Gruppenselektion vor dem Comeback?

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Charles Darwin stand vor einem Dilemma. Warum hatte sich der Mensch zum (auch) "sozialen Tier" in Gemeinschaften entwickelt und nicht zu einem nur hemmungslosen Egoisten? Und er fand eine Antwort, die heute wieder aktuell wird.

In die "Abstammung des Menschen" schrieb Darwin (S. 144): "Es ist äußerst zweifelhaft, ob Nachkommen der sympathischeren und wohlwollenderen Eltern oder derjenigen, welche ihren Kameraden am treuesten waren, in einer größeren Anzahl aufgezogen wurden als Kinder selbstsüchtiger und verrätherischer Eltern desselben Stammes. Wer bereit war, sein Leben eher zu opfern als seine Kameraden zu verrathen, wie es gar mancher Wilde gethan hat, der wird oft keine Nachkommen hinterlassen, welche seine edle Natur erben können."

Seine Antwort fand er in der Gruppenselektion: "Ein Stamm, welcher viele Glieder umfaßt, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muthes und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, wird über die meisten anderen Stämme den Sieg davontragen, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein." (S. 146) Die Selbstorganisation der "Stämme" erfolge über "Lob und Tadel", einsichtigem Verstand (auch der Egoist profitiert vom Gemeinschaftserfolg) – und der Religion, so Darwin.

Übertriebene Gruppenselektion

Die Gruppenselektion wurde bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts außerordentlich populär und in inflationärer Weise oft völlig undifferenziert auf Völker, Kulturen, Menschen- und Tier"rassen" und schließlich gar auf ganze Gattungen ("Arterhaltung") ausgedehnt.

Dann schwang das Pendel nicht weniger extrem in die andere Richtung: Ab den 70er Jahren (und in interessanter, zeitlicher Nähe zum "Erfolg" des gesellschaftlich-kulturellen Individualismus) wurde Gruppenselektion nur noch als theoretisch möglich und irrelevant abgetan: Kooperationen entwickelten sich demnach ausschließlich über Verwandtenselektion und wechselseitige Deals (reziproker Altruismus). Am massivsten vertrat diese Auffassung der (laut Selbstbezeichnung) "Darwinist" Richard Dawkins, dessen "egoistisches Gen" zum Longseller wurde und der Gruppenselektion auch in jüngster Zeit noch als "Häresie" bezeichnete. Über Jahrzehnte – und teilweise bis heute – galt das Dogma, das Gruppenselektion in der biologischen Evolution keine Rolle spiele.

Neuer Mittelweg: Multi-Level-Selection

Nur wenige Biologen haben dieser dominanten Lehre bislang zu widersprechen gewagt, nun aber sind zwei der derzeit bekanntesten Evolutionsbiologen nach vorne geprescht: In Evolution "for the Good of the Group", erschienen im aktuellen American Scientist (hier) werben David Sloan Wilson und Edward O. Wilson (nicht verwandt) dafür, endlich wieder anzuerkennen, dass sich auch "oberhalb" von Verwandtenselektion und reziprokem Altruismus Selektionsvorteile organisieren können und dass es gelte, diese Fall für Fall zu erforschen und zu beschreiben. Sie benennen eine Reihe von Beispielen aus dem Tierreich sowie neuere Experimente – vor allem aber auf die einzigartige Evolution des Menschen in Gemeinschaften.

Evolutionäre Religionswissenschaft im Mittelpunkt

 

Im Rückblick erscheint es auch gar nicht mehr als Zufall, dass gerade auch die Religion ins Zentrum der Debatte gerückt ist – schon Darwin vermutete ihren Selektionsvorteil auf Ebene der Gruppe. Emile Durkheim, der Begründer der Religionssoziologie, knüpfte an diese Betrachtung an und wurde von Edward O. Wilson, der an Ameisen forschte, entsprechend gewürdigt. Aus der Sicht der Vertreter des "puren" Gen-Egoismus konnten Religionen dagegen keine weitergehenden, lebensdienlichen Wirkungen haben, weil es oberhalb von Verwandtenselektion und reziprokem Altruismus schlicht keine Wirkungen geben durfte. Religion konnte, durfte also nicht mehr als "Gotteswahn" (Dawkins) und keinesfalls adaptiv sein.

Legendär dagegen die Erwiderung von David Sloan Wilson: "Beyond Demonic Memes – Why Richard Dawkins is Wrong About Religion" (hier) und sein Buch "Darwins Cathedral – Evolution, Religion and the Nature of Society" (Rezension hier), das explizit und hervorragend recherchiert religiöse Fallbeispiele als Belege für Gruppenselektion heranzog.

 

Empirisch neigt sich die Waage derzeit klar der Adaptivität von Religiosität und Religionen zu: Religiös vergemeinschaftete Menschen pflanzen sich erfolgreicher fort, Rituale sichern Gemeinschaften vor Trittbrettfahrern, auch Effekte im Rahmen des Geschlechterverhältnisses werden ausgemacht (Artikel "Homo religiosus" dazu in Gehirn und Geist kostenfrei)

Steht also eine Renaissance der Gruppenselektion in differenzierterer Form an? Und könnte ausgerechnet die evolutionäre Religionswissenschaft dabei möglicherweise eine Schlüsselrolle spielen – und gerade auch aufgrund ihrer interdisziplinären Anlage als Geistes-, Kultur- und Naturwissenschaft dazu beitragen können, nicht nur das Phänomen Religion, sondern auch die Humanevolution und Evolution insgesamt besser zu verstehen? Ich vermute, wir haben im Bezug auf diese Themen ganz schön spannende Jahre vor uns…

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

22 Kommentare

  1. Artikel leider nicht kostenlos zugänglic

    Die wollen 12 US-Dollar für diesen einen Artikel haben. Wucher!

    Aber der Artikel wird die Leseszahlen hochschnellen lassen und sie werden gut damit verdienen.

    Meiner Meinung nach kommt es heute darauf an, die Dinge im Zusammenhang zu sehen. Wir sehen ja auch im menschlichen Genom, in der Medzin etc. pp., daß sich die menschlichen Gruppen unterscheiden. Und wir sehen, daß die Evolution auch auf dieser Ebene bis heute weitergegangen ist.

    Das hat viele Implikationen dahingehend, unser gesamtes Weltbild tiefgreifend zu verändern. Wer sich in die große Linie der Humanevolution stellen will und sich nicht “ausklinken” will, wird gut daran tun, sich für das genetische Überleben nicht nur seiner eigenen Familie, sondern auch seiner eigenen Gruppe einzusetzen.

    Denn auf dieser Ebene findet eben Evolution STATT.

  2. @ Ingo

    Ja, leider ist der Artikel noch kostenpflichtig. Aber vielleicht wäre er doch auch mal eine tolle Anregung für eine Spektrum-Ausgabe?

