Maria auf Toast, Jesus auf Chips – Die Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Zu den erfolgreichsten Grundbausteinen der Evolutionsforschung von Religion gehört die These der schon von Charles Darwin selbst formulierten “Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit” (englisch: Hyper-Agency Detection (HAD) oder, seltener, auch Over-Detection of Agency (ODA), vereinzelt auch einfach “Agent Detection“). Damit ist die Beobachtung gemeint, dass unsere neurobiologisch vorgeprägten Wahrnehmungen (fachdeutsch: “Kognitionen”) unmittelbar Wesenhaftigkeit interpretieren – vor allem Gesichter.

So wurde 2004 ein Käsetoast für die Summe von 28.000 Dollar versteigert, da Beobachter auf ihm spontan das Antlitz der Heiligen Maria wahrnahmen und er “wundersamerweise” über Jahre nicht verschimmelt war.

MariaToast

Das Internet macht es möglich: Inzwischen gibt es ganze Sammlungen von Bildern, in denen zum Beispiel Jesus auf Lebensmitteln wie Chips und Cheetos zu sehen ist. Berühmt wurde auch eine bestimmte Kirche in Florida, USA – den unfreiwilligen Grund dafür können Sie selbst auf einen Blick erkennen!

ChickenChurchHADCredit: The Nature of Faith

Beachten Sie dabei, dass die meisten Menschen bei der Betrachtung der “Chicken Church” unmittelbar auch eine Theorie of Mind (TOM) bilden: Wir halten das Hühnchen für “süß” und lieb. Wenn ich dieses Bild in Vorträgen aufrufe, ernte ich meistens spontanes Gelächter.

Evolutionäre Relevanz

Schon Darwin beobachtete an seinem Hund, dass HAD nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren auftritt. Auch das ist heute gut belegt – und kann von jeder überprüft werden, die ihrem Haustier ein bewegliches Spielzeug zur Verfügung stellt. Wenn unklar ist, ob etwas “Wesenhaftigkeit” hat, so neigen komplexe Nervensysteme dazu, sie anzunehmen. Denn, so ein beliebter Merksatz aus der evolutionären Psychologie: Es ist viele Male günstiger, einen Busch für einen Bären zu halten, als ein einziges Mal einen Bären für einen Busch!

Dieses humorige Video stellt die “evolutionäre Relevanz” von HAD augenzwinkernd dar:

Erkenntnistheoretische und philosophisch-theologische Relevanz

Es liegt also nahe, die HAD einfach als ein Nebenprodukt normaler Wahrnehmung zu sehen, die “vorsichtshalber” zu oft Alarm schlägt, um existentielle Gefahren zu vermeiden sowie Chancen (etwa der für Menschen lebenswichtigen sozialen Kooperation) zu erkennen. Die evolutionär so erfolgreiche Religiosität des “Homo religiosus” wäre demnach eine Exaptation – eine emergente Verbindung von HAD, TOM und anderen Grundbausteinen zu einem neuen, Fitness-steigernden System.

Hier würde dann die empirische Beschreibung enden – und der Bereich der spannenden, metaphysischen Fragen beginnen. Wie kann eine “Fehlfunktion” zu evolutionär erfolgreichen Ergebnissen führen? Oder ist unsere Gesamtwahrnehmung mehr als die Summe ihrer Teile? Legen wir der Natur Eigenschaften auf, die sie gar nicht hat – oder “enthüllen” wir (analog zum Beispiel zur Mathematik und den Wissenschaften selbst) durch unsere Wahrnehmungen tiefere Schichten der Wirklichkeit? Führte die Evolution unsere Art in die Irre – oder bereitete sie uns auf Größeres, Wahreres vor?

Es lohnt, darüber bei einer Tasse Kaffee nach zu sinnen. Und auch da lohnt manchmal ein zweiter Blick… 😉

Kaffeefrosch

Verweise:

* Zur (kürzeren) englischen Version dieses Blogposts auf “The Nature of Faith”

– Angesichts seines heutigen Todestages widme ich diesen Blogbeitrag einem Menschen, von dem ich nicht zögere, ihn als Vorbild zu bezeichnen: Nelson Mandela. Alles Gute auf Deiner großen Reise, Madiba! –

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

15 Kommentare

      • Den Künstlerinnen und Künstler regelmäßig “nicht” als Künstlernamen verwenden. 😉

        (Den Grund dafür, warum Madonna, Mario etc. häufige Vornamen sind, brauche ich hier sicher nicht zu nennen.)

        PS: Witzigerweise verwenden ja wir beide auch den gleichen Vornamen, eine Frage aus dem Hebräischen: Wer ist wie Gott? und der Name eines bekannten Erzengels.

  1. Unser Gehirn arbeitet mit Mustererkennung/-verarbeitung. Die Neigung unserer Wahrnehmung, vertraute Objekte in zufälligen Mustern zu erkennen, wird mit dem Begriff ´Pareidolie´ bezeichnet.

  2. Die Hyper-Agency Detection scheint am Stück Pizza, das wie X aussehen soll, oder an der Gesichterkennung dahingehend gut belegt, dass sie grundsätzlich als falsch anzunehmen ist.
    Was aber nicht schlimm ist, wenn die Betrachtenden sich des Konzepts und der Implikationen bewusst bleiben.

    Diese Art der Erkennung findet übrigens durchgehend statt, auch und gerade beim Lesen von Texten: Wer kennt bspw. den Effekt nicht, sich verlesen zu haben und zwar dahingehend, dass Wörter falsch gelesen worden sind, so dass sie dem antizipierten Sinn entsprechen?

    Wie kann eine “Fehlfunktion” zu evolutionär erfolgreichen Ergebnissen führen? Oder ist unsere Gesamtwahrnehmung mehr als die Summe ihrer Teile? Legen wir der Natur Eigenschaften auf, die sie gar nicht hat – oder “enthüllen” wir (analog zum Beispiel zur Mathematik und den Wissenschaften selbst) durch unsere Wahrnehmungen tiefere Schichten der Wirklichkeit? Führte die Evolution unsere Art in die Irre – oder bereitete sie uns auf Größeres, Wahreres vor?

    Die ausschnittsartige Erfassung durch das Erkenntnissubjekt, das immer auch auf Grund von Bekanntem einzuordnen sucht, muss nicht mythologisiert werden.

    MFG
    Dr. W

    • @Webbär merkte an:

      Die ausschnittsartige Erfassung durch das Erkenntnissubjekt, das immer auch auf Grund von Bekanntem einzuordnen sucht, muss nicht mythologisiert werden.

      Nun, es spricht hier auch keiner davon, die Erfahrungen einzelner Subjekte zu mythologisieren. Wenn aber diese Erfahrungen von Einzelnen oder Mehreren versprachlicht werden, diese Erzählungen sich bewähren und weiter gegeben werden – so wird das Ganze schon sehr interessant! So entstehen u.a. auch religiöse Mythen.

      Beachten Sie vergleichend zum Beispiel, dass aber auch Wissenschaft selbst nicht anders funktioniert: Einzel-Erfahrungen (Empirien!) werden nach bestimmten Methoden gemeinschaftlich geprüft und, wenn bewährt, ggf. als wissenschaftliche Befunde anerkannt.

      Anders gesagt: Im sozialen Geschehen schaffen (entdecken?) wir Menschen verschiedene Formen von “Wissen”, das wohl am Besten nach seinen Funktionen unterschieden werden kann. Hier berühren sich dann Wissenssoziologie und Erkenntnistheorie.

      • Die hier erfolgte Gleichsetzung von Erfahrungen Einzelner, die in der Gruppe abgeglichen werden:

        Wenn aber diese Erfahrungen von Einzelnen oder Mehreren versprachlicht werden, diese Erzählungen sich bewähren und weiter gegeben werden – so wird das Ganze schon sehr interessant! So entstehen u.a. auch religiöse Mythen.

        Beachten Sie vergleichend zum Beispiel, dass aber auch Wissenschaft selbst nicht anders funktioniert [Hervorhebung: Dr. Webbaer]: Einzel-Erfahrungen (Empirien!) werden nach bestimmten Methoden gemeinschaftlich geprüft und, wenn bewährt, ggf. als wissenschaftliche Befunde anerkannt.

        …unterscheiden sich eben durch die sogenannte wissenschaftliche Methode, die gewisse Standards, u.a. den expliziten Versuch, kennt und u.a. die Reproduzierbarkeit fordert, vs. vom eigenen Erfahren, vom Hören-Sagen und vom Hören-Hören-Sagen Erlebtes.

        Insofern müsste Ihr Kommentatorenfreund nach Erhalt Ihrer Nachricht Ihr eigenes Bemühen nun als nicht-wissenschaftlich einzuordnen haben.
        Und das wollen Sie hoffentlich nicht…

        MFG + schon mal schöne Weihnachtstage wünschend!
        Dr. W

        • Herr Webbär, genau das Gleiche habe ich doch geschrieben! Die jeweiligen Methoden definieren, ob ein Wissen z.B. wissenschaftliches Wissen ist, oder ästhetisches, oder religiöses, oder biografisches usw. Ihr Leben lässt sich z.B. überhaupt nicht “reproduzieren” und wenn z.B. jemand wissen möchte, warum Sie stets gedrechselt formulieren und – sagen wir mal – Ihren Lebensmittelpunkt nach Tschechien verlegt haben, so möchte diese Person dennoch “wissen”.

          Empirisch-wissenschaftliches Wissen ist kostbar und unverzichtbar (dafür engagiere ich mich doch!), aber gerade deshalb sollte klar sein: Es war nicht und wird nie die einzige relevante Form von Wissen sein.

          • Sie schrieben, ‘dass aber auch Wissenschaft selbst nicht anders funktioniert’, somit scheint die Sache klar und Ihre Sicht auf die Dinge hinreichend verlautbart; halten Sie Ihren dauerfristig besuchenden Kommentatrenfreund bitte nicht für blöde.

            MFG
            Dr. W (der sich aber bedarfsweise noch einmal kommentarisch bemühen wird, wenn Sie sich bewusst und unklar formulierend außerwissenschaftlich geäußert haben sollten)

          • Es braucht schon einigen Humor und einige Weitsicht, um sich mit Ihnen zu beschäftigen.

            MFG
            Dr. W (der Sie auch nur deswegen beobachtet, weil Sie prototypisch zu sein scheinen, einen Vorgeschmack auf Kommendes zu geben scheinen; gerade auch berücksichtigend wie Sie persönlich investiert sind)

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