Akademisches Philosophieren

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Heute ist bei mir eine Erinnerung wieder wach geworden. Und so, wie es war, will ich es auch niederschreiben.

Während meiner Heidelberger Studienzeit nahm ich an einem Seminar zum Thema »Ethik und Philosophie« teil. Es sollte die Studierenden ins Fach einführen. Einmal – es war im Winter 2007/08 – stand das Thema Schächten an der Tagesordnung. Eine neue Verbotsinitiative war im Gange und die Zeitungen berichteten darüber. Der Professor nahm es zum Anlass, eine Diskussion darüber anzuregen. Dass ich Jude bin, wusste keiner.

Um der stagnierenden Diskussion zum Durchbruch zu verhelfen, richtete er eine Bitte an die Teilnehmer: »Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Tier! Wie würden sie sich dabei fühlen?« Dann wurde darüber diskutiert, wie es sich wohl fühlen würde, geschächtet zu werden.

Ich beobachtete das Geschehen und meldete mich schließlich doch zu Wort. »Stellen Sie sich vor«, forderte ich direkt den Professor auf, »Sie wären Jude.«

Der Professor sagte nichts, auch die anderen schwiegen, bis eine Studentin mir erwiderte: »Kann er doch gar nicht!«

»Wieso?«, fragte ich sie.

»Das war er ja noch nie», sagte sie und fuhr fort: »Er hat da doch gar keine Erfahrungen. Wie sollte er sich so was vorstellen können?«

Alsdann machten sie mit der Vorstellung weiter, wie es wäre, ein Tier zu sein.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

17 Kommentare

  1. Tierschützer und die religiöse Orthodoxie

    Bei Auseinandersetzungen um das “Schächten” stehen sich meist die Religiöse Orthodoxie und Schächtgegner (zum Teil militanze Tierschützer) gegenüber. Würdest du dich als religiös orthodox bezeichnen ?

    Historisch betrachtet ist das Schächten ein Überbleibsel archaischer Rituale aus polytheistischen Zeiten, als mit dem Blut des Tieres- oder gar des Menschenopfers die Götter besänftigt wurden.

    Im AT finden sich dazu viele Hinweise, insbesondere ausführliche Vorschriften, welches Opfer zu welchem Zweck dargebracht werden soll, wobei häufig mit der Redewendung “zum beruhigenden Duft des Herrn” geschlossen wird.

    Ich erinnere mich sehr gut an unseren (sehr strengen und autoritären) Religionslehrer, der die Versuchung Abrahams seinen Sohn zu opfern als Wendepunkt deutete, dass von diesem Zeitpunkt an keine Menschenopfer mehr dargebracht werden sollten. Das Schächten zu Kultzwecken, Tieropfer, wurden, korrigiere mich, falls ich hier falsch liege, erst nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer abgeschafft.

    Ich sehe hier insofern eine argumentative Inkonsistenz der religiösen Orthodoxie, als sie sich beim Schächten zu Nahrungszwecken auf verbindliche Anweisungen des AT beruft, Tieropfer zu rein kultischen Zwecken jedoch nicht verlangt.

    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mit meinem Beitrag “on topic” bin.

  2. Nunja …

    zuerst einmal waren die anderen Teilnehmer des Seminars wohl noch eher Tiere als sie Juden waren. Schon als Subjekte des Evolutionsprozesses, wenn ich mich nicht irre.

    Dann ist natürlich das Treiben eines Philosophie-Professors und seiner Adepten kein ausreichendes Exemplum, um daran gleich »Akademisches Philosophieren« schlechthin, wie es die Überschrift suggeriert, demonstrieren zu können.

    Und natürlich müssten Sie, zumindest nach der implizit vertretenen Theorie, ein akademischer Philosoph sein, um der akademischen Philosophie nachfühlen zu können.

    Ich habe übrigens »akademische« Philosophie studiert – andere gibt es auch kaum – und mir ist ähnlicher Unfug, wie Sie ihn erlebt haben, dabei nicht begegnet.

    Aber das sind jetzt viel zu viel Wörter für den geschilderten Unfug.

  3. @ Bonaventura

    Es heißt ja nicht umsonst “akademisches Philosophieren”, was es auch war, und nicht “das akademische Philosophieren” (beachte den bestimmten Artikel), was hier unpassend wäre, da ich nur von einem Fall akademischen Philosophierens spreche, nicht jedoch von “dem akademischen Philosophieren” schlechthin.

    Zur Sache: Ich bezweifle, dass die Studenten schon so alt waren, um die evolutionäre Entstehung des Menschen noch miterlebt zu haben. Aber ich befürchte, sie fühlten sich Tieren tatsächlich näher als Juden bzw. konnten sich leichter mit Tieren identifizieren als mit Juden.

    Der besagten Studentin widersprach keiner, auch nicht der Professor.

  4. Fragen die Antworten sind

    »Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Tier! Wie würden sie sich dabei [beim Schächten] fühlen?«

    Diese “Frage” suggeriert über die Aufforderung zur Identifikation mit leidfähigen Kreaturen bereits die Antwort. Es gilt also, das grosse Projekt der Neuzeit, allen Menschen unabhängig von ihrer Stellung unveräusserliche Grundrechte zuzugestehen, nun, nachdem diese Grundrechte zunehmend auch Frauen zugestanden werden, weil auch sie Menschen sind, in einem weiteren Schritt selbst Tieren zu Teil kommen zu lassen, soweit Tiere eben Kreaturen sind wie wir Menschen auch. Sieht man diesen Zusammenhang, muss man dem Kommentator Bonaventura recht geben, wenn er schreibt “zuerst einmal waren die anderen Teilnehmer des Seminars wohl noch eher Tiere als sie Juden waren.”

    Zum anderen ist der Einwand »Stellen Sie sich vor«, forderte ich direkt den Professor auf, »Sie wären Jude.« eine Art Tabubruch, mindestens aber ein Wechsel in eine andere Kategorie oder eine andere Fazette des Problems.
    Denn der Professor hat zwar mit der Aufforderung sich vorzustellen ein Tier zu sein, vorgegeben es gehe da um ein konkretes Problem, doch in Wirklichkeit ging es ihm wohl eher um ein allgemeines ethisches Prinzip. Interessant ist eben, dass viele ethische Fragen – wie auch diese Frage nach der Leidfähigkeit eines Tieres – für die meisten Menschen eines bestimmten Kulturkreises bereits eine Antwort haben und sich deshalb viele Diskussionen um ethisch richtiges Verhalten nur noch um ethische Konflikte drehen (Beispiel Präimplantationsdiagnostik, aber auch das Schächten ). Zugleich haben ethische Forderungen (Maximen) oft den Anspruch universell und für alle Menschen, unabhängig von der Kultur gültig zu sein.
    Die Menschrechte sollen also universell gültig sein und wenn man die Menschrechte teilweise auf Tiere ausdehnt so gilt die universelle Gültigkeit nun auch hier.

    Mir scheint aber eher folgendes richtig: ein bestimmter ethischer Kodex ist Ausdruck einer bestimmten Kultur oder Religion und der Versuch, einem ethischen Kodex universelle Gültigkeit zu verleihen, kann eines von zweien bedeuten: entweder, man beansprucht, dass die eigene Kultur eine universelle Austrahlungskraft hat und damit auch der mit dieser Kultur verbundene ethische Kodex oder aber man hat den ethischen Kodex bewusst als Weltethos geschaffen.

    Der Einwand der Studentin : »Kann er doch gar nicht [sich vorstellen ein Jude zu sein]!« »Das war er ja noch nie» »Er hat da doch gar keine Erfahrungen. Wie sollte er sich so was vorstellen können?« hat schon seine Richtigkeit. Der Professor ist eben auch ein Tier und kann sich mindestens einbilden, sich in seine eigene Kreatürlichkeit einzufühlen und damit auch ein Tier verstehen zu können. Doch er ist kein Jude (sonst wäre er kaum auf das Beispiel mit dem Schächten gekommen)

    Tatsächlich kann sich der Professor aber wohl doch weit besser vorstellen ein Jude zu sein, als ein Tier, denn schliesslich sind beides Menschen. Doch das will er ja vielleicht gar nicht [sich in einen Juden einfühlen], denn er vertritt eine bestimmte ethische Maxime und im verborgenen weiss er sehr wohl, dass ethische Maximen auch eine ethnische, mindestens aber kulturelle Wurzel haben.

    Es geht hier also auch um einen Kulturkampf. In der Schweiz entsprang diesem Kulturkampf das Schächtverbot (siehe http://hls-dhs-dss.ch/textes/d/D11380.php ). Unter dem Vorwand des Tierschutzes – der ja als ethische Maxime universell gültig sein soll – wird in Wirklichkeit ein Kulturkampf ausgetragen und eine andere Gruppe in die Schranken gewiesen. Gesetze dieses Charakters gab/gibt es in der Schweiz noch einige, zum Beispiel: das Verbot des Jesuitenordens (sollte die Katholiken “zähmen”) oder neuerdings das Minarettverbott, wobei die letzteren beiden nicht einmal einen Vorwand brauchten um einer religiösen Gruppe eine Warnung zukommen zu lassen.

  5. Die Wünsche der Betroffenen

    Man sollte menschliches und tierisches Leid nicht deshalb abschaffen,
    weil es menschliche Gesetze oder menschliche Moralvorstellungen verletzt.

    Man sollte menschliches und tierisches Leid deshalb abschaffen,
    weil das der deutlich erkennbare Wunsch der vom Leid betroffenen Individuen ist.

    Es geht also dabei nicht um die Wünsche von Tätern und Beobachtern,
    sondern um die Wünsche der vom Leid Betroffenen.

  6. Thematik

    Sie haben mit Ihrer Frage grundsätzlich die Idee aufgebracht, ob man sich überhaupt in ein Tier bzw. einen anderen Menschen hineinversetzen kann. Dabei geht es weder um das Schächten, noch um Juden – sondern um die Grenzen unserer Erkenntnismöglichkeit.
    Dass dies weder vom Professor, noch von den anderen Studenten erkannt wurde, war intellektuell sehr schwach.

  7. Die freie Wahl

    Man kann sich vermutlich nicht zuverlässig in ein Tier hinein versetzen.

    Aber man kann die Wünsche eines Tieres dadurch ermitteln, dass man dem Tier die freie Wahl zwischen verschiedenen Umgebungen gibt.

  8. Spannend

    Mit Absicht habe ich im obigen Text nicht explizit gesagt, worum es geht. Ich habe mir gedacht, das Absurde geht eindeutig aus der geschilderten Situation hervor.

    Und nun finde es ich sehr interessant, zu beobachten, wie darauf reagiert wird und worauf man reagieren will – meistens nicht aufs »Eigentliche«.

  9. Das »Eigentliche«

    Könnte es nicht auch einfach sein, dass die Geschichte gar nicht das zeigt, von dem Sie meinen, dass sie es zeigen sollte? Und schon gar nicht das »Eigentliche«, das in Anführungsstrichen sicherlich noch eigentlicher ist als das alltägliche Eigentliche?

  10. @ Bonaventura

    Ja, könnte es. Und auch das Gegenteil davon könnte sein. Und vor allem könnte sein, das es hier noch viel absurder zugeht als damals am Neckar.

  11. Keine grösseren Unterschiede

    Zwischen den mitteleuropäischen Juden und den mitteleuropäischen Nichtjuden, die 65 Jahre lang gemeinsam am selben Ort gelebt haben, gibt es keine grösseren Unterschiede als zwischen den anderen mitteleuropäischen Menschen mit den verschiedenen Religionen und den verschiedenen politischen Anschauungen.

    Genau so gut könnte man fragen:
    “Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Antisemit.”

    Sobald ein Mangel an Arbeit, Geld und Wohlstand auftritt, entwickeln sich einige Menschen in die Richtung der Stammeskriege zurück.

    Auch in den Zeiten des Wohlstandes führen die Hooligans der verschiedenen Fussballvereine richtige Stammeskämpfe gegen einander.

  12. lustig

    Eine schöne Illustration. Wer von Logik nichts versteht, sollte sich von der Philosophie mehr als fern halten. Leider verstehen das die meisten Philosophiestudenten nicht. Der Professor anscheinend auch nicht, wen überrascht es.

  13. Es ist relativ einfach, sich eine Kuh (oder ein Schaf) vorzustellen, denn jeder hat ein Bild von einer Kuh im Kopf. Und dazu noch das Schächten, das viele Blut, und das Geschrei usw.
    Sich einen Juden vorzustellen ist schwieriger, denn das ist ein Mensch – wie man selbst – aber jüdisch. Sich selbst als Juden vorzustellen ist sehr schwer. Man müsste sich erst einmal das Wesentliche des Jüdischseins vorstellen, und das dann zu einem selbst hinzufügen, und man müsste auch noch einen Teil von sich abziehen – früher hätte man es vielleicht das Wesentliche des Arischseins genannt – deutschzentristisch betrachtet. Eine komplizierte Operation. Nicht nur dass zwei unbestimmt erscheinende Begriffe bestimmt werden müssten. Man müsste auch noch in sich selbst hinein greifen. Kein Wunder, dass die Diskutanten sich wieder dem Schächten zuwanden, zumal die Diskussion doch müde zu sein schien.

  14. Mensch-Tier-Verhältnis

    Naturwissenschaftlich gesehen ist auch der Mensch ein Tier.
    Die Frage hätte eigentlich lauten müssen:
    “Stellen Sie sich vor, Sie wären ein anderes Tier”.

    Jedoch Wissenschaft hat das Ganze hier eh wenig zu tun….

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