    Ja, mittelfristig sehe ich bei der wieder erreichten Erweiterung des Evolutionsverständnisses auch möglicherweise bedeutende Auswirkungen auf unser Welt- und Selbstverständnis.

    Allerdings sollte das m.E. schon auch gut reflektiert geschehen. Multi-Level-Selektion leugnet ja eben nicht die Bedeutung von Verwandtenselektion und reziprokem Altruismus, sondern erweitert das Bild nur. Und jeder von uns gehört Dutzenden verschiedener “Gruppen” und ggf. verschiedenen Gemeinschaften an. Rechtfertigungen von Rassismen auf Basis der Gruppenselektion halte ich für wissenschaftlich und ethisch genauso falsch wie umgekehrt den Mißbrauch des dawkinschen Gen-Egoismus zur Rechtfertigung individualistischer Rücksichtslosigkeit (wie es z.B. der betrügerische Enron-Chef getan hat).

    Auch hier scheint m.E. zu gelten: Umso mehr Menschen sich differenziert mit den Themen beschäftigen, umso besser ist die seriöse Wissenschaft gegen Mißbrauch durch grobe Vereinfacher geschützt.

  3. Bringing together Adam Smith&Ch. Darwin

    Mit diesem neuen Wilson/Wilson-Artikel kann man sehr unzufrieden sein. Mein Eindruck ist der: die beiden vertreten eine einseitige Extrem-Position ebenso wie Dawkins auf der anderen eine solche vertritt.

    Die beiden Extrempositionen werden sich irgendwo auf der Mitte treffen, kann man annehmen, und zwar irgendwo auf der Linie, auf der schon Hughes et. al. vor allerhand Monaten Wilson kritisierten, nämlich daß der Verwandten-Altruismus seine entscheidende Rolle BEIBEHÄLT, auch in komplex-arbeitsteiligen (menschlichen und Insekten-) Gesellschaften, siehe hier:

    http://www.sciencemag.org/…bstract/320/5880/1213

    (Bzw. hier:

    http://studgendeutsch.blogspot.com/…htliche.html )

    Edward O. Wilson hat ja auch den Frank Salter (“On genetic interest”) positiv rezensiert und dessen Buch (zusammen mit Henry Harpending) tendiert auch in die Richtung, den Verwandten-Altruismus für größere, komplexe Gesellschaften weiterhin in Geltung zu lassen. (Allerdings fehlt ihm auch noch ein grundlegender Gedanke, nämlich der Bezug zu Adam Smith, s.u.)

    Im Grunde ist das auch schon von der letzten Studie von Samuel Bowles in “Science” vor einigen Monaten “angebahnt”, eine solche Lösung, siehe hier:

    http://www.bec.ucla.edu/Bowles.pdf

    Das Prinzip Arbeitsteilung erleichtert Altruismus, weil man durch es (bekanntlich) – nach Adam Smith – mit WENIG Aufwand VIELEN zugleich helfen kann, also es ermöglicht, den Hamilton’schen Verwandten-Altruismus auch in größeren Gruppen in Geltung zu lassen.

    Dieses so außerordentlich grundlegende Prinzip von Adam Smith ist aber bisher meines Wissens noch nie auf die kin-selection angewandt worden.

    Man könnte da vielleicht an einen grundlegenderen Artikel von wirtschaftswissenschaftlicher Seite von Nobelpreisträger Gary S. Becker von 1992 anknüpfen (Becker steht ja den Naturwissenschaften durchaus positiv gegenüber):

    “The division of labor, coordination costs, and knowledge” (The Quarterly Journal of Economics, November 1992)

    Aber es gibt auch noch einige andere, neuere Ansätze im “Journal of Theoretical Biology”, die schon auf diese Zusammenhänge zugehen.

  4. Natürliches Offenbarungsverständnis

    allein die 12 Dollar für den Beitrag über ein neues Veständnis von Evolution (oder die begeisternde Beschreibung vom Wunderwerk des Kosms, die Dr. Blume auf seinen eigenen Seiten vorsellt) und alle natürlichen Vesuche, Evolution als Schöpfung zu erklären helfen nicht weiter, wenn nicht auch in die christliche Geschichte, das Wesen des urmonotheistischen Glaubensgrundes investiert wird.

    Auch dass bisher die Evolutionslehre zu kurz geschlossen, damit meist nur ein bösartiger Mechanismus gesehen bzw. ein Schöpfergott arbeitslos gemacht wurde, liegt m.E. weniger an der naturwissenschafltichen Aufklärung, als an der Blindheit der Bibellehrer für den Logos allen Lebens, um den es dort – im Grunde – geht.

    Wenn wir heute bei der Betrachtung des biologischen Geschehen weiter sind, von einer kreativen Vernünftigkeit ausgehen können, die sich in allen Prinzipien offenbart, dann müssen wir auch neu – über den bisherigen Kurz-schluss hinaus -nach dem Offenbarer fragen, um den es im Grunde des Glaubens ging und geht.

    In der begründeten Hoffnung auf ein aufgeklärtes mündiges Hören des lebendigen sinngebenden Wortes in allem logisch-natürlichen Werden
    (wie ich es bisher vergeblich versucht habe, unter http://www.theologie-der-vernunft.de anzustoßen.)

    Gerhard Mentzel

  5. @ Ingo: Kritik an Wilson / Wilson

    Lieber Ingo,

    Du schriebst:

    “Mit diesem neuen Wilson/Wilson-Artikel kann man sehr unzufrieden sein. Mein Eindruck ist der: die beiden vertreten eine einseitige Extrem-Position ebenso wie Dawkins auf der anderen eine solche vertritt.”

    Das sehe ich nicht so. Denn während Dawkins ja “extrem” jede weitere Kooperations- und Selektionsebene oberhalb der Verwandtenselektion und des rezirpoken Altruismus ausschlossen, behaupten Wilson und Wilson nicht mehr, als dass es solche darüber hinaus gebe und benennen dafür Beispiele und Experimente. Weder schränken sie die Bedeutung von Verwandtenselektion und Altruismus ein, noch behaupten sie eine generelle Geltung oder gar Dominanz von gruppenselektiven Prozessen. Vielmehr rufen sie nach weiteren, konkreten Arbeiten und Fallstudien – was m.E. auch weiterhilft.

    Die von Dir genannten Ideen und Ansätze rund um Adam Smith finde ich schon interessant. Nur würde auch ich sagen, dass jetzt auch erst einmal Studien- und Begriffsarbeit angesagt ist. Wie David Sloan Wilson im Demonic-Memes-Artikel Richard Dawkins m.E. zu Recht ins Stammbuch schrieb: Bring on the legwork!

