Cem Özdemir und der Holocaust: Geht beides zusammen?

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Als deutscher Staatsbürger habe ich die Verantwortung [für den Krieg und den Holocaust] zu übernehmen und daraus Schlüsse zu ziehen, darum ist "nie wieder Auschwitz" auch mein Imperativ.

Diese Worte stammen von Cem Özdemir. Er hat sie sich in einem Interview ausgesucht, das er im Juli 2009 der hebräischen Tageszeitung "Haaretz" gegeben hat. Ich habe sie selber ins Deutsche übersetzt, ursprünglich sind sie wohl auf Englisch artikuliert worden; es ist mithin kein genaues Zitat. Doch eines ist bei alledem klar: "Nie wieder Auschwitz", Joschka Fischers berühmtes Postulat, gelte nach Özdemir den Bürgern der Bundesrepublik als solchen, es wird ihnen sozusagen gleichzeitig mit dem Pass aufgezwungen.

Eine solche Aussage lädt zum Grübeln ein. Zum Beispiel deswegen, weil es die Bundesrepublik, also den Staat, durch den und lediglich dank dessen ein türkischstämmiger Özdemir sich mit der Holocaust-Erfahrung verbunden fühlt, damals noch gar nicht gegeben hat. Genauso gut könnte man meinen, israelische Staatsbürger hätten aus dem Holocaust Schlüsse zu ziehen, ganz egal, ob das Juden sind oder keine.

Was Israel so wesentlich und gründlich mit dem Holocaust verbindet, sind einzig und allein: die Juden. Und zwar diejenigen, die aus den betroffenen Regionen, Europa und Nordafrika, stammen. Eng mit dem Holocaust verbunden bleibt Israel nur, weil es sich als jüdischer Staat versteht und solange es von Juden getragen wird. Ein Palästinenser mit einem israelischen Pass unterscheidet sich in diesem Punkt – sowohl zum Guten als auch zum Schlechten – kaum von seinem palästinensischen Bruder mit dem transjordanischen Pass: In der Schule hat der Erstere zwar, wie Özdemir hierzulande, über den Holocaust gelernt, doch zu seiner eigenen Geschichte gehört der Holocaust genauso wenig wie beim Letzteren. Die Staatsangehörigkeit an sich ermöglicht hier, um mit Özdemir zu sprechen, noch keine Übernahme fremder, etwa jüdischer Narrative und deren künstliche Anwendung auf die eigene Identität. So etwas erwartet in Israel auch keiner.

Nun kann man meinen, "nie wieder Auschwitz" sei ein universaler Imperativ, der seit 1945 allen Menschen gelten soll. Doch das hat Özdemir eben nicht gesagt. Der Imperativ "nie wieder Auschwitz" meint er als deutscher Staatsbürger zu haben, desgleichen die Verantwortung. Unproblematisch ist das freilich nicht.

ZEIT: Muss die Verantwortung der Migranten genauso stark sein wie die der Deutschen?

Özdemir: Die deutsche Geschichte zwingt uns dazu – und zwar alle, die hier leben. (von hier)

Interessant, doch was wäre, wenn ich, der Schreiber dieser Zeilen, Staatsbürger der Bundesrepublik wäre? Meine jüdischen Schlüsse aus dem Holocaust würde ich dann keineswegs durch Özdemirs "deutsche" ersetzen, jedenfalls nicht einfach deswegen, weil ich einen neuen Pass hätte. Özdemirs Sicht, als ob alleine der Wohnort eines Menschen oder seine Staatsangehörigkeit von größter Bedeutung für solch gewichtige Fragen wären, erscheint mir in diesem Punkt viel zu einfältig.

Was Deutschland auf die eine oder andere Weise bis in die Gegenwart mit dem Holocaust verbindet, sind einzig und allein: die Deutschen. Aus dieser einfachen Tatsache resultiert auch alles andere, wie etwa das Selbstverständnis der Bundesrepublik als einziger Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches bis zu dessen Gründung im Jahre 1871. Sollten hier eines Tages, so hypothetisch das auch klingen mag, Inder, Türken und Vietnamesen in der Mehrheit sein, hätte auch die Rechtsnachfolge nichts mehr zu bedeuten. Denn nicht der Staat prägt seine Volksmasse, sondern die Volksmasse ist es, die den Staat ausmacht: ob zu einem deutschen, polnischen, türkischen oder zu einem vielvölkischen wie z. B. Kanada.

"Ich habe gelernt: Nie wieder Auschwitz", das konnte ein Joschka Fischer von sich behaupten, ein Kind vertriebener Ungarndeutscher, auf dessen Schicksal der zweite Weltkrieg einen fast direkten Einfluss ausübte. Wie andere Deutsche der heutigen Generationen ist auch Fischer indirekt mit dem Holocaust verbunden: Nicht, weil er Bürger der Bundesrepublik ist, sondern, weil er Deutscher ist, weil seine Familie deutsch war und alleine deswegen überhaupt ins Gebiet der späteren Bundesrepublik vertrieben wurde (wäre die Familie Fischer ungarisch, so wäre Joschka kein Bürger der Bundesrepublik geworden).

