neu im Kino … Die Vermessung der Welt

BLOG: Uhura Uraniae

Ko(s)mische Streifzüge durch Zeit und Raum
Uhura Uraniae

Erlebnis Geschichte – in 4D! “schlechter Gelehrten-Sex” schreibt ZeitOnline (naja, da ist was dran – aber das ist ja auch nicht das Kommunikationsziel des Films), aber der Film schildert den Zeitgeist der Aufklärung, unseren Heimatplaneten erforschend darzustellen und zu vermessen. Ein durchaus sehenswerter Film, wie ich finde – aber eher als kulturelle Bereicherung, mathematisch-naturwissenschaftlich durchaus nicht falsch, aber nicht überall historisch korrekt. Auch FocusOnline sieht das ähnlich wie DieZeit: Erotik gibt’s im Film wenig und auch keine blutigen Schlachten und Kämpfe, weshalb der Film ja auch schon ab 6 Jahre freigegeben ist. Ob das wirklich sinnvoll ist, den Film mit einem frisch eingeschulten Kind anzuschauen, wage ich aber zu bezweifeln. Für uns Astronomen, die wir dieses Jahr die Vermessung der Welt (des Sonnensystems) aus etwa der gleichen historischen Epoche – nämlich von 1760 bis 1825 (von Delisle bis Encke) – in Norwegen und Sibirien und auch rechnerisch nachvollzogen haben: ein Muss! … vielleicht ergänzend zu dem Venustransit-Expeditionen-Buch von Andrea Wulf, das ich ebenso gern ähnlich verfilmt sehen würde.

ANYWAY

Die fehlende Erotik macht den Film nicht schlecht. Er zeichnet (wenngleich plakativ) die Charaktere des humanistischen Kosmopoliten, experimentierfreudigen und ganz der Wissenschaft verschriebenen, nach heutiger Definition der Forschungsdisziplinen sehr universellen Mitbegründers der empirischen Geographie, Alexander von Humboldt und des mathematischen Einzeldenkers aus kleinbürgerlichem Hause, Karl Friedrich Gauß (d.i. der “Mützen-Kerl” von unseren früheren 10 DM-Scheinen).

Stärken von “großem Kino”

Der Film ist eine wahre Bilderflut: Es gibt wunderbare 3D-Aufnahmen von südamerikanischen Sehenswürdigkeiten, einige recht anschauliche Erklärungen mathematischer Abstrakta (z.B. dass die Winkelsumme im sphärischen Dreieck nicht unbedingt 180° ist) und vor allem die nackte Wahrheit, dass es überall menschelt, wo Menschen sind. Das ist doch gerade die Stärke von “großem Kino”: den Menschen zu zeigen, der sich sonst so gern ins Private zurückzuziehen geneigt ist. Der Film zeigt den Menschen so, wie er ist – ungeschönt, nackt und Gelehrte eben durchgeistigt … Alexander von Humboldt als distanzierten, humanistisch alle Menschen Wert schätzenden, Sklaven freikaufenden, preußisch disziplinierten und überall auf der Welt sexuell abstinenten, fleißigen adligen Forscher, der sogar das Höchste vollbringt, das ein Forscher für die Wissenschaft tun kann: an sich selbst mit dem eigenen Körper zu experimentieren. Im Kontrast dazu wird die Biographie des zurückgezogenen bürgerlichen Denkers Gauß erzählt: Die Geschichte eines nicht adlig dressierten Knaben aus bürgerlichem Hause mit nahezu analphabetischer (wenngleich kluger) Mutter, ohne die Manieren der damaligen Zeit, der brillante mathematische Gedanken zu Papier bringt und Jahrtausende alte mathematische Probleme löst … und zum Dank dafür von fast niemandem verstanden wird. Er trifft den jungen von Humboldt bereits als 14jähriger beim Herzog von Braunschweig während seiner Bitte um ein Stipendium, aber die beiden großen Geister verstehen sich in der Jugend überhaupt nicht. Erst im Alter lernen sie, dass ihre unterschiedlichen Lebensarten und Forschungsmethoden einander ergänzen und einigen sich am Ende des Films in einer engen Freundschaft auf eine Vermessung des Erdmagnetfeldes, die Gauß am Schreibtisch berechnet, während Humboldt in einer Feldstudie die Kompassnadel um die Welt trägt (bildlich gesprochen).

Der viel zitierte, alternde Immanuel Kant (gest. 1804) hat seinen einzigen Auftritt im Film im Lehnstuhl mit dem alters- verwirrten Satz “Wurst – Der Diener soll Wurst kaufen – und Sterne soll er auch kaufen” … enttäuschend für den jungen Gauß, der für seine Verhältnisse sehr weit gereist ist, um in Königsberg durch das vermeintliche Alter Ego verstanden zu werden. Nach der von ihm vertretenen These, dass es zwei Arten gibt, verstanden zu werden: durch die wahre Liebe oder durch die reine Vernunft, ist das zweite dann offensichtlich gescheitert. Er kehrt nach Hause zurück, seine wahre Liebe sagt dann doch endlich “ja” und er zieht sich mit Ehefrau und zwei Kindern ins häusliche Idyll auf dem Land zurück.

Der Film zeigt also einfach nur die Dinge so, wie sie sind bzw. wie sie waren, d.h. wenn’s sein muss auch Gelehrte mit schlechtem Sex. Woher sollten die weisen Herren des 18./19. Jh. das auch ohne Flut von Kamasutra-Büchern und Bombardement mit Kino-Szenen, die zeigen, wie man’s “richtig” macht, damals besser können. Noch dazu als Mathematiker, dessen alltäglicher Gegenstand der Gedanken nunmal wahrlich ein anderer ist…

Hier der Teaser:

Der Film besticht durch atemberaubend realistische plastische Aufnahmen von fernen Ländern: der Schmetterling, der sich aus der Puppe befreit, die Artenvielfalt von Menschen, Tieren und Pflanzen, die man auf unserem wunderschönen Planeten beobachtet, das trübe, kalte Norddeutschland, in dem Gauß seinem Broterwerb (der Landvermessung) nachgeht und Klischees, die man allgemein von “nordisch noblen” Deutschen und den amoureusen Franzosen hat, die plastischen Charaktere in ihrer “natürlichen” Lebensraumzeit des 18./19. Jh. zwischen Barock und Aufklärung biographisch halbwegs korrekt und sehr plausibel nachgestellt.

Die Vermessung der Welt ist jedenfalls eine recht plastische Charakter-Story und Darstellung der Welt vor “nur” 200 Jahren, nach deren Erlebnis man sich freuen kann, wie gut es uns heute geht:

  • Zähne ziehen ist nicht mehr ein brutales, blutiges Handwerk, das ohne Arzt, sondern von “einfachen” Leuten mit dreckigem Werkzeug, in einer düsteren Ecke des Wochenmarktes und ohne medizinische Betäubung abläuft [wobei hier im Film – wie immer – mit dem Blut übertrieben wird: ich hab mir als Kind schon mal Zähne ohne Betäubung ziehen lassen: gar so schlimm ist das auch nicht – aber es geht ja ums Prinzip: heute ist das viel besser und humaner!]
  • die Medizin hat allgemein gigantische Fortschritte gemacht: man kann viel besser und humaner die Erkrankungen diagnostizieren und behandeln
  • wenn wir heute das Reisen und Expeditionen als beschwerlich empfinden, dann ist das irgendwie “Jammern auf hohem Niveau” im Vergleich zu dem, was ein Alexander von Humboldt durchgemacht hat (oder die damalige Venustransit-Expeditionen): aber einige der Elemente unseres Erlebens (wissenschaftliche Geräte sichern, suchen gehen, weil Transporteure was verbummelt haben …) hab ich im Film wieder erkannt 🙂
  • Kluge Leute, die brillanter sind als der Lehrer, werden am Anfang des 21. Jh. nicht mehr mit dem Stock auf den nackten Po geschlagen für ihre schnellen und einzigartigen Einfälle und Lösungswegs […heute werden sie gemobbt. Das musste ich leider wiederholt beobachten, denn Neid der Nichtganzsoklugen liegt leider in der Natur des Menschen – aber wenigstens werden sie heute nicht mehr körperlich misshandelt: ich wette, in den nächsten 100 bis 200 Jahren schaffen wir es auch noch, die seelische Misshandlung abzuschaffen, denn schließlich wusste bereits der querdenkende Astrophysiker Fritz Zwicky im vergangenen Jahrhundert: “Jeder ein Genie“, jeder Mensch auf seine Art und unterschiedliche Talente ergänzen sich … Neid ist also komplett unnötig]

Was zeigt der Film also und was zeigt er nicht:

Relativ oberflächlich, wenn es um die Biographien von Gauß und Humboldt geht: So stirbt im Film die erste Frau von Gauß bereits nach der ersten Geburt und es werden auch nur zwei der sechs Kinder gezeigt (-> didaktische Reduktion oder künstlerische Freiheit?) und Gauß hat nach meinem Kenntnisstand auch nicht die komplexen Zahlen entwickelt (die Einführung von “i” als Wurzel aus (-1) schreibt man Leonhard Euler zu und die Grundlagen legten andere Mathematiker bereits vor Gauß). Ob Humboldt vielleicht homosexuell (wie in moderner Forschungsliteratur oft vermutet) war, lässt sich heute wohl kaum feststellen, da es nicht in den damaligen Zeitgeist passte, dies zu erforschen und zu notieren. (wohl aber gehört’s zum Zeitgeist der Historiker der Postmoderne bzw vllt nach 1968, solchen ewigen Junggesellen homosexuelle Neigungen nachzusagen – frei nach dem zu stark verallgemeinernden Motto “was ich selber wünsch und tu’, trau ich auch den andern zu “). Insofern ist das Dargestellte nicht wirklich falsch, aber eben sehr lose an die historische Faktenlage geknüpft und daher in erster Linie unterhaltsam … im Detail der Dialoge manchmal etwas anachronistisch: sicher hat ein preußischer Offizier des 19. Jh nicht bei einer Standpauke auf der Straße etwas von Schwarzen Löchern erzählt. ABER alles in allem doch ein ganz passables Bild vom Deutschland um 1800 (plus-minus 50 Jahre) zeichnend.  

Kostümierung und historisch Fakten passen zusammen und sind im Allgemeinen grob korrekt, nur die Sprache ist sehr modern und damit natürlich anachronistisch – aber ohne die Modernisierungen hierbei täten sich heutige Kino-Zuschauerlinge ja auch schwer.

hier der Trailer (leider mit Werbevorspann bei YouTube):


Summa summarum halte ich den Film aber für unbedingt sehenswert … aber bitte biographisch nicht zu sehr für bare Münze nehmen: wenn Sie zusätzlich zu den berauschenden Bildern bei wikipedia nachlesen, haben Sie viel gewonnen!

Ganz großes Kino!

 


 

Gimmick

Susanne HoffmannÜbrigens: Das häufig in der Kunst zitierte mathematische “Problem”, dass sich die Parallelen im Unendlichen schneiden – quasi ein Sinnbild/ Metapher für höhere Mathematik – ist mit der Schulmathematik der 9. Klasse auflösbar: siehe meine Webseite.

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"physics was my first love and it will be my last physics of the future and physics of the past" Dr. Dr. Susanne M Hoffmann ist seit 1998 als Astronomin tätig (Universitäten, Planetarien, öffentliche Sternwarten, u.a.). Ihr fachlicher Hintergrund besteht in Physik und Wissenschaftsgeschichte (zwei Diplome), Informatik und Fachdidaktik (neue Medien/ Medienwissenschaft) als Weiterqualifikationen. Sie ist aufgewachsen im wiedervereinigten Berlin, zuhause auf dem Planeten Erde. Jobbedingt hat sie 2001-2006 in Potsdam gelebt, 2005-2008 saisonal in Mauretanien (winters) und Portugal (sommers), 2008-2009 und 2013-'15 in Berlin, 2010 in Hamburg, 2010-2012 in Hildesheim, 2015/6 in Wald/Österreich, 2017 in Semarang (Indonesien), seit 2017 in Jena, mit Gastaufenthalten im Rahmen von Forschungskollaborationen in Kairo+Luxor (Ägypten), Jerusalem+Tel Aviv (Israel), Hefei (China)... . Ihr fachliches Spezialgebiet sind Himmelskarten und Himmelsgloben; konkret deren Mathematik, Kartographie, Messverfahren = Astrometrie, ihre historische Entwicklung, Sternbilder als Kulturkalender und Koordinatensystem, Anomalien der Sternkarte - also fehlende und zusätzliche Sterne, Sternnamen... und die Schaustellung von alle dem in Projektionsplanetarien. Sie versteht dieses Blog als "Kommentar an die Welt", als Kolumne, als Informationsdienst, da sie der Gesellschaft, die ihr das viele studieren und forschen ermöglichte, etwas zurückgeben möchte (in der Hoffnung, dass ihr die Gesellschaft auch weiterhin die Forschung finanziert).

2 Kommentare

  1. Gefällt mir

    Ach, man kann so und so reden und darüber denken. Ich folge Ihnen. Morgen werde ich mich aufmachen ins Kino. Genug gelesen. Danke.

    Mit freundlichem Gruß
    Horst Arndt

  2. Ok!

    Ok, ich werde ihn mir also anschauen.
    Aber da vorhin von Klischees die Rede war: “das trübe, kalte Norddeutschland” – ne, kann echt schön sein. Vielleicht kommts ja mal im Kino 😉

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