Anglizismus des Jahres: Zwischenmeldung

BLOG: Sprachlog

Alle Sprachgewalt geht vom Volke aus
Sprachlog

Button für den Anglizismus des Jahres 2011Obwohl die Nominierungen zum Anglizismus des Jahres noch bis zum 31. Dezember laufen, ist es höchste Zeit für eine Zwischenmeldung. Bis heute sind nämlich bereits 46 Wortvorschläge eingegange (einige davon mehrfach). Zum Vergleich: Im letzten Jahr wurden bis Ende Dezember nur 38 Wörter nominiert.

Bei den Themenbereichen, aus denen die nominierten Wörter stammen, gibt es einen auffälligen Unterschied zum letzten Jahr: Die Finanzkrise, die uns ja eigentlich schon länger beschäftigt, ist mittlerweile offensichtlich so präsent, dass sie sich in einer Reihe von Vorschlägen wiederspiegelt: Bail-out, Compliance, Euro-Bonds, Haircut, Rating/raten, und Stresstest (wobei letzteres natürlich auch bei der öffentlichen Diskussion um die Abneigung der Stuttgarter gegen einen neuen Bahnhof eine Rolle gespielt hat).

Der dominante Bereich ist aber, wie im letzten Jahr, der Bereich IT und Internet. Einige der nominierten Wörtern bezeichnen Technologien: Cloud, Handy-Ticketsystem, Onleihe, Smartphone, Tablet. Andere Wörter bezeichnen den Umgang mit diesen Technologien, nämlich die Substantive Contentfarm, Copy & Paste, Copy-and-Paste-Kultur und Cyberwar/Cyberkrieg und die Verben adden, circlen, frienden, liken, screenshotten, trenden und twittern. Das ist nur natürlich, denn Wörter werden immer in kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entlehnt, in denen schnelle und tiefgreifende Veränderungen stattfinden, und das Internet wird auf absehbare Zeit ein solcher Bereich sein.

Das zeigt sich vor allem auch in einer Reihe von Wortkandidaten, die soziale Praktiken bezeichnen, die ihren Ursprung oder ihren natürlichen Entfaltungsraum im Internet haben, aber von dort aus auch in die Gesellschaft insgesamt hineingetragen werden: Barcamp, Hacktivism, Liquid Democracy, Nerd, Nerdbrause, Nerdmädchen, Nerdpartei, Occupist, Occupy, Occupy-Bewegung, Post-Privacy, Shitstorm, und whistleblowen.

Die klassischen Medien sind bisher mit nur zwei Vorschlägen — Casting-Truck und Scripted Reality — sehr schwach vertreten, ebenso wie gesellschaftliche Praktiken außerhalb des Internets — Burn-Out, Carsharing und gendern. Interessanterweise ist der eher unerwartete Bereich Ernährung zweimal vertreten: Bubble Tea und Cupcake.

Auch ein paar Eindeutschungen sind nominiert, nämlich Fazialpalmierung, Fratzenbuch und realisieren (in der Bedeutung „einer Sache gewahr werden“). Außerdem ist mit –gate erstmals auch ein Affix dabei.

Die Jury wird sich nun in den nächsten Tagen daran machen, die bisher vorgeschlagenen Wörter zu sichten und die Kandidaten auszuwählen, die den Kriterien genügen. Die Jury, das sind, wie im letzten Jahr, Susanne Flach, Kristin Kopf, Michael Mann und ich, sowie der neu hinzugekommene Jan Wohlgemuth. Sie alle sind nicht nur Experten für verschiedene relevante Bereiche der Sprachwissenschaft (Sprachkontakt, Sprachgeschichte, Lexikographie und Lehnworttypologie), sondern beschäftigen sich auch populärwissenschaftlich mit Sprache und Sprachen. In dieser populärwissenschaftlichen Funktion wird die Jury in den nächsten Wochen auch interessante Wortkandidaten herausgreifen und diskutieren. Wer hier nichts verpassen will, sollte regelmäßig im offiziellen Anglizismus-des-Jahres-Blog vorbeischauen, wo die Beiträge erscheinen oder verlinkt werden. Auch über die Facebook-Seite des Sprachlogs wird über alle Beiträge informiert.

Wir freuen uns auf viele weitere Nominierungen (über die Nominierungsseite).

Avatar-Foto

Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

10 Kommentare

  1. Anglizismus welchen Jahres?

    Ich dachte, ihr sucht Neuzugänge aus dem perfiden Albion und seinen abtrünnigen Kolonien. Im Blogeintrag sind aber viele Beispiele für längst etablierte Anglizismen enthalten.

    Hab ich da was falsch verstanden?

  2. Achim, du hast da, falls ich mich nicht irre, nichts falsch verstanden. Die von A.S. oben genannten Wörter beziehen sich auf die Gesamtheit der bisher eingereichten Vorschläge. Bevor die Jury tagt, wird die Liste durch Anwendung der formalen Kriterien (u.a. Entstehungsjahr) noch ausgedünnt. Allerdings wurde dies auch schon im Vorjahr nicht streng beachtet, d.h. der Fokus lag weniger auf dem Jahr der ersten Verwendung des Angliszimus’, sondern auf dem Jahr, in welchem das Wort in seiner Bedeutung/Wahrnehmung einen riesigen Sprung nach vorn gemacht hat.

  3. Kriterien

    Achim, Matthias: Richtig, viele der Nominierungen werden die nächste Runde nicht überleben, da werden erstmal die Wörter aussortiert, die ganz eindeutig schon länger etabliert sind. Der Rest wird dann genauer geprüft, vor allem in Bezug auf die Frage, wann das Wort sich tatsächlich im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Auch da fallen dann noch Vorschläge weg. Das war im letzten Jahr auch so, da hat es weniger als die Hälfte der Vorschläge in die Endrunde geschafft.

  4. kyrillische Anglizismen

    richtig spannend wird es bei Anglizismen die ins kyrillische übersetzt wurden und diese eins zu eins zurück. sind oft der brüller. dafür sollte es hier noch ne eigene kategorie geben. aus meiner richtung gibts sowas wie re-kbek – rakeback

  5. Fazialpalmierung

    Primal, dass der Begriff dabei ist. Ich finde, das ist eine wunderschöne Wortschöpfung für “facepalm”, die, glaube ich, Fefe (Felix von Leitner) zuzuschreiben ist.

  6. Fazialpalmierung (2)

    Das ist auch mein persönlicher Favorit. Bevor ich ergoogelt habe, was das Wort bedeutet, dachte ich an einen Euphemismus für “Verabreichung einer Ohrfeige”. Ich fände das Wort auch in dieser Bedeutung schön.

  7. Überflüssig wie ein Kropf

    Unwort des Jahres, Jugendwort des Jahres, Anglizismus des Jahres – wozu soll das nur gut sein?

    Was macht das eine besser als das andere?

  8. Bitrte kein “-gate”

    Zusammensetzungen mit “-gate” am Ende, die auf politische Skandale gemünzt sind, erfüllen wohl kaum das Neuheitskriterium. Die erste solche Konstruktion, an die ich mich erinnere, ist “Waterkantgate” für den Skandal um Uwe Barschel. Das war damals wohl noch neu und ziemlich witzig wegen des Gleichklangs “Watergate”/”Waterkant”. Alles, was inzwischen nachgekommen ist, amt einfach dieses Prinzip nach, ohne mehr zum bieten als die Verbindung irgendeines Begriffs mit “-gate”. Irgenwann werden auch ursprünglich originelle Prägungen banal.

  9. Weiterer Vorschlag

    Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es allen Auswahlkriterien standhält, aber wie wäre es denn mit Pegging (Sexualpraktik)?

    Ansonsten finde auch ich den Facepalm sehr, sehr schön.

  10. Anglizismus des Jahres – Das Ergebnis

    …wird, wie im Vorjahr auch, bestenfalls langweilig sein.

    Das sind die Kommentare etwa zu Wullf’s “Gnadengesuch” vom heutigen Tage nicht: http://www.spiegel.de/…and/0,1518,807226,00.html

    Da ist spöttisch u.a. die Rede vom “Bundesunschuldslamm”.

    Heute morgen las ich in einer Ausgabe des “Stern” (zu meiner Entschuldigung: Beim Zahnarzt), dass Wullf “seinen Kredit verspielt” habe.

    Bei “Twitter” kursiert das Wort “wulffen” – es soll “jemandem die Mailbox vollquatschen” bedeuten.

    Bei derartigen Gelegenheiten geht dann die Phantasie mit mir durch. Ich stelle mir vor, die US-Amerikaner wären so germanismengeil wie die Deutschen anglizismengeil sind und sollten nun den Germanismus des Jahres wählen…Es müsste dazu natürlich auch eine amerikanische Ausgabe von A.S. geben…Und zur Auswahl stünden u.a. “Bundesunschuldslamm” und “wullfen”…Zugegeben, völlig lächerlich der Gedanke, aber dem Grunde nach auch nicht lächerlicher – wenn man einmal genauer darüber nachdenkt – als das, was A.S. mit dem Anglizismus des Jahres (und der ideologischen Treibjagt auf Anglizmengegener) hier veranstaltet.

    Aber lassen wir das, es führt uns nicht nicht wirklich weiter und macht auch keinen Sinn, auch nicht in 2012.