Es ist, ganz einfach, das Deutsche an Joschka Fischer, was ihn mit Auschwitz verbindet. Nicht sein Pass. Der Schatten von Auschwitz gehört nunmehr zur deutschen Substanz und folglich, wenn auch nicht ausschließlich, zum Erbe der Deutschen als solcher, d.h. als Kollektiv (was für das Individuum weder allzu viel noch allzu wenig bedeuten soll). Ob sie vom Pass her einer "Bundesrepublik Deutschland" oder einer "Republik Österreich" angehören, spielt hier eigentlich keine Rolle.

Demgegenüber weist Özdemirs Familiengeschichte wohl gar keine Bezüge zu diesem Erbe auf. Özdemirs Großeltern kann man nicht einmal vorwerfen, sie hätten damals nicht schweigen dürfen, nicht einfach zusehen dürfen, sie hätten protestieren müssen, sie hätten irgendetwas unternehmen müssen, um ihre jüdischen Nachbarn vor dem Tod zu erretten. Nein: Seine Großeltern mussten damals gar nichts machen, gar nichts unternehmen. Denn sie hatten mit Holocaust und Vernichtungskrieg nicht das Geringste zu tun.
 
Unser beider Völker, das deutsche und das jüdische, sind nunmehr eng miteinander verwoben. Darum – und erst darum – auch unser beider Staaten, Deutschland und Israel. Dieses schwierige Schicksal ergibt sich aus unserer tragischen Geschichte, aber zu dieser Geschichte, diesem deutsch-jüdischen Schicksal hat Özdemir keinen Bezug. Wäre Cem Özdemir auch 35 Jahre früher geboren, so hätte er nicht einmal Günter Gaus’ oder Helmut Kohls "Gnade der späten Geburt" haben können. So ein Postulat ergibt im türkischen Zusammenhang einfach keinen Sinn.
 
Özdemirs Versuch, sich eines fremden Erbes anzueignen, mag vielleicht wohl gemeint sein, ist jedoch bestenfalls gekünstelt. Cem Özdemir kann zwar "politisch korrekt" agieren und stets "richtige" Ansichten artikulieren, aber damit ahmt er nur deutsche Bewältigungsmuster nach, die andere vorgeleistet haben. Eine eigene Auseinandersetzung mit dem, was die Großeltern während des Holocaust taten oder unterließen, hätten tun müssen oder nicht hätten tun dürfen, ist bei einem Cem Özdemir – glücklicherweise – völlig hinfällig.

Cem Özdemir kann/könnte als Politiker in der Bundesrepublik sehr viel beeinflussen und unternehmen, z. B. in puncto Wirtschaft, Verkehr, Gesundheit oder Grüne Politik. Nur kann er auf sich keine (glaubwürdige) Verantwortung für etwas beziehen, womit er, auch als deutscher Staatsbürger, einfach nichts zu tun hat, jedenfalls nicht mehr als ein aus Indien nach Israel Zugewanderter (von diesen gibt es übrigens nicht wenige).
 
Das ist notabene kein Vorwurf gegen Özdemir, schließlich ist es ja nicht seine Schuld, dass seiner eigenen Geschichte dieser Bezug fehlt. Aber der deutsche Schuldstolz ist auch ein Privileg: Nicht jeder Hineingestolperte kann und darf – zumindest mir als Zufallsjuden gegenüber – den Deutschen spielen.

Sonst würde bald auch Auschwitz zu einer globalisierten, völlig entkontextualisierten Kulturware à la Che Guevara, die jeder stolz "tragen" darf, um sich (je nach politischer Ausrichtung) deren zu rühmen.

 
Heute gedenkt der jüdische Staat – und daraufhin auch viele Gemeinden im Ausland wie etwa hier in Berlin – des Holocaust.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

92 Kommentare

  1. Widerspruch

    Ich möchte hier widersprechen.
    Worin genau besteht denn die von Cem Özdemir angesprochene “Übernahme von Verantwortung”?
    Doch wohl nicht in einer angenommenen Mitschuld! Die können nur jene haben, die damals auch hier gelebt haben.
    Wohl aber in einer gesteigerten Verantwortung dafür, dass so etwas wie die Shoa nie wieder passiert! Und diese Verantwortung hat jeder deutsche Staatsbürger, da sie alle über ihr Stimmverhalten entscheidend dazu beitragen, ob wir in diesem Land dieser Verantwortung gerecht werden.
    Man stelle sich nur mal vor, Cem Özdemir würde eines Tages Bundeskanzler dieses Landes (und damit seines Heimatlandes) und würde als solcher eine derartige Verantwortung ablehnen! Oder hätte er sie nur qua seines Amtes?!