    Herzliche Grüße

    Michael

  6. Vielleicht habe ich es auch nicht präzise genug formuliert.

    Der Ausgangspunkt des Streites war, daß Edward O. Wilson sagte (als einer der ersten Popularisierer des Prinzips Verwandten-Altruismus überhaupt 1975), daß es Fälle in der Evolution von Altruismus geben könne – insbesondere bei den Insekten (aber implizit unterstellt auch bei Menschen) – bei denen genetische Verwandtschaft vernachlässigbar wäre und die Hauptrolle Gruppenselektion spielen würde.

    Das wurde sicherlich auch deshalb gesagt, weil in der Wissenschaft gegenwärtig immer zweifelhafter wird, ob das Prinzip Gegenseitgkeit ein besonders gutes Erklärungsprinzip des starken Kooperationsverhaltens in modernen menschlichen Gesellschaften ist, und weil man nicht so recht weiß, was es SONST sein sollte. (Die Forscher wundern sich – Peter Hammerstein etwa oder Marc Hauser – , warum es so WENIG Daten aus dem Tierreich für Gegenseitigkeit gibt und ob es deshalb wirklich auch bei menschichem Altruismus so entscheidend ist, dieses für Täuschungsmöglichkeiten so anfällige Prinzip.)

    Aber daß nun gerade in solchen Fällen Gruppenselektion die Hauptrolle spielen sollte, ist von Hughes et. al. mit empirischen Daten schon deutlich relativiert worden – für Insekten.

    Aber werden wir doch mal konkret. “Reine” Gruppenselektion in Bezug auf den Menschen hieße (beispielsweise), daß sich alle Katholiken weltweit “multikulturell” vermischen würden und ALS Gruppe der Katholiken in “Gruppenselektion” eintreten würden mit anderen ideologisch oder religiös bestimmten menschlichen Gruppen.

    Oder sehe ich da was falsch? Ebenso, daß sich alle Kommunisten zusammenschließen würden, auf genetische Verwandtschaft keine Rücksicht mehr nehmen würden, sondern NUR noch das Merkmal Kommunismus gelten lassen würden in den politischen, militärischen, ideologischen, demographischen Gruppen-“Rivalitäten” der Weltgeschichte.

    Ist eine solche Annahme aber REALITÄTSNAH?

    Natürlich NICHT.

    In der Realität haben wir IMMER – schon aufgrund der geographischen Entfernungen selbst heute (zumindest) immer noch eine ÜBERSCHICHTUNG von “reinen” gruppenselektionistischen Momenten (daß eben Menschen NUR nach einem rein äußerlichen Gruppen-identifizierenden Merkmal gehen in Gruppenauseinandersetzungen und genetische Verwandtschaft VÖLLIG unberücksichtigt lassen würden) UND den traditionellen Gruppenkategorien, die eben (nicht nur metaphorisch) nach genetischer Verwandtschaft unterscheiden. (Auch die Religionen und Ideologien sprechen ja von “Brüdern” und “Schwestern”, bzw. von “Genossen” etc.. Aber das ist metaphorisch.)

    Man wird auch annehmen dürfen (zumal in der frühen Humanevolution), daß selbst wenn zu anfang rein “multikulturelle” Gruppen bestanden hätten, sich diese in-group-mäßig sicherlich sehr schnell genetisch-verwandtschaftlich aneinander stärker angepaßt haben würden und sich dann DENNOCH genetisch-verwandtschaftlich ziemlich bald von den anderen “multikulturellen” Gruppen unterschieden HÄTTEN. Eben wiederum schon aufgrund allein geographischer Entfernung. (Annäherungsweise könnte man das zum Beispiel auch bei der Ethnogenese der europäischen Völker im Frühmittelalter annehmen.)

    Das Beispiel der eierlegenden Hühner hatte viele Wissenschaftler erstmals von der Plausibilität der Gruppenselektion überzeugt (wie ich mich aus Tischgesprächen bei MVE-Tagungen schon vor Jahren gut erinnern kann).

    Durch diesen neuen Wilson&Wilson-Aufsatz wurde aber MIR deutlich, daß es MICH gar nicht so recht überzeugen will. Denn – offenbar – ist doch gar nicht berücksichtigt worden (sicherlich müßte man das noch überprüfen – es ist zumindest nicht erörtert worden), ob bessere Kooperation zwischen eierlegenden Hühnern nicht eben DOCH auch durch genetisch größere durchschnittliche Verwandtschaft zustande gekommen ist, was man zunächst einmal für recht plausibel halten könnte.

    “Reine” Gruppenselektion wird es also in der Natur so gut wie gar nicht geben, da das Prinzip der genetischen Verwandtenerkennung ja schon ein sehr basales in allen biologischen Lebensvorgängen ist (schon auf der Ebene des Immunsystems usw.) und sich auch auf allen psychischen Ebenen wiederfindet. Es wird sich deshalb IMMER um ein Zusammenwirken beider Prinzipien handeln.

    Das ist mir aber – sagen wir so: wenigstens nicht ANSCHAULICH genug durch diesen Wilson/Wilson-Artikel beschrieben worden. Es wird immer nur sehr abstrakt beteuert, daß beide Ebenen zu berücksichtigen wären. Wenn aber dann die einzelnen Fälle konkret behandelt werden, fällt dieser einfache Zusammenhang nicht so recht deutlich in die Augen. Das war es, was mich nicht so recht befriedigte.

    Ich will keineswegs infrage stellen, daß gruppenselektionistische Mechanismen wirksam sind – aber eben immer genau dann, WENN sich Gruppen zuvor aufgrund genetischer Verwandtschaft strukturiert und voneinander unterschieden haben. So wird sicherlich ein Schuh drauß.

  7. Man kann zum Beispiel sagen: natürlich steht ein Schleswig-Holsteiner in einer ganzen Reihe von genetischen Merkmalen dem Dänen genetisch näher als dem Tiroler. Und letzterer wiederum vielleicht dem Italiener näher als dem Schleswig-Holsteiner.

    Und dennoch bilden Tiroler und Schleswig-Holsteiner seit dem Frühmittelalter in gewisser Weise eine gemeinsame “Gruppe”, nicht wahr, muttersprachlich, kulturell, politisch, bis 1500 auch religiös.

    Das wäre dann also ein “gruppenselektionistisches” Element (bei der Ethnogenese der deutschen Kulturraumes). Aber eben auch nur auf der “Mikroebene” Mitteleuropas. Gehen wir nur wenige Schritte über die Grenzen Mitteleuropas hinaus, dann werden natürlich auch der durchschnittliche Tiroler und der durchschnittliche Schleswig-Holsteiner einander genetisch ähnlicher sein als sich beide genetisch ähneln mit Afrikanern, Asiatenn, amerikanischen Ureinwohnern etc.. (Wenn ich es recht verstanden habe, ist das das grundlegende Raisonement von Frank Salter’s “On genetic interest”.)

    Also das Prinzip der genetischen Verwandtschaft bei der menschlichen Gruppenbildung ist bislang gar nicht “ausrottbar” gewesen in der Humanevolution. Auch so evolutiv erfolgreiche Gruppen wie die Hutterer oder die Amischen zeigen das ja nur allzu deutlich auf.

