Burqa, Niqab und Shal – Sorge, wenn Frauen das Gesicht verlieren

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Als vor vielen Jahren die ersten “Kopftuchverbote” in Deutschland beschlossen wurden, war ich (auch als Christdemokrat) dagegen: Meines Erachtens gehört es zu den Grundwerten unseres Grundgesetzes und unserer Gesellschaft, dass niemand aufgrund seiner Herkunft oder seines Glaubens diskriminiert werden darf. Einem Rechtsstaat auf Basis der Menschenrechte stünde es daher meines Erachtens zwar frei, generell religiöse Kleidung etwa bei staatlichen Lehrerinnen und Lehrern zu verbieten – aber nicht, dabei Religionen unterschiedlich zu behandeln. Ich kenne als Religionswissenschaftler auch keinen Fall, in dem die dauerhafte Diskriminierung bestimmter Religionen irgendwelche Gräben überwunden hätte – normalerweise hat sie sie verschärft.
In Kenntnis meiner Haltung haben mich nun einige Leute gefragt, was ich denn von der religiösen Gesichtsverschleierung wie der Burqa oder Niqab halten würde.
Und einige sind dann überrascht, wenn ich klar sage – die Gesichtsverschleierung sehe ich mit Sorge – und zwar nicht nur im Islam.
Lassen Sie mich begründen, warum…

1. Dialogerfahrung: Das Gesicht muss man sehen!
In der Debatte um das “Kopftuchverbot” hatte der damalige Ministerpräsident Erwin Teufel m.E. das Richtige gesagt: “Es ist nicht wichtig, was jemand auf dem Kopf trägt, sondern nur, was in diesem Kopf vor sich geht.” Und ich kann nach Jahrzehnten der Dialog-Erfahrung im In- und Ausland sicher sagen: Es gibt auch verbohrte und extreme Menschen ohne Kopfbedeckung (oder ganz ohne Haare, wie z.B. rechte Skinheads) – und es gibt tief in ihrer Religion verwurzelte und zugleich friedfertige, tolerante und dialogoffene Menschen mit Ordenstrachten, Kopftüchern, Kippoth (Mehrzahl von Kippa), Turbanen (z.B. der Sikhs) und Hüten. Hier sehen Sie mich zum Beispiel mit Dr. Tubanur Yesilhark-Özkan, einer Freundin aus Jugendtagen, die sich ebenfalls jahrelang im Dialog zwischen Christen, Muslimen und Juden engagierte, später an der Universität von Durham (UK) über die Theodizee-Frage im Islam promovierte und derzeit an einem neuen Buchprojekt arbeitet. Wer behauptet, alle Frauen mit Kopftuch seien dumm, unterdrückt oder intolerant, kennt Menschen wie Tubanur nicht! Und sie war und ist kein Einzelfall. (Und weil es immer mal wieder gefragt wird: Nein, meine Frau trägt als Muslimin bewusst kein Kopftuch.)

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Eine Freundin & im Dialog engagierte Gelehrte, Dr. Tubanur Yesilhark-Özkan (links) und ich nach einem Vortrag im katholischen Gymnasium St. Agnes in Stuttgart, 2014

Der Unterschied zwischen Kopftuch und Niqab aber ist nach meiner Erfahrung: Wenn man sich gegenseitig nicht “ins Gesicht schauen kann”, ist kein Dialog möglich. Wenn ich in all den Jahren Gelegenheit hatte, mit vollverschleierten Menschen zu reden, entwickelte sich nie ein respektvoller Austausch – die Abgrenzung war viel zu stark. Mit der Gesichtsverschleierung endet das gleichberechtigte Gespräch zwischen Bürgerinnen und Bürgern – und das ist meines Erachtens nach ein unverzichtbarer Bestandteil einer freien und demokratischen Gesellschaft. Nicht “trotz”, sondern “wegen” des Engagements im interkulturellen und interreligiösen Dialog stehe ich der Gesichtsverschleierung ablehnend gegenüber.

Und eine zweite, religionswissenschaftliche Beobachtung kommt hinzu…

2. Der “Shal” im Judentum – Wenn religiöse Gebote eskalieren

Als ich nach dem Buch über die Old Order Amish jenes über die Haredimdas ultraorthodoxe Judentum – schrieb, hatte ich durchaus eine Haltung des Respekts: Schließlich waren es die rabbinisch geprägte Jüdinnen und Juden, die sich gegen die Israel gewalttätig in den Abgrung stürzenden Zeloten gewandt und nach der Zerstörung Jerusalems um 70 n.Chr. konsequent Waffendienst und Nationalismus entsagt hatten. Nicht durch Macht und Schwerter, sondern durch ihre religiösen Traditionen und kinderreichen Familien trugen sie das Judentum – gegen oft entsetzliche Verfolgungen einschließlich der Shoah –  bis in unsere Zeit. Ich finde, jeder und jede an Religion(en) interessierte Mensch sollte die Geschichte dieser religiösen Minderheit kennen!

Die Haredim von Dr. Michael Blume
Credit: www.sciebooks.de Die Haredim von Dr. Michael Blume

Aber bei allem Respekt wollte ich – wie schon bei den Amish – auch die Schattenseiten nicht verschweigen, zu denen selbst verordnete Armut, die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und ein demografisch schnell wachsender, fundamentalistischer Einfluß in der israelischen Politik und Gesellschaft gehört. Besonders bedrückte mich die “Eskalation religiöser Gebote”, die sich dadurch erklärt, dass sich Religionsgemeinschaften ja gegenüber ihrer Umwelt auch abgrenzen müssen, um als Gemeinschaft zu bestehen. Wo aber das Essen bereits koscher war – wurde so noch strengeres “glatt koscher” eingeführt. Wo das Thora-Studium von Männern als wünschenswert galt, wurde es auf Kosten der Frauen, Familien und Gesellschaft immer weiter ausgeweitet. Und wo die traditionelle, jüdische Kleidung “Zurückhaltung” empfahl, tauchten in den letzten Jahren Shalim auf: Ganzkörperverschleierungen für Jüdinnen!

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Eine Jüdin in Jerusalem mit “Shal”, der jüdischen Version der Burqa. Foto: Zivya, 2012

Lassen Sie mich festhalten: Der “Shal” findet im klassischen Judentum genau so wenig eine Begründung wie die “Burqa” im Islam! Und in beiden Religionen lehnen die meisten Gläubigen diese Kleidungsstücke auch als “zu extrem” ab. Zugleich aber sehen wir, dass religiöse Gebote immer weiter eskalieren können, wenn sich innerhalb von religiösen Parallelgesellschaften wiederum kleinere Gruppen weiter radikalisieren. Längst machen sich auch viele meiner jüdischen Freundinnen und Freunde ernste Sorgen über die Entwicklung (oder besser: den Abbau) der israelischen Demokratie. Wenn sich etwas aus dem internationen Vergleich extremistischer Bewegungen lernen lässt, dann dies: Wer sich mit religiösen Fundamentalisten – und seien es Buddhisten! – für politische Zwecke verbündet, läuft Gefahr, die Kontrolle zu verlieren!

Aufruf zum Dialog – jetzt!

Es wird wohl niemanden geben, der mir vorwerfen könnte, ich würde Religion(en) zu negativ sehen – oft wird mir von Religionskritikern eher das Gegenteil vorgehalten. Doch schon vor über 5 Jahren schrieb ich im Fazit meiner ersten Titelgeschichte “Homo religiosus”, dass das enorme Potential von Religiosität auch gefährliche Seiten habe. Zu beobachten sei eben auch, “dass in besonders engen Gemeinschaften nicht nur Vertrauen und Kooperation zunehmen, son­dern genauso die Abgrenzung gegenüber An­dersgläubigen und Atheisten, die Ablehnung von Toleranz und Humor und teilweise sogar die Bereitschaft, eigene Interessen gewaltsam durchzusetzen. Auch extremistische und kriminelle Gemein­schaften nutzen religiöse Lehren und Rituale, um den inneren Zusammenhalt gegen die Au­ßenwelt zu stärken. Bisweilen werden die Un­gleichbehandlung von Frauen und Kindern so­ wie Freiheitsberaubung, Gewalt, Genitalverstüm­melungen und sogar Mord mit dem Hinweis auf religiöse Gebote gerechtfertigt. Und der Repro­duktionserfolg religiöser Gemeinschaften kann in Regionen, die unter Überbevölkerung leiden, die Lebensbedingungen noch verschlimmern. Statt erbitterte, letztlich fruchtlose Diskus­sionen darüber zu führen, ob religiöser Glaube insgesamt eher »gut« oder »schlecht« für die Menschheit ist, sollten wir besser nach den rich­tigen Weichenstellungen fragen, die die posi­tiven Wirkungen von Religionen entfalten und negative Entwicklungen zu überwinden helfen.”

Gerade “weil” ich sehr genau um das positive wie auch negative Potential von Religion(en) weiß, werbe ich seit Jahren dafür, dass die nicht-extremen Menschen aller Religionen und Weltanschauungen sich endlich informieren und das Gespräch miteinander suchen! Ich sehe sonst die konkrete Gefahr, dass unsere freiheitlichen Gesellschaften zwischen intoleranten, kinderarmen “Säkularisten” einerseits und ebenso intoleranten, kinderreichen “religiösen Fundamentalisten” andererseits zerrieben werden. Die “vernünftige Mitte” religiöser und nichtreligiöser Menschen sollte dieser Entwicklung nicht mehr hilflos und schweigend zuschauen, sondern gemeinsam für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte einstehen. Religionsfreiheit ist ein zentrales Menschen- und Freiheitsrecht – und zugleich brauchen wir einen möglichst breiten Konsens darüber, wo sie enden muss. Deswegen sage ich ebenso klar “Nein!” zur Gesichtsverschleierung, wie ich “Ja!” zum Recht sage, eine religiöse Kopfbedeckung zu tragen. Und hoffe – mit wachsender Sorge – dass die Debatten in unserer Gesellschaft, den Medien und Parlamenten endlich differenzierter werden…

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

30 Kommentare

  1. Geht mir genau so. Kopftücher sind ja eigentlich auch bei uns nichts so unbekanntes. Man muss sich nur mal alte Bilder von Landfrauen anschauen oder die Oma befragen. Ich denke aber, dass wir uns schon “ins Gesicht” sehen können müssen. das Gesicht ist für eine persönliche Identifizierung für mich schon recht wichtig. Ohne Gesicht bliebe mir ein Mensch fremd, er verlöre alles, was ihn zum Menschen macht. Ich hege insgeheim auch den verdacht, dass Kleidungsstücke wie Burka etc genau dies bewerkstelligen sollen.

  2. Schon das Kopftuch der Musliminnen signalisiert für mich: “Du darfst dich ihr nicht annähern”. Und genau das ist wohl auch beabsichtigt. Das Verhüllen des Gesichts macht es dann vollkommen klar, dass man mit so einer Person nicht kommunizieren darf.
    Kleider setzen immer auch Zeichen. Der Bonvivant und Künstler trägt keinen Massanzug und eine Frau im sexy-Kleid will wohl, dass man ihre Reize wahrnimmt.
    Das Kopftuch der Bäuerinnen – aus den alten Bildern – oder von Klosterschwestern bedeutet übrigens nicht dasselbe wie das Kopftuch einer Muslimin. Ich glaube das ist im Prinzip jedem klar. Es gibt aber einige, die anders reden um etwas zu verschleiern. Nur ist es diesmal nicht das Gesicht das sie damit verschleiern wollen.

    • Sicher, @Martin Holzherr, jede Kleidung sagt etwas aus. Und so müssen wir m.E. in einer freien Gesellschaft auch damit leben, dass eine Nonne oder Muslimin mit Kopftuch signalisiert: “Bin nicht zu haben.” Starke Männer ertragen das, oder? 😉 (Zumal ein Ehering eigentlich das gleiche aussagen sollte, nicht wahr?)

      In keiner menschlichen Gesellschaft sind jedoch Kleiderregeln völlig inexistent: völlige Nacktheit in der Öffentlichkeit wird z.B. bei uns in Deutschland jetzt schon gesetzlich geahndet. Ebenso muss man m.E. keine Komplettverhüllung dulden. Ich bin für viel Freiheit, aber eben nicht für Grenzenlosigkeit.

      • Ich behaupte: Einen punktuellen Verstoss gegen die “richtige” Kleidung, ein paar Ausgeflippte, Hippies, Snobs oder Verschleierte kann unsere Gesellschaft gut verkraften, weil wir damit rechnen, dass einige aus dem Rahmen fallen. Wenn aber eine ganze Gruppe einen anderen Code pflegt und teilweise das Strassenbild bestimmt, dann führt das fast automatisch zu einer Segregation wozu dann ganz andere Lebensläufe gehören, womöglich auch andere Wohnorte in anderen Stadtvierteln, andere Freizeitaktivitäten und so weiter. Das entspricht übrigens weitgehend der deutschen Realität, wo ganze Stadtviertel vorwiegend von Muslimen bewohnt sind – wobei es in den USA nicht anders ist und auch noch andere Bevölkerungsgruppen umfasst. Extrema wie die französischen Banlieues werden dann allerdings wohl von allen als negativ empfunden, sowohl von den Banlieue-Bewohnern selbst als auch von den andern.

        • @Martin Holzherr

          Nun, auch jetzt schon verfolgt das Gesetz durchaus z.B. einzelne Exhibitionisten.

          Aber klar – Parallelgesellschaften entwickeln stets eigene Dresscodes – nicht nur die französischen Banlieues, sondern auch die Villenviertel.

          Und interessant ist doch, dass im oben gezeigten Mea Sharim (Video) die Haredim nicht etwa nur Toleranz für ihre Kleidung erwarten, sondern umgekehrt vorschreiben, wie sich Besucher und vor allem Besucherinnen in “ihrem” Viertel zu kleiden haben!

  3. Wenn man sich gegenseitig nicht “ins Gesicht schauen kann”, ist kein Dialog möglich. Wenn ich in all den Jahren Gelegenheit hatte, mit vollverschleierten Menschen zu reden, entwickelte sich nie ein respektvoller Austausch – die Abgrenzung war viel zu stark.

    Zumindest kann der Dialog “face2face” dann nicht respektvoll angelegt sein, u.a. auch deswegen, weil nicht klar ist mit wem gesprochen wird, vgl. :
    -> http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_types_of_sartorial_hijab
    -> http://en.wikipedia.org/wiki/Haredi_burqa_sect

    Allerdings ist ‘respektvoller’ Dialog mit radikalen religiösen Kräften, die bei den nicht ihrerart Gläubigen grundsätzliche Minderwertigkeit sehen, beispielsweise “ungläubigen” Frauen nicht die Hand geben oder “Ungläubige” als Kāfir bezeichnen, ohnehin nicht möglich.
    Insofern macht die Ganzverschleierung den Braten nicht mehr fett…

    MFG
    Dr. W (der insofern, auf die im Artikel behandelten radikalen religiösen Kräfte bezogen, zum strikten Containment raten würde)

  4. Heute sind verschleierte Frauen in Aegypten die Regel, noch vor 30 Jahren waren sie die Ausnahme.
    Verschleierung ist Teil der Geschlechtertrennung. Dazu gehört auch dass Frauen nicht mit Männern zusammen speisen. Hier in Europa gab es auch Relikte von Geschlechtertrennung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beispielsweise geschlechtergetrennte Schulen. Bis dann der Gleichberechtigungsgedanke immer stärkeren Einfluss gewann. Eine Tendenz die heute noch anhält.
    Die ganze arabische und islamische Welt ging und geht genau den umgekehrten Weg. Mehr Geschlechtertrennung als früher. Vielen hier im Westen ist das zuwenig bewusst. Sie meinen es sei schon immer so gewesen in den islamsichen Ländern. Doch das stimmt überhaupt nicht. Der Islam in der strengen, wahabitischen, salafistischen Form hat immer mehr an Einfluss gewonnen im islamischen Raum. In Pakistan beispielsweise gab es früher auch einen bedeutende sufistische Strömung. Doch Vertreter des Sufismus wurden immer mehr angefeindet, zum Teil auch schlicht umgebracht.

    Wenn das Thema hier im Blog nun die Totalverschleierung ist, dann eben darum, weil die Tendenz im islamischen Raum zur Totalverschleierung geht.

    • @ Herr Holzherr :
      Es ist schon so, dass im islamisch beherrschten Gebiet jahrhundertelang die Geschlechtertrennung und die in diesem Zusammenhang zu sehende Verschleierung Usus war; es gab dann Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts “reaktionäre” Bewegung im islamischen Raum, beispielsweise durch ägyptische, syrische, türkische & iranische Potentaten, wie u.a. hier bebildert:
      -> https://www.youtube.com/watch?v=oij99bDBoOY [1]

      Köstlich oder “köstlich” waren dann die um Rückkehr in den Islam bemühten Bewegungen, der bekannte Ayatollah wäre hier vielleicht zuerst zu nennen, der von einem Pariser Balkon aus und mit Unterstützung der französischen wie der amerikanischen Regierung (“Jimmy Carter”) die Renaissance einleitete.
      Auch die Beispringer [2] des sogenannten Arabischen Frühlings sind hier zu beachten, bspw. die Kairoer Rede eines amerikanischen Präsidenten und andere Maßnahme “westlicherseits” [3], die Mubarak, Ben Ali u.a. diskreditierten und unberechtigterweise auf Besseres hofften.
      Dabei auch militärisch einwirkten.

      MFG
      Dr. W

      [1] aus der Türkei und aus Syrien, wie aus anderen diesbezüglich gemeinten Ländern ließe sich ähnliche Visualisierung herbeischaffen
      [2] die amerikanische Regierung unter Obama gilt auch heute noch als freundlich zur sogenannten Moslembruderschaft
      [3] der sogenannte Westen meint, wie immer, diejenigen Systeme, die gesellschaftlich den Ideen und Werten der Aufklärung folgend implementieren konnten

      • Zustimmung: Der islamische Raum ist im 20. Jahrhundert mit der westlichen Kultur mitgeschwommen bis es dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts zur Reaktion, zur Restauration kam. Diese hält bis heute an und hat an Härte sogar zugenommen.

        • Wohlgemerkt:
          Mit Unterstützung aus dem “Westen”.

          Insofern ist der Schreiber dieser Zeilen nur erfreut, wenn sich auch diesbezüglich eher apologetische Kräfte gegen bestimmte Maßgabe und folgende Maßnahme aussprechen oder in diesem Fall: ausschreiben.

          Schwierig, also schwierig wie die einschlägige Gemengelage insgesamt zu betrachten ist; sie könnte gefährlich sein.

          MFG
          Dr. W

          • @Webbaer & @M. Holzherr

            Die Sehnsucht nach einfachen Weltbildern (a la Islam & Obama-USA = böse, Weiße & säkulare Diktatoren = gut) kann ich wohl verstehen, teile sie aber nicht.

            Womöglich ist es Ihnen entgangen, aber gerade auch Saudi-Arabien und andere Theokratien unterstützen das ägyptisch-nationalistische Militär, um jede islamisch-demokratische Alternative im arabischen Raum auszuschalten – müssten sie doch sonst die Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerungen fürchten!

            “Allerdings ist die Jagd auf die Muslimbrüder genau das, was Al-Sissis Geldgeber von ihm erwarten. Die reichen Golfstaaten haben in Ägypten schon länger ihren eigenen Machtkampf ausgetragen. Katar wollte nach dem Arabischen Frühling über die Muslimbruderschaften seinen regionalen Einfluss vergrößern und bezuschusste den Haushalt der Mursi-Regierung. Für Saudi-Arabien und die anderen Golfstaaten wiederum bedrohten demokratisch gewählte Islamisten ihre eigene Machtbasis. Diesen Kampf haben die Mursi-Gegner dank Unterstützung des Militärs und der Unternehmerelite nun im Sinne von Riad entschieden.”
            http://www.zeit.de/2014/24/aegypten-abdel-fatah-al-sisi-wahl/seite-3

            Der Weg zur Demokratie ist schwer und voller Rückschläge – auch ein Blick auf die deutsche Geschichte bestätigt das. Aber wenn Sie den obigen Blogpost aufmerksam gelesen haben, werden Sie feststellen, dass ich weiterhin sowohl säkulare wie religiöse Extremismen ablehne und dafür plädiere, beide in die Schranken zu weisen. Und ich traue den Ideen der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit weiterhin zu, sich gegen autoritäre Regime und deren sinistere Allianzen durchzusetzen.

            Also, lieber @Webbaer, lieber @M. Holzherr: Lassen Sie sich durch Ihre einfachen Feindbilder nicht zum Büttel z.B. Saudi-Arabiens machen. Wagen Sie lieber einen zweiten, dritten, differenzierten Blick.

          • Der islamische Raum == 1.6 Miliarden Menschen, Israel == 8 Millionen Menschen. Ob es Israel in 30 Jahren noch gibt ist nicht einmal sicher. Sicher ist nur, dass auch der Westen in 30 Jahren immer noch mit dem Islam konfrontiert ist.
            Eine selektive Betrachtungsweise scheint deshalb gerechtfertigt.

          • @Martin Holzherr

            Wenn eine “selektive Betrachtungsweise” dazu führt, die Vergleichbarkeit religiöser Radikalisierungsprozesse zu übersehen, weil es bequemer ist, “den Islam” oder “das Judentum” zu verachten – dann ist das nicht “gerechtfertigt”, sondern leichtfertig.

            Es sollte uns weder egal sein, ob sich in der islamischen Welt – wie zuletzt z.B. in Indonesien – demokratische Prozesse durchsetzen, noch, “ob es Israel in 30 Jahren noch gibt”. Aus Sofa-Zynismus erwächst keine gute Zukunft…

          • Verschleierung ist mehr als nur eine religiöse Frage, es ist vor allem eine gesellschaftliche Frage. Die israelischen Frauen, die sich extrem verschleiern gehören wohl nicht zum Kern der israelischen Gesellschaft. Doch auch im islamischen Raum kann ich mir schwer vorstellen, dass sich extreme Formen in der Mitte der Gesellschaft sehr lang halten.

  5. @Webbaer

    “Insofern macht die Ganzverschleierung den Braten nicht mehr fett…”

    Doch, doch, sie macht den Braten fetter, den sie ist eine gesellschaftliche Demonstration, mit der unter Einklagungen von individuellen, religiösen Rechten anfangs subtiler, dann deutlicher sozialer Druck auf die liberaleren Glaubensschwestern ausgeübt werden soll. Es handelt sich um eine scheibchenweise Verschiebung von Normen, Salamitaktik.

    Die muslimisch-arabische Welt steht seit langem vor dem Dilemma, keine politischen Alternativen zu säkularen Diktatoren oder religiösen Fundamentalisten zu finden. Unterstützt der Westen die “pflegeleichteren” Diktatoren, prolongieren sie den stagnierenden Ausbeuterstatus dieser Systeme, die Ruhe mit Gewalt erzwingen, was die einfacher gestrickte Bevölkerung in die Arme der religiösen und Fundamentalisten treibt. Bei freien Wahlen wählt das Volk aus Protest oder Leichtgläubigkeit dann die Fundamentalisten, die dann kompromisslos nur ihre eigenen Interessen und ideologischen Ziel verfolgen.

    • Auf den Punkt gebracht: Es fehlt die Zivilgesellschaft in der muslimisch-arabischen Welt.

      Wobei die Ingredienzen einer Zivilgesellschaft im Vermächtnis der islamischen Kultur durchaus auszumachen sind: die Idee der Ummah ist uralt, die Idee von “checks und balances” zwischen Staat und Gesellschaft, die gibt es auch in der Geschichte der islamischen Staatenwelt, die Rolle der Ulama (Religionsgelehrte), die Institution der Hisba (öffentliche Berufungsgerichte wie sie in Ägypten bis in die 1990er Jahre allen Bürgern offen standen), die Sufi-Bruderschaften und die Institution der Waqf. Auch Usanzen wie Philantropie (Wohltätigkeit, Versorgung von Familie und Nachbarschaft, Mitgefühl für Arme und Benachteiligte ) waren und sind in viele muslimischen Gesellschaften fest verankert und können als Elemente einer Zivilgesellschaft gesehen werden. Doch die islamische Zivilgesellschaft vermag sich dennoch nicht über die Autokraten hinwegzusetzen. Keines der 23 Länder der arabischen Liga ist eine Demokratie – nicht einmal ein lupenreiner, geschweige denn ein richtiger Demokrat ist unter den Herrschern der arabischen Welt.

      • Arabisch = Islamisch?

        Lieber @Martin Holzherr, warum haben Sie zwischendurch die Bezugsgröße von Islam auf “arabische Gesellschaften” umgestellt? Weder sind alle Araber Muslime, noch alle Muslime Araber – im Gegenteil, die meisten sind es nicht.

        Abgesehen von Tunesien (arabisch, mehrheitlich islamisch und dennoch gerade zur Demokratie geworden) hat auch die größte, islamisch geprägte Nation der Erde gerade eine demokratische Präsidentenwahl hinter sich: Indonesien.
        http://www.jesus.ch/magazin/international/asien/265261-neuer_praesident_indonesiens_zu_christen_gott_segne_euch.html
        Wie bereits geschrieben, haben die Regime der arabischen Ölstaaten wie Saudi-Arabien alles Interesse daran, islamisch geprägte Demokratien in ihrem Umfeld zu unterbinden und zu behaupten, Islam und Demokratie wären unvereinbar.

        Wir – Nichtmuslime wie Muslime – sollten diesen Behauptungen nicht auf den Leim gehen, sondern eher engagierter und mutiger als bisher Demokratiebewegungen unterstützen und islamisch-demokratische Staaten wie Tunesien und Indonesien aufwerten & bekannt machen.

        • Mein Kommentar war eine Antwort und eine Ergänzung von Paul Stefans Kommentar. Ich habe seinen Satz: “Die muslimisch-arabische Welt steht seit langem vor dem Dilemma, keine politischen Alternativen zu säkularen Diktatoren oder religiösen Fundamentalisten zu finden. “ aufgegriffen.
          Der Ursprung des Islams und auch viele der erwähnten Elemente einer hypothetischen islamischen Zivilgesellschaft haben in Arabien ihren Ursprung.

    • @ Herr Stefan :
      Über den “Fettgehalt” lässt sich trefflichst streiten, wann was genau besonders “fett” ist, der Schreiber dieser Zeilen verspürt hierzu keinen besonderen Drang zur Debatte.

      Die muslimisch-arabische Welt steht seit langem vor dem Dilemma, keine politischen Alternativen zu säkularen Diktatoren oder religiösen Fundamentalisten zu finden.

      Was ist hier I.E. dilemmatisch?

      MFG
      Dr. W

      • Die muslimisch-arabische Welt steht zwischen der Sylla säkulare Diktatur und der Charybdis religöser Fundamentalismus
        wollte Paul Stefan wohl sagen mit dem Satz

        Die muslimisch-arabische Welt steht seit langem vor dem Dilemma, keine politischen Alternativen zu säkularen Diktatoren oder religiösen Fundamentalisten zu finden.

        • @ Herr Holzherr :
          Die Diktatur der gemeinten Art wäre im direkten Sinne keine ‘säkulare’, sondern nur im übetragenden Sinne insofern, als dass sich Skylla & Charydbis nur auf besondere Art und Weise reglementiert austoben könnten.
          Schwierig, hier humorfrei und sachnah weiter ins Detail zu gehen, eine Art von Dilemma scheint aber nicht vorzuliegen,
          MFG
          Dr. W

  6. In Dubai scheint das in diesen Tagen unversehens zu einem drängenden Polizei-Problem geworden zu sein: http://www.rundschau-online.de/aus-aller-welt/erzieherin-erstochen-schleier-debatte-nach-mord-an-amerikanerin,15184900,29247230.html
    Und jetzt (?) hört man dort gewichtige Stimmen gegen die Vollverschleierung.

    In diesem Fall spitzt sich das Problem sehr zu. Aber auch allgemein wird man doch sagen dürfen: Wenn man Menschen ernst nehmen will, muss man auch wissen, miit wem man es zu tun hat. Vollverschleierung macht nur Sinn für Personen, die ohne Begleitung nicht in die Öffentlichkeit gehen – wollen oder sollen oder dürfen…

  7. Mit der Metapher von Skylla und Charybdis liegt Herr Holzherr auch richtig. Säkulare Diktatur oder religiöser Fundamentalismus sind Attraktoren, zwischen denen die kleine Gruppe der Demokraten aufgerieben wird. Bei den seltenen echten Wahlen kommt es dann zum Dilemma, das z.B. in einer Stichwahl nur noch ein Vertreter der alten Diktatur oder des neuen Fundamentalismus zur Verfügung steht. Da haben reformorientierte, aufgeklärte Demokraten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ähnlich ist es in Syrien. Weil die USA oder der Westen nicht (wesentlich) eingreift (weil die präferierte Gruppe zu klein und zu unscharf ist und man vielleicht keinen Streit mit Russland wollte), wenden sich Aufständische im Kampf gegen Assad teilweise den Radikalen zu. Assad wartet nun nur darauf, dass der Westen ihn um Hilfe gegen den IS bittet.
    Was in diesen Staaten fehlt, ist eine ausreichend verbreitete Mentalität, die sich für den Staat und die Gesellschaft verantwortlich fühlt, jenseits von Parolen über den Ruhm der Blablabla-Nation oder von Sonntagsreden. Zudem ist die eigenstaatliche Identität in Syrien, Irak, Jordanien und eventuell Jordanien nicht so klar ausgeprägt, da schwirrt noch immer der säkulare Panarabismus oder das Kalifat mit im Raum. Ich denke nicht, dass das nur daran liegt, dass die Grenzen von Kolonialmächte gezogen wurden, hätte man andere gezogen, gäbe es anderen Streit, hätten es die regionalen Mächte ausgefochten, wäre es wohl auch im Krieg geendet.

    • Webbaer meinte wohl, dass die Autokraten in den arabischen Staaten eben keine säkularen Diktatoren sind, weil in diesen Staaten der Führer gar nicht säkular sein kann. Sogar Iraks Saddam Hussein bekannte sich zum Islam und wollte bis zu einem gewissen Grad sowohl geistlicher als auch weltlicher Führer sein – so wie das im islamischen Raum erwartet wird.

      Das könnte sogar das echte Dilemma sein, in dem sich die Muslime befinden: Eine funktionierenden und prosperierenden, einen gerechten Staat können sie nur erreichen wenn sie von Grundideen des Islams Abschied nehmen und statt dessen das Prinzip implementieren, das Montesqieu vor 350 Jahren gefordert hat: Die Gewaltentrennung. Anfangen müssten sie mit der Trennung von Religion und Staat.

      Vielleicht ist die Idee des Gottesstaates oder nur schon die Idee des sowohl staatlichen als auch religiösen Führertums an und für sich zum Scheitern verurteilt.

  8. Mubarak, Assad, Saddam Hussein, Nasser: das waren alles keine Kalifen oder Stellvertreter Gottes oder geistliche Führer wie im Iran. Dass es einer religions- und gesellschaftskritischen Aufklärung bedarf, steht außer Frage.
    Wo endet die direkte und beginnt die übertragene Bedeutung von “säkular”? Deutschland hat keine strikte Trennung von Kirche und Staat, die Türkei (bislang?) formal schon, die USA auch, aber dort geriert sich jeder Politiker als Gläubiger.

    Ist “laizistisch” vielleicht ein besserer Begriff?

    • Stimmt Mubarak, Assad, Hussein, Nasser passen nicht besonders zum Islam. Nach Thomas L. Friedman (NYT) beziehen diese Autokraten ihre Legitimation durch die Notwendigkeit verfeindete Volksgruppen im Zaum zu halten. Das Paradoxe ist nämlich: In vielen arabischen Ländern gibt es sehr unterschiedliche Volksgruppen, Sunniten neben Schiiten, Sufisten, Drusen, Berber. Kopten, Alawiten, und heute auch Salafisten/Fundamentalisten. Aber diese Gruppen sind sich oft spinnefeind. Sie bekämpfen sich gegenseitig und ein Autokrat “muss” sie im Zaune halten. Aus unserer Sicht wäre ein friedliches Zusammenleben, ein gelebter Pluralismus die Lösung. Doch davon ist die Region weit entfernt.

  9. Man kann es vielleicht auch so sagen: Die Emanzipation der Frau wäre die vielleicht wichtigste Grundlage für den gesellschaftlichen Fortschritt in der islamisch-arabischen Welt.

  10. Ich möchte mich für eine tollerante Gesellschaft einsetzten. Muslime sind mir willkommen, Buddhisten und Juden, sofern sie den Respekt gegenüber andersdenkenden praktizieren.
    Wenn das Kopftuch bedeutet, dass ich diese Frau nicht ansprechen darf, sehe ich die Dialogbereitschaft und den Respekt verletzt. Ein Kopftuch kann das bedeuten muss es aber nicht.
    Sofern das Gesicht ebenfalls verschleiert wird, sehe ich dies als tiefe Ablehnung meiner Lebensweise und Abbruch der Dialogbereitschaft.
    Religionen sehe ich als Bereicherung, Intolleranz jedoch nicht.
    Der muslimische Antisemitismus scheint mir sehr weit verbreitet zu sein. Gerade Muslime sollen sich gegen Intolleranz und Bestialität in ihren eigenen “Reihen” mehr zur wehr setzen.
    Als Deutscher und Wissenschaftler bin ich besonders gefragt Intolleranz unter Wissenschaftlern zu kritisieren und zu einem Perspektivwechsel anzuregen. Ebenso erwarte ich dies von meinen muslimischen Freunden, dass sie im Islam für Tolleranz und Dialog eintreten.

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