Sprachbrocken 37/2012

BLOG: Sprachlog

Alle Sprachgewalt geht vom Volke aus
Sprachlog

Nichts gegen die Paläoanthropologie, aber es sei mir verziehen, wenn ich manchmal den Eindruck bekomme, sie sei nur erfunden worden, damit die Literaturwissenschaft keine methodologischen Minderwertigkeitskomplexe entwickelt. Da untersucht ein sechsköpfiges internationales Team das Skelett eines Neandertalers und belegt anhand von Abnutzungsspuren an den Zähnen etwas, das ohnehin bekannt war: Dass dieser Neandertaler (wie seine Artgenossen insgesamt) vermutlich Rechtshänder war. Soweit, so gut. Da das aber wohl nicht interessant genug war, schließt man im Schlusskapitel der Studie dann unvermittelt, dass dies auf eine menschenähnliche Ausprägung der linken Gehirnhälfte und damit auf die Fähigkeit zur Sprache hinweist. Und diese nicht weiter belegte Spekulation wird vorhersehbarer Weise der Aufhänger der Geschichte in der Presse. Ich wollte eine linkshändige Kollegin fragen, was sie von dieser Geschichte hält, aber natürlich konnte sie nicht antworten.

Ebenso sprachlos scheinen Unternehmen zu sein, und das will eine Schreibtrainerin ändern, über die die kleinezeitung.at in einem, wie soll ich sagen, Werbetext berichtet. Dort erfahren wir, dass Unternehmen ihre Texte normalerweise mit nur 207 häufigen Wortformen verfassen und dass es nicht genau genug sei, wenn ein Tourismusbetrieb eine „schöne Landschaft“ bewerbe. Und dass man bei Terminabsagen auf Höflichkeit achten und die eigene Stimmung aus dem Text heraushalten sollte. Finde ich übringens auch, und deshalb sage ich hiermit den traditionellen dritten Absatz der Sprachbrocken ab. Schreibt ihn höflichst selbst, ihr Neandertaler.

Avatar-Foto

Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

5 Kommentare

  1. Die Diskriminierung von Linkshändern ist eine ganz latente und im Alltag fast nicht wahrnehmbare, aber sie ist da und äußert sich in solch einem Kackscheiß wie in der Presse. Wenn ich mich z.B. darüber beschwere, daß von den 1000 Gitarrentypen im Musikgroßhandel nur 5 Typen auch für Linkshänder existieren, dann zuckt man die Schultern und sagt, ich hätte ja auch “richtigherum” Gitarre lernen können (weil es ja sogar einfacher sorum sei für einen Linkshänder, dann frage ich mich aber, warum nicht alle Rechtshänder die Gitarren rumdrehen, wenn es einfacher sorum sei).
    Kettensägen gibt es gar nicht für Linkshänder, wenn ich im Büro nach einer Schere frage, werde ich ausgelacht. Die Mikrowellentür geht falschrum auf, wenn ich was in der linken Hand balanciere. Alles ist optimiert auf Rechtshänder und wir Linkshänder passen uns an.
    Das Linkshänder keine so hohe Lebenswartung haben hat ja auch keine biologischen Gründe, sondern eher praktische. Wir bedienen tendenziell gefährliche Dinge nicht auf die optimale Art und Weise. So ist das und wir leben damit meistens noch ganz gut. Trotzdem ist es Diskriminierung. Und das Neandertal-Beispiel belegt das ganz eindrucksvoll.

  2. Rechtshänder

    Die Sache mit dem rechtshändige Neandertaler ist vermutlich eher ein Missverständnis beziehungsweise eine Ungenauigkeit in der Studie (und in der Presse, aber das wäre ja nichts Neues). Der Neandertaler hätte genauso gut Linkshänder sein können und man wäre zu einem ähnlichen Schluss gekommen. Es geht vor allem darum, dass eine Seite bevorzugt wird. Wenn das bei anderen Primaten und besonders Menschenaffen nicht der Fall sein sollte und man noch einen neurologischen Zusammenhang zwischen Sprache und Bevorzugung einer Seite zeigen kann, dann ist so ein Schluss durchaus vertretbar. Ob das Ganze nun wirklich stichhaltig ist, darüber kann ich allerdings keine Aussagen machen. Ich finde es jetzt aber nicht sooo weit hergeholt.

  3. @yeda: Auch ich fühle mich als Linkshänderin hin und wieder im Alltag -diskriminiert wäre zuviel gesagt- aber hin und wieder benachteiligt….wie gesagt Mikrowellentüren, Brotmaschinen und vor allem einseitig geschliffene Messer…aber bei der Gitarre hab ich es noch nie verstanden, wo das Problem ist – habe zwar auch schon oft beobachtet, dass starke Linkshänder eine Gitarre automatisch “falsch herum” in die Hand nehmen, aber es müssen doch beide Hände gleich virtuoses leisten???

  4. Neandertaler und Rechtshändigkeit

    Ich wundere mich gerade über die Formulierung: “Dass dieser Neandertaler (wie seine Artgenossen insgesamt) vermutlich Rechtshänder war.”

    Ich vermute, dass aber nicht die Behauptung oder auch nur die Vermutung aufgestellt werden soll, die Neandertaler seien “insgesamt” Rechtshänder gewesen. Ist gemeint, dass für JEDEN Neandertaler die statistische Vermutung von Rechtshändigkeit besteht?

    Meines Wissens KANN die Forschung zu Rechts- und Linkshändigkeit vormoderner Menschen durchaus seriös und interessant sein. Ich las einmal von einer Untersuchung anhand von Faustkeilen, dass ein relativ hoher Protentsatz der damaligen Menschen (ca. 25%) die Werkzeuge mit der linken Hand benutzte. Sobald die Werkzeuge seriell von darauf spezialisierten Werkzeugmachern hergestellt wurden und nicht mehr individuell von demjenigen, der das Werkzeug verwenden wollte, sank die Quote der Linkshänderwerkzeuge rapide. Denn in diesem Augenblick wurde Rechtshändigkeit zur Norm und die Linkshänder wurden -soweit möglich – umgelernt. Das bezog sich aber nicht auf Neandertaler, sondern deutlich spätere Menschen.

    Der Schlussfolgerung, dass Linkshänder eine kürzere Lebenserwartung haben, wurde auch schon widersprochen. Nach meinen Informationen wurde dieser Fehlschluss aus einer methodisch sehr wackeligen Studie gezogen. In ihr wurden die Sterbenden in einem bestimmten Bezirk, in einem bestimmten Zeitraum mit Sterbealter und Händigkeit erfasst. Die Linkshändigen waren signifikant jünger gestorben. Das lag aber daran, dass in älteren Jahrgängen es signifikant weniger Linkshänder gab, weil früher rigoroser umerzogen wurde.

    Ich will damit aber keineswegs yeda “insgesamt” widersprechen.

  5. @yeda

    “Kettensägen gibt es gar nicht für Linkshänder, wenn ich im Büro nach einer Schere frage, werde ich ausgelacht. Die Mikrowellentür geht falschrum auf, wenn ich was in der linken Hand balanciere. Alles ist optimiert auf Rechtshänder und wir Linkshänder passen uns an.”

    Alles, wirklich *alles*?
    Nein eine kleine Firma aus Baden-Württemberg dreht den Spiess um:
    http://www.kirsch-medical.de/…roster-bl-650.html

    Das ist jetzt wahrscheinlich ein schwacher Trost für Sie, aber *die* Dinger gibt’s tatsächlich nur in der “Linkshänderversion”, was bei mir und meinen rechtshändischen Kolleginnen immer für Begeisterung sorgt.