    Und bei den riesigen Populationszahlen heute auf den diversen Kontinenten wird es sicherlich mit noch so viel Kerosin-Verbrauch und noch so vielen Wohlstands-Migrationen nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt werden.

    Selbst Südamerika bestätigt das nicht. Auch das ist ein gutes Beispiel. Da hat auch JEDER Staat seine ganz spezifisch EIGENE Mischung der Bevölkerung was Anteile an genetischen Vorfahren betrifft (Südeuropäer, Nordeuropäer, Afrikaner, amerikanische Ureinwohner). Darüber gibt es ja inzwischen schöne genetische Studien. Auch das zeigt deutlich auf, wie schnell sich bei der “Ethnogenese” des brasilianischen Volkes etwa doch wieder genetische Unterschiede zu benachbarten Völkern einschleichen und NICHT nur kulturelle, muttersprachliche.

    Insofern ist es also sicherlich richtig, immer beide Momente möglichst anschaulich zugleich zu sehen und von dort aus dann weiter zu fragen, welche Rolle der jeweilige “Moment” in der jeweiligen geschichtlichen Situation tatsächlich spielt.

    Und da sollte eben Adam Smith mit hereingeholt werden, denn wir sehen ja auch, daß größere, arbeitsteilige Gesellschaften AUFGRUND ihrer arbeitsteiligen Strukturierung wirtschaftlich anderen Gesellschaften besser, effizienter altruistisch helfen können (zumindest KÖNNTEN), sogar demographisch, als OHNE diese arbeitsteilige Strukturierung.

    Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen Bevölkerungswachstum bei steigendem wirtschaftlichen Wohlstand (“Erste Welt” seit dem Mittelalter) und Bevölkerungswachstum auf Kosten des wirtschaftlichen Wohlstandes (“Dritte Welt”, auch Indien), weil die arbeitsteilige Strukturierung nicht mitwächst.

    Die indische Gesellschaft oder afrikanische Gesellschaften können in Katastrophen-Fällen anderen Gesellschaften nicht so effizient wirtschaftlich, medizinisch usw. helfen, WEIL sie das Altruismus-Potential Arbeitsteilung bislang nicht so gut ausgeschöpft haben.

  8. @ Ingo: Genau…

    …so sehe ich das auch, wie Du es gerade beschrieben hast:

    “Reine” Gruppenselektion wird es also in der Natur so gut wie gar nicht geben, da das Prinzip der genetischen Verwandtenerkennung ja schon ein sehr basales in allen biologischen Lebensvorgängen ist (schon auf der Ebene des Immunsystems usw.) und sich auch auf allen psychischen Ebenen wiederfindet. Es wird sich deshalb IMMER um ein Zusammenwirken beider Prinzipien handeln.”

    Bei Religionsgemeinschaften ist das ja sehr schön zu beobachten: Selbst wenn sie am Anfang eine fast zufällige Anhängerschaft überwiegend Nichtverwandter sein mögen – schon nach wenigen Generationen sind sie entweder untergegangen oder durch Endogamie auch verwandtschaftlich engstens verflochten.

    Wilson & Wilson hatten, so habe ich sie verstanden, dafür geworben, “auch” diese Selektionsprozesse auf Gruppenebene in den Blick zu nehmen. Und jetzt kommt es m.E. darauf an, statt des Streites um des Kaisers Bart an konkreten Fallstudien unter Tieren und Menschen sowohl Begrifflichkeiten wie relative Bedeutungen genauer abzustecken. Da ist noch viel zu tun!

    Den von Dir erwähnten Ansatz, auch die Arbeitsteilung zu berücksichtigen finde ich spannend (und genau der taucht ja auch z.B. im D.S.Wilson-Beispiel von den asketischen Jains schon auf!). Neben Adam Smith möchte ich dabei jedoch auch wiederum auf Emile Durkheim verweisen, der gerade die Arbeitsteilung zu einem Schwerpunkt seiner soziologischen Arbeit gemacht hat. Ich wäre sehr interessiert daran zu erfahren, wenn sich auf diesen Gebieten etwas tut.

  9. Aktueller Fall von Gruppenselektion

    Gruppenselektion findet übrigens nicht nur auf der Ebene von Religionsgemeinschaften, sondern auch bei anderen weltanschaulichen oder politischen Gemeinschaften statt.
    Über einen aktuellen Fall hat “Frischer Wind” gerade letzte Woche erst berichtet: http://www.scienceblogs.de/…r-mit-parteibuch.php

  10. Arbeitsteilung

    Es ist wirklcih erstaunlich, wie wenig selbst von den Wirtschaftswissenschaften der Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Bevölkerungsgröße wirklich tiefgehend aufgearbeitet wäre.

    Ich hab da schon viel gesucht, aber nur wenig gefunden, wo man wirklich anknüpfen könnte.

    Einer der besten Anknüpfungspunkte bleibt da der Gerhard Mackenroth, der immer noch oft unterschätzt wird. Weil der konkret wird. Das hat auch die Historische Demographie – etwa der Frühen Neuzeit – zum Teil schon gemerkt. Die haben da die Zusammenhänge zum Teil schon ganz gut im Auge.

    Durkheim hab ich mir vor langer Zeit mal daraufhin angeschaut. Mir ist damals bei ihm aber nichts aufgefallen, wo man konkret anknüpfen könnte.

    Es ist ÜBERHAUPT erstaunlich, wie wenig man in den Wirtschaftswissenschaften seit Adam Smith dieses grundlegende Prinzip wirklich erforscht hat, soweit es seine historischen Dimensionen betrifft. Das ist schon merkwürdig.

    Man sieht das auch an dem zitierten Artikel von Nobelpreisträger Gary Becker, der so eine Art “Klassiker” bei denen ist, wie sehr in den Kinderschuhen die theoretische Aufarbeitung und das Durchdenken von Ursachen und Folgen dieses Prinzips eigentlich ist.

    DESHALB hat heute auch die Theoretische Biologie da so viel Schwierigkeiten, den Brückenschlag zu vollziehen. Auch die Ansätze von der Theoretischen Biologie, selbst wenn sie sehr konkret von den einzelnen sozialen Insekten ausgehen, stecken ebenfalls noch deutlich in den Kinderschuhen.

    Ich hatte schon vor 10 Jahren das Gefühl, als ich das alles sah, daß hier durch den Zusammenschluß von Biologie und Wirtschaftswissenschaften sich ganz neue Forschungs- und Wissenschaftsbereiche ergeben können, weil es da unwahrscheinliche viele Forschungsperspektiven gibt.

    Man muß da unwahrscheinlich vielen Kausalzusammenhängen nachgehen, um die Auswirkung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf die inklusive Fitneß des einzelnen, im arbeitsteiligen System tätigen Menschen herauszubekommen.

