Die Stasi gegen eine junge Alleinerziehende – “Verlangen nach Leben” von Petra Stark

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Eigentlich hatte ich mir als Weihnachtsempfehlung für dieses Jahr “Ungläubiges Staunen” von Navid Kermani vorgenommen, dessen Betrachtungen christlicher Kunst tatsächlich beeindrucken und bewegen. Doch dann “packte” und überraschte mich ein kleines Buch, das ich einmal nebenher von einem Gutschein bezogen hatte, das nicht von einer berühmten Autorin stammt (noch! – denn sie hat das Zeug dazu!) und auf keiner Bestsellerliste zu finden ist (aber genau dorthin gehört!). Innerhalb weniger atemloser Lesestunden zwischen Schmunzeln und Schock, zwischen Erinnerungen und neuen Informationen wurde es zu meinem “Buch des Jahres” 2015:

“Verlangen nach Leben. Eine junge Frau im Visier der Staatssicherheit” von Petra Stark, eva Leipzig 2013, EUR 12.80.

PetraStarkVerlangennachLebenStasi

Vom Wert der Freiheit

Die Autorin – damals noch Petra Hess – erzählt ihre Lebensgeschichte als lebenslustige Alleinerziehende in der DDR ab den 1970er Jahren. Mit Sprachwitz entführt sie in den Alltag des real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden und die vielen kleinen Genüsse darin. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie sich für ihr Aussehen, Männer und gerne auch flüchtige Affären weit mehr als für Politik interessierte und dass sie eben gerade nicht wegen “staatsfeindlicher Umtriebe” ins Visier der Stasi geriet, sondern aufgrund ihrer Liebschaften.

Erst Jahrzehnte später – bei der Durchsicht ihrer Stasi-Akten – wurde ihr deutlich, wie sie sich damit bereits im Netz des wuchernden Staatsapparates verfangen hatte, der sie durch Manipulation, Lohn und Strafe zunächst benutzte und dann verwarf. Kleinbürgerliche Doppelmoral und eiskalter Zynismus werden dabei als “sozialistische Moral” verbrämt und es fehlt an jeder Rechtsstaatlichkeit, die die Übergriffe der Kader in das Leben der jungen Mutter bremsen würde.

Als sich Petra Hess schließlich der weiteren Unterwerfung verweigert und einen Ausreiseantrag stellt, landet sie als “Politische” (!) im Gefängnis – und bis in die Sprache hinein wird der Um- und auch Zusammenbruch der Protagonistin, die nie eine Heldin sein wollte, spürbar. Sie biedert sich auch der Leserin, dem Leser nicht an, sondern wirft die Frage auf, wieviel “Abweichung” und Individualismus wir denn selbst bereit sind zu dulden.

Und, nein, auch das Leben “im Westen” und im dann wiedervereinigten Deutschland verklärt sie schließlich nicht – auch deswegen nicht, weil sie eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit bis in ihre eigene Familie hinein schmerzlich vermisst.

Als jemand, dessen eigene Familie DDR- und Stasi-Unrecht erfahren hat und sich über die weit verbreitete “Verniedlichung” der Diktatur und die gedankenlose Geringschätzung von Freiheit immer wieder geärgert hat, hat dieses Werk viele Erinnerungen geweckt und vieles, das Unausgesprochen blieb, ans Licht gebracht. Nicht in abstrakten Erörterungen, sondern in konkreten Lebensgeschichten wie diesen wird deutlich, was Diktaturen aus Menschen machen und wie kostbar der so gerne verhöhnte Wert der Menschenwürde (die es ohne Freiheit nicht geben kann!) eigentlich ist.

Und Religion..?

…spielt in “Verlangen nach Leben” nur eine beiläufige und gerade deswegen interessante Rolle. Die Autorin bekennt sich zu keinem Glauben, missioniert auch für nichts und beobachtet doch genau, welche Wirkung der “gütig blickende Marx” auf Personenkonstellationen hat und wie die bedrängten Freiräume einer evangelischen Gemeinde die Rebellion in ihrem Sohn Holger wecken. Stark predigt nicht, sie beobachtet und lässt die zunehmend verdrängte Enge des verordnet religionskritischen “sozialistischen Humanismus” für sich selber sprechen. Mehr braucht es nicht.

Fazit: Ein Literatur-Schatzfund

Petra Stark hat ein kleines, großes Werk geschrieben, das in einer idealen Welt Lektüre für Oberstufen wäre. Es ist lustig und bedrückend, alltagsnah und verstörend, informativ und unverstellt. Wenn Sie es mit einem Menschen wirklich gut meinen, zu Lesestunden und guten Gesprächen anregen wollen, dann legen Sie ihm oder ihr “Verlangen nach Leben” unter den Weihnachtsbaum.

Denn manchmal findet sich “große Literatur” auch ganz verborgen und jenseits der Bestsellerlisten und Planerfüllungen…

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

7 Kommentare

  1. Der Ostblock-Sozialismus war ein verbrecherisches Gesellschaftssystem, in Teilen entschuldigt werden kann er bspw. in der DDR und in Russland, wo jeweils ein System abgelöst worden ist, das nicht weniger verbrecherisch war, insofern gilt es immer auch die Zeitlichkeit zu beachten.
    Was aber übel war, wie die Gegner dieses Systems im “Westen” behandelt worden sind, als Antikommunisten, was seinerzeit ein Schimpfwort war und dem idR der Vorhalt folgte Faschist zu sein, und natürlich insbesondere wie diese Gegner, die sich oft auch als Neuerer des Sozialismus verstanden (es aber nicht gewesen sein müssen), im Ostblock-Sozialismus behandelt worden sind, was ganz übel war.
    Eine besondere Aufarbeitung dieser Verbrechen erfolgte nach 1989 in der BRD nicht, viele, die dem System zuarbeiteten, konnten in der BRD reüssieren.
    Es wird ja oft hervorgehoben, dass die DDR eine moderate Diktatur gewesen sei, dass sich DDR-Biographien ergeben hätten, die besonders einzuschätzen wären, und dass die DDR kein Unrechtsstaat gewesen sein muss; wobei hier auch regelmäßig mit der Menschenwürde argumentiert wird, letztlich als Täterwürde.

    MFG
    Dr. W

    • Zitat: Eine besondere Aufarbeitung dieser [DDR-]Verbrechen erfolgte nach 1989 in der BRD nicht, viele, die dem System zuarbeiteten, konnten in der BRD reüssieren.
      Das gleiche gilt für viele Nazi-Verbrechen und die Kader aus dem dritten Reich – vor allem für die unmittelbare Nachkriegszeit. Später – zum Teil sehr viel später – kam die Aufklärung dann doch. Man erinnere sich an Hans Filbinger, den früheren Ministerpräsidenten Baden-Würtembergs, dessen Verhalten als Marinerichter in der Nazizeit erst 1978 zum Thema gemacht wurde.Die Ohrfeige Beate Klarsfeld für Hans Georg Kissinger, den deutschen Bundeskanzler mit Nazi-Vergangenheit kam etwas früher. Nämlich 1967, Aber auch das war immerhin 22 Jahre nach Kriegsende.

      Hier stellt sich generell die Frage: Ist es richtig, alle wichtigen Leute aus einer vergangenen Ära des Unrechts abzustrafen und nicht mehr in Führungspositionen aufsteigen zu lassen ?
      Die Antwort fällt für mich nicht so eindeutig aus, denn es kann schwierig sein, für alle zu besetzenden Stellen nur Unbefleckte zu finden. Ich bin aber dafür, dass man die Vorgänge der Vergangenheit in jedem Fall und ohne Ansehen der Person aufklärt. In Südafrika geschah das nach Ende des Apartheidsystems mit sogenannten Wahrheiteskommissionen.

      • Ich denke, dass dieses verbreitete Verdrängen und Desinteresse die Opfer noch einmal schmerzt. Auch deswegen finde ich Bücher wie jenes von Petra Stark so kostbar und der Beachtung wert.

      • @ Herr Holzherr :

        Hier stellt sich generell die Frage: Ist es richtig, alle wichtigen Leute aus einer vergangenen Ära des Unrechts abzustrafen und nicht mehr in Führungspositionen aufsteigen zu lassen ?

        Nach 1945 war es wohl in der Tat schwierig genügend qualifiziertes Personal zu finden, das unbelastet war, aber 1989 hätte die SED-Nachfolgepartei auch schlicht verboten werden können und belastete Kräfte wie bspw. Sportsfreund Gysi hätten aus der bundesdeutschen Politik herausgehalten werden müssen.
        Darum stand ja auch weiter oben etwas von ‘Entschuldbarkeit’, besondere Entschuldbarkeit nach 40 Jahren BRD war für außergewöhnliche SED-Kräfte 1989 nicht, auch qua Menge nicht, mehr erforderlich.
        Aber gut, vielleicht ist ja auch viel aussortiert worden nach 1989, vielleicht ist der Schreiber dieser Zeilen Gysi-zentriert.

        MFG
        Dr. W (der bei derartigen Fragen auch zu Altergrenzen rät, wer wie Kiesinger oder Gysi im Alter von 40+ verbrecherisch politisch unterwegs war, hätte natürlich weg gemusst)

  2. Lieber Herr Blume,

    hier bin ich etwas verwirrt:
    “Nicht in abstrakten Erörterungen, sondern in konkreten Lebensgeschichten wie diesen wird deutlich, was Diktaturen aus Menschen machen und wie kostbar der so gerne verhöhnte Wert der Menschenwürde (die es ohne Freiheit nicht geben kann!) eigentlich ist.”

    Wenn Sie Freiheit hier im Sinne der politischen und gesellschaftlichen Freiheit meinen, dann ist diese Aussage m.E. nicht korrekt. Die Menschenwürde ist absolut, sie kann nie angetastet werden und auch die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus haben sie nicht verloren.

    “Nach Dürig wollte das GG lediglich unter der Suggestion einer Tatsache eine Forderung von höchster Stärke formulieren. Art. 1 GG sei demnach zu lesen als: Die Menschenwürde eines jeden Menschen darf (von staatlicher Gewalt und anderen) unter keinen Umständen angetastet werden.[15]

    Im Grunde wird die Problematik damit nur verschoben, weil implizit eingeräumt wird, dass die Menschenwürde angetastet (und auch eingeschränkt) werden kann. Damit wird jedoch die Auffassung vom Wesensmerkmal verlassen.
    Allerdings löst sich dieser scheinbare Widerspruch auf, wenn man zwei Begriffe differenziert betrachtet: Der Menschenwürde selbst, die als Wesensmerkmal unantastbar und unverletzbar ist, und dem daraus resultierenden Achtungsanspruch, der als Rechtsanspruch und Gestaltungsauftrag sehr wohl verletzbar und schutzbedürftig ist. Gefordert wird also ein respektvoller Umgang mit dem Menschen, der dessen Menschenwürde entspricht. Insofern sind Ausdrücke wie ‘Verletzung der Menschenwürde’ irreführend, in denen die beiden Begriffe zusammengefasst werden. Richtiger, wenn auch komplizierter wäre stattdessen der Ausdruck: ‘Verletzung des Achtungsanspruchs der Menschenwürde’ oder auch ‘Menschen(würde)verachtende Behandlung’.”

    https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenw%C3%BCrde#Definition_des_Bundesverfassungsgerichts

    Wenn man Freiheit als Wesensmerkmal des Menschen versteht, dann stimmt Ihre Aussage wieder. Freiheit und Menschenwürde gehören zum Menschsein. Diktatur und Verfolgung verstoßen gegen das Wesen des Menschen.

    • @Paul Stefan

      Den Aussagen ganz am Schluss stimme ich zu: Freiheit und Menschenwürde sind Normen, daher auch verankert in Rechtstexten wie dem Grundgesetz. Sie stehen m.E. jedem Menschen zu, werden in Diktaturen jedoch systematisch negiert. Und sie hängen m.E. notwendig voneinander ab – ohne Freiheitsrechte keine Verwirklichung von Menschenwürde.

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