  2. VON HERRN ÖZDEMIR…

    WÜNSCHE ICH MIR EIN HINEINWIRKEN IN SEIN HERKUNFTSLAND.
    DER GENEOZID AN DEN ARMENIERN IST IN DER TÜRKEI BIS HEUTE NICHT IM ANSATZ AUFGEARBEITET GÜNSTIGENFALLS PUNKTUELL THEMATISIERT. WÄHREND DAS TÜRKISCHE RELIGIONSMINISTERIUM UNGENIERT IN DEUTSCHE INNENPOLITIK HINEINANGIERT, VERBIETET SICH HR.EROGAN EINMISCHUNG IN SEINES ISLAMCLUBBS INNERE ANGELEGENHEITEN. VERZEIHUNG DEN POLEMISCHEN ANSATZ. NICHT DASS ICH SCHWEINEFLEISCH FAN WÄRE, ABER DER LETZTE SCHWEINESCHLÄCHTER SOLL AUS ISTAMBUL VERTRIEBEN WERDEN UND DAS EHEMALIGE CHRISTLICHE KERNLAND IST HEUTE FAST “CHRISTENFREI”. MIT VERLAUB, DA GIBTS VIEL ZU TUN AN DER RELIGIONSFREIHEITSFRONT IN DER EHEMALS KEMALISTISCHEN TÜRKEI, VON ANDEREN ISLAMLÄNDERN GANZ ZU SCHWEIGEN!

  3. “[…] sind einzig und allein: die Juden. Und zwar diejenigen, die aus den betroffenen Regionen, Europa und Nordafrika, stammen.”

    Diese Einschränkung gilt so nicht. Es machte für einen amerikanischen Juden, der als Soldat in den Krieg geschickt wurde, sehr viel aus, ob er an einer Front diesen sollte, bei der ihm die Gefanggennahme durch Deutsche drohte.
    Ein solcher amerikanischer Soldat, auch wenn er nicht direkt aus einem direkt vom Holocaust betroffenen, weil von Deutschland besetzten oder mit Deutschland verbündeten Land stammte, war von der Existenz des Holocausts direkt betroffen, viel mehr als seine nicht-jüdischen Kameraden, und sich dieser direkten Betroffenheit auch wohl bewusst.

    Den Eindruck nehme ich jedenfalls aus Literatur aus der oder über die Kriegszeit mit.

  4. @ Oliver

    Wenn Özdemir sagen würde, jeder Mensch hat – schon deswegen, weil er Mensch ist – eine Verantwortung dafür, dass so etwas sich nie wiederholen würde, fände ich das Argument nachvollziehbar.

    Wenn Özdemir sagen würde, das deutsche Volk hat – schon deswegen, weil deutsch – zwar keine Schuld mehr, dafür jedoch eine besondere Verantwortung, dass so etwas sich nie wiederholen würde, fände ich das Argument nachvollziehbar.

    Wenn Özdemir aber sagt, diese besondere, weil nicht allgemein-menschliche Verantwortung entspränge dem bundesrepublikanischen Pass (“als deutscher Staatsbürger habe ich…”), finde ich es nicht nachvollziehbar, und zwar aus den oben genannten Gründen. Meiner Ansicht nach obliegt Türken, die im Gegensatz zu Özdemir keinen bundesrepublikanischen Pass haben, nicht weniger Verantwortung als Özdemir selbst; auch obliegt Deutschen mit österreichischem Pass nicht weniger Verantwortung als, sagen wir mal, Helmut Kohl (trotz seiner “Gnade der späten Geburt”).

    Und würde Cem Özdemir eines Tages Bundeskanzler, wäre dieses Land kein deutsches Land mehr, und die ganze Diskussion würde sich erübrigen. Das spricht nicht gegen Özdemir selbst, sondern ist ein sehr einfacher Befund. Auch wenn in Israel eines Tages ein Palästinenser mit einem israelischen Pass Premierminister oder Staatspräsident würde, wäre es kein jüdisches Land mehr.

  5. @ Joachim

    Gibt es eigentlich einen Grund, warum du alles in Großbuchstaben schreibst? Ich bitte dich, in Zukunft alles ganz normal zu schreiben, damit ich deine Kommentare freischalte.

  6. @ Michael

    Ich bin mit dir völlig einverstanden und habe es im obigen Text auch so gemeint. Diese jüdischen Soldaten stammten seinerzeit ja ebenfalls aus Europa. Viele von ihnen gingen nach dem Sieg auf die Suche nach Verwandten, die im alten Kontinent verblieben waren…

    Meine Formulierung hat einfach den Zweck, jüdische Bevölkerungsteile auszuschließen, die keinen direkten Bezug zu dieser Thematik haben, wie etwa die Juden aus dem Jemen.