  11. @ Ingo: Interdisziplinarität

    Und da sind wir wieder bei einem ganz klassischen Beispiel, wo (nur) ein interdisziplinärer Ansatz weiterhelfen würde: hier wären z.B. Biologen (ggf. auch Atnhropologen), Soziologen, Wirtschafts- und Religionswissenschaftler gefragt…

    Von einem US-amerikanischen Kollegen (Anthropolge & Religionswissenschaftler) weiß ich, dass er sich an einem mathematischen Modell für seinen religionsdemografischen Ansatz versucht (er hat mich um eine Begutachtung gebeten) – aber auch das hat sich nur ergeben, weil er zufällig mit einer Mathematikerin verwandt ist…

    Ich werde mir den Emile Durkheim auf jeden Fall nochmal im Hinblick auf diese Frage anschauen. Danke für die Anregung, @Ingo!

  12. Arbeitsteilung bedingt Bevölkerungsgröße

    Der Zusammenhang zwischen Bevölkerungsgröße und arbeitsteiliger Strukturierung einer Gesellschaft ist sehr, sehr komplex. Aber merkwürdigerweise noch nicht wirklich gut erforscht. Die traditionellen Wirtschaftswissenschaften haben nach diesem Zusammenhang (außer vielleicht in Ansätzen Mackenroth) nie besonders KONKRET gefragt, denn für sie war ja das altruistische (auch ökonomische) Verhalten von Menschen nicht von „darwinischen Algorithmen“ bestimmt. Auch weniger von altruistischen Tendenzen, sondern eher von dem “Eigennutz” (nach Adam Smith). Warum sollten sie sich also so besonders konkret darum kümmern? Zwar wird seit Adam Smith „grob“ gesagt, Arbeitsteilung wäre von der Größe des Marktes abhängig. Aber es bestand kein Anlaß, danach zu fragen, wie das arbeitsteilige Engagement des einzelnen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft sich ganz konkret auf Bevölkerungsgröße und damit Fortpflanzungserfolg und damit auf inklusive Fitneß aufwirkte.

    Es wird hier deutlich, wie die darwinischen Wissenschaften veranlassen, viel GENAUER, viel KONKRETER hinzuschauen, und wie sich aus diesem Hinschauen ein viel intensiveres Fragen ergibt nach bestimmten Zusammenhängen.

    Mir ist klar geworden, daß man ganz „basal“ anfangen muß, sozusagen mit „Modellorganismen“ auf einfacher Ebene, um das zu erforschen, also auf der Ebene einfacher Dorfökonomien beispielsweise. Und da gibt es schon recht gute Arbeiten und Ansätze. (Siehe kleine Literaturliste am Ende: 1 – 11) Die fragen zum Beispiel sehr konkret und sehr basal nach „Energieflüssen in prähistorischen/historischen Siedlungen und Gemeinschaften“. (4) Und sie sagen dazu:

    „Doch weiß wohl kein Naturwissenschaftler gegenwärtig, wie denn konkret eine ökosystemische Analyse des Gesamt der Existenzbedingungen z. B. einer Siedlung auszusehen hätte (geschweige denn einer Region etc.). Das elementare Verständnis dieser komplexen Strukturen hat gerade eben die ökologische Situation einer Familie in retrospektiver Bilanz erreicht bzw. kann prognostisch z. B. die Reaktivität eines heimischen Kalkbuchenwaldes beschreiben. Um wie vieles komplexer sind dagegen Situationen, die von individueller Willensfreiheit und innovativer Daseinsbewältigung geprägt sind, statt von instinktiven Lebensabläufen und passiven Reaktionsnormen. Aber es könnte sein, daß ökosystemische Determinanten basal auch für die hochkomplexen Situationen menschlicher Siedlungen und Gemeinschaften sind. Formen der Naturaneignung und Ressourcenausbeutung sind eine Seite, die des Ressourcenmanagements eine andere, welche schließlich über den ‚evolutiven Erfolg’ menschlicher Siedlungen und Gemeinschaften bestimmt haben bzw. bestimmen. Bewirtschaftung von Energie und daraus resultierende Energiebilanzen bestimmen ganz vordergründig die Wirtschaftlichkeit von Siedlungen und Gemeinschaften.“ (5, S. 220)

    Es wird dabei dargelegt, daß das Bevölkerungswachstum nicht allein oder sogar vorherrschend von dem jeweiligen Nahrungsspielraum bestimmt wird. Es wird vielmehr dargelegt, daß eine „allzu einseitige Konzentration auf den kalorischen Aspekt … keinesfalls geeignet“ ist, „das Management dieser Energieflüsse zu beschreiben, d. h. die erforderlichen Steuerungsmechanismen, welche das jeweils günstigste Verhältnis zwischen Energieaufwand und Energienutzen herbeiführen.“

    Zwei näher untersuchte Beispiele (Hochland-Bewohner der Anden, sowie Netsilik-Eskimos) lehren, „daß der kalorische Aspekt als Determinante von Bevölkerungsprozessen als Maßeinheit für das Energiemanagement früher Gemeinschaften ungeeignet sein kann oder vielmehr noch von den eigentlichen Restriktionen, denen die Bevölkerung begegnen muß, ablenken kann.

    Im allgemeinen basieren die Schätzungen für die Tragekapazität früher Ökosysteme und die maximale Größe der darin lebensfähigen menschlichen Bevölkerungen auf der potentiellen Energiemenge, welche durch die natürlich verfügbare bzw. produzierte Biomasse bereitgestellt wird – in anderen Worten, es wird danach gefragt, wie viele Menschen an einem gegebenen Standort auch ‚satt werden’ können. Das Beispiel der Andenbevölkerung hat gezeigt, wie durch geschicktes Haushalten der Energie eine Balance mit einer vergleichsweise großen Sicherheitsmarge für die Population erzielt wird – und zwar aufgrund SOZIALER MECHANISMEN wie Arbeitsteilung und HANDEL.“ (7)

    Will heißen: Arbeitsteilung BEDINGT Bevölkerungsgröße. Jeder Mensch, der durch seine berufliche Spezialisierung dazu beiträgt, daß eine größere Populationsgröße irgendwo existieren kann, als ohne seine Spezialisierung, zu dessen inklusiver Fitneß – im Sinne des Hamilton’schen Verwandten-Altruismus – muß entsprechend des jeweils vorliegenden genetischen Verwandtschaftsgrades der Fortpflanzungserfolg jenes Bevölkerungsteiles hinzugerechnet werden, der nur allein durch die Spezialisierung dieses einen Spezialisten in einer bestimmten Region existieren kann.

