Monotheismus versus Kindesaussetzung und Infantizid

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Auf die aktuelle EPOC-Ausgabe 05/2011 hatte ich mich vor allem wegen der Titelgeschichte zu den Mysterienkulten der Antike gefreut. Doch dann sprang mir ein hervorragender Artikel des Mainzer Althistorikers Theodor Kissel zum beklemmend-wichtigen Thema Kindesaussetzung in der Antike ins Auge – ein Thema, das ich bereits in einem früheren Blogpost (zur spätantiken Erfolgsgeschichte des Monotheismus) angeschnitten hatte.

Zu den populären Irrtümern über die Natur des Menschen gehört die Annahme, dass Eltern ihre Kinder "automatisch" annehmen würden. Entsprechend fassungslos reagieren wir, wann immer auch in Deutschland Eltern ihre Kinder töten. Tatsächlich aber finden sich Kindesaussetzung und Kindermord (Infantizid) in allen menschlichen Kulturen – und auch bei Tieren. Beim Menschen verschärfte sich jedoch mit der Einführung der Agrarwirtschaft fast überall der Mädchenmord: Denn nun wurden Söhne als Arbeits- und Schutzkräfte sowie Erben wertvoller, wogegen Töchter meist auf andere Höfe heirateten und also wirtschaftlich verloren gingen.

"Den Sohn zieht man auf, die Tochter setzt man aus" 

zitiert Kissel den griechischen Komödiendichter Poseidipos um 300 vor Christus. Im antiken Rom stand meist den Vätern das Recht zu, über das Behalten oder Aussetzen eines Kindes zu entscheiden – behinderte Kinder hatten kaum eine Überlebenschance, aber auch für Mädchen standen die Chancen schlecht. In einigen Regionen wurden bis zur Hälfte aller Töchter getötet oder ausgesetzt – sowohl von armen Eltern, die sich weitere Ausgaben ersparen wie auch von Reichen, die ihr Erbe sichern wollten. 

Über das direkte Leid hinaus führte diese Praxis natürlich auch zu gesellschaftlichen Verwerfungen: Vielen vor allem ärmeren Männern bot sich kaum eine Chance, eine Ehefrau zu finden. Entsprechend blühten Gewalt (bis hin zu Kriegen auch um des Frauenraub willens) sowie Prostitution und Sklaverei. Und: Nicht selten nahmen Menschen ausgesetzte Kinder auf, um sie später als Sklaven und Prostituierte einzusetzen. Das Motiv eines in die Sklaverei gegebenen Kindes, das später seine Eltern wieder findet und frei wird, fand sich in vielen antiken Theaterstücken.

Monotheismus versus Kindesmord

Die erfolgreichen Traditionen des sich in der Mittelmeerregion ausbreitenden Monotheismus bekämpften die Kindestötungen mit regional und zeitlich wechselndem Erfolg. So vermeldete der griechische Philosoph Hekataios von Abdera im 3. Jahrhundert v. Chr. staunend, die Juden zögen aufgrund eines von Moses verordneten Gesetzes alle Kinder auf. Ebenso verkündete der Kirchenvater Laktanz: "Kinder sind Geschöpfe Gottes – und der haucht ihnen Seelen ein um ihres Lebens, nicht um ihres Todes willen." In den christlichen (und später auch islamischen) Traditionen wurde die Versorgung elternloser Kinder zur Tugend erklärt, der Kindermord bisweilen auch mit dem Tode bestraft (vgl. Goethes Gretchenerzählung). Dies begünstigte im antiken Wettbewerb den Zustrom von Frauen in die monotheistischen Religionen wie auch deren demografische Ausbreitung. Das Tabu der Kindesaussetzung und -tötung grub sich so tief in die westliche Kultur ein, dass es heute auch von Säkularen gemeinhin als "natürlich" empfunden wird. Es war und ist jedoch zu einem großen Anteil auch "kultürlich".

Mädchentötung in China und Indien (SPON-Artikel)

Beklemmend sichtbar wird dies in Teilen Asiens, die entweder zwangssäkularisiert (China) oder hinduistisch (Indien) geprägt sind. Obwohl sich auch buddhistische und taoistische Traditionen gegen Infantizid aussprachen, kam und kommt es weiterhin zu Aussetzungen und Tötungen vor allem von Mädchen – und zunehmend zu Abtreibungen, nachdem durch pränatale Diagnostik das Geschlecht festgestellt wurde.

In China beträgt das Verhältnis bei den Neugeborenen inzwischen 121 Jungen auf 100 Mädchen, in Indien sind es 112 Jungen. Wissenschaftlern zufolge wäre ein Verhältnis von 105 zu 100 normal, in ganz Asien leben 163 Millionen weniger Frauen als Männer. Und: Eine Studie in "Lancet" belegt, dass es sich auch hier – wie schon in der griechisch-römischen Antike – nicht um ein Problem nur armer, ungebildeter Schichten handelt. In Indien falle das Jungen-Mädchen-Verhältnis stärker zugunsten von Jungen aus, je gebildeter die Mütter seien. Und auch in Asien begünstigt der zunehmende Frauenmangel Kriminalität, Prostitution und Gewalt. (vgl. "Der größte Männerclub der Welt" von Hasnain Kazim)  

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

38 Kommentare

  1. Natürlich oder “kultürlich”

    Infantizid betrifft bei Tieren mit vergleichsweise wenig Nachwuchs (z. B. Löwen) nicht die eigenen Jungtiere, sondern genetisch fremde. Das Alphamännchen tötet die Jungtiere im Rudel, die nicht von ihm, sondern von seinem Vorgänger stammen. Evolutionär ist das Verhalten sehr gut zu verstehen. Das Töten des eigenen Nachwuchses unter normalen Bedingungen wäre es dagegen nicht.
    Unsere eigene Spezies bringt ebenfalls nur eine geringe Anzahl an Kindern pro Frau hervor. Zudem war die Kindersterblichkeit für die längste Zeit unserer Existenz ausgesprochen hoch. Eine Natürlichkeit der Kindsaussetzung oder des Infantizids und deren evolutionäre Etablierung wäre also mehr als diskussionswürdig. Zum Thema Natürlichkeit/”Kultürlichkeit” wäre eine Betrachtung von Kulturen interessant, die nie Landwirtschaft betrieben haben und als Jäger und Sammler oder nomadisch leben. Wie handhaben diese Kulturen ihren Nachwuchs?
    Meine Vermutung ist exakt entgegengesetzt zu Ihrer Aussage in diesem Beitrag: Ich erwarte, dass dort das Überleben der eigenen Kinder einen hohen Stellenwert hat und Kindstötungen entsprechend nicht verbreitet sind. Gerade das Töten eigener Kinder scheint mir kulturell bedingt sein. Von Kindstötungen im antiken Sparta bis zu Abtreibungen von Mädchen in Indien oder China handelt es sich stets um kulturelle Phänomene. Die Entscheidung von indischen oder chinesischen Eltern eben kein Mädchen aufziehen zu wollen ist stets eine bewusste und in diesen Kulturen rationale Entscheidung. Die Liebe zu dem eigenen Kind ist es dagegen nicht. Damit wäre also nicht die Liebe zum Nachwuchs, sondern im Gegenteil dessen Tötung das kulturelle Phänomen und “kultürlich”.

  2. Frank M. Sie schreiben “Das Alphamännchen tötet die Jungtiere im Rudel, die nicht von ihm, sondern von seinem Vorgänger stammen. Evolutionär ist das Verhalten sehr gut zu verstehen.” – Gut zu verstehen wäre das nur, wenn es immer ein Evolutionsvorteil für die Art wäre, den eigenen Nachwuchs zu protegieren. Aber warum sollten die Nachfahren des Vorgängers genetisch schlechter ausgestattet sein als die eigenen?

    Ansonsten gebe ich Ihnen aber weitgehend recht, auch die Kindstötung scheint kulturbedingt zu sein. Ich komme zu der Annahme, dass Menschen gegenüber dem Überleben der eigenen Kinder zunächst indifferent sind, sie sind bereit, sie zu töten, wenn es nützlich erscheint, und sind bereit sie aufzuziehen, wenn das besser ist. Offenbar, und das sehen wir ja gerade in unserer modernen Gesellschaft, ist der Wunsch nach eigenem Nachwuchs nicht sehr stark genetisch verdrahtet (auch wenn das eigentlich “evolutionär gut zu verstehen” wäre) – da neigt der Mensch dazu, ökonomisch zu entscheiden. Die Kultur tabuisiert dann das eine oder das andere, um die ökonomische Nutzens-Entscheidung des Einzelnen zu überformen.

  3. Kindstötung

    Ein Jurist erzählte mir einmal, dass früher auch bei uns oft ´überzählige´ Babys im Bett ´aus Versehen´ erdrückt wurden. Da man beim Töten der Kinder keinen Vorsatz nachweisen konnte – wurde verboten, dass Babys bei den Eltern im gleichen Bett schlafen durften. Starb dann ein Kind so wurde nicht der Tod sondern der Verstoß gegen dieses Gesetz bestraft.
    (es handelt sich um ein altbayuwarisches oder sächsisches Gesetz, die Quelle ist mir nicht mehr bekannt)

  4. @Blume Monotheismus und Kindstötung

    Ich bin mir nicht sicher inweiweit deine Annahmen stimmen.

    Das Zitat des Griechen stammt gerade NICHR aus der Zeit der Einführung der Agrarwirtschaft!

    Kann aus dem Zitat eines antiken Griechen auf realte Gegebenheiten in ganz Griechenland zu jener Zeit geschlossen werden?

    Kann aus dem Zitat eines antiken Griechen auf die gesamte Antike verallgemeinert werden?

    Kann aus dem Zitat eines Griechen von 300BCE auf Jahrtausende vorher geschlossen werden? Mir sind keine Funde oder Texte aus Mesopotamien bekannt, die sich mir deinen Aussagen decken würden?!

    Wie ist das mit den Babyleichenfunden bei Klöstern etc.?

  5. nochwas zur aktuellen EPOC

    Recht interessant fand ich, dass bin in das 10. Jahrhundert hinein Lachen bei den Kirchen eher verpönnt war bzw. sogar drakonisch bestaft wurde.

    Vor allem auch, weil man dass dann quasi 1000 nach Jesus auf einmal doch fand … ob es da eine “neue” Offenbarung gab?

  6. Mal ne Quelle dazu

    In “Humanökologie: Fakten- Argumente – Ausblicke” von Wofgang Nentwig von 2005 lesen wir ab S.72:

    “Mit beginnendes Christianisierung wurde die Kindstötung offiziell als Mord deklariert, gleichzeitig erfolgte eine Differenzierung zwischen Töten und Aussetzen des Kindes, wenngleich das Ergebnis für das Kind dasselbe war. Kinder Aussetzen wurde zunehmend legalisiert …
    Napoleon ordnete 1811 an, dass in jedem Departementhospital ein Drehschalter zur anonymen Babyabgabe einzurichten sei. Daraufhin wurden allein 1830 164.000 Babys abgegeben, so dass angesichts der Kosten diese Institution in den nächsten Jahrzehnten wieder abgeschaft wurde. In England war die Situation ähnlich, so dass 1803 ein Gesetz erlassen wurde, das die Kindstötung de facto legalisierte. Erst 1872 wurde diese Praxis durch Gesetzesänderung beendet.”

    Ein typischer Fall von Anspruch und Wirklichkeit?

  7. Noch ne Quelle dazu

    Aus “Gender-Paradoxien” von Judith Lorber
    S. 222 ff.

    “Im frühen europäischen Mittelalter wurden viele ‘überchüssige’ Kinde Klöstern zum geschenk gemacht. Man nannte diese Praxis ‘Oblation’ oder ‘Weihgabe’, und es gab sie mehr als tausend Jahre lang. Diese Kinder mußten im Kloster bleiben, egal ob sie Mänche oder Nonnen werden wollten oder nicht; Oblaten, die wegliefen, wurden exkommuniziert.
    Im späteren Mittelalter wurde mit der Errichtung der Findelhäuser ein Ort geschaffen, an dem man sich ungewollter Kinder entledigen konnte. ‘Der größte Nutzen des Findelhaussystems bestand darin, dass das Problem der ungewollten Kinder von den Straßen verschwand und den Normalbürgend nicht mehr unter die Augen kam. Die Kinder verschwanden hinter den Mauern von Institutionen, in denen Spezialisten dafür bezahlt wurden, sich mit ihnen zu befassen, so daß Eltern, Verwandte, Nachbarn und Gesellschaft sie vergessen konnten’ (Boswell 1988) Infolge ansteckender Krankheiten konnte die Sterberate der Kinder in diesen Institutionen bei 90 Prozent liegen. Diese unbeabsichtigte Folge dessen, was theoretisch eine Verbesserung gegenüber der Aussetung der Kinder auf der Straße oder ihrem Verkauf auf dem Markt darstelle, könnte durchaus seine latente Funktion gewesen sein – passiver, versteckter Kindermord.”

  8. @Frank M. & Jörg Friedrich

    Danke für die Überlegungen!

    Schon Charles Darwin war schockiert, nicht nur aus der Literatur sondern auch auf seinen Reisen von der Kindstötung unter “Wilden” (wie man dies damals nannte) zu hören. Auch heutige Ethnologen beobachten immer wieder Fälle von Infantizid auch bei Jägern und Sammlern und in Brasilien hat die Auseinandersetzung damit zu erbitterten Debatten auch innerhalb der Politik und Kirchen geführt:

    “Edgar Rodrigues vom Stamm der Barè, Chef der staatlichen Indianerschutzbehörde Funai im Teilstaat Amazonas, nennt die Kindstötung unter Indianern etwas Natürliches: «Ein Kind mit Behinderungen, mit Mängeln, würde aus der Sicht der Indios nicht für die Arbeit hier auf der Erde nützen, hätte nicht alle Möglichkeiten für den Dienst an der Gemeinschaft. Und damit dieser Mensch nicht das ganze Leben leidet, praktizieren sie diese frühe Euthanasie. Sie ist nicht nur bei den Yanomami, sondern auch bei anderen Stämmen Amazoniens üblich.»”
    http://www.nzz.ch/…n_in_brasilien_1.2457340.html
    Also: Infantizid ist auch unter Jägern und Sammlern belegt, mit der Einführung der Agrarwirtschaft richtet er sich jedoch massiver gegen Mädchen. Der Versuch, Kindesmord zu unterbinden ist dagegen ebenfalls “kultürlich”, wurde historisch v.a. aus dem Monotheismus begründet und war und ist von wechselndem Erfolg. Vgl.
    http://infanticide.org/history.htm

  9. @Sascha

    Huch, Du bist ja wieder ganz emotional dabei! Tief durchatmen und genau lesen helfen bei der Erkenntnissuche! 🙂

    Also, erstmal: Niemand hat hier behauptet, dass erst die Griechen die Agrarwirtschaft eingeführt oder es unter Monotheisten keine Kindstötungen gegeben habe. Was Kissel richtig beschrieb ist der neuartige Versuch einiger monotheistischer Traditionen, gegen das in allen Menschenkulturen auftretende Phänomen anzugehen, da für diese Traditionen (auch) jedes Kind als Geschöpf Gottes galt. Über diese Religionen wurde es sodann zu einer Norm, die auch Säkulare so verinnerlicht haben, dass sie heute als “natürlich” gilt – was sie aber nicht war und ist. Dass religiöse Traditionen an ihren Idealen dabei in der Realität auch scheitern wird hier m.E. keiner bestreiten.

    Die von Dir heraus gesuchten Quellen belegen das ja: Über Jahrhunderte versuchten kirchliche Einrichtungen wenigstens einige Morde zu verhindern und Leben zu retten. Und als im vor- und dann erst Recht nachrevolutionären Frankreich die Kindermorde in die Höhe schoßen, musste der Staat (Napoleon) eingreifen.

    Das prominenteste Beispiel aus dieser Zeit ist ja der prominente Aufklärer Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), der einerseits Gesellschaft und Kirchen kritisierte sowie mit “Emile” das Ideal einer freien, kindlichen Entwicklung entwarf – seine eigenen “störenden” fünf Kinder jedoch ins Waisenheim mit geringer Überlebenschance abschob… Wirtschaftliches Wohlergehen und Selbstverwirklichung versus Kinder, das waren auch schon damals oft Widersprüche, die nicht alle, und auch nicht alle Gebildeten, auflösen konnten oder wollten…

  10. Sie töten nicht ihre Kinder

    Verflixt! Ich habe heute irgendwo gelesen, dass in irgendeinem apokryphen Brief (von Dioklet?!) geschrieben steht, dass die Christen ihre Kinder nicht töten. War es in einem Leserbrief an die FAZ (habe heute die Ausgaben seit Samstag nachgeholt)? Wer kann helfen?

  11. @blume

    Statt Kindtötung lieber “Versklavung” solange sie spuren, sonst Aussetzung bzw. versteckte Tötung … wo ist da der Unterschied?

    In der B-Note? na super

    Geändert hat sich das erst wirklich nachdem die religiösen Kräfte an Macht verloren hatten. Warum wohl?

    Sicher wurde nicht behauptet, dass die Griechen die Agrarwirtschaft erfunden hätten ABER anhand des Zitats eines Griechen wurde auf die Kulturen, die die Agrarwirtschaft erfunden hatten verallgemeinert.

    Gerade für die Polytheistischen Kulturen z.B. aus Mesopotamien gibt es KEINE klaren Erkenntnisse bzgl. “Geburtenkontrolle” bzw. Kindstötungen.

    Eher im gegenteil, denn jeder Menschen war aus deren Sicht von den Göttern geschaffen, um den Göttern zu dienen.

    Was durchaus geschah waren Adoptionen, dh. eine reichere Person hat Kinder einer ärmeren Familie adoptiert – DAZU gibt es diverse Unterlagen.

    Kindstötungen/aussetzungen im großen Stil sind soweit ich weiss erst für die Griechen, Römer etc. nachweissbar und könnte daher durchaus auch andere Gründe als Agrarwirtschaft gehabt haben.

  12. @Jörg Friedrich

    Die eigentlichen Objekte der Evolution sind die Gene, nicht die Individuen und erst recht nicht das Überleben von Arten. Gene, die sich besser verbeiten als andere, tun genau das. Tötet ein Löwe also genetisch fremden Nachwuchs, setzen sich die Gene, die dieses Verhalten fördern, durch. Denn entweder trug der fremde Nachwuchs die gleiche Veranlagung oder nicht. Überleben tut am Ende durch das Verhalten aber der eigene Nachwuchs – der die Veranlagung trägt und weitergibt. Das lässt sich alles wunderbar mathematisch formulieren und durchrechnen. Als Dawkins 1976 “das egoistische Gen” geschrieben hat, war die Annahme noch neuartig. Heute ist sie etablierte Grundlage der Evolutionsbiologie.

  13. @Michael Blume

    Ich denke es wäre dann sinnvoll, wenn man verfeinern und Euthanasie explizit unterscheiden würde. Mir scheint zumindest ein anderer Anteil der Kultur beim Töten von z. B. behinderten Kindern und dem gezielten Töten von Mädchen vorzuliegen. Denn während bei Ersterem eine biologische Grundlage zumindest plausibel wäre, scheint mir das bei Letzterem weniger klar.

  14. China

    Herr Bohnenkamp, lesen Sie die Texte denn wirklich? China ist doch ein säkularer Staat, der gegen die Religionen war. Und dort werden vor allem Mädchen auch heute noch abgetrieben, ausgesetzt und getötet.

  15. Kasslerin

    lesen SIE die Texte wirklich?

    Die Überschrift des Blogs handelt von Kindesaussetzung, aber im Text geht es auf einmal um Kindestötung.
    Wie ich anhand von Quellen zeigen konnte, hatte die _Kindesaussetzung_ mit der Christianisierung eher zugenommen als abgenommen und führte im Prinzip auch häufig zu einer verdeckten Kindestötung.

    Nur weil das in China auch heute noch so sein mag, bedeutet das nicht, dass:

    – die Christianiserung Kindesaussetzung oder Tötungen in Europa effektiv verhindert hätte (das passierte nämlich erst NACHDEM die Kirchen deutlich weniger Macht hatten)

    – die Einführung der Agrarwirtschaft (neolithissche Revolution) zu vermehrten Kindesaussetzungen geführt hätte

    Ich habe das Gefühl, dass dem Monotheismus etwas zugeschrieben werden soll, was er nicht wirklich zu verantworten hat.

  16. Sascha B.

    Sie haben doch selber bereits darauf hingewiesen, wie eng Kindesaussetzung und Infantizid sowie Versklavung zusammen hängen. Und der Film oben thematisiert dies ja auch.

    Aber nach Durchsehen Ihrer Kommentare hier – zum Thema Lachen!!! – und in vorigen Posts sehe ich, dass Sie nicht wirklich an Argumenten Interesse haben, die Ihre Abneigung gegen Religion mildern könnten. Also lassen wir das Diskutieren lieber, Ihre Meinung steht ja schon fest.

  17. Am Thema vorbei

    Eine gute Abhandlung zur Aussetzung und Tötung von Kindern findet sich in: Sarah Blaffer Hrdy: Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution. 1999.

    Jungens werden bevorzugt, da sie „angeblich“ mehr Nachwuchs zeugen können, als Mädchen. Dieser Irrtum wird in R. A. Fisher: The Genetical Theory of Natural Selection. 1930. widerlegt.

    Weiterhin haben es weder Religion noch Weltanschauung durch Gewissen oder Gesetz geschafft, das Aussetzen oder Töten von Kindern zu verhindern.
    Nur Aufklärung und Kontrazeptiva haben die Anzahl der nicht-erwünschten Kinder wirkungsvoll reduziert. (Was die kath. Kirche immer noch nicht begriffen hat.) Dass viele Findelkinder ab dem 19ten Jahrhundert überleben konnten, ist der Erfindung der Pasteuriesierung von Milch, der Konservendose sowie dem Kunstdünger zu verdanken. Also Erfindern, Tüftlern und Wissenschaftlern – kurz gesagt Einzelgängern.
    Dies kann sich weder die Kirche, noch der Humanismus, noch die Wissenschaft auf ihre Fahnen schreiben!

    Die Suggestion „Monotheismus vs Kindesaussetzung“ ist eine Ohrfeige für die, die das Leid zu tragen haben. Nämlich für die Frauen, die gegen ihren Willen schwanger werden und nicht mehr aus noch ein wissen. Keine Frau gibt ihr Kind gerne ab oder lässt es sterben. Und keine Frau möchte als Mörderin von Kirche oder vom Gesetzgeber verunglimpft werden, wenn sie durch die Gesellschaft, deren Moral und vor allem durch deren fehlende Hilfeleistung dazu gezwungen wird.

    Wer zeigt denn heute noch mit dem Finger auf Frauen, die außerehelich Sex und Kinder haben? Wer verbietet die Pille und Empfängnisverhütung? Wer beschneidet immer noch durch HARTZ-IV?

  18. Kasslerin – Klarstellung

    falls es jemanden interessiert ..

    Wenn die Erfindung der Agrarwirtschaft zu mehr Kindstötungen geführt hätte, so hätte man dieses vor allem an frühen Kulturen, die de Agrarwirtschaft quasi gerade entwickelt hatte, feststellen müssen. Das ist gerade für den fruchtbaren Halbmond aber gerade NICHT nachweisbar.

    Im alten Griechenland und Rom gab es nachweislich “viele” Kindstötungen. Wie das im heidnischen Europa aussah ist soweit ich weiss nicht bekannt.

    Die Kirchen haben durchaus die direkte Kindstötung bekämpft, aber im Prinzip nur gegen Versklavung und versteckte Tötung ersetzt.
    Erst nachdem die Kirchen keine wirkliche Macht mehr hatten, haben Aussetzungen und Tötungen stark nachgelassen, können dem Monotheismus also nicht wirklich zugeschrieben werden.

    Was in China passiert ist schlimm, aber was hat das mit Monotheismus zu tun?

    Man könnte natürlich die von mir genannten Quellen anzweifeln .. hat hier jemand bessere?

  19. @Kasslerin Abneigung gegen Religion

    “Abneigung gegen Religion”
    Interessant wie aus “sollte man dem Monotheismus nicht zuschreiben” eine allgemeine “Abneigung gegen Religion” wird.

    Dadurch, dass man dem Monotheismus (also Islam, Judentum und Christentum), versucht eine Art Kinderschutz zuzuschreiben, hat man autom. alle polytheistischen und nicht theistischen Religionen (Hinduismus, Busshismus etc.) z.B. als kinderfeindlich gebranntmarkt – aber das ist natürlich in Ordnung.

  20. @all

    Einmal wieder eine gute Gelegenheit, für einen respektvollen und etwas weniger emotionalen Umgangston in diesem Blog zu werben. Sonst hat niemand etwas davon. (Daher wird der Blog auch seit Kurzem wieder moderiert.)

    @A.C.

    Ich stimme Ihnen zu, dass sich die komplexen Wechselwirkungen z.B. religiöser und wissenschaftlicher Faktoren nie auf nur einen Faktor werden reduzieren lassen. Nur: Das “Ideal”, dass kein Kind zu töten sei, hat sich eben maßgeblich und nachweislich über die monotheistischen Traditionen entfaltet. Das bedrückende ist ja z.B., dass heute in Indien und China pränatale Abtreibungen von Mädchen zunehmen “weil” medizinische Möglichkeiten dazu bestehen!

    Mit dem Hinweis, dass z.B. die katholische Sexuallehre auch sehr kritikwürdige Positionen bezieht, die diese Ideale oft konterkarieren, rennen Sie bei mir mehr als offene Türne ein:
    https://scilogs.spektrum.de/…auf-sich-mit-humana-vitae

    Darüber Nachdenken anzuregen war und ist ein Ziel dieses Blogposts.

    @Sascha

    Die Anregung, das Thema Infantizid auch in die Überschrift aufzunehmen, habe ich aufgenommen. Zu Deiner Frage: Ja, Hinweise darauf, dass sowohl die griechisch-römischen wie heutigen chinesischen und indischen Zustände im Bezug auf verbreiteten sog. “Genderzid” gegen Mädchen keine historischen Anomalien waren, häufen sich in der Tat. Mal ganz abgesehen von Kindesopfern, die es in vielen polytheistischen und auch noch frühen monotheistischen Traditionen gab (vgl. die nicht verschonte Tochter des Jepthe im AT), zeigten z.B. Genstudien von Balaresque et al. auf, dass schon im Zuge der ersten Ausbreitung der Agrarwirtschaft in Europa männliche Landwirte ihre Gene sehr viel häufiger mit Frauen aus den Jägerkulturen weitergaben. Vgl. (für Abonnenten) hier bei spektrumdirekt:
    http://www.wissenschaft-online.de/artikel/1019409

    Die Berichterstattung hat diese deutlichen Befunde häufig mit lustigen Bemerkungen a la “Bauer sucht Frau” kommentiert, aber m.E. fügt sich das viel eher in das beklemmende Bild der historisch fassbaren und gegenwärtigen Zustände in nicht-monotheistischen Agrarkulturen ein. Mehr dazu habe ich hier geschrieben:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…e.pdf

    Übrigens gilt gerade auch die babylonische Mythologie, in der z.B. Marduk seine Mutter Tiamat schlachtet, vielen (z.B. Bott) als Beleg für die agrarkultürliche Herunterdeutung der Frau. Wir hatten über dieses Thema ja schon vor einiger Zeit einmal hier debattiert.
    https://scilogs.spektrum.de/…06-22/tiamat-und-takhisis

    Allen einen schönen Abend – und einen sachlich-kühlen Kopf!

  21. @ Michael

    Da kann ich nicht ganz zustimmen.

    Da das Töten oder Aussetzen von Kindern eine Fehlinvestition ist, die aus energetischen Gründen prinzipiell zu vermeiden ist, ist das „Ideal“ möglichst viele Kinder groß zu bekommen mit Sicherheit biologischer Natur. Ich denke, die meisten Mütter möchten alle ihre Kinder behalten und sicher großziehen. Erst äußere Bedingungen zwingen sie zu solchen Maßnahmen. Aussetzen ist ja die Hoffnung darauf, dass das Kind überleben wird.

    Eine Aussage gegen das Aussetzen und Töten von Kindern würde ich auch vielen „humanistischen“ Autoren der vorchristlichen Zeit zutrauen. Allein es fehlen die Nachweise. Es handelt sich ja immer um persönliche Meinungen zu diesem Thema, nicht um die Meinung des „Christentums“ (Welches denn von den 200 frühchristlichen Sekten Roms?), oder der „heidnischen“ Welt.

    Ich würde die Aussage, dass dieses „Ideal“ dem Christentum zuzuschreiben ist, vorsichtshalber dahingehend ändern, dass die frühesten schriftlich überlieferten Nachweise christlichen Ursprungs sind.
    Zudem dürfte auch der Buddhismus ähnliche Ansichten unabhängig vom Christentum entwickelt haben.

    Eine weitere Frage in diesem Zusammenhang ist, warum manche Herrscher, das Aussetzen und Töten von Kindern unter Strafe stellten? Brauchten die ersten christlichen Kaiser etwa Soldaten? Auch bei Napoleon und Friedrich dem Großen (Schulsystem) sowie den osmanischen Janitscharen und dem rumänischen Geheimdienst sollte man da nach anderen „unchristlichen“ Motiven suchen?

    Letztendlich bleibt aber die Frage: Wenn das Christentum das „Ideal“ hatte, was ist dies dann Wert in einer Welt, die bis weit in das 19te Jahrhundert hinein, dieses Ideal nicht leben konnte. Zeigt sich hier ein religiöses „Ideal“ dann doch als zu „realitätsfern“? War die antike Weltsicht realer? (Was nicht bedeutet, dass ich tauschen möchte.)

  22. @Andreas

    Naja, ganz große Unterschiede sehe ich da nicht mehr. So habe ich ja z.B. oben bereits ausdrücklich geschrieben, dass eben nicht nur christliche, sondern auch jüdische und muslimische sowie – mit bis heute schwächerer Wirkung – buddhistische und taoistische Stimmen gegen den Infantizid ankämpften. Auch vereinzelte polytheistische Kritiken sind belegt. Nur: Zu lehramtlichen Verurteilungen, dem Druck zum Erlass staatlicher Verbote usw. ist es in Griechenland und Rom eben erst in monotheistischer Zeit gekommen.

    (Tip: Der EPOC-Artikel ist wirklich lesenswert, auch für Naturwissenschaftler, die Interesse am Menschen haben. 😉 )

    An Dich als Biologen hätte ich da aber doch auch eine Frage. Wie erklärst Du die massiv höhere Zahl der (teilweise pränatalen) Mädchentötungen in China und Indien, dort sogar im Vergleich der Konfessionen? Die Armut ist doch vergleichbar (indische Muslime gehören sogar durchschnittlich häufiger ärmeren Schichten an) und die biologische Ausstattung dürfte es doch auch sein? Kommt da biologistischer Reduktionismus nicht an erkennbare Grenzen?

  23. @ Michael

    Ich kann zu Deiner Frage auch nur spekulieren und interpretieren, da sich Versuche ja verbieten.

    Biologisch greifen da – für mein Dafürhalten – mehrere Mechanismen. Auf der einen Seite können Männer theoretisch fast beliebig viele Kinder haben. Frauen sind da limitiert. Wer sich also – genegoistisch – ausbreiten will, der sollte auf Masse, also auf Spermien-tragenden Nachwuchs setzen. Dies natürlich in der Hoffnung, dass er andere Konkurrenten aus dem Feld schlägt und genügend Frauen findet, die er monopolisieren kann.

    Dies ist aber aufgrund der Ressourcenverteilung im Habitat nicht immer möglich. In Tibet, z. B., sind die Ressourcen so knapp, dass die Frauen sich mehrere Männer (Brüder) leisten müssen, die die Familie versorgen. Es bildet sich eine Polyandrie mit einem anderen Stellenwert der Frau.
    In Ländern mit Landwirtschaft sind Monopolisierungen auf großen Höfen möglich. Polygynie ist die Folge, wie auch bei uns in Europa, auch wenn es selten zugegeben wird. Echte Monogamie wird selten gelebt.

    Als dritter Punkt kommt der soziale Status hinzu. Man/Frau identifiziert sich und ihre Rolle auch darüber, welche Kinder sie bekommen können. Versuche an Affen zeigen eindeutig, dass der soziale Status in einer Gruppe auch mit dem Geschlecht des Nachwuchses korreliert. Alpha-Weibchen haben signifikant mehr männlichen Nachwuchs. Für den Menschen wird ähnliches diskutiert. „Vorteilhafte“ Gene sollen sich so eventuell schneller ausbreiten (s. Punkt 1).

    Religionen basieren (auch) auf den Erfahrungen während ihrer Gründerzeit und schreiben die adaptierten Lebensverhältnisse in ihrem Ursprungsland und somit die Rollenverteilungen für alle Zeiten fest. Dies mit nicht unerheblichen Folgen für missionierte Kulturen, die bereits optimal angepasst waren.
    Welches Verhalten die religiösen oder kulturellen Minderheiten dann vor Ort (z. B. Muslime in Indien) zeigen, ist eine Mischung aus Überlieferung, den persönlichen Zielen vor Ort und individueller Möglichkeit dieses Verhalten umzusetzen. Zur Umwelt gehört ja nicht nur das Habitat, sondern auch der Artgenosse, der bestimmte Verhalten eventuell nicht zulassen will, weil es seinen eigenen Zielen im Wege steht.

    Religionen dienen hierbei – nach meiner Einschätzung – meist als Rechtfertigung für ein biologisch gesteuertes Verhalten, von dem ich selber nicht genau weiß, warum ich dies tue.
    Wo Religionen Ideale vermitteln, tun sie dies meist in der Absicht, das Verhalten anderer zu manipulieren. Die Vorteile davon haben aber nur die Wenigen, die auch die heiligen Schriften in ihren Sinne für die anderen interpretieren.

    Ich hoffe, es schließt sich irgendwann eine Gesprächsrunde über das Wechselspiel von biologisch-unbewussten Zielen und den kulturellen Rechtfertigungen und Argumentationsebenen – sprich Religionen – an.

  24. Hallo Michael,

    mir fällt es schwer, irgendeinen zwingend kausalen Zusammenhang zwischen Polytheismus und Kindstötungen zu erkennen. Argumentierst du, dass Kindstötungen durch den Monotheismus zurückgedrängt wurden?

    Mir fehlt ein wenig das Fazit, eine Zusammenfassung der Botschaft in deinem Artikel. Ich weiß nicht, was du vermitteln willst.

  25. @Blume

    Wie man die Abschlachtung von Tiamat durch Marduk interpretieren mag ist eine Sache … als Herabwürdigung der Frau bzw. Götter klingt durchaus vernünftig.

    ABER – die Agrarwirtschaft war zu der Zeit von Babylon schon längst etabliert … und aus einer “Herabwürdigung der Frau” kann man noch lange keine Kindestötung im großen Stil ableiten.

    Ergo kann der obige Mythos ggf. auch nur dazu gedient haben die Götter aus dem Süden (Sumer) herabzusetzen und keine praktischen Auswirkungen auf irgendwelche Kinder gehabt haben, oder?

    Gerade in islamisch fundamentalistischen Staaten werden Frauen / Mädchen durchaus auch heute noch für Niedrigkeiten hingerichtet, beschnitten etc. – wie passt das zu der Monotheismus=”Schutz der Kinder, Mädchen und Frauen” Behauptung?

  26. bzgl. Babylon

    Kindestötung ach prenatal war bei Ahmmurapi eine Straftat … auch ohne Monotheismus.

    Im Codex Hammurapi
    §209 ff. als Folge von Körperverletzung an der Mutter

    §230 ff. Kindestötung durch einen Unfall

    §154 ff. Verbot von Inzest

    §190 ff. Schutz von adoptierten Kindern

    §196 ff. Körperverletzung
    Of liest man “Mann”, aber ein Blick auf die Transliterierung offenbart LU “Person”, das gilt dann auch für Sklaven, Kinder und natürklich auch für Frauen etc.
    (ein sehr oft gesehener Übersetzungsfehler)

  27. @Martin B. & Sascha B.

    Ja, es stimmt schon – hier wollte ich bewusst keine “Botschaft” unterbringen, sondern einfach zum Nachdenken anregen. Denn das haben die Beobachtungen in Kissels hervorragendem EPOC-Artikel ja auch bei mir bewirkt – das Nachdenken über die Wurzeln von Konzepten wie Menschenrecht und Menschenwürde auch im Bezuf auf Kinder, die sich eben nicht “von alleine” zu entwicklen scheinen, sondern errungen wurden und werden. Mir war bereits bekannt, dass die monotheistisch legitimierte Wertschätzung Neugeborener in jüdischen, christlichen und später islamischen Traditionen zu ihrem demographischen Erfolg in der Spätantke beitrug, aber Kissel geht da eben noch deutlich tiefer.

    Die auch nachdenklichen Kommentare hier (z.B. von Frank M. und Andreas C.) haben mich daher sehr gefreut – denn zum Nachdenken auch über schwierige Themen, die in unserem Alltag aus dem Blickfeld geraten, möchte ich anregen. Dass z.B. auch chinesische und indische Mittelschichten mit steigender Bildung (!) Mädchen abtreiben, sollte m.E. wahrgenommen werden.

    @Sascha B.

    Schade, auf die o.g. heutigen Daten wie auch auf die erwähnte Gen-Studie zur Ausbreitung der Landwirtschaft bist Du wieder einfach nicht eingegangen. Wie kommt es, dass Du immer wieder die Themen wechselst, wenn man Dir antwortet? So macht das viel Arbeit, aber keinen Spaß. Dann kann ich mir die Mühe auch wirklich sparen.

    Und abgesehen davon, dass ich seiner “Psychogeschichte” sehr skeptisch gegenüber stehe – wie bewertest Du die Vielzahl der Befunde zur Kindesaussetzung und -tötung, die deMause im Hinblick auf antike Staaten einschließlich des Orients zusammen getragen hat?
    http://www.psychohistory.com/…8_infanticide.html

    Diese gravierenden Probleme gab und gibt es – ebenso wie die teilweise erfolgreichen Versuche später religiöser v.a. monotheistischer Traditionen, dagegen anzugehen. Dass (auch? erst?) Hammurapi die Notwendigkeit dazu sah, per Gesetz dagegen vorzugehen, unterstreicht dies m.E. deutlich, zumal er sich in bereits henotheistischer Manier auf Marduk berief. Auch in China und Indien sind ja Gesetze gegen den (auch pränatalen) Infantizid erlassen worden – sie werden nur nicht eingehalten. 🙂 Insofern könnte die diesbezügliche Religions- und Rechtsentwicklung in der Tat ein sehr interessanter Fall sein (und ggf. durchaus auch spätere, monotheistische Traditionen, z.B. das babylonische Judentum, mit-beeinflusst haben). Wenn Du mir ein glaubwürdiges Buch zu Familienstrukturen und Demographie in den antiken Reichen von Babylon und/oder Sumer nennen kannst, schaue ich es mir gerne an.

  28. Erfolg doch kulturell?

    Eine kleine Respektlosigkeit, die aber wichtig werden könnte.

    Es scheint mir fast so, als ob die Argumentation um die ersten Gesetze gegen Kindesaussetzung und Kindestötung den Ausbreitungserfolg des Christentums (bzw. Monotheismus) mit begründen sollen.
    Ob dem wirklich so ist, wird wohl schwer zu beweisen sein. Status Quo ist aber, dass das Christentum andere Religionen damit aus dem Rennen geworfen hat. Genauso wie der Islam auch andere Religionen verdrängt hat.

    Michaels geht in seiner bisherigen „Habil“ davon aus, dass sich Religionen durch religiöse Menschen ausbreiten, da sie ihren Trägern Reproduktionsvorteile bescheren. Die Geburtenraten suggerieren biologische Vorteile.
    Wenn aber zwei Religionen (Monotheismus vs Polytheismus) direkt miteinander verglichen werden, die ja beide auf biologischen Vorteilen basieren, dann gewinnt die Religion mit den „besseren“ Glaubensinhalten. Dies bedeutet, dass kulturelle Vorteile stärker ins Gewicht fallen, als rein biologische.
    Das Zünglein an der Waage ist also rein kulturell (wenn auch auf dem Rücken der Kinder).

  29. @Andreas: Genau! 🙂

    Nein, respektlos ist das gar nicht, sondern durchaus gut erfasst! Religiosität wird zu kulturellen Varianten ausgeformt, die je nach Umweltbedingungen unterschiedlich erfolgreich sind und so Anhänger (auch) mit durchschnittlich höherem Reproduktionserfolg ausstatten – was wiederum die genetischen Grundlagen von Religiosität verstärkt. Das, genau das, ist Gen-Kultur-Koevolution oder biokulturelle Evolution, Andreas! 🙂
    https://scilogs.spektrum.de/…2/biokulturelle-evolution

    Witzigerweise brachte auch David Sloan Wilson das Beispiel des frühen Christentums, als wir neulich über das Thema sprachen. In ein paar Tagen gerne mehr dazu.

  30. Gesellschaft negiert sich selbst

    @Herr Blume!
    Ich finde es schön, dass dieses wichtige Thema mal angesprochen wird.
    Allerdings teile ich Ihre Einschätzung über die Ursprünge dieses Ungleichgewichtes nicht vollständig.
    Meines Erachtens ist so eine massive Kindstötung von weiblichen Kindern nur in Patriarchischen Gesellschaften möglich, also zynischerweise in denen, in denen auch der größte Druck auf junge Männer besteht, eine Partnerin zu finden.
    Im Inneren einer solchen Gesellschaft ist die Haltung zu Homosexualität natürlich eine ganz andere als in unseren. Da es für viele Männer einfach schon statistisch unmöglich ist, eine Frau zu finden, weichen sie beim Versuch der Triebbefriedigung irgendwann auf Männer aus.
    Es bleibt ihnen auch kaum eine andere Wahl, wenn sie die menschlichen Triebe nach Zärtlichkeit und Intimität nicht durch andere Faktoren abwürgen können. Und diese andere Faktoren finden sich übrigens komischerweise in beinahe allen solchen Gesellschaften: Die Verherrlichung von Apathie in der Stoa, die gelebte Sexualfeindlichkeit in Klöstern z. B. bei Buddhisten und Katholiken, in der moderne (im Westen, wo der Frauenanteil auch sehr gering war) das Ideal des harten, starken Mannes mit Schießeisen und das Coolness-Ideal im modernen TV. Andererseits kannten schon die antiken Griechen Mysterienkulte mit Drogen, um sich zu berauschen. Und das Kriegsführen wurde auch als viel selbstverständlicher akzeptiert, da es dem männlichen Verlangen nach Konkurrenz nachkommt und (es tut mir leid, es so zynisch formulieren zu müssen) es die Schwämme an jungen Männern effektiv unterbindet.

    Machen die Überlegungen soweit Sinn oder bin ich schon auf den Weg in eine wirre Traumwelt abzugleiten?

    P.S.: Ich habe hier noch einen interessanten Artikel zu diesem Problem gefunden, der einige interessante Links beinhaltet:
    http://groups.google.com/…e/msg/3b799aeccdea9bcb
    Aus dem Fazit: “An dieser Stelle spornt die aktuelle Entwicklung in Asien auch dazu an, über etablierte Bilder von Geschlechterrolle und Lebensweg nachzudenken und neueren Wegen gegenüber mehr aufgeschlossen zu sein.”

  31. @ Michael Teil 2

    Teil 2:

    Es geht respektlos weiter. Aber besser ich stelle die Fragen, als die Prüfer in Deiner Habil.-Prüfung;-)

    Gen-Kultur-Koevolution. Das setzt sich aus zwei Fachdisziplinen zusammen. Gene bedeutet in dem Wort, das Du eine Eigenschaft oder Fähigkeit definieren musst, die per Gen vererbt werden kann. Religiosität setzt sich aus mehreren Fähigkeiten zusammen (z. B. Mimik, Gestik, Sprache, Glauben), die unabhängig voneinander vererbt zu werden scheinen. Auf welcher vererbbaren Eigenschaft aber basiert das, was Du als Grundlage der Religiosität ansiehst?

    Diese Adaption muss drei Kriterien in der Biologie erfüllen (s. E. Voland im Werbebanner neben dem Text):
    1. Ihr muss ein Gen zugeordnet werden können (mit Kontrolle durch Ausfall / Krankheit)?
    2. Was waren die Selektionsfaktoren zum Zeitpunkt der Entstehung?
    3. Was war der Vorteil für den ersten Träger dieser Mutation (er war ja noch alleine).

    Selbst, wenn keine Selektion vorliegen würde, so zeigen doch Beispiele aus Koaleszenz und biologischer Drift, dass sich einzelne Gene innerhalb von 200.000 (Eva-Theorie der mitochondrialen DNA ) bzw. 100.000 (Adam-Theorie de Y-Chromosomen) Jahren weltweit ausbreiten können und wir diesbezüglich alle miteinander verwandt sind. Mit Selektion geht es noch etwas schneller. Theoretisch müsste daher jeder Mensch das postulierte „Religiositäts“-Gen besitzen. Leider verspüren Unmengen von Menschen nicht den Wunsch dazu, diese Fähigkeit auszuleben.
    Der Status Quo von ca. 10 – 34 % Atheisten in Deutschland (60 % in der Tschechischen Republik, X% in China) zeigt, dass dieses Gen besondere Eigenschaften haben muss;-)
    Die Anzahl der Atheisten zeigt aber zumindest, dass die kulturellen Selektionsfaktoren zur Zeit offensichtlich nachlassen.

    Die Fragen sind gestellt: Wie heißt die vererbte Eigenschaft oder Fähigkeit? Und wie sieht ihr Erbgang aus? Welche Vorteile bietet sie? Auf welche Weise wirkt sie?
    Oder kulturell: Was ist Religion? Wie funktioniert sie? Wie breitet sie sich aus? Wozu ist sie gut?

  32. @Michael Teil 1

    Teil 1:
    Ich bleibe mal respektlos in meinen Fragen, denn irgendwie kann ich den Erfolg nicht sehen. Aber ich denke, diese Fragen sind wissenschaftlich vertretbar in diesem Blog.

    In der polytheistischen Antike wurden Kinder ausgesetzt und starben bzw. wurden versklavt. Laut Kissel (epoc 5/2011) überlebte ein gewisser Prozentsatz als Sklaven und konnte später die Freiheit wiedererlangen. Das „Christentum“ stellte das Aussetzen und die Kindstötung unter Todesstrafe. Laut Sarah Bluffer Hrdy (Mutter Natur, Kap. 12 u. 13) starben selbst im 18ten und 19ten Jahrhundert noch bis zu 99 Prozent der Findelkinder in den christlichen Heimen Europas. Alles was das „Christentum“ machen konnte, war die Kinder taufen bevor sie verhungerten oder am Epidemien starben.
    Wo ist da der reproduktive Vorteil des Christentums gegenüber der Antike? Doch nicht etwa darin, dass die „unschuldigen“ Mütter auch noch sterben mussten?

    Hat sich das Christentum wirklich reproduktiv durchgesetzt? Oder etwa per Verordnung (Dreikaiseredikt Cunctos Populos) sowie durch Kriege (z.B. Sachsenschlachten) und Bekehrung der Könige (und somit samt ihrer unwissenden Untertanen)?

    Sehe ich mir heutige Umfragen an, woran die deutschen Christen so glauben, so sehe ich nicht einmal einen großen Unterschied zum Polytheismus der vorchristlichen Antike. Ca. 34 % sind Atheisten oder konfessionsfrei. 30% üben sich in esoterischen Praktiken und Mysterien. Über 60 % glauben nicht an die Hölle, und damit nicht als Jesus als Erlöser. 50% glauben nicht an die Göttlichkeit Jesu. Fast 70 % sehen Gott als Teil der Natur (Pantheismus). 99% der kathol. Kirchgänger kennen nicht einmal die Kernaussage des Christentums. Von den Glaubensinhalten der Sekten, wie den Evangelikalen, Zeugen, etc. ganz zu schweigen. (- Je nach Umfrage schwanken die Zahlen, die Heterogenität im Glauben bleibt aber.)

    Ich erlaube mir die blasphemische Frage, wie Du, Michael, den Begriff Christentum definieren möchtest, damit er zur Hypothese der Ausbreitung durch reproduktive Vorteile passt? Ich hätte da extreme Schwierigkeiten.

  33. @LastTrueNazoräer

    Danke, die Überlegungen machen m.E. durchaus Sinn! Denn, ja, die psychologischen Folgen von Agrarwirtschaft und Patriarchat waren und sind gravierend. Ich halte es durchaus auch für möglich, dass in der Überlieferung aus der Vertreibung aus dem Paradies entsprechende Traumata erinnert wurden (und werden).
    https://scilogs.spektrum.de/…ies-an-den-weihnachtsbaum

  34. @Andreas

    Wie es der Zufall will, habe ich zu Deiner Frage nach Selektion und der polygenen Grundlage von Religiosität einen Blogbeitrag verfasst:
    https://scilogs.spektrum.de/…-fitness-und-religiosit-t

    Und auch über die Definition von Religiosität – die m.E. bereits besser definiert ist als Intelligenz – ist bereits ein Blogbeitrag erschienen:
    https://scilogs.spektrum.de/…e-definition-von-religion

    Zum Christentum der Hinweis, dass es sich ja erst Jahrhunderte “gegen” staatliche Verfolgung ausbreiten musste, bevor es demografisch so stark wurde, dass es von den Herrschenden aufgegriffen wurde.
    https://scilogs.spektrum.de/…kulte-und-siegte-der-eine

    Dass der Umgang mit Kindern und Infantizid dabei einen Unterschied machen konnte ist dabei ja nicht nur eine historisch starke These, sondern auch heute zu beobachten – vgl. die oben erwähnten Daten aus Indien und China.

  35. @blume deMause …

    Ich habe mir den Link durchgelesen und halte seine Ausführungen für – ich zitiere die Wiki zu ihm:

    “Mehrere Psychologen und Anthropologen behaupten, seine Theorien seien nicht durch glaubwürdige Forschungsarbeit untermauert.”

    Kleines Beispiel .. Lilith wäre wie andere Götter verehrt worden, ist völlig abwegeig, sie wurde gefürchtet, da man sie für Geburtsprobleme etc. verantwortlich machte. Es sind KEINE Opferungen zugunsten Liliths dokumentiert.
    Es gab auch keinen bekannten Schrein für diesen “Geist”.

    Auch bezieht sich dieser Autor primät auf die Griechen und Römer. Er schreibt von den ersten Staaten und erwähnt im gelichen Absatz Rom, Europa, Karthago etc.

  36. Zur Genstudie

    Ich habe (noch) kein Spektrum Direkt, aber es handlelt sich vermutlich um diese Studie, richtig?
    http://www.plosbiology.org/…rnal.pbio.1000285#s3

    Deise Studie stellt fest, dass die Bauern “damals” einen Reproduktionsvorteil hatten und für die “Jägerinnen” offensichtlich “attraktiver” als die “Jäger” waren.

    Ich sehe allerdings keinen direkten Zusammenhang zu Kondestötung, -aussetzung oder gar Monotheismus?

    Ich hatte ansonsten auf diese “Antwort” nicht sonderlich stark reagiert, weil du mit dieser Studie über einen Mythos auf das Verhalten der Altorientalen schlissen wolltest .. da wusste ich weder zu weinen noch zu lachen.

  37. @Sascha

    Bei allem Verständnis für Deine Fixierung auf den alten Orient: Um diese Kultur ging es hier zunächst in keinem Satz und Du kannst mir weiterhin auch keine Quellen nennen, die glaubhaft belegen könnten, dass es in Sumer & Babylon völlig anders war als z.B. in Griechenland und Rom. Zugleich lehnst Du aber alle Indizien aus anderen Kontexten (vor allem auch die heutigen Daten, aber auch alle antiken Quellen und des auffälligen Reproduktionsverhaltens schon der ersten Ackerbauern in Europa etc.) als irrelevant ab – weil sie ja nicht von Sumer & Babylon handeln…

    Ich denke, so kommen wir nicht weiter und würde vorschlagen, dass Du Deine Freunde im Religionskritik-Forum weiter beeindruckst. Immerhin habe ich gerade auf Deine Anfragen hin einen eigenen Evolutionären-Fitness-Beitrag gepostet, jetzt ist es aber auch mal einfach gut, okay?

    Beste Grüße nach Babylon! 🙂

  38. @A.C.

    “Biologisch greifen da – für mein Dafürhalten – mehrere Mechanismen. Auf der einen Seite können Männer theoretisch fast beliebig viele Kinder haben. Frauen sind da limitiert. Wer sich also – genegoistisch – ausbreiten will, der sollte auf Masse, also auf Spermien-tragenden Nachwuchs setzen. Dies natürlich in der Hoffnung, dass er andere Konkurrenten aus dem Feld schlägt und genügend Frauen findet, die er monopolisieren kann.”

    Das ist falsch. Gehen wir von einer Modellpopulation von 10 Männern und 10 Frauen aus. Wenn jeder von denen nun 1 Junge und 1 Mädchen bekommt, dann (abzüglich von Verlusten durch Mord, Selbstmord, Unfälle und Abwanderung oder so) dann wächst die Population leicht une jeder hat eine Chance, seine Gene weiterzugeben.
    Wenn aber nun ein Paar 2 Jungen bekommt, wie wirkt sich das aus?
    Nun haben wir einen Jungen zuviel, der Selektionsdruck auf die Männer wird größer und es lohnt sich wieder mehr in Frauen zu investieren. Das nennt die seriöse Evolutionsforschung Fishers Prinzip:
    en.wikipedia.org/wiki/Fisher’s_principle

    Völlig egal, wie viele Frauen ein Männchen befruchten kann, je mehr Männer es gibt, desto besser sind die Chancen für Mädchen, einen abzubekommen im Vergleich zu Jungen!

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