Baden-Württembergische Bildungspläne: Durchmarsch der Techniker

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… aber nicht einfacher
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[Update 20.9.: Allgemeinere Betrachtung zu Kontexten, Schülerinteresse, Klima/Klimawandel etc. im neuen Blogbeitrag Bildungsplan Naturwissenschaft und Technik 2016 in BW: Kontext-Korsett]

[Update 24.9.: Orientierungswissen zu Sonnensystem, Stellung des Menschen im Universum wurde aus Physik und NwT systematisch gestrichen: Kein Blick über den kosmischen Tellerrand in Baden-Württemberg]

Die Pessimisten unter den Lehrern, mit denen wir als Haus der Astronomie zusammenarbeiten, hatten es bereits kommen sehen – und hatten befürchtet, dass in den Bildungsplänen 2016 des Baden-Württembergischen Kultusministeriums diejenigen Themen, mit denen sie ihre Schüler besonders motivieren konnten, keinen leichten Stand haben würden.

Aber dass es so schlimm kommen würde, hatte ich nicht gedacht.

Bildungspläne sollten ein Rahmen sein, der Vielfalt zulässt war die ursprüngliche Aussage gewesen – so steht es z.B. im Wahlprogramm der Grünen zur Landtagswahl 2011 (S. 104), wo die Bildungspläne als “Leitplanken” tituliert werden, innerhalb derer “ein Maximum an Flexibilität” möglich sei.

Pustekuchen.

Paradebeispiel ist das Fach “Naturwissenschaften und Technik” (NwT) für die Klassen. Das war im Bildungsplan 2004 als Fächerverbund eingeführt worden:

Im Fach Naturwissenschaft und Technik werden Themenstellungen aus den Blickwinkeln aller Naturwissenschaften fächervernetzend betrachtet. Dabei werden die in den Basisfächern Biologie, Physik, Chemie und den Geowissenschaften erworbenen Kenntnisse vertieft und naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen vermittelt. Die behandelten Themen orientieren sich an der Erfahrens- und Gedankenwelt der Schülerinnen und Schüler.

Innerhalb dieser “Leitplanken” waren vielfältige Umsetzungen möglich – je nach den Interessen der Schülerinnen und Schüler, aber, und das ist ganz wichtig, auch den Interessen und besonderen Fähigkeiten der Lehrer. Bei den Lehrern, mit denen wir am Haus der Astronomie zu tun haben, waren das natürlich vor allem astronomische Umsetzungen des Themas Naturwissenschaften und Technik.

Interessant und reizvoll ist an solch einem Fach nicht zuletzt, dass man Naturwissenschaften und Technik so oder so gewichten kann. Ein großer Teil der Naturwissenschaft ist Grundlagenforschung – die Technik ist da Mittel zum Zweck, aber von ihr wird auch besonders viel verlangt: Für ein modernes Großteleskop, um mal ein Beispiel aus der Astronomie zu wählen, müssen optische und mechanische Bauteile entwickelt werden, die ohne Astronomie niemand erschaffen würde – die aber, wenn sie einmal da sind, auch durchaus anders genutzt werden können.

Gegenpol dazu ist ein der Standpunkt, der von der Technik ausgeht – da ist die technische Anwendung das wichtige, und die Naturwissenschaften liefern lediglich die Hilfestellung zur Anwendung: Die Physik sagt mir, wie ich mein Getriebe konstruieren muss, wie die Hebel in meiner Maschine funktionieren und was die Grundlagen der Elektronik sind, die Chemie liefert mir Antriebsmöglichkeiten, die Biologie liefert mir in Form der Bionik Funktionsprinzipien, die ich mit technischen Mitteln nachahmen kann.

Im neuen Bildungsplan 2016 ist von diesen beiden Betrachtungsweise nur eine übrig geblieben. Es handelt sich um einen fast totalen Durchmarsch der Techniker.

Dort wird sehr kleinteilig vorgeschrieben, was inhaltlich zu lernen ist: Steuerungen. Regelungen. Algorithmen dazu. Sensoren. Grundbegriffe der Energieversorgung. Getriebe. Energiespeicherung. Statischer Aufbau von Lebewesen und technischen Objekten. Elektronische Schaltungen.

Das ist schlicht ein Fach Technik, das sich ein Mäntelchen der Interdisziplinarität übergeworfen hat. Nirgends ein Hinweis darauf, dass Naturwissenschaften auch etwas anderes sein können als Hilfswissenschaften für die Ingenieure.

Das ist kurzsichtig und wiederspricht auch mindestens einem der in den Leitgedanken zum Fach NwT genannten Ziele:

Ferner benötigt die Gesellschaft auch in Zukunft Personen, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen und technische Entwicklungen hervorbringen können.

Genau! Aber hat sich bei der Umsetzung jemand Gedanken gemacht, wie man solche Personen gewinnt? Indem man sie für die Wissenschaft begeistert, dort ansetzt, wo die Schnittmengen der Wissenschaften mit ihren Interessen liegen.

Stattdessen tappt der Bildungsplan NwT in die gleiche Falle wie leider eine Reihe anderer Förderprogramme der Wissenschaftskommunikation. Ich hatte vor ein paar Jahren in Wissenschaft ohne Faszination? das absurde Theater beschrieben, wie die Kampagne “Science: It’s a Girl Thing” auf ihren offiziellen Webseiten ganz die Anwendung in den Vordergrund stellte: Mädchen, ihr könnt helfen die Welt besser zu machen! Die Probleme der Menschheit zu lösen! Erst in den Interviewfilmen mit Wissenschaftlerinnen kam dann, trotz Interviewführung in ganz andere Richtungen, zur Sprache, wie die Wissenschaftlerinnen wirklich zu ihrem Job gekommen waren, nämlich durch Faszination, die in der Regel nicht die Anwendungen betraf, sondern die großen, grundsätzlichen Fragen. Die ungelösten Dinge, die Rätsel, das, worüber man nachdenken konnte – Mathematik, ein eigener Computer, Astronomie.

Diese Faszinationsthemen und, ja, die großen Fragen habe ich im Bildungsplan NwT nirgends gefunden.

Und die Lehrerinnen und Lehrer, die diese Faszination in den bisherigen, weiteren Leitplanken z.B. über die Astronomie vermitteln konnten, oder über die Sportwissenschaft, oder über Langzeitbeobachtungen des Wetters oder über eine Vielzahl anderer Projekte, sind jetzt am Gängelband. Denn wenn per Edikt soviele verschiedene technische Kenntnisse vermittelt werden müssen, bleibt für diese Art von kreativer Unterrichtsgestaltung keine Zeit.

Ach ja: Wer als Lehrende/r als interdisziplinäres Thema z.B. den Klimawandel besprechen möchte – eines der wohl drängendsten Probleme unserer Zeit, das interdisziplinäre Kenntnisse voraussetzt und einen Rahmen bietet, um Chemie, Physik, Modellierungsverfahren und vieles mehr zu vermitteln – hat aus denselben Gründen schlechte Karten. Sorry. Dass ein Bildungsplan einer immerhin recht grünen Landesregierung mal die Möglichkeit abschaffen würde, den Schülerinnen und Schülern interdisziplinär den Klimawandel beizubringen, hätte ich echt nicht erwartet. Ist aber wohl so.

Ein Bildungsplan zu NwT der aus “Naturwissenschaften und Technik” eine Technik mit naturwissenschaftlicher Hilfestellung macht, bisherige innovative Unterrichtskonzepte zunichtemacht und die engagierten Lehrerinnen und Lehrer, die sie entwickelt haben, abwatscht, der Themen wie Klimawandel ebenso verdrängt wie diejenigen großen Fragen, die Schülerinnen und Schüler nachweislich faszinieren (für die Astronomie hatte ich das ja gerade in meinem vorletzten Blogbeitrag mit Studien belegt) – armes Baden-Württemberg.

Einziger Hoffnungschimmer: Noch, nämlich bis zum 30. Oktober, ist der Bildungsplan in der Anhörungsphase. Wer in Baden-Württemberg Elternteil ist und die feindliche Übernahme von NwT durch die Technik genau so erschreckend findet wie ich, oder wer als Wissenschaftler Einspruch erheben möchte, dass die Grundlagenforschung dort komplett untergebuttert wird, kann sich zu Wort melden.

Hier stehen die Details zur Anhörung, und hier geht es direkt zum Anhörungsformular.

 

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

6 Kommentare

  1. Im Lehrplan der Schulen Baden-Württembergs gibt es ab dem Schuljahr 2016/2017 das neue Fach „Wirtschaft Berufs- und Studienorientierung“. Dieses Fach gab es bisher lediglich an Realschulen in Nordrhein-Westfalen, wo es jedoch wieder eingestellt wurde. Wenn ein komplett neues Fach in den Lehrplan aufgenommen wird, dann muss halt anderswo gekürzt werden. http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/Startseite/de_a/a_gym_WBS

  2. Gekürzt wird bei der Geographie nicht in der NWT. Erdkunde ist doch vernachlässigbar, Hauptsache ich kenne die Gesetze des Marktes. Technik ist ein wichtiger TEIL der NWT und sollte somit nicht dazu führen das wir das Fach umbenennen müssen. 🙁
    Die Vermittlung von Kompetenzen und Faszination muss imho im Fordergrund stehen.

  3. Im Idealfall wird der Klimawandel in Baden-Württembergischen Schulen so vermittelt, dass er auf dem bestehnenden physikalischen, chemischen und geographischen Wissen der Schüler aufbaut und es gegenfalls erweitert. Verhindert der Bidlungsplan diese Vermittlung? Indem der Bildungsplan eine strikte Vorgabe ist an die sich jeder Lehrer halten mus sowohl in dem was er vermitteln soll als auch in dem was er nicht unterrichten soll?
    Dies zu

    Dass ein Bildungsplan einer immerhin recht grünen Landesregierung mal die Möglichkeit abschaffen würde, den Schülerinnen und Schülern interdisziplinär den Klimawandel beizubringen, hätte ich echt nicht erwartet. Ist aber wohl so.

    Ich könnte mir vorstellen, dass man für die Baden-Würtembergischen Schüler einen Text über den Klimawandel verfasst, der auf ihrem Wissen aufbaut und dementsprechend über das hinausgeht was in der Wikipedia angeboten wird. Das wäre sogar dann sinnvoll, wenn der Bildungsplan den Klimawandel nicht explizit vorsieht.

    Überhaupt wäre es ein sinnvolles Projekt eine Art Wikpedia für Schüler zu verfassen. Diese Wikipedia wäre auf das Wissen eines bestimmten Jahrgangs abgestimmt und würde Hintergrundwissen liefern – auch zu Themen, die im Bildungsplan gar nicht stehen. Schüler die nur wissen was an der Schule gelehrt wird sind ohnehin schlechte oder faule Schüler. Die Schule sollte das Potenzial der Schüler vergrössern und ihnen das an die Hand geben, mit dem sie ihre (und unsere) Welt selber besser begreifen und verstehen können. Die Schule aber soll und kann nicht eine Gebrauchsanleitung für die Welt oder nur schon für das Leben in Deutschland sein.