  7. Deutscher

    Was, wenn Cem Özdemir einfach gesagt hätte: “Als Deutscher habe ich die Verantwortung…usw.”? Wäre das besser gewesen?

    Wenn Özdemir sich vor allem als Deutscher fühlt und nicht so sehr als Türke—was spielt es für eine Rolle, wo seine Eltern geboren wurden?

    Mir ist das Denken in völkischen Kategorien reichlich suspekt. Das schafft Probleme, wo eigentlich keine sind.

  8. @ Balanus

    ad 1:

    Und was, wenn Özdemir gesagt hätte, “ich als Jude habe das Recht auf Einbürgerung in Israel”?

    Und was, wenn Benjamin Netanjahu sagen würde, “ich als Russe fordere, dass Russland keine Geschäfte mehr mit dem Iran macht”?

    Und was, wenn Özdemir sich wirklich als Jude, Netanjahu sich wirklich als Russe fühlen würde?

    Unsere Kommunikation beruht auf historisch gewachsenen Bedeutungen. Wir können die Sprache zwar ins Absurde und völlige Subjektive (“ich fühle mich als Italiener, also bin ich einer”) transportieren, doch dann hätte die Sprache kaum intersubjektiven Gebrauchswert noch.

    ad 2:

    Geburtsorte spielen zwar eine Rolle, diese ist jedoch tatsächlich nicht so groß. Weder bei Özdemir noch bei seinen Eltern.

    Die eigene Geschichte, d.h. die Familie, spielt hingegen eine große Rolle. Deutsche haben, allgemein gesprochen, ein besonderes Verhältnis zum Thema Holocaust, das man etwa bei Spaniern nicht so findet. Doch dieses Verhältnis haben die heutigen Deutschen nicht deswegen, weil sie beim Holocaust selber gelebt hätten, sondern aufgrund ihrer Familiengeschichte, die sie auf verschiedene Weise mit dem deutschen Kollektiv verbindet, das über die Gegenwart hinausragt und ein historisches Erbe enthält.

    Armenier z. B. gedenken bis zum heutigen Tage ihres Genozids durch die Türken, doch nicht, weil die heutigen Armenier es selber erlebt hätten, sondern weil ihre Gruppenidentität als Armenier (eine von mehreren, die sie als Individuen jeweils haben) sie notwendigerweise mit einer historisch gewachsenen Substanz verbindet, zu der u. a. nunmehr auch der Genozid ganz wesentlich gehört.

    Wo die heutigen Armenier oder ihre Eltern geboren wurden, spielt dabei keine so große Rolle: ob in Armenien, Israel, Deutschland oder den USA, bleiben sie ja Armenier, aufgrund und dank ihres historischen Erbes, der historisch gewachsenen Substanz des Armenischen, das sie gleichsam ein geistiges Band in den unterschiedlichsten Ländern doch noch einigermaßen zusammenhält.

  9. @ Yoav Sapir

    Jeder Mensch hat – schon deswegen, weil er Mensch ist – eine Verantwortung dafür, dass so etwas sich nie wiederholen darf.

    Das deutsche “Volk” (definiert über die Herkunft) hat – schon deswegen, weil deutsch – zwar keine Schuld mehr, dafür jedoch eine besondere Verantwortung, dass so etwas sich nie wiederholen darf.

    Und jeder deutsche Staatsbürger -gleich welcher Herkunft- hat in meinen Augen ebenfalls eine besondere Verantwortung dafür, die sich in der verantwortungsvollen Wahrnehmung seiner Bürgerrechte (Wahlrecht) äußert.

    Ich möchte das auch deshalb betonen, weil sich der Nationalstaat eben nicht nur über die Herkunft seiner Bürger definiert. Damit ermöglicht er es auch Migranten, “deutsch” zu sein. Ich empfinde das als Fortschritt. Ungeachtet eventueller politischer Differenzen hätte ich wenig Probleme mit einem “wahl”-deutschen Bundeskanzler Özdemir. Er ist ein Beispiel für jene Personen mit Migrationshintergrund, die tatsächlich in Deutschland angekommen sind. Vielleicht wäre die Bundesrepublik dann kein deutscher “Volksstaat” mehr, sicherlich aber derselbe deutsche Nationalstaat.
    Leider hat Israel diesen Schritt vom Volksstaat zum Nationalstaat nicht vollbringen können (und sicher gilt diese Aussage auch für zahlreiche Deutsche hier in Deutschland, die “deutsch” nach wie vor nur über die Herkunft definieren). Die Gründe dafür sind nicht zuletzt die Präsenz zahlreicher Gegner, die die Existenz des Staat Israel am liebsten negieren möchten. Aber ich hoffe -auch im Sinne Israels, dass dieser Schritt in die Moderne -so meine Einschätzung- eines Tages aufgrund günstigerer Umstände doch noch gegangen werden kann.

  10. BEQUEMLICHKEIT

    manchmal nur klein…..manchmal nur gross…..manchmal (ganz absichtlich oder nur konventionell) gross und klein…..das jedenfalls sollte kein …… sein! Danke und SHALOM zu frohem Schaffen!

  11. Ich sehe das so:

    Wir sind, was wir denken. Wir denken überwiegend in Sprache. Wer vorzugsweise in der deutschen Sprache denkt, ist Deutscher (unabhängig was sein Pass oder seine Pässe von ihm behaupten).

    Özdemir wird vermutlich zumindest in Deutschland vorzugsweise in Deutsch denken. Also hat er als Deutscher auch eine besondere Verantwortung sich über den Völkermord an den Juden, durchgeführt von den Deutschen, zu informieren und dieses Wissen weiterzutragen. Was ist da passiert? Warum ist es passiert? Wie konnte es dazu kommen?

    Özdemir ist auch Türke (in der Türkei wird er vermutlich überwiegend in türkisch denken), also hat er auch eine besondere Verantwortung sich über den Völkermord an den Armeniern, durchgeführt von den Türken, zu informieren und dieses Wissen weiterzutragen. Diese Verantwortung nimmt Özdemir aber AUCH wahr.

    Ich bin zwar kein Russe (oder Georgier), aber es gibt auch eine Wahlverwandtschaft. Ich als Atheist und (demokratischer) Sozialist, habe selbstverständlich auch eine besondere Pflicht mich über die KZs und die Morde Stalins (ca. 20 Mill. darunter ca. 2 Mill. Juden)zu informieren und dieses Wissen weiterzutragen.

    mfg
    Luchs

  12. @ Oliver

    ad 1.:

    Wenn auch jeder Staatsbürger der Bundesrepublik eine “besondere” Verantwortung hat, die in seinem aktiven Wahlrecht zum Ausdruck kommt, stellt sich mir die Frage, warum diese Verantwortung als “besonders” zu bezeichnen ist.

    Will sagen: Eine besondere Verantwortung der Deutschen – welcher Staatsangehörigkeit auch immer -, hat in meinen Augen deswegen einen “besonderen” Charakter, weil sie in dieser “metahistorischen” Form nicht jedem Volk obliegt, also etwa nicht den Chinesen oder den Schotten.

    Aber wenn wir von einer “verantwortungsvollen Wahrnehmung der Bürgerrechte” und vor allem des aktiven Wahlrechts sprechen, stellt sich die Frage, ob das nicht gleichermaßen auch für Österreicher, Franzosen, Türkei-Türken, Israelis, US-Amerikaner etc. gilt. Das bedeutet, dass wir hier mit einem Aspekt der allgemein-menschlichen Verantwortung zu tun haben.

    Wenn Özdemir so etwas meint, bin ich mit ihm vollkommen einverstanden, aber diese Verantwortung hat er als Bürger eines demokratischen Staates, und dass es sich bei ihm um einen Staat handelt, dessen Bürger großteils Deutsche sind, ändert in meinen Augen nichts an seiner allgemein-menschlichen Verantwortung. Da braucht er sich eines “besonderen” Erbes, nämlich des Holocaust, nicht zu rühmen, zumal dieses Erbe, diese Last, gar nichts mit ihm zu tun hat.

    ad 2.:

    Was du als Fortschritt empfindest, erscheint mir genau das Gegenteil davon zu sein. Stell dir mal vor, der jüdische Nationalstaat würde jeden seiner Bürger zu einem Juden erklären, nur deswegen, weil man – also etwa ein Palästinenser – den Pass des jüdischen Nationalstaates besitzt.

    Da halte ich die jüdische Herangehensweise, welche die Volkszugehörigkeit von der Staatsangehörigkeit trennt und somit auch nationalen Minderheiten weitgehende Sonderrechte zuerkennt, für viel fortschrittlicher als die Gleichmacherei nach französischem Muster.

    Mehr dazu übrigens hier: http://www.chronologs.de/…vs.-volkszugeh-rigkeit

  13. @ Luchs

    Ich denke in Deutschland oft auch auf Deutsch (etwa dann, wenn ich diese Beiträge schreibe), kann dir allerdings eines versichern: Ich bin kein Deutscher. Die Sprache ist zwar wichtig, ja sehr wichtig, aber man kann nicht alles auf diese Ebene reduzieren. Es ist ja auch nicht jeder, der Englisch spricht, gleich Engländer, selbst wenn Englisch seine Muttersprache ist. Man denke etwa, ganz einfach, an die Schotten und Waliser.

  14. @ Yoav Sapir

    Umgekehrt wird ein Schuh draus: Israel möge nicht jeden Palästinenser zu Juden erklären, sondern Juden wie Nicht-Juden zu Israelis.

    Und Ja, der deutsche Wähler -gleich welcher Herkunft- hat eine höhere Verantwortung hinsichtlich der Wahl nationalistischer Parteien als der der britische Wähler in Großbritannien – aufgrund der Geschichte dieses Landes und des daraus resultierenden Erbes.

    Einige Ihrer Zeilen machen mir Sorge. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann kann ein Jude zwar deutscher Staatsbürger, nie aber Deutscher sein; ist das richtig?
    Ich denke, dass das viele jüdische Deutsche anders gesehen haben, als Sie im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich in den Krieg zogen. Ungeachtet der mehr als fragwürdigen Ziele in diesem Krieg haben diese Menschen ja wohl ein Recht darauf, als das gesehen zu werden, das sie sein wollten: als Deutsche jüdischen Glaubens.

  15. @ Oliver

    1. Was soll eine solche Erklärung bedeuten? Sie sind ja “Israelis” im Sinne von “Bürgern des jüdischen Staates”. Wozu bedarf es einer weiteren Erklärung? Die eigentliche Frage ist aber: Wenn Israel soweit ist, dass sowohl die jüdischen als auch die nichtjüdischen Bürger politisch gesehen als “Israelis” auftreten können, wieso ist die Bundesrepublik noch nicht so weit, dass sowohl die deutschen als auch die nichtdeutschen Bürger ganz neutral als “Bundesrepublikaner” o. Ä. auftreten könnten? (Zur Bestimmung der deutschen Volkszugehörigkeit in der bundesrepublikanischen Gesetzgebung siehe Bundesvertriebenengesetz.)

    2. Tut mir Leid, aber ich sehe nicht ein, warum ein Inder, der hier eingebürgert wird und nichts, aber wirklich nichts mit der Last des Holocaust zu tun hat, als Wähler in der Bundesrepublik eine größere Verantwortung haben sollte als die Millionen Deutsche in Österreich, die zwar keine Bürger der Bundesrepublik sind und hier nicht wählen können, deren Erbe jedoch sehr viel mit dem Nationalsozialismus zu tun hat.

    3. Wenn man einen jüdischen und einen deutschen Elternteil hat, kann man sich wohl mit beiden Völkern identifizieren (wenn auch vermutlich nicht gleichermaßen). Was den Einsatz von Juden für das Deutsche Reich angeht, so lehrt mich die Geschichte, dass das eine Art Vortragödie war. Der Traum davon, ein “Deutscher mosaischen Glaubens” zu sein, ging nicht in Erfüllung und kann dies aufgrund der Holocaust-Dichotomie auch nicht mehr tun. Dass die Selbstaufopferung der jüdischen Soldaten im Dienste des Kaisers sinnlos war, deuteten schon zur damaligen Zeit zahlreiche Zeichen an, nur wollten die damaligen Juden diese Zeichen oft nicht wahrnehmen. Wenn Juden schon auf dem Felde der Ehre kämpfen und sterben, so sollten sie dies, dünkt mich, für sich selbst machen, fürs eigene Land und Volk, und nicht für andere. Schließlich würde auch Deutschland wohl keine deutschen Soldaten ins jüdische Land schicken, damit sie dort für die Juden kämpfen und sterben.

  16. Cem Özdemir als Politiker

    Cem Özdemir ist ein Politiker und übernimmt damit Führungsverantwortung. Er entscheidet nicht nur für sich selber, sondern für viele andere deutsche Staatsbürger. Gibt es nicht einen stillen Konsens unter den deutschen Politikern, dass man als Mitglied der denkenden Elite einen Rückfall in die Zeit des Holocaust niemals erlauben darf. Implizit verbirgt sich dahinter die Annahme, dass solch ein Rückfall nicht von den Führern (Politikern) sondern vom Volk ausgehen könnte. Cem Özdemir sagt also nur, dass er auch als türkischstämmiger Politiker dieselben Aufsichtspflichten übernehmen kann wie ein deutschstämmiger.
    Anmerkung: Ich bin Schweizer und in der Schweiz ist die Meinung weitverbreitet, die deutsche Elite traue dem Volk immer noch Schlimmes zu, was dann auch die grassierende Expertokratie und die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts erklärt.

    Nun, selbst wenn meine Erklärung nicht zutrifft, eines stimmt sicher: Was Cem Özdemir sagt, sagt er nicht nur als deutscher Staatsbürger sondern als Politiker, der zu den potentiellen Wählern spricht.

  17. @ Martin

    Cem Özdemir sagt also nur, dass er auch als türkischstämmiger Politiker dieselben Aufsichtspflichten übernehmen kann wie ein deutschstämmiger.

    Das bedeutet, dass Özdemir hier Nachahmung treibt (wie im obigen Text beschrieben). Dies tut er zu einem freilich guten Zweck, und dennoch: Das sind nicht die Früchte seiner Auseinandersetzung mit der Großelterngeneration, sondern die Übernahme von Ergebnissen, die anderen, nämlich die deutschen Bewältigungs- und Aufarbeitungsprozesse, über Jahrzehnte hinweg vorgeleistet haben.

    Für das Hier & Jetzt, also für Özdemir selbst, mag das vielleicht ausreichen, doch für die Zukunft, also für die kommenden Generationen, sind solche Ansätze nicht tragfähig.

  18. Verantwortung von wem aufgebürdet?

    “[…] ich sehe nicht ein, warum ein Inder, der hier eingebürgert wird und nichts, aber wirklich nichts mit der Last des Holocaust zu tun hat, als Wähler in der Bundesrepublik eine größere Verantwortung haben sollte […]”

    Das ist mein Stichwort.

    Nehmen wir einfach mal dieses Beispiel. Nehmen wir ferner an, besagter aus Indien stammende Deutsche arbeite in einem exportabhängigen Industrieunternehmen.

    Da wird er sehr schnell merken, dass die Art, wie in Deutschland mit dieser Last der Vergangenheit ungegangen wird und vor allem die Art, wie dieser Umgang im Ausland wahrgenommen wird, ihn selbst in sehr direkter und unmittelbarer Art und Weise betreffen kann. Beispielsweise dann, wenn es wegen Mängeln in diesem Umgang zu Boykotten u.a. der Produkte der Firma dieses Deutschen kommt.

    Es ist also im ureigenseten Interesse auch dieses aus Indien stammenden Deutschen, effektive Verantwortung für die Last der Verantwortung zu übernehmen und selbst darauf hinzuwirken, dass dieses Land und seine Gesellschaft angemessen mit dieser Last umgehen.

    Ob diese Verantwortung von der Geschichte, von einer juristischen Instanz oder ganz einfach von Wahrnehmungen eines Kunden aufgebürdet werden, ist vollkommen egal.

    Dem Lasttier kann es ja auch egal sein, ob die Traglast ihm vom Bauern, von dessen Frau, vom Knecht oder von der Magd auf den Rücken gehievt wurde. Die Last wiegt in allen Fällen gleich schwer.

    Die Schuldfrage ist eine andere Frage. Auch der Grad der Last variiert von Person zu Person, aber dass Deutsche eine Last der Verantwortung tragen, die einen mehr, die anderen weniger, aber doch alle, unabhängig von ihrer persoenlichen Verstrickung in die geschichtlichen Abläufe des Holocaust, das ist nun einmal so, und daran wird sich wahrscheinlich auch in dieser Generation wenig ändern.

  19. @ Michael

    Na, quod erat demonstrandum…

    Wenn die besagte Person nur so extrem indirekt, ja geradezu zufällig mit dieser Problematik zu tun hat, dann ist diese Person wirklich ein Außenseiter. Bei Insiders verschwindet die Verbindung nicht, sobald man die Firma wechselt; es ist eine innere Verbindung, die einen Deutschen, sobald mit dem Thema konfrontiert, sich auch dann sonderbar fühlen lässt, wenn er bei Aldi an der Kasse sitzt.

    Und so wie ich es sehe, ist es so: Wer augenblicklich aufhören kann, dieses oder jenes (Deutscher, Jude etc.) zu sein, ist es eben nicht. Mit den Worten Tucholskys: “Ich bin im Jahre 1911 ‘aus dem Judentum ausgetreten’, und ich weiß, dass man das gar nicht kann.” Wessen Jüdisch- oder Deutschsein von einem Stück Papier wie dem Pass abhängt und mangels desselben verschwinden würde, der ist m. E. kein Jude bzw. Deutscher, sondern ganz einfach ein Bürger Israels bzw. der Bundesrepublik.

  20. Dieses oder jenes sein /@Yoav Sapir

    » Wer augenblicklich aufhören kann, dieses oder jenes (Deutscher, Jude etc.) zu sein, ist es eben nicht.«

    …ist es eben nicht geworden

    Denn es ist ja klar, dass kein Mensch als Deutscher oder Jude geboren wird. “Deutschsein” will gelernt sein, ebenso wie “Judesein” oder “Indersein”.

  21. @ Balanus

    “Deutschsein” will gelernt sein, ebenso wie “Judesein” oder “Indersein”.

    Das ist richtig, gilt allerdings wohl nur fürs allererste “Lernen”, das noch nicht als solches bewusst wahrgenommen wird, d.h. für die Sozialisierung durch die Familie während der Kindheit.

    Was man hingegen wirklich lernt, ob in der Schule, auf der Straße oder gar in einem wohlwollenden Integrationskurs, kann man später auch wieder verlernen. Dann ist man’s nicht, sondern man tut es bestenfalls, wie ein Schauspieler in einem Theaterstück, dem man nicht mehr zu entfliehen weiß. So ist das leider z. B. bei vielen Juden hierzulande.

  22. Es geht um Verantwortung! Nicht um Schuld!

    Cem Özdemir hat meines Erachtens Recht, wenn er sagt, dass der von Deutschen verantwortete Holocaust auch ihn berührt. Dass Ermordung der Juden ihn berührt, weil er Deutscher ist beziehungsweise sich als Deutscher fühlt, ist indes vollkommen irrelevant.

    Denn es gibt keine kollektive Schuld. Verbrechen im Namen eines Staates treffen niemals all seine Bürger. Und schon gar nicht deren Kinder und Enkel. Das ist trivial! Die bizarre Frage, ob ein in Deutschland lebender Inder “Verantwortung” für die Taten unserer Vorfahren übernehmen muss oder eben nicht, stellt sich indes genau so wenig wie die Frage nach der Schuld “aller Deutschen”.

    Vielmehr müssten Verbrechen im Namen EINES Volkes immer Mahnung für ALLE Völker sein. Gleichwohl schließt das eine “besondere Verantwortung” der Bürger eines Täterstaats – in diesem Fall Deutschlands – natürlich nicht aus.

    Erstrebenswert wäre also: Sobald irgendein Mensch irgendwo von dem Holocaust, dem Völkermord an den Armeniern, dem Abwurf der Atombomben in Japan oder den Massakern zwischen “Hutu” und den “Tutsi” auch nur ERFÄHRT, bürden solche historischen Erfahrungen einzelner Völker und Staaten auch ihm eine Verantwortung auf, der er sich zu stellen hat.

    Die Anmerkung, Auschwitz könne unter diesen Umständen zu “einer globalisierten, völlig entkontextualisierten Kulturware” werden, halte ich für unangebracht und dem Weg hin zu einem global kontruktiven Umgang mit Geschichte hinderlich.

  23. @ Winfried

    Darin, dass es nicht mehr um Schuld geht, sondern um Verantwortung, waren wir alle, glaube ich, in der bisherigen Diskussion einig. Desgleichen darin, dass man aus dem Holocaust allgemein-menschliche Schlüsse ziehen kann (ohne deren jeweilige Gültigkeit zu beurteilen).

    Die Frage, die wir hier besprechen, ist hingegen, ob eine besondere, weil spezifisch deutsche Verantwortung, sofern man sie akzeptiert, vom Pass oder Wohnort allein abhängig gemacht werden kann, wie Özdemir es postuliert.

    Meines Erachtens sollte man so etwas nicht tun, denn dadurch werden etwa die Millionen Deutsche mit österreichischem Pass, deren Geschichte – oft auch Familiengeschichte – sehr viel mit dem Nationalsozialismus zu tun hat, von diesem Erbe implizit ausgeschlossen, während anderen, die wie Özdemir nichts mit dem Thema zu tun haben, die ihnen doch fremde Last einer spezifisch deutschen Sonderverantwortung aufgebürdet (oder anderes formuliert: das Privileg des deutschen “Schuldstolzes” zusammenhangslos gegönnt) wird.

  24. Zitat: “Eine besondere Verantwortung der Deutschen – welcher Staatsangehörigkeit auch immer -, hat in meinen Augen deswegen einen “besonderen” Charakter, weil sie in dieser “metahistorischen” Form nicht jedem Volk obliegt, also etwa nicht den Chinesen oder den Schotten.”

    Frage am Rande: Hört die metahistorische besondere Verantwortung nur bei Zuwanderern auf? Oder nicht auch bei z.b. meiner Generation (Jahrgang 1969), spätestens aber der meiner Kinder?

    Völkermord haben viele Völker betrieben. Leider. Mir ist jedoch ad hoc kein anderes bekannt, das sich wie die Deutschen über Generationen hinweg derart damit selbst geißelt oder von anderen Völkern gegeißelt wird.

    Warum und wie lange soll es überhaupt in Deutschland eine “metahistorische” Verantwortung geben, die über die übliche, ethische Verantwortung eines jeden anderen Volkes hinausgeht, daß sich derartige Ereignisse nicht wiederholen? Wo ist der Unterschied zwischen einem Einwanderer aus einem anderen Land und einem “Einwanderer aus einer anderen Generation”?

  25. @Yoav Sapir

    Sie schreiben:

    Özdemirs Sicht, als ob alleine der Wohnort eines Menschen oder seine Staatsangehörigkeit von größter Bedeutung für solch gewichtige Fragen wären, erscheint mir in diesem Punkt viel zu einfältig.

    Und in einer Replik auf @Winfried:

    Die Frage, die wir hier besprechen, ist hingegen, ob eine besondere, weil spezifisch deutsche Verantwortung, sofern man sie akzeptiert, