Anregungen zu einer jüdischen Deutschlandphilosophie

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Eine spezifisch jüdische Deutschlandphilosophie will – und muss – sich mit einigen Grundfragen auseinander setzen.


Was ist Deutschland?

Das jüdische "Deutschland" ist, was an Menschen, Orten und Kulturgütern aus dem hervorgegangen ist und -geht, was in der jüdischen Geschichte als deutsch in Erscheinung trat, sei es Berlin oder Breslau, seien es die Enkelkinder deutscher Soldaten in Wien oder in Klausenburg, seien es die Schriften eines Martin Luther oder die Reden eines Karl Lueger.

Wie verhält sich der Deutschlandbegriff zum Holocaust?

Die historisch gewachsene Substanz "Deutschland" ist seit dem letzten Krieg nicht mehr von der deutsch geführten Judenverfolgung und -vernichtung zu lösen, auch ist sie nicht ohne diese zu verstehen. Jedoch bildet der Holocaust kein alleiniges Merkmal: Weder kann man Deutschland nur aus der Perspektive des Holocaust verstehen, noch war der Holocaust ein ausschließlich großdeutsches Werk. Zusammengefasst bedeutet das: Der Holocaust, auf dem nunmehr auch andere europäische Völker basieren, zählt zu den wichtigsten Faktoren, die das heutige Deutschland ausmachen, und steht fürderhin im Pantheon deutscher Geschichte nebst anderen Merkmalen wie der Reformation, dem Kaiserreich, dem Nibelungenepos oder der Berliner Mauer.

Was ist mit dem Antisemitismus?

Im heutigen Europa und insbesondere in der Bundesrepublik scheint der neue Antisemitismus wesentlich weiter verbreitet zu sein als der alte, jedenfalls kommt Ersterer gerade in etablierten Medien viel häufiger zum Ausdruck. Dieser Antisemitismus von links ist viel gefährlicher als jener rechter Ewiggestriger, aber wem nicht gegönnt wird, seine nationale Identität gesund und stolz auszuleben, der wird seine natürliche Frustration auf andere projizieren; in Deutschland ist aus verständlichen Gründen gerade in solchen Sachen Israel das nächstliegende Neidobjekt. Den Deutschen muss daher, gerade von jüdischer Seite, wieder ein kollektives Ethos erlaubt werden, das zwar nicht von Krieg und Holocaust absieht, doch zu gleicher Zeit auch an Positiv-Nationalem reich ist. Der alte Antisemitismus lässt sich nicht überwinden, aber der neue doch vielleicht dezimieren, und zwar durch gegenseitigen Respekt zwischen der deutschen und der jüdischen Nation. Auf Dauer wird sich die Frage indes schon durch die demographische Entwicklung lösen. 

 

Wie verhält sich Deutschland zum Judentum, das Judentum zu Deutschland?

Deutschland ist, ohne seinen Entwicklungsweg im 20. Jahrhundert zu beschönigen, trotz allem Teil unserer abendländischen Kultur, daher auch Teil unseres jüdischen Erbes. Es gilt, dieses Erbe zu bejahen, die abendländische Vorherrschaft aufrechtzuerhalten und die jüdische Mitwirkung am abendländischen Fortschritt, darum auch an Deutschland fortzusetzen. Deutschlands Wiedergeburt kommt, bestenfalls mit jüdischer Hilfe, notfalls auch ohne sie. Dem alten Deutschland wird es so oder so nicht gleichen.

Trägt Deutschland noch Schuld und Verantwortung?

Wir leben in einer Deutschland-Epoche, die im Schatten des letzten Krieges liegt und in absehbarer Zeit auch so bleiben wird. Wir sind alle, Deutsche und Juden zugleich, Kinder und Enkelkinder dieses Krieges. Es kann nun nicht mehr von Schuld die Rede sein, aber wenn die Deutschen nicht auf eine technokratische Größe reduziert werden und noch ein Volk bilden sollen, dann ist es nur möglich, wenn das Selbstverständnis dieses Volkes, seine Identitätsstiftung also, auch auf den neueren Entwicklungsgang Deutschlands gestützt wird. Daraus wird Verantwortung geschöpft, die den Nachkommen der Tätergenerationen gilt, ob in Schleswig, Kärnten oder in Siebenbürgern, und diese erst recht in einem gemeinsamen, überstaatlichen Deutschland-Bewusstsein zusammenhalten kann.

Was soll mit dem Deutschen geschehen?

Die Zukunft Deutschlands: Eine Vergeistigung der historisch gewachsenen Substanz. Die Kombination von demographischer Zersetzung und staatspolitischer Selbstauflösung ("Europäisierung") wird Deutschland wohl nicht überleben können; dafür werden in Zukunft die Wahldeutschen – sprich: diejenigen unter den Einheimischen, die sich im deutschen Mitteleuropa an diese historische Substanz noch werden halten wollen –  die Möglichkeit haben, sich zu einem deutschen Geist zu bekennen und diesen zu pflegen, wie es mit dem Judentum knapp zwei Millennia lang der Fall war. Das Rad der Geschichte dreht sich unaufhörlich: Die Spätwirkungen des Massenmordes am jüdischen Volke fügen dem Deutschen selbst ein jüdisches Schicksal zu; gerecht ist das allemal.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

7 Kommentare

  1. Ausbrechen aus Denktabus

    Es gibt vieles, was von Deutschen und Juden kaum je geäussert, ja vielleicht nicht einmal gedacht wird. Das fiel mir schon früh auf. Doch was nicht passiert (zum Beispiel in einer Ehe oder einem Leben) sagt oft mehr aus als das was passiert.

    Hier ein Beispiel: Die eindeutige Rollenvertelung Juden als Opfer und Deutsche als Täter. Interessant daran ist vieles. Die Juden waren schon Opfer bevor der gelebte Antisemitismus des deutschen Volkes von den Nazis umgesetzt wurde und sich unter stillschweigender Zustimmung halb in der Öffentlichkeit, halb im Verborgenen materialisierte. Das Undenkbare war unter breiter Zustimmung machbar, von normalen Menschen, die im Sinne der deutschen Nation handelten und ihre Pflicht wahrnahmen. So unglaublich das klingt, genau so wurde das von den Nazis vermittelt und genau das glaubten viele, wenn nicht die meisten Deutsche.

    Warum aber nahmen das die Juden vorher und auch nachher einfach so hin.
    Über das Vorher wurde schon einiges gesagt, weniger aber über das Nachher.

    Das Ausbrechen aus dem Opfer Täter Verhältnis verlangt beispielsweise nach Juden, die Rache an Deutschen oder Deutschland nehmen oder macht sogar Rache des jüdischen Staates am deutschen denkbar. Das ist quasi das, was man als normale Reaktion erwarten würde. Doch man hört nichts darüber als gäbe es das nicht. Es ist ein amerikanischer Film (Inglourious Bastards), nicht ein deutscher oder jüdischer, der Rache von Juden an Deutschen zum Thema macht. Es gab allerdings ein Buch Auge um Auge von John Sacks (siehe http://bertjensen.info/auge-um-auge/), das Racheakte zum Thema hatte, allerdings mit folgendem Resultat Zitat: Der Münchner Piper-Verlag stoppte dann die Auslieferung von “Auge um Auge” und 6000 bereits gedruckte Exemplare wurden eingestampft.

  2. @ Martin

    Danke für deinen von deutscher Seite kommenden, gerade deswegen auch sehr interessanten Kommentar.

    Im Großen und Ganzen ließ sich ein gebührender Racheakt vermissen, darum habe ich auch hier im Blog ab und zu von einer “offenen Rechnung” gesprochen, die wohl auf immer und ewig offen bleiben wird. Auch zum von dir erwähnten Film habe ich hier einen längeren Text veröffentlicht.

    Aber die Rache, die wir Juden nicht übten, holt jetzt mit demographischen Mitteln die Geschichte selber nach. Darum die oben erwähnte “Vergeistigung” des Deutschen.

  3. alttestamentarisch

    Sowohl der letzte Satz des Beitrages wie der Kommentar bleiben dem alttestamentarischem Denken verhaftet. Nämlich daß irgendwie alles “gerächt” werden müsse. Der belohnende und bestrafende Gott oder die belohnende und bestrafende Geschichte.

    Ich halte es für sehr, sehr gefährlich, wenn Völker in diesen Kategorien denken. Wenn man ein Buch wie das von Juri Slezkine liest (oder Bücher über die jüdische Lobby hinter Winston Churchill) oder wenn man Bücher wie “Geheimakte Mossad” von Viktor Ostrovsky und zahlreiche ähnlich gelagerte Bücher liest, könnte man den Spieß gerne auch sehr, sehr leicht herumdrehen …

    Und daß genau das passiert, sozusagen in letzter Aufbäumung, bevor das deutsche Volk ausstirbt, genau einem derartigen Geschehen möchte doch wohl Herr Sapir ganz offenbar mit einer solchen, von ihm hier vorgeschlagenen jüdischen Deutschlandphilosophie vorbeugen.

    Dem Gedanken eines solchen Vorbeugens stehe ich außerordentlich positiv gegenüber. Außerordentlich positiv. Insofern er allerdings aus dem Gedanken des “Wie du mir, so ich dir” heraus geboren sein sollte, dieser ewigen Spirale aus Krieg und Krise der Völker gegeneinander, halte ich den Ansatz für im tiefsten Sinne verfehlt.

    Der “nichtpraktizierende” Rabbiner Yoav Sapir sollte hier meiner Meinung nach manches noch einmal sehr grundlegend hinterfragen. Völker und Kulturen sollen sich – letztlich – auch aus Selbstlosigkeit gegenseitig helfen und unterstützen, also nicht nur aus einem Altruismus oder aus einer Bosheit auf der “tit for tat”-Basis, der Gegenseitigkeits-Basis, die Robert Trivers in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht hat, sondern auf der Basis eines “höheren” Prinzips des Wohlwollens und der Großzügigkeit, das AUCH, ich betone AUCH auf genetischer Verwandtschaft beruhen kann. (Und eine solche besteht bekanntlich zwischen Aschkenasim und Deutschen.)

    Alles andere wäre meiner Meinung nach hochgradig kleingeistig.

    Weder sollten sich nichtjüdische Völker am jüdischen Volk rächen wollen – auch nicht ansatzweise (denn das wäre alttestamentarisch) – noch sollte dies auch das jüdische Volk an nichtjüdischen Völker auch nur ansatzweise wollen “wollen”.

    Erst dann kommt eine sinnvolle Verständigung zustande. Noch in der fast gleichgültigen Hinnahme der demographischen Katastrophe in Deutschland von heute meint man dieses alttestamentarische Denken herauszuspüren. Weshalb man dem vorliegenen Beitrag außerordentlich zwiespältig gegenüberstehen muß als deutscher Leser.

    Möchte man als Jude, wenn Nichtjuden gleichgültig dabei stehen, wenn das jüdische Volk ausstirbt? Die deutsche Schrift soll überleben und das deutsche Volk nicht? Ein merkwürdig widersprüchlicher Ansatz. Auch das jüdische Volk weist GENETISCHE Kontinuität seit Jahrtausenden auf. Daß das auch für das deutsche Volk wichtig ist, sollte Kernbestandteil “jüdischer Deutschlandphilosophie” sein.

  4. @ Ingo

    Ich bin *kein* Rabbiner. Allerdings bist wohl auch du keiner. Da ich indes ein paar Jahre immerhin diesen Weg beschritten habe, beanspruche ich für mich nunmehr den Titel “Nichtrabbiner”… Weiteres hierzu hier, am Beitragsende: http://www.chronologs.de/…r-doppelte-loyalit-ten

    Warum sowohl dir als auch Martin “Rache” vorschwebt, vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen, zumal ich im obigen Text nicht von jüdischer Rache am deutschen Volke spreche; oder doch? Kann auch sein, dass ich den eigenen Text nicht mehr so recht im Kopf habe.

    Ansonsten finde ich es komisch, einem Juden “Alttestamentarischkeit” vorzuwerfen. Das “Alte Testament” zählt nunmehr ganz grundlegend zu unserem Erbe. Ob das gut oder schlecht ist, mag dahinstehen, aber man soll von einem Juden nicht erwarten, dass er das eigene Erbe negativ bewerten und Alttestamentarischkeit als Vorwurf akzeptieren würde.

    Schade übrigens, dass du dein positives Urteil über die “Deutschlandphilosophie” in einem Kommentar zu einem ganz anderen Beitrag, hier mithin nur das eher negativ Anmutende geschrieben hast.

  5. “CDU-Patriotismus”?

    Ja, im ersten Eindruck, in dem ich nur den mitteleren Teil dieses Beitrages gelesen hatte, war ich richtiggehend hingerissen von diesem Text. Als ich dann aber noch einmal gründlicher Einleitung und Schluß gelesen habe und erst richtig glaube “verstanden” zu haben, daß die Wiederkehr “des Deutschen” in der Geschichte offenbar nicht (auch) in demographisch-biologisch-genetischem Sinne gemeint ist, sondern offenbar so wie die Wiederkehr (“Renaissance”) des Antik-Griechischen in REIN kulturellem Sinne, muß ich aus meinem durch und durch naturalistischen Denken heraus im Grunde sehr, sehr heftig widersprechen:

    Das ist mir zu flau, wenn “das Deutsche” quasi künftig nur “museal” weiterleben soll in der Geschichte. Wenn es sozusagen nur von Migranten weitergelebt werden soll, denen wir gerade noch vor unserem weiteren demographischen Niedergang etwaig unsere deutsche “Leitkültür” aufgedrängt haben.

    Auch als Deutscher HAT man Emotionen, ich denke, gerade Du, der Du Dich mit solchen Emotionen doch wohl schon länger beschäftigt haben wirst, wirst das anerkennen. Ich denke, das Bestreben, solchen Emotionen Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen, war eine der Grundintentionen dieses Beitrages.

    Aber genau diese Emotionen lassen mich diesen Text außerordentlich zwiespältig empfinden. Den typischen Verfassungs-Patriotismus eines Jürgen Habermas oder von CDU-Politikern aller Coleur seit “Kinder bekommen die Leute von alleine”-Kanzler Konrad Adenauer – – – ich hatte nicht gedacht, daß der in diesem Beitrag gemeint gewesen sein könnte. SOLLTE er aber gemeint sein, gut, dann hätte ich mir meine Kommentare allerdings auch gespart, bzw. sparen können.

    Denn der CDU-Patriotismus ist SO stinklangweilig geworden, daß jeder, der auch nur ein Fünkchen Leben in sich hat und ein BISCHEN weiterdenkt, damit nicht mehr das geringste anfangen kann, geradezu so wie mit einer Religion, die vollständig abgestorben ist und deren Fassade nur noch aus Machtinteressen heraus mühsamst aufrechterhalten wird, offenbar auch von solchen christkatholischen, geradezu antinaturalistisch orientierten Lesern Deines Blogs wie Dieter Stein. Und das soll die Wiederkehr des Deutschen in der Geschichte sein? – ???

  6. @ Ingo

    Ich kann mit der heutigen CDU auch recht wenig anfangen, bin jedoch kein deutscher Patriot. Mein Interesse am Deutschen ist wohl, zumindest teilweise, ein tatsächlich “museales” Interesse.

    Ich weiß nicht, was für Überlebenschancen das heutige Deutschland noch hat. Es unterliegt zusehends dem mehrfachen Zangenangriff von politischer Verbrüsselung und kultureller Anspruchslosigkeit, demographischer Verringerung und unüberwindbarer Zuwanderung. Wenn aber das Jüdische es nach knapp zwei Millennia noch hingekriegt hat, in die Geschichte zurückzukehren, könnte es Deutschland umso leichter gehen, die Kurve zu kriegen.

    Dieter Stein ist “christkatholisch”? Ich hab mir gedacht, er wäre Mitglied einer erzevangelischen Splitterkirche.

  7. Dieter Stein …

    … – habe nur gerade – von Deinen “NetworkedBlogs” angeregt – gelesen auf seinem Facebook-Eintrag, daß er Schüler eines katholischen Privatgymnasiums war. Also wird er doch nicht einer evangelischen Splitterkirche angehören?

    Außerdem hat ein Mitglied seiner Redaktion (- vielleicht er selbst?) zur Jahreswende an jesuitischen Schweigeexerzitien teilngenommen, siehe:

    http://studgenpol.blogspot.com/…s-schweigen.html

    Während in der jüdischen Religiosität biologische Kontinuität bekanntlich nicht gerade eine geringe Rolle spielt, spielt eine solche in der katholischen Religiosität (siehe kinderlose Priester) keine Rolle.

    Deshalb sind solche Umstände nicht ganz unerheblich, falls das traditionell papstkritische Deutschland (auch das ein Teil “des” Deutschen in der Geschichte), wie Du sagst, auch demographisch irgendwann noch “die Kurve” kriegen soll …

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