    Dies wird auch in anderen Untersuchungen deutlich (8): Die Beispiele der lebensfeindlicheren Lebensräume der Oase Fachi in der Sahara oder der Handelsstadt Avdat im Negev oder der Wikinger-Siedlungen auf Grönland lehren, wie Bevölkerungszahlen keineswegs (allein) von den vor Ort vorhandenen und verfügbaren (Nahrungs-)Ressourcen bestimmt werden, sondern von so SOZIALEN Umständen, wie Handelsverbindungen und ähnlichem. (vgl. auch 9)

    „Die physiologischen Grundbedingungen ergeben einen äußeren Rahmen, den keine Bevölkerungsweise verlassen kann, aber sie determinieren die Bevölkerungsweise nicht. Dies tun vielmehr innerhalb jenes Rahmens soziale Daten, und zu diesen Daten gehören auch die ökonomischen Möglichkeiten und Gegebenheiten,“ schreiben auch Mittelalter-Historiker. (10, S. 155) Und weiter:

    „Hatte dem extensiven Wachstum der Nahrungsfläche im frühen Mittelalter ein extensives Wachstum der Bevölkerung bei gleichbleibender sozialer Organisation entsprochen, so könnte der Periode intensiven Wirtschaftswachstums mit …“ Erweiterungen der sekundären und tertiären „Sektoren des Wirtschaftslebens auch ein intensives Bevölkerungswachstum zugeordnet werden, eine etwa anderthalb Jahrhunderte dauernde Periode raschen Bevölkerungsaufschwunges, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auszulaufen begann.“ (10, S. 159, Hervorhebung nicht im Original)

    Hier beruhte also die Bevölkerungszunahme, der darwinische Fortpflanzungserfolg darauf, daß Spezialisten neue berufliche Stellen schufen – für sich und andere. So daß neue ökonomische Bedürfnisse, selbst Luxusgüter-Produktion, durch Spezialisten zur Bevölkerungszunahme beitrugen. Diese ist darum auch ihrer inklusiven Fitneß beizurechnen.

    Und diese Zusammenhänge werden schon für die ersten arbeitsteiligen Gesellschaften mit ihren “ersten Tempeln” in der Südtürkei gelten. Und seither immer. Natürlich sind es immer auch RELIGIÖSE Spezialisten, die unter bestimmten Umständen größere Bevölkerungsgrößen aufrechterhalten. Das ist ja auch die darwinische Erklärung für die Kinderlosigkeit von Priestern.

    Aber ebenso kann JEDER berufliche Spezialist und sein altruistisches Engagement in seinem Beruf so erklärt werden. (!!!)

    1. Herrmann, Bernd (Hrsg.): Mensch und Umwelt im Mittelalter. Fischer TB, Frankfurt/M. 1989 (1. Aufl. 1986)

    2. Herrmann, Bernd; Sprandel, Rolf (Hrsg.): Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter. Weinheim 1987

    3. Herrmann, Bernd; Sprandel, Rolf (Hrsg.): Die Bevölkerungsentwicklung des europäischen Mittelalters. Das wirtschaftsgeographische und kulturelle Umfeld. In: Saeculum 39/1988, S. 105ff

    4. Herrmann, Bernd (Hrsg.): Energieflüsse in prähistorischen/historischen Siedlungen und Gemeinschaften. In: Saeculum 42/1991, S. 217 – 348

    5. Herrmann, Bernd: Einführung. In: siehe 4., S. 218 – 224

    6. White, Leslie A.: Energy and the Evolution of Culture. American Anthropologist, 45/1943, S. 335 – 356

    7. Grupe, Gisela: Das Management von Energieflüssen in menschlichen Nahrungsketten. In: siehe 4., S. 239 – 245

    8. Remmert, Hermann: Energiebilanzen in kleinräumigen Siedlungsarealen. In: siehe 3., S. 110 – 118

    9. Fuchs, Peter: Das Brot der Wüste. Sozio-ökonomie der Sahara-Kanuri von Fachi. Wiesbaden 1983

    10. Pitz, Ernst: Ökonomische Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter. In: siehe 2., S. 155 – 171

    11. Mackenroth, Gerhard: Bevölkerungslehre. Berlin 1953

  13. Als ein religionswissenschaftliches…

    …Beispiel für Gruppenselektion könnten m.E. die Amisch taugen. Sie formierten sich ursprünglich aus oft Nichtverwandten (Täuferbewegung), grenzten sich scharf gegen ihre Umgebung ab und organisieren sich auch selbst als “Gruppen innerhalb von Gruppen”. Und am reproduktiven Erfolg dieser Glaubensgemeinschaft kann kein Zweifel bestehen… Siehe hier:
    http://www.chronologs.de/…n-16-jahren-verdoppelt

  14. Ja, Amische ein gutes Beispiel

    Ich glaube, die grundlegende Frage ist:

    Aus welchen motivationalen Quellen speist sich das menschliche Verantwortungsbewußtsein für das genetische und kulturelle Überleben der eigenen Familie und der eigenen Gruppe?

    (Eingeschlossen ist dabei auch etwa die eigene Firma, die eigene Lobby-Gruppe, die eigene politische Gruppierung etc. pp..)

    Auf diese Fragestellung hat das auch eine Forschergruppe um Boyd und Richerson fokussiert in dem Band “Evolution and the Capacity for Commitment”

    http://www.amazon.de/…;qid=1220547194&sr=8-1

    Wir fühlen uns verantwortlich für unsere Familie, für unsere Firma, für unser “Projekt”, für unsere Gesellschaft, für die Einhaltung von Regeln in unserer Gesellschaft (und vieles dergleichen mehr). Und wir bringen dafür zum Teil erhebliche persönliche Opfer. Aber wo kommt dieses Gefühl der Verantwortlichkeit eigentlich her?

    Das ist zum einen ganz klar der Verwandten-Altruismus, erweitert zum Stammes-Altruismus. Dieser kann auch auf Firmen übertragen werden, wie etwa auch Wirtschaftswissenschaftler Christian Cordes in Jena vermutet:

    http://www.mpiew-jena.mpg.de/…vo&name=cordes

    Es wird dabei aber bisher noch nicht klar unterschieden,ob das direkt auf ultimativer Ebene Verwandten-Altruismus ist, oder ob das nur ein evolutiv erfolgreiches Weiterleben von archaischen kulturellen Metaphern, Prägungen ist.

    Denn das Problem ist: der durchschnittliche genetische Verwandtschaftsgrad sinkt in großen, komplex-arbeitsteiligen Gesellschaften.

    Warum fühlen wir uns aber auch für das Gedeihen von Gruppen, Gesellschaften verantwortlich, mit denen uns nur ein relativ geringer(er) durchschnittlicher genetischer Verwandtschaftsgrad verbindet? (Und das gilt ja auch für große Religionsgesellschaften.) (Auch für die Amischen und die Hutterer letztlich.)

    Ich vermute, dies wird durch die arbeitsteilige Gliederung der Gesellschaft selbst bewirkt, durch die die jeweilige Verantwortlichkeit für das Funktionieren der Gesellschaft beruflich aufgeteilt und auf viele Schultern verteilt wird.

    Jeder Spezialist muß an seiner Stelle für das reibungslose Funktionieren der Gesamtheit Sorge tragen. Er weiß aber zugleich auch so ungefähr die Auswirkungen abzuschätzen, die mangelndes oder fehlendes berufliches Verantwortungsbewußtsein an seiner speziellen Position haben werden. (Er kann es sich wenigstens bewußt machen.) Ebenso wissen das seine Chefs, Geschäftspartner und Kunden einzuschätzen, mal präziser, mal weniger präzise.

    Die Art und Weise, wie der einzelne seine beruflichen Funktionen erfüllt – durchaus auch als Wissenschaftler, als politischer Berater – hat definitiv letztlich durchaus Auswirkungen darauf, welche biologischen Fitneß-Möglichkeiten die Menschen seiner “Umgebung”, seiner Gruppe, seiner Gesellschaft ausschöpfen können oder nicht. (Und je nach “Spezialisierungsgrad” seiner Position um so mehr.)

    Seine Tätigkeit könnte – z.B. – neue Arbeitsplätze schaffen oder vorhandene stabilisieren und damit die Reproduktion von (mehr) Menschen erleichtern, da diese eben eine zuverlässige Berufsstelle innehaben dadurch. In der vorindustriellen Gesellschaft war ja sogar Heiratserlaubnis an den Nachweis einer beruflichen Stelle gebunden, um allgemeine Veramung der Gesellschaft zu verhindern. (Also sehr direkte Fitneß-Auswirkungen.)

    Bei den Amischen kann man ja heute auch eine berufliche “Spezialisierung” im wirtschaftlichen sekundären Sektor (Handwerk usw.) beobachten, (die insbesondere von Donald Kraybill wissenschaftlich aufgearbeitet wird), da nicht alle amischen Kinder selbst Land kaufen können und selbst Landwirte werden können. Auf der Farm des Bruders richten sie deshalb handwerkliche Betriebe ein und gründen auf diese Weise selbst Familie.

    Sie exerzieren gegenwärtig eine Entwicklung vor, die alle komplexer-arbeitsteiligen Gesellschaften geschichtlich durchlaufen haben, (in Mittel- und Nordeuropa besonders seit dem Frühmittelalter – aber sicherlich letztlich schon seit Einführung des Ackerbaus überhaupt).

    Auch bei den Amischen ermöglicht und stabilisiert arbeitsteilige-gesellschaftliche Gliederung, Spezialisierung derjenigen, die nicht Bauern werden können, das weitere Wachstum, also die biologische Fitneß der Gruppe.

  15. Welche Einwände gibt es eigentlich?

    Ich überlege mir immer noch, wie eigentlich die Gegenargumente gegen Gruppenselektion strukturiert sind (- da sie mir selbst so selbstverständlich vorkommt).

    Ich bin mir also über die grundsätzliche Verwendung des Konzeptes der Gruppenselektion noch nicht ganz im klaren. Ich selbst gehe davon aus, daß Sozialverhalten (zumindest beim Menschen) in Gruppen stattfindet und – mal bewußter mal weniger bewußt – gruppenzentriert ist, und daß deshalb unterschiedlicher genetischer und kultureller Erfolg von Gruppen als Ergebnis von Gruppenselektion interpretiert werden kann. Soweit ich sehe, neigst auch Du zu diesem Konzept. Und Richard Sosis bspw. macht das ja sehr anschaulich.

    Viele vertreten aber wohl noch wesentlich “strengere” Versionen, Definitionen dieses Konzeptes. Und ich weiß noch nicht, ob “unsere” “schlichte” Version dieses Konzeptes die letztgültige oder allgemeingültige bleiben wird oder kann.

    Ich frage mich deshalb: Welche Kritikpunkte könnte es gegenüber diesem Konzept geben?

    Die Frage ist wohl immer: Verhält sich nun eine Gruppe angepaßt “gruppenbezogen”, WEIL die Vorfahren der Angehörigen dieser Gruppe in der Evolution erfolgreicher mit diesem GRUPPENBEZOGENEN Verhalten waren als andere, die keine Nachkommen hinterlassen haben ODER möglicherweise aufgrund ganz ANDERER Umstände?

    Bei “unserem” Konzept würde man ja außerdem sogar dann von “Gruppenselektion” sprechen können, wenn Gruppen gar nichts voneinander wissen würden und gar nicht in ihrem Verhalten auf das Verhalten anderer Gruppen reagieren würden und eben dennoch aufgrund unterschiedlicher Strategien unterschiedliche evolutive und kulturelle Erfolge haben würden.

    Ich glaube aber, vielen ist das nicht genug. Für sie ist das nicht wirklich “Selektion”. Sie können sich “Selektion” nur als “Kampf” (“Kampf ums Dasein”), als “Abringen” von Gruppen gegeneinander vorstellen. “Überleben des Stärkeren”, der evolutiv angepaßteren Gruppe wäre “unsere” Version – sozusagen – auch. Aber sie macht nicht unbedingt diesen Kampf gegeneinander erforderlich. (Sozusagen auch keinen sehr bewußten, rationalen “Geburtenwettstreit”, “Kampf-Reproduktion” oder ähnliches, die es wohl sowieso in der Geschichte nur sehr selten gegeben haben dürfte.)

    (Die Spartaner bspw., die schon sehr früh sehr genau ihre eigene Zahl im Vergleich zu der Zahl der von ihnen beherrschten Heloten beobachtet haben, haben sehr bewußt auf viele Geburten geachtet und gehörten zu den ersten griechischen Ethnien, die deutlichere Bevölkerungsrückgänge TROTZDEM oder gerade auch deshalb zu verzeichnen hatten.) (Während des langjährigen Messenischen Krieges forderten die Frauen in der Heimat die in Messenien weilenden spartanischen Männer auf, zurückzukommen, weil sonst zu wenig Kinder geboren würden. Daraufhin wurde – glaube – jeder zehnte Mann oder so tatsächlich zurückgeschickt.)
    Aber “unsere” Version würde wohl in den Augen vieler Wissenschaftler noch nicht hundert Prozent sicherstellen, daß es sich tatsächlich um “Selektion” auf Gruppenebene handelt, die da stattfindet, und daß aufgrund DESSEN das entsprechende Sozialverhalten zustande kommt, modelliert wird. Denn letztich muß der kulturelle und genetische Erfolg oder Mißerfolg einer Gruppe natürlich nicht nur darauf beruhen, ob sie sich “ALS Gruppe” angepaßt genug verhalten hat und – etwa – aufgrund entsprechender “Altruismus-Gene”, aufgrund mehr Menschen, die diese Altruismus-Gene tragen als in anderen Gruppen.

    Dieser Erfolg kann auch auf ganz anderen Umständen beruhen. Etwa, daß ihnen aufgrund geographischer Bedingungen mehr Möglichkeiten zur Domestizierung von Tieren und Pflanzen zur Verfügung standen – die berühmte These von Jared Diamond. Der kulturelle und genetische Erfolg dieser Ackerbau-Gesellschaften muß aus dieser Sicht ÜBERHAUPT nichts damit zu tun haben, daß sich in diesen Gruppen mehr Altruismus-Gene ausgebreitet haben als in anderen Gruppen.

    In diese Richtungen gehen meine Vermutung bezüglich der Einwände gegen die Gruppenselektion. Ich würde darüber aber gerne noch genaueres wissen. (Denn erst Wissen beseitigt Unsicherheit im Umgang mit diesem Konzept.)

  16. Dawkins

    Wenn ich Dawkins richtig verstehe,

    http://www.newscientist.com/…group-delusion.html

    dann möchte er sagen, daß alles das, was E. O. Wilson Gruppenselektion nennt, “evolutionär stabile Strategien” (EES) sind.

    Sind das nicht auf vielen Gebieten zwei Ausdrücke für die selbe Sache? Beides zusammen genommen ergibt – “gruppenevolutionäre Strategien”.

  17. oder – noch genauer:

    auch Nichtverwandte müssen in einer ESS ihr Verhalten mit dem Verhalten anderer Nichtverwandter abstimmen (wie beim Beispiel der Grabwespen von Dawkins). Und durch die Abstimmung wird eben schon von selbst eine “gruppen”-evolutions-stabile Strategie daraus.

    Die einzelnen Gruppen verhalten sich “eigennütziger” Weise so, “als ob” sie sich für die Gruppe aufopfern würden. Und realiter tun sie das dann auch.

  18. oder – noch genauer:

    auch Nichtverwandte müssen in einer ESS ihr Verhalten mit dem Verhalten anderer Nichtverwandter abstimmen (wie beim Beispiel der Grabwespen von Dawkins). Und durch die Abstimmung wird eben schon von selbst eine “gruppen”-evolutions-stabile Strategie daraus.

    Die einzelnen Individuen in einer Gruppe verhalten sich “eigennütziger” Weise so, “als ob” sie sich für die Gruppe aufopfern würden. Und realiter tun sie das dann auch.

  19. Einwände gegen Gruppenselektion & ESS

    Lieber Ingo,

    der Haupteinwand gegen Gruppenselektion, der m.E. immer noch Bestand hat, ist die Definitionsfrage “Gruppe”. In der Vergangenheit ist der Terminus beliebig verwendet worden, um von der Familie bis zu “Volk”, “Kultur”, “Rasse” oder gar Art (“Arterhaltung”) alles Mögliche zu umfassen. Zu diesem Wildwuchs kann keiner zurück wollen. Wenn es Selektionsmechanismen oberhalb von Verwandtenselektion und reziprokem Altruismus gibt – und immer mehr Befunde sprechen dafür – dann müssen diese dennoch Fall für Fall sehr genau identifiziert und beschrieben werden. Weniger geht nicht (mehr).

    Dawkins Vorschlag, Evolutionär Stabile Strategien und damit letztlich Ansätze der Spieltheorie anzuwenden, halte ich dabei übrigens für sehr gut! Das könnte m.E. ein fruchtbarer Ansatz sein oder werden.

  20. Ehrenamtliche Tätigkeit

    Wir wissen inzwischen, daß Zugehörigkeit zu religiösen Gruppierungen Ehen stabilisiert und Kinderzahlen stabilisiert oder erhöht.

    Irgendwo ging aber in den letzten Jahren auch durch die Presse, daß ehrenamtliche Tätigkeit allgemein häufiger von Eltern mit Kindern, insbesondere Vätern mit Kindern ausgeübt wird, als von Singles oder Menschen mit weniger Kindern, OBWOHL diese ja eigentlich mehr Zeit dafür haben sollten.

    Das KÖNNTE ein erster Hinweis darauf sein, daß Zugehörigkeit zu praktisch beliebigen “Interessen-Gruppen” (Fußball-Verein, Freiwillige Feuerwehr, politische Parteien, Gewerkschaften, Gemeinderat, Religionsgemeinschaften und so weiter und so fort), fitneßrelevant ist, also irgend etwas mit “Selektion” zu tun hat.

    Jäger-Sammler-Gesellschaften gliedern sich ja in der Regel sehr schlicht. Der “Stamm” ist in der Regel zugleich Religionsgemeinschaft, zugleich Berufsgenossenschaft, Freizeitclub, “Jagdgenossenschaft”, “Bundeswehr”, “Schule”, “Universität” und so weiter.

    Erst in den größeren, arbeitsteiligen Gesellschaften haben wir diese zum Teil riesen große Vielfalt nicht nur an Berufs-Gruppen (und mithin “Berufsgenossenschaften”), sondern an “Interessen-Gruppen” ganz allgemein.

    Es wird das von einem sehr allgemeinen theoretischen Ansatz aus zu klären sein müssen, ob diese arbeitsteilige Gliederung der Gesellschaft in “Interessen-Gruppen” und das ehrenamtliche oder berufliche Engagement des einzelnen darin in fitneß-relevanter Weise jeweils das Populationsgrößen-Erhaltungs- und -Erweiterungs-Potential einer Gesellschaft beeinflußt.

    Neue berufliche Segmente in der Gesellschaft, die sich ja zumeist zunächst aus ehrenamtlichen Bereichen ergeben (historisch gesehen), eröffnen auch neue Reproduktionsbereiche, also Populationsgrößen-Erweiterungs-Potentiale.

    Durch Mitgliedschaft in einer “Interessen-Gemeinschaft” kann ich dazu beitragen, daß dieses gesellschaftliche Segment nicht nur in seiner nützlichen Funktion für die Gesamtgesellschaft erhalten bleibt oder verbessert wird, sondern damit zugleich auch “Arbeitsplätze” und damit (weitere) Reproduktions-Möglichkeiten schaffen. Diese berufliche oder ehrenamtliche Tätigkeit kann also sowohl etwas mit meiner indirekten Fitneß (mehr eigene Kinder), wie mit meiner indirekten Fitneß (mehr Kinder bei Nah- oder entfernter Verwandten) zu tun haben.

    Das wäre dann grob die Unterscheidung zwischen EXTENSIVEM Bevölkerungswachstum aufgrund der Ausweitung der Nahrungsgrundlage (Rodung von Wäldern, Trockenlegung von Sümpfen etc.) oder auf Kosten des wirtschaftlichen Wohlstandes (heutige Entwicklungsländer) und INTENSIVEM Bevölkerungswachstum aufgrund der zum Teil sehr komplexen Ausweitung und Ausdifferenzierung des sekundären und tertiären Wirtschaftssektors.

    Aus dieser Sicht würde ich dafür plädieren, daß praktisch keine Art von menschlicher Gruppenbildung völlig “selektionsneutral” wird genannt werden können.

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