Der Alevismus in Deutschland

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Vor Kurzem hatte ich auf diesem Blog über die Anthroposophie berichtet, die in meiner Heimatstadt Filderstadt schon lange etabliert ist, christliche und nichtchristliche Traditionen verbunden hat und u.a. ein eigenständiges Gottesbild und den Glauben an Reinkarnationen (Wiedergeburt) vertritt. Wussten Sie, dass sich auch aus dem Islam heraus Traditionen entwickelt haben, die vergleichbare Lehren vertreten? Da just heute – zum (auch) alevitischen Nouruz-(Neujahr)-Fest – in Filderstadt die Einführung von alevitischem Religionsunterricht an zwei Grundschulen gefeiert wurde, ist das eine gute Gelegenheit, auf eine religiöse Minderheit in unserer Mitte hinzuweisen.

Was ist Alevismus?

Religionswissenschaftlich gesprochen handelt es sich beim Alevismus um eine synkretistische (verschiedene Traditionen vermischende) Glaubenstradition, die islamisch-schiitische, sufische (islamisch-mystische), aber auch vorislamische (christliche, jüdische, ggf. auch zoroastrische, manichäische und naturreligiöse) Aspekte aufgenommen und sich vor allem im Süden der heutigen Türkei entwickelt hat. Es gibt Aleviten türkischer, kurdischer und arabischer Herkunft und durchaus auch regionale Unterschiede. Viele Aleviten empfinden sich als Konfession innerhalb des Islam, andere halten den Alevismus für eine nur kulturelle (nicht aber religiös relevante) Überlieferung, ein wachsender Anteil versteht sich jedoch als Anhänger einer eigenständigen Religionsgemeinschaft. Als Unterschiede zu sunnitischen und schiitischen Traditionen werden u.a. von Aleviten 

* ein unterschiedliches Gottesbild

* die Bevorzugung mündlicher, musikalischer und mystischer Traditionen vor den Heiligen Schriften wie dem Koran (ein häufiger Merksatz dazu: "Das wichtigste Buch ist der Mensch.")

* die Gleichberechtigung von Mann und Frau (auch) im Ritual

* der Glaube an Wiedergeburten und die Göttlichkeit Alis (der oft auch als Wiedergeburt Jesu verstanden wird)

* die Versammlung in Cem-Häusern statt in Moscheen

* sowie unterschiedliche Speise-, Gebets- und Fastengebote betont.

Die Selbstbezeichnung der Aleviten geht auf Ali ibn Abu Talib, den Cousin, lebenslangen Verbündeten und Schwiegersohn des Propheten des Islam, Muhammed, zurück. Nach dem Tode des Propheten betrachtete eine Fraktion Ali als dessen rechtmäßigen Nachfolger und entwickelte sich zur Schiat Ali (etwa "Partei Alis"). Nach drei anderen Kalifen wurde Ali schließlich auch zum vierten Kalifen gewählt, jedoch kurz darauf und im Alter von 63 Jahren von einem Radikalen während des Gebetes ermordet. Mit ihm endete auch die junge Tradition der Kalifenwahl, fortan entschied vor allem das Schwert und besonders der Tod seiner Söhne Hassan und Hussein durch Truppen der Herrschenden spielt in der Erinnerung schiitischer und alevitischer Menschen eine große Rolle. Die Zwölfer-Schia und der Alevismus erkennen zwölf rechtmäßige Imame (eigentlich Vorbetende, hier jedoch auch religiöse Anführer) an, die je Verfolgung erlitten hatten. Häufig wird das Verschwinden des zwölften Imams als Entrückung verstanden und dessen Wiederkehr erhofft.

Das Bild zeigt ein Armband Filderstädter Aleviten (blau für Jungen, pink für Mädchen), auf dem Porträts der zwölf Imame dargestellt sind. Der entrückte – und erhoffte – Imam wird verschwommen dargestellt.

Inwiefern der Alevismus religionsgeschichtlich direkt an die schiitische Tradition anknüpft, ist unklar – noch immer ist die Geschichte der Tradition kaum wissenschaftlich erforscht. Neben Vorbehalten türkischer Stellen spielt dabei auch eine große Rolle, dass alevitische Lehren lange vorwiegend mündlich über heilige Familien (Dedes (m.) und Annas (w.)) weitergegeben wurden. Auch Dichter und Sänger sowie Sufiorden (v.a. der Bektaschiten) spielten eine enorme Rolle und statt der Anbetung in Moscheen entwickelten sich Traditionen der Gebetshäuser (Cem Evleri), in denen auch rituelle Tänze vollzogen wurden. Von der islamisch-sunnitischen Orthodoxie des Osmanischen Reiches wurden Aleviten immer wieder als Häretiker verfolgt und auch Schiiten warfen ihnen die Abwendung vom Islam vor. Lange Zeit überlebte der Alevismus vor allem in eigenen Dörfern und Städten und es entwickelten sich Traditionen der gegenseitigen Abgrenzung: So wurden Mischehen zwischen Sunniten und Aleviten lange abgelehnt, auch war es kaum möglich, zum Alevismus zu konvertieren. Die Modernisierung des späten osmanischen Reiches und dann der Türkei löste jedoch die Dorfstrukturen auf, auch Aleviten zogen nun in größerer Zahl in die Städte und suchten nach neuen Gemeinschaftsformen.

Zwischen 20 und 30 Prozent der Türken heute weisen einen alevitischen Hintergrund auf, wobei sich nur ein Teil davon aktiv zum Alevismus bekannt. Denn der kemalistisch-türkische Staat bot Aleviten Bürgerrechte und Aufstiegsmöglichkeiten, wenn sie dafür – wie andere Minderheiten auch – auf eine eigene Gemeinschaftsidentität verzichteten. Bis heute werden Aleviten in der Türkei nicht als eigenständige Konfession anerkannt, müssen (wie auch alle anderen, z.B. christlichen, Türken) am staatlich-sunnitischen Religionsunterricht teilnehmen und mit ihren Steuern die staatliche Religionsbehörde Diyanet mitfinanzieren, deren Imame den sunnitischen Glauben auch in alevitische Regionen tragen. Gleichzeitig werfen ihnen Sunniten vor, dass sich viele Aleviten als Militärs, Richter, Politiker, Journalisten, Wissenschaftler u.ä. an Reppressionen im Namen des Kemalismus beteiligt hätten. Von nationalistischer Seite wurden die alevitisch-sunnitischen Konflikte bisweilen auch geschürt, um die demokratische Entwicklung der Türkei zu behindern.

Aufgeladene Konflikte und gegenseitiges Mißtrauen eskalierten schließlich im Massaker von Sivas vom 2. Juli 1993, in dem ein nationalistisch-islamistischer Mob eine Zusammenkunft mit alevitischen und sunnitischen Intellektuellen attackierte und – bei weitgehender Passivität von Polizei und Feuerwehr – ein Feuer legte, in dem 37 Teilnehmer umkamen. Empört begannen sich nun auch in Deutschland Aleviten zunehmend zu organisieren und aus alevitischen Kulturgemeinden entwickelte sich zunehmend eine Religionsgemeinschaft nach deutschem Recht. Sunnitisch-alevitische Dialoge und Gespräche alevitischer Verbände mit türkischen Parteien und Regierungen fanden und finden statt, allerdings gibt es auf allen Seiten noch immer viel Mißtrauen und gegenseitige Verschwörungstheorien. Umso bewundernswerter ist das Engagement derjenigen, die sich unbeachtet von Anfeindungen um Brückenbau bemühen. Ein Weltspiegel-Beitrag von vor zwei Jahren stellt die Aleviten im Kontext der Türkei vor.

Der Alevismus in Deutschland

Während die Möglichkeiten der Aleviten in der Türkei zur religiösen Selbstorganisation noch immer staatlich eingeschränkt ist, fanden die Zuwanderer in Deutschland ein höheres Maß an Religionsfreiheit vor. Während sich die erste Generation von alevitischen Zuwanderern noch vor allem an türkisch-kurdischer Kultur und Politik orientierte, begannen deren Kinder und Enkel den Alevismus zunehmend als Religionsgemeinschaft nachzufragen und zu entwickeln. Viele begannen, sich in Elternbeiräten, Vereinen und deutschen Parteien zu engagieren. Zwar gab und gibt es innerhalb der Aleviten noch immer tiefe Differenzen und oft erbitterte Debatten über Selbstverständnis und Ausrichtung, aber die Einführung auch alevitischen Religionsunterrichtes entspricht nicht nur einem weit verbreiteten Wunsch für die Türkei, sondern bewegt die Gemeinschaft auch inhaltlich: Nun müssen Mitglieder- und Anmeldelisten geführt, Lehren verschriftet und systematisiert, Lehrpläne und Ausbildungsgänge erstellt und schließlich die eigene Identität und Geschichte reflektiert werden. Auf der Basis eines neuen Selbstverständnisses nehmen Aleviten auch den Dialog mit der Wissenschaft, anderen islamischen Gemeinschaften, den Kirchen und der Öffentlichkeit auf.

Deutschland und seine Nachbarländer Österreich und die Schweiz mit je großen, türkischstämmigen Minderheiten sind auf dem Weg, zu Ländern zu werden, in denen sich Christen, Juden, Sunniten, Aleviten, Anders- und Nichtglaubende zunehmend kennenlernen und gemeinsam für Religionsfreiheit einsetzen – und diese im Alltag auch leben. Längst brauchen Sie für religiöse Vielfalt nicht mehr in die Ferne reisen. Sie ist längst hier angekommen, zum Beispiel in Filderstadt. Zwar steht der Dialog der Religionen noch immer am Anfang, bleiben Leid, Ängste und Vorurteile auf allen Seiten zu überwinden – aber die Begegnungen und Dialoge nehmen langsam Fahrt auf. Wo Freiheit ist, wächst religiöse Vielfalt.

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

2 Kommentare

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