt. Das ist aus meiner Sicht unbefriedigend, denn Naturgesetze beschreiben nicht die Welt, sondern immer nur eine unvollständige und wandelbare Vorstellung von der Welt.

  446. @Chrys: irreduzibler Zufall oder nicht?

    Ich stimme dir in vielem zu, wir drehen uns aber im Kreis, wenn wir uns nicht darüber im Klaren sind, was wir mit “Naturgesetz” meinen – gesetzesartige Verallgemeinerung des Naturgeschehens (also letztlich menschliche Konstrukte) oder alles bewirkende Kraft? – und mit “probabilistisch” – scheinbarer oder irreduzibler Zufall.

    Daher stimme ich dir in dem Punkt nicht zu, dass sich die SEP-Definition “problemlos” (O-Ton Chrys) mit der Bunges deckt. Im SEP-Artikel ist schon diskutiert, wie das Verständnis von Naturgesetz und meines Erachtens vor allem auch des Wörtchens fixed (also das dt. Festlegen, auf das es mir vor allem ankommt) das Verständnis von “Determinismus” beeinflusst; ferner wird das Verhältnis vom Determinismus zum Zufall am Ende ausführlicher diskutiert, wobei hier wieder Bezüge zu “Naturgesetz” und “festlegen” sind.

    Als ich die Diskussion für meinen Beitrag gestern noch einmal nachvollzogen habe, kam mir durchaus für einen kurzen Moment der Gedanke, dass ich Balanus womöglich unrecht getan habe – doch dann las ich mir den von ihm verlinkten Text Ansgar Beckermanns noch einmal durch und sehe doch klare Unterschiede:

    Beckermann nähert sich dem an (Definition D4), was ihr wohl “modernen Determinismus” nennen könnt und tatsächlich ist die Diskussion des “fixed” in der SEP sehr ähnlich, wenn Determinismus so verstanden wird, dass eine vollständige Beschreibung/der Zustand der Welt zu einem Zeitpunkt und die Gesamtheit der Naturgesetze alle Folgezustände logisch enthält (logically entail).

    Beckermann selbst bezeichnet diese Definition D4 als eine alternative “Form” der Definition D3, die da lautet:

    Jede mögliche Welt, die mit unserer Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt völlig übereinstimmt und in der dieselben Naturgesetze gelten wie in unserer Welt, stimmt auch zu allen späteren Zeitpunkten mit unserer Welt völlig überein.

    Wenn dem so ist, dann kann es aber keine irreduzibel probabilistischen Naturgesetze geben, denn das würde ja erlauben, dass in w’ das Photon nach links abbiegt, in w” aber nach rechts, obwohl beide spätere und (per probabilistischem Naturgesetz) mögliche Nachfolgewelten der Welt w sind. D3 erfordert aber, dass w’ und w” in allem übereinstimmen, tun sie aber nicht, also hängt doch wieder alles vom Vorhandensein irreduzibel indeterministischer Ereignisse ab:

    Gibt es sie, dann sind auch die Naturgesetze irreduzibel indeterministisch; dann sind also sowohl w’ als auch w” mögliche Zukünfte von w; dann ist w aber keine Welt in der D3-Determinismus (und, per Analogie, D4-Determinismus und SEP-Determinismus) zutreffen, also ist w keine deterministische Welt und wenn wir in einer w-Welt leben, dann trifft der so ausformulierte Determinismus eben nicht auf unsere Welt zu.

  447. @ Chrys, cc: @ Balanus

    “Welche Auffassung von Determinismus Balanus hier vertritt, […] für Joker schien das vor einem Monat auch noch recht klar zu sein.”

    Mir ist das auch immer noch klar. Aufgrund der von Balanus neu eingebrachten Definition, gelangte ich aber zur Überzeugung, dass ihm selbst seine Position noch nicht ganz klar ist. Ich versuche ihm also nur zu helfen, sich selbst besser zu verstehen.

    Der Aussage, “Alles geht mit rechten Dingen zu” im Universum oder in der Welt, stimmen hier alle zu. Der Idee, “dass der Zustand des Universums gänzlich eine Funktion physikalischer Gesetze und des Anfangszustandes des Universums ist”, stimmen schon nicht mehr alle zu. Nun ist auch diese Formulierung noch so vage, dass sich dahinter völlig verschiedene Weltbilder verbergen können.

    Einer der hier noch möglichen verdeckten Gegensätze ist die Frage nach dem ontologischen Status von Zufall. Auch wenn sich diese Frage niemals empirisch klären lässt, ist es für mich wünschenswert, über Begriffe zu verfügen, mit denen ich diese Differenz ausdrücken kann. Ich möchte darüber spekulieren und sprechen können. (Daher werde ich der weiter oben geäußerten Aufforderung von Stephan, am besten ganz auf den Begriff determiniert zu verzichten, definitiv nicht nachkommen!)

    Einige der Ismen, die sich mehr oder weniger gut mit der von Balanus (bzw. Roskies) formulierten Idee vertragen, sind:
    Naturalismus, Physikalismus (physikalischer Monismus?), Atomismus (oder moderer: Quantismus?), Materialismus. Jeder der genannten Ismen betont einige Aspekte der Idee und lässt dafür andere in den Hintergrund treten. Wenn der Begriff der Funktion betont werden soll, schlug ich daher vor, den Terminus Funktionalismus zu verwenden.

    Egal wie wir das nennen, diese Definition markiert nicht die Differenz, die üblicherweise mit den Begriffen Determinismus und Indeterminismus kenntlich gemacht wird, sie verschleiert diese. Daher kann sie auch nicht als geeignete Definition eines dieser Begriffe dienen.

    Wenn Balanus, Bunge und Hawking den Zufall mit Determinismus vereinbaren (indem sie für Funktionen, die ein deterministisches Weltbild beschreiben, auch probabilistische mit einbeziehen), stellt sich die Frage, was dann noch unter Indeterminismus verstanden werden kann. Gibt es, zumindest theoretisch, auch noch so etwas wie einen zufälligen Zufall?

    Außerdem, wenn Determinismus das bezeichnet, dass Quantprozesse den Weltlauf determinieren, wie könnte dann der Ismus heißen, welcher zusätzlich sagt, auch die Quantenprozesse seien determiniert?

    @ Balanus: Bitte liefern.

  448. @ Chrys: Es geht hier ums Ganze

    “Und dann ist doch der Determinismusstreit per se eine Scheindebatte, die sich seit Jahrhunderten immer nur um Worte dreht, die, bezogen auf “die Welt” oder “das Universum”, undefiniert und somit bedeutungsleer bleiben.”

    Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Nur bezogen auf “die Welt” oder “das Universum” gewinnt der Determinismus überhaupt eine Bedeutung, bzw. nur auf “das Ganze” bezogen erscheint mir der Begriff determiniert letztlich adäquat zu sein.

    Das, was Du Streit und Scheindebatte nennst, nenne ich metaphysische Diskussion.

  449. @Stephan

    Vorab bemerkt, beim “modernen Determinismus” könnte es sich um eine genuine Wortschöpfung von Balanus handeln. Vielleicht kann er das selber gelegentlich mal aufklären.

    In dem SEP-Artikel wird z.B. das Wort “unique” nicht verwendet. Wird irgendwo unmissverständlich gefordert, dass ein nachfolgender Zustand eindeutig durch einen vorausgegangenen und die Anwendung eines Naturgesetzes bestimmt sein soll? Wenn das nicht ausdrücklich gefordert ist, dann bleibt es weitestgehend der Interpretation und Neigung des Lesers überlassen, ob probabilistische Naturgesetze dabei zulässig sein sollen.

    Beckermann stellt da einige Varianten von Determinismus vor, eher solche nach traditionellem Verständnis. Also nicht nach Bunge, der ja offen einräumt, den Begriff faktisch umdefiniert zu haben. Glaube nicht, dass Balanus sich in D3 oder D4 vollständig wiederfindet.

    Zum “Zufall” kommen wir nur durch Abstraktion, in der Wahrscheinlichkeitstheorie. Mit dem w.-theoretischen Konzept von Zufall lassen sich zwar viele Phänomene in der Natur hervorragend beschreiben, aber diese Beschreibungen sind letztlich auch immer nur idealisierte Näherungen. Etwa das Werfen einer Münze. Bei einer realen Münze lässt sich nie logisch ausschliessen, dass sie nicht nach einer idiotisch grossen Anzahl von Münzwürfen doch ein Verhalten offenbart, die der idealen Laplaceschen Munze nach Voraussetzung fehlt.

    Anders gesagt, es lässt sich unmöglich formal beweisen, ob eine hinreichend lange Folge von Nullen und Einsen tatsächlich zufällig ist. Die logische Unmöglichkeit eines solchen Beweises folgt aus einem Theorem von Chaitin.

    Wir können zwar stochastische Differentialgleichungen aufstellen, damit Naturgestze formulieren und auch sehr erfolgreich anwenden. Aber wir erlangen daraus dennoch keine logische Rechtfertigung dafür, den in Betracht stehenden Phänomenen selbst das Attribut “stochastisch” zuzuschreiben. Das ist eine Eigenschaft einer modellhaften Beschreibung, und es ist grundsätzlich immer fragwürdig, solche Eigenschaften vom Modell auf die Natur übertragen zu wollen. Christian Hoppe sieht das erfahrungsgemäss wohl anders, aber da komme ich ganz und gar nicht mit ihm überein.

  450. @Joker / Die Welt, das Universum, …

    »Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein. Nur bezogen auf “die Welt” oder “das Universum” gewinnt der Determinismus überhaupt eine Bedeutung, bzw. nur auf “das Ganze” bezogen erscheint mir der Begriff determiniert letztlich adäquat zu sein.«

    Ja, pure Metaphysik. Für meinen Geschmack viel zuviel Metaphysik, um jemals zu einer brauchbaren Erkenntnis zu kommen.

  451. Inhaltsleere /@Stephan

    »Der “moderne” Determinismus ist dann mit jedem möglichen Weltverlauf vereinbar…«

    Exakt, wobei die Betonung auf „möglichen“ liegt.

    »…und ist damit letztlich inhaltsleer.«

    Vielleicht, aber was nützt mir ein philosophische Idee mit einem unwahren Inhalt?

    Wenn der Indeterminismus mit jedem (möglichen?) Weltverlauf vereinbar ist, wäre der dann nicht auch inhaltsleer?

  452. „unique“ /@Chrys

    »In dem SEP-Artikel wird z.B. das Wort “unique” nicht verwendet. Wird irgendwo unmissverständlich gefordert, dass ein nachfolgender Zustand eindeutig durch einen vorausgegangenen und die Anwendung eines Naturgesetzes bestimmt sein soll? «

    Carl Hoefer (der Autor des SEP-Artikels) schreibt an anderer Stelle:

    “Fixed as a matter of natural law” means simply that the specification of how things are (everywhere) at time t, together with the laws of nature, jointly logico-mathematically determine a single possible future for the world.

    „Single possible future“, das könnte man so verstehen, dass nur *eine* bestimmte Zukunft möglich ist.

    Andererseits schreibt er in einer Fußnote:

    I should mention that it is simply a popular misconception to think that the rise of quantum theories in physics has shown the falsity of determinism once and for all.

    Quelle: http://philsci-archive.pitt.edu/2071/1/Causality_and_Determinism.pdf

    Er spielt da zwar auf die deterministische Interpretation der Quantenphysik an, aber wenn der Quantenzufall dem Determinismus nicht widerspricht, dann sollten sich doch eigentlich, nach meinem Verständnis, mehrere Möglichkeiten für die Zukunft ergeben.


    Das Attribut „modern“ dient lediglich zur Unterscheidung „meines“ Determinismus von dem des Herrn Laplace (der Erste war ich nicht mit dieser „Wortschöpfung“, wie ich leider feststellen musste ;-).

  453. Lieferung /@Joker

    »Außerdem, wenn Determinismus das bezeichnet, dass Quantprozesse den Weltlauf determinieren, wie könnte dann der Ismus heißen, welcher zusätzlich sagt, auch die Quantenprozesse seien determiniert?

    @ Balanus: Bitte liefern.«

    Bohmismus?
    http://plato.stanford.edu/entries/qm-bohm/


    »Ich versuche ihm [mir, B.] also nur zu helfen, sich selbst besser zu verstehen.«

    Danke, ich weiß das zu schätzen 🙂

  454. @Chrys: nicht ganz

    In dem SEP-Artikel wird z.B. das Wort “unique” nicht verwendet. Wird irgendwo unmissverständlich gefordert, dass ein nachfolgender Zustand eindeutig durch einen vorausgegangenen und die Anwendung eines Naturgesetzes bestimmt sein soll?

    Würde die Philosophie bei dem stehenbleiben, was “irgendwo unmissverständlich [beziehungsweise “ausdrücklich”, s.u.] gefordert” ist, dann hätten wir wohl nur einen Bruchteil der philosophischen Weltliteratur – aber vielleicht wäre das eine bessere Welt, wer weiß.

    Wenn das nicht ausdrücklich gefordert ist, dann bleibt es weitestgehend der Interpretation und Neigung des Lesers überlassen, ob probabilistische Naturgesetze dabei zulässig sein sollen.

    Nein, das stimmt meines Erachtens nicht – man kann (und muss) sich nicht nur fragen, was da steht, sondern auch, was daraus folgt.

    Ich hatte doch gerade erst wieder darauf verwiesen, dass der SEP-Artikel erklärt (nebenbei: und zwar ausdrücklich), dass im Zustand der Welt und dessen Beschreibungen alle Folgezustände logisch enthalten sind – was heißt “logisch enthalten” für das Determinismusproblem und die Frage nach dem echten Zufall? Dazu äußerst du dich gar nicht.

    Meine Logikkenntnisse sind bescheiden, daher habe ich zumindest auf Beckermanns Diskussion verwiesen und seine Definition D4, bei der es ebenfalls ausdrücklich um die logische Implikation geht, führt er als eine Variante, eine andere Form von D3 ein – und zwar für Menschen, die “Schwierigkeiten” mit den Begriffen “Notwendigkeit” und “mögliche Welt haben”.

    Seine Definition D3 ist aber eben nicht damit vereinbar, dass w’ und w” beide Folgewelten von w sind, sich aber voneinander unterscheiden (z.B. Photon links vs. Photon recht am Doppelspalt) – eine Möglichkeit, die ein echter Zufall impliziert.

    Echter Zufall wieder ignoriert

    Deine stochatischen Beispiele machen meines Erachtens aber einen großen Bogen um die Frage nach dem echten Zufall – wieso sollte es sich beim Münzwurf denn um einen echten Zufall halten?

    Wir bedienen uns doch nur aufgrund mangelden Wissens den Methoden der Stochastik, das heißt, wir befinden uns hier auf der epistemischen Ebene, wo es beim Determinismus-/Inderterminismusproblem doch darum geht, wie die Welt ist (eben deterministisch oder indeterministisch) und nicht, wie sie uns erscheint (eben naturgesetzlich mehr oder weniger verstehbar).

    Wenn du nicht verstehst, was ich damit meine, dann hilft vielleicht die Diskussion der Beispiele aus der Physik in dem SEP-Artikel sowie den Abschnitt über echten Zufall, auf den ich schon letztes Mal verwiesen habe..

  455. “fixed as a matter of natural law”

    Fixed as a matter of natural law” means simply that the specification of how things are (everywhere) at time t, together with the laws of nature, jointly logico-mathematically determine a single possible future for the world.

    Interessant, wie er hier die logische Implikation aus der SEP-Definition durch logisch-mathematische Determination einer einzig möglichen Zukunft der Welt ersetzt – das passt aber ebenfalls zu Beckermanns D3-D4-Transformation und zu meiner Definition von “Determinismus”.

    Also packt doch einfach mal eure Bungeschen oder banalen/modernen Pseudodeterminismen ein und… genießt euren Sonntag. 🙂

  456. @Stephan

    »… was heißt “logisch enthalten” … ?«

    Gute Frage. Was will uns der Autor hier sagen (2.5 Fixed):

    Determinism requires a world that (a) has a well-defined state or description, at any given time, and (b) laws of nature that are true at all places and times. If we have all these, then if (a) and (b) together logically entail the state of the world at all other times (or, at least, all times later than that given in (b)), the world is deterministic. Logical entailment, in a sense broad enough to encompass mathematical consequence, is the modality behind the determination in “determinism.”

    Da kann ich nur vermuten, die Forderung nach logical entailment bedeutet dasselbe wie die Forderung, dass bei der zeitlichen Entwicklung der Welt alles mit rechten Dingen zugeht. Also der Ausschluss jeglicher kausaler Ursachen, die nicht auf den Ausgangszustand oder die beteiligten Naturgesetze zurückführbar sind. Das schliesst dann probabilistische Naturgesetze keineswegs aus, also kein Problem hier für Balanus.

    Der “Zufall”, oder genauer das, was wir in der Welt der Phänomene als Zufallsprozesse bezeichnen und was auch in den verlinkten Abschnitten 4 und 5 des SEP-Artikels thematisiert wird, ist durch wahrsch.theoretische Methoden hinreichend erfasst. (Im Zweifelsfall hätten wir mit Josef Honerkamp einen globalen Experten dafür lokal verfügbar, siehe auch [Wie man mit dem Zufall rechnet – Stochastische Prozesse] und [Wie man dem Zufall trotzt – Optimale Voraussagen].) In Hinblick auf die Naturgesetze und deren Rolle in den diversen Spezifikationen für Determinismus ist damit schon alles gesagt, was sich überhaupt sagen lässt. Ob der “Zufall” bei den Zufallsprozessen “echt” oder nur “pseudo” ist, bleibt bedeutungslos für die Art und Weise, wie wir dann damit umgehen. Aber über die epistemische Ebene kommen wir ohenhin nicht hinaus mit empirischen Methoden, der Rest ist Metaphysik.

    Es stimmt natürlich, dass “Zufall” oder “Zufälligkeit” in der W.theorie nicht wirklich definiert werden, sondern es werden dort “Wahrscheinlichkeit” und damit zusammenhängende Begriffe abstrakt formalisiert. “Zufälligkeit” lässt sich zwar informationstheoretisch konzeptualisieren, aber es geht vermutlich zu sehr am Thema vorbei, dies hier weiter auszuwalzen.

    Ein anderer Gedanke wäre noch, Akausalität als “echten Zufall” betrachten zu wollen. Nur, wie könnte empirisch nachgewiesen werden, dass etwas akausal passiert? Man bräuchte dazu wohl die vollständige Beschreibung einer berechenbaren Welt, um mit Sicherheit feststellen zu können, dass etwas Unkalkulierbares passiert ist. Das führt zu nichts, höchstens wieder in die Metaphysik.

  457. @Bananus: Quark#1

    Wenn der Indeterminismus mit jedem (möglichen?) Weltverlauf vereinbar ist, wäre der dann nicht auch inhaltsleer?

    Die Pointe ist dir also entgangen – meine Definition vom 29.07. trifft nämlich genau dann auf eine Welt w zu, wenn in w gilt, dass der Zustand zum Zeitpunkt t und die Naturkräfte den Zustand zum Zeitpunkt t’ eindeutig festlegen.* Dann ist w eine deterministische Welt.

    Wenn dies in w jedoch nicht gilt, also eine Welt w’ möglich ist, die zum Zeitpunkt t mit w in ihrem Zustand und ihren Naturkräften identisch ist, zum Zeitpunkt t’ jedoch unterschiedlich (vgl. Beckermann-D3), dann ist w eine indeterministische Welt.

    *Der Deutlichkeit halber habe ich ein “eindeutig” eingefügt sowie hier von Naturkräften anstatt von Naturgesetzen gesprochen. (Bei allem Naturgesetzfetischismus hat ja keiner von euch bisher plausibel erklärt, was ein Naturgesetz überhaupt ist.)

  458. @Chrys: Quark#2

    Aber über die epistemische Ebene kommen wir ohenhin nicht hinaus mit empirischen Methoden, der Rest ist Metaphysik.

    Ach, was du nicht sagst – warum halten wir dann nicht einfach alle den Mund, und reden nur darüber, wie wir die Welt untersuchen und was wir von ihr wissen können, anstatt hier darüber zu reden, wie die Welt ist – nämlich deterministisch oder indeterministisch?

    Da kann ich nur vermuten…

    Deine Vermutung und die leere Formel von den “rechten Dingen”, auf die sich ein Theologe genauso beruft, kannst du dir hier sparen – denn in dem SEP-Eintrag sind durchaus Diskussionen dieser Aspekte vorhanden; und nicht unentscheidend ist dafür eben, was man mit “Naturgesetz” meint und wie diese den Weltverlauf “festlegen”, Probleme, vor denen du dich ein weiteres Mal drückst (übrigens mit einem argumentum ad auctoritatem; ich diskutiere gerne mit Josef und lese auch manche seiner Beiträge mit großem Interesse, mache mir in philosophischen, epistemischen und metaphysischen Fragen aber meine eigenen Gedanken).

    Gemäß Balanussens eigenem Zitat des Autors schließt dessen Definition übrigens sehr wohl den Banalesischen Pseudodeterminismus aus, das ist dir wohl entgangen.

    Ferner ist mir ein Rätsel, wieso du hier empirische, epistemische und metaphysische Fragen durcheinanderwirfst. Es ist doch längst klar, dass wir höchstwahrscheinlich nie mit letzter Sicherheit entscheiden können, ob diese Welt nun eine deterministische oder eine indeterministische ist. Es ist daher z.B. völlig irrelevant für die Diskussion, wie “empirisch nachgewiesen werden [könnte], dass etwas akausal passiert”.

  459. Moderation: Abschluss der Diskussion

    Der Kommentarzähler dieser Diskussion bewegt sich auf die 500 zu, mit Blick auf grundlegende definitorische Fragen sehe ich jedoch keinen Fortschritt. Darüber hinaus ist die aktuelle Diskussion zum Determinismus vs. Indeterminismus hier off topic.

    Ich habe daher die Kommentarfunktion deaktiviert, biete aber jedem, der hier mitdiskutiert hat, das Veröffentlichen eines letzten Abschlussstatements mit einer Länge von max. 2500 Zeichen an. Dieses kann per E-Mail an stephan at schleim Punkt info geschickt werden.

    P.S. Nachdem mich schon das erste Abschlussstatement erreicht hat, halte ich noch die Ergänzung für sinnvoll, dass ich diese aus Gründen der Fairness alle zusammen veröffentlichen möchte. Ich warte also bis nächsten Sonntag beziehungsweise so lange, bis alle diejenigen, die hier am Ende aktiv waren, mir etwas zugeschickt haben – was von beidem früher eintritt.

  460. Abschlussstatement vom Joker

    Vielen Dank Stephan, für deine Geduld und rege Beteiligung an der Diskussion. Ich hoffe, dass nicht nur wir von deiner Expertise profitiert haben, sondern dass auch etwas für Dich dabei herausgesprungen ist.

    Danke auch dafür, dass Du jetzt – endlich – die Kommentarfunktion deaktiviert hast.

    Begrifflich ist, zumindest aus meiner Sicht, in der Diskussion hier einiges geklärt worden. Das ist doch immerhin ein Teilerfolg, auch wenn wir letztlich nie wissen werden, was die Welt im Innersten zusammenhält, laplacescher Bohmismus, moderner Determinismus oder zufälliger Indeterminismus.

    @Chrys schrieb:

    “Für meinen Geschmack viel zuviel Metaphysik, um jemals zu einer brauchbaren Erkenntnis zu kommen.”

    Metaphysische Erkenntnis, das ist ein Oxymoron. Kenntnis über die Metaphysik im Allgemeinen und deren Begrifflichkeit im Speziellen halte ich allerdings für brauchbar, um einerseits überzogene Behauptungen der Neurodeterministen, andererseits aber auch überzogene Kritik an diesen, leichter erkennen zu können.

  461. Abschlussstatement S. Schleim

    Neurodeterminismus
    In meinem Beitrag „Warum der Neurodeterminist irrt“ vom 14. Juli 2012 ging es um häufige Kurzschlüsse der neurophilosophischen Diskussion. Darin wird nicht nur behauptet, dass das Gehirn alles festlegt, sondern dass der Mensch mit seinem Gehirn identisch ist. Allerdings hat Christian Hoppe zu Recht darauf hingewiesen, dass es hier sowohl um deterministische als auch um reduktionistische Thesen geht. Den Begriff „Neurodeterminismus“ habe ich entsprechend weit gefasst.

    Das Ziel
    Am Ende meines Beitrags machte ich einen eigenen Vorschlag für die wissenschaftliche Untersuchung des neurodeterministischen Paradigmas: Was können wir über zukünftiges Verhalten von Menschen wissen, wenn wir über ein vollständiges Gehirnwissen verfügen? Es ging dabei um die kritische Überprüfung, wie viel Information beispielsweise in der Umwelt, im etwa durch Befragung erhobenen psychischen Zustand der Person oder in Gehirnaktivierungen enthalten ist.

    Die Diskussion
    In der Diskussion haben wir zwar weniger konkrete wissenschaftliche Beispiele diskutiert – wenn der Neurodeterminist recht hätte, müsste es diese wie Sand am Meer geben –, jedoch ein paar lehrreiche theoretische Beispiele. So habe ich etwa zu zeigen versucht, wie das Tanzverhalten nicht nur vom Gehirn, sondern auch entscheidend von der Umwelt (Musik, andere Tänzer, Tanzfläche) und dem Körper (kaputtes Knie?) abhängt, es handelt sich um eine Gehirn x Körper x Umwelt-Interaktion. Ähnlich verhielt es sich mit der Diskussion darüber, wie die Ampel (beziehungsweise die „Lichtzeichenanlage“) das Verhalten von Verkehrsteilnehmern beeinflusst.

    Schlechte Philosophie
    Alle Beispiele für den verhaltensdeterminierenden Einfluss von Umwelt und Körper haben die überzeugten Neurodeterministen in dieser Diskussion aber nicht dazu gebracht, von ihrer Position abzurücken, sondern sich mit ad hoc-Ausflüchten zu verteidigen: Man habe das nie bestritten, der Neurodeterminismus beinhalte diese Beispiele oder „echte“ Kausalität könne es letztlich nur auf der Gehirnebene geben.

    Ähnlich schlecht verlief die Diskussion über Determinismus. Das eigentliche Problem, welche Implikationen es theoretisch hätte, wenn es echten Zufall in der Welt gäbe, also die Welt irreduzibel indeterministisch wäre, wurden wieder mit einer ad hoc-Strategie überpinselt: Wissenschaft habe auch indeterministische Gesetze und „Determinismus“ würde nur bedeuten, dass die Welt sich entsprechend naturwissenschaftlicher Gesetze verhalte. Zufall und Determinismus seien dann also nicht mehr unvereinbar.

    Metaphysische Kurzschlüsse
    Dabei sind einige metaphysische Kurzschlüsse passiert: Erstens befinden wir uns bei der Diskussion um Naturgesetze auf der Ebene, wie die Welt uns erscheint, nicht wie die Welt ist; bei Determinismus vs. Indeterminismus geht es aber darum, wie die Welt ist, eben fundamental deterministisch oder indeterministisch. Zweitens sind die Naturgesetze unsere Konstrukte, die durch unsere Beobachtungen der Naturgeschichte entstehen – zu denken, dass sie über den Weltverlauf wachen („Die Welt geht mit rechten Dingen zu“), stellt daher die Vorgehensweise auf den Kopf. Denn wieso sollte sich die physikalische Welt nach unseren Konstrukten verhalten? (In der Sozialwissenschaft ist das ganz anders, siehe z.B. looping effect).

    Drittens erscheint uns die Welt auf vielen Ebenen indeterministisch – gerade deshalb können wir über viele Einzelfälle keine konkreten (deterministischen) Aussagen treffen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen, die auf der Beobachtung und verallgemeinerung vieler Fälle basieren. Auf dieses Problem hatten die Deterministen hier keine Antwort; wenn wir uns aber damit rühmen, dass wir so wissenschaftlich sind, warum schlucken wir dann nicht auch die Kröte, dass die Welt eben auch so ist, wie sie uns auf so vielen Ebenen erscheint, nämlich indeterministisch. Natürlich können wir das nie letztlich beweisen aber warum betreiben wir sonst Wissenschaft, wenn wir sie sowieso nicht ernst nehmen, wenn sie unseren Vorstellungen widerspricht? Viertens fehlt diesem „neuen“ Deterministen, der (scheinbaren oder echten?) Zufall in seine Position mit aufnimmt dann auch ein konsistentes Gegenkonzept vom Indeterminismus.

    Persönlich
    Die Diskussion, die ich bei Kommentar 466 als Moderator gestoppt habe, wirkte über weite Strecken auf mich wie eine ergotherapeutische Beschäftigungstherapie. Dass fast keiner der „Wissenschaftler“ hier auf meine Einladung eingegangen ist, seine Position/seine Eindrücke noch einmal abschließend zusammenzufassen, ist für mich ein deutlicher Hinweis darauf, wie wenig ernst sie ihre Positionen vertreten.

    Daher will ich hier noch einmal klarstellen, dass ich kein Interesse an hohen Kommentarzählernummern habe, sondern an guten Diskussionen, in denen man seine Begriffe und Argumente reflektiert und nicht permanent durch heimliche Änderungen der Frage oder seines Standpunkts ausweicht.

  462. Wunderbar, Herr Schleim – mit dem Stichwort “Humpty Dumpty” haben Sie in der Tat den Ausgang aus dem (vermeintlichen) Dilemma gefunden, nur leider nicht “genommen”.

    Allein aristotelische Logik und die darauf errichtete stoische Etymologie (das Lehren an sich) ist der in den Naturwissenschaften installierten Nominaldefinition oder “Deutung per Arbitrarität und Konvention” gegenübergestellt.

    Zitat (aus dem Leitartikel): “Wir können die Formulierung so verstehen, dass das Gehirn eine notwendige Voraussetzung für alle Geistestätigkeiten des Menschen ist.”

    Akustisch kann man das so verstehen, aber mental oder im eigentlichen Sinne des Wortes nicht, denn damit wäre das Gehirn seiner Evolution vorangestellt – ein sinnloser (unstatthafter) Zirkelschluß. Das Gehirn ist vielmehr ein Resultat „geistiger“ Tätigkeit, auch wenn das im Hinblick auf den modischen „Kreationismus“ zunächst ebenso albern formuliert erscheint.

    Christian Hoppe hat allerdings auch so einen Faible für die unfreiwillige Formulierung von (elenden) Tautologien, denn etymologisch betrachtet ist “Geistestätigkeit” in etwa so viel wie die Gestikulierung von Gesten. An anderer Stelle habe ich bei ihm schon sowas wie „das tätige (org.: aktive) Sein (orig.: Sinn) des Seins des Seins (orig.: Wesen) des Seins (orig.: Gottes ↔ Theos – agr. Substantivbildung zu thein), blanker Tat (orig.: actus purus)“ gelesen, was nur dann nicht so stark auffällt, wenn man die vier überflüssigen Seine gegen vier mögliche Synynome – oder besser: Nebenformen deutscher Substantivbildungen zum Verbum „sein“ alias „tun“ (hier in Klammern gestellt) ersetzt, wovon einfaches „Sein“ grammatsich noch das ungeschickteste ist (zeihen, sein und tun kommen v. agr.: thein) – ein Überbleibsel aus der Scholastik, deren Redner nicht mehr erkannten, dass dasselbe eigentlich SINN lautet und schon gut 400 Jahre zuvor aus „sein“ (sin / syn) abgeleitet war: SIN(e)N

    https://scilogs.spektrum.de/wirklichkeit/in-wirklichkeit-gehirn-geist-gott/#comment-10040

    Im mutigen (mutmaßlichen) Versuch, aus poetischen Umschreibungen heraus zu erraten, was mit GEIST gemeint sein könnte, sollte man das stattdessen der tatsächlichen Umschreibung entnehmen, bevor schon Spekulationen darüber angestellt werden, worauf „Geistestätigkeit“ beruht.

    Ebenso umschrieben wie umstellt ist jedes Nomen und Verb von seinen Ahnen, Ähnlichen oder Ahnlauten / Verwandten, und im Falle des “Geistes” sind das unter anderem “Gast” (v. lat.: Gaster), “Geste” (Wink / Bewegung), “Gischt” / “Gicht” (i. S. v. Symptom), “Küche” / “Koch” und “Costa” (frz.: cote / dt.: Küste) nebst „Cyste“ (analog: Zitze), Kot, Kotze, Zotte, Ziege, Geiß und Geißel, welchen allesamt der Imperativ (Verb) „zieh“ / „zeig“ (↔ Zeichen / Zug / Zeuge), bzw. „geh“ (geht / gehst) von (idg.:) „kei~“ zugrundeliegt (vergleiche hierzu auch „checken“ u. „chicken“ nebst „schicken“).

    Für den Sinn des Nomens „Geist“ (nebst Gang u. Geschick) ergibt sich daraus lediglich „das Ziehen“ (Gehen) einer in opposition gestellten (ruhenden / residierenden) Materie, also deren Bewegung / Zug / Drift / Regung (↔ recken / reihen) und eben der kann nun nur noch schlecht bis ganz unmöglich etwas vorausgesetzt oder zugrundegelegt werden (von der Kraft mal abgesehen).

    Eine ganz ähnliche Konstruktion steckt hinter dem Synonym (hebr.) „ruach“, dem deutscher „Rauch“, „Regen“, “Reich” und „Reigen“ entspricht, denn diesen liegt das Verb „regen“ / „recken“ / „reichen“ / „richten“ / „ruhen“ (lat.: rego) zugrunde, wennauch vielmehr in der hebräischen Lautvariation.

    Selbiges „Verhalten“ gilt natürlich auch für den Dampf des Ethanols, der darum auch „Weingeist“ genannt worden ist, wähernd der Dampf selbst vielmehr wie Tempel / Tümpel auf (agr.:) „temnein“ (aus~ / abscheren / trennen) als „Abschnitt“ (Separee) zurückgeführt werden kann – verwandt m. breton.: „chamber“ (Kammer / Heim / Kumpel), Camp, Dom, Sumpf und Kampf.

    G, Ch, K, Ck, Ng, S, Sz (ß), Z, Th, D und T sind semantisch nahezu gleichwertige „Allophone“, weshalb sie im gegenseitigen Austauch kaum nennenswerte Auswirkungen auf den eigentlichen Gebrauchwert (Bedeutung) eines Nomens haben. Geist ist daher gerade ebenso viel wie Zug oder Tag / Tagung. Gast steht für Ziehender (Vagabund) und das Casting für Ziehung. Eine Schöpfung in sechs (sieben) Tagen verläuft also in sechs (sieben) Zügen (unbestimmter Dauer, denn wie der Bundestag bezeichnet auch Tag kein Zeitintervall), Siegen oder Sagen – verwandt m. Sache und Suche (vergleiche hierzu auch Tugend, Taucher u. Tochter)

    Fazit: Geist ist gleichbedeutend mit Geste, und die widerum mit (bloßer) Bewegung (Wink v. wanken – vwdt. m. wagen und Woge). Seine „Leistungen“ bestehen also allein darin, ansonsten „tote“ (bloß oszillierende u. deshalb träge) Materie zu „beleben“.

    Es ist allerdings auch in der Scholastik ein Kampf gegen die Deutungshoheit der “Mächtigen” veloren worden (derselbe Verlust, den bereits die athener Akademien unter Kaiser Justinian 529 n. Chr. hinnehmen mußten). Eben deshalb regiert noch immer der auf “Exegese” beruhende und allerhöchst lukrative Ablasshandel die Szene. Wenn Sie versuchen dagegen anzukämpfen, kämpfen Sie gegen den Geldadel und das gesamt Schul~ und Verlagswesen – oder anders gesagt: Dann haben Sie mit Chancen, die gegen Null gehen, Stellung gegen die Magnaten der Propaganda~, Schwer~ und Waffenindustrie bezogen.

    Aber verlassen Sie sich dennoch darauf: Humpty Dumpty wird fallen, wie dereinst die (semantische) Hochstapelei zu Babel – “… and all the kings horses and all the kings men, couldn’t Humpty put together again.”

    Behalten Sie immer im Hinterkopf, dass Nominaldefinitionen nicht VERIFIZIERT werden können, und daher auch nicht die darauf errichteten Aussagen über den (erforschten) Sachverhalt. Naturwissenschaftliche Aussagen sind allesamt FALSCH, nämlich wie schon “A = Nicht-A” oder “A heißt B” nichts wie nur zu falsifizieren. Ganz dementsprechend ist damit auch nichts wie nur “Falschgeld” zu Gewinnen, aber immerhin: Einigen wenigen hilft das (vorübergehend) ganz prächtig.

  463. Ach schade – in der Aufzählung nebst “Kotze”, “Koch” und “Costa” habe ich noch “Kost” wie “lieb-kost” (v. kosen) vergessen.

    Da selbige nämlich mit “Gott” auf ein und dieselbe Lautwurzel zurückgehen, nämlich auf mlat.: cudo / nlat.: causa (vwdt. m. engl.: get / for-gotten u. “keith” / dt.: Kuss) sagt Ihnen der Ausdruck “Geist” auch schon, bei wem oder wo Sie ihn zu verorten haben.

    Auf Synonymen “Spiritus” hätte ich jetzt noch genauso schlüssig (und umfänglich) eingehen können. Aber irgendwo muß man die KETTE (!) eben auch mal abreißen lassen und “einen Punkt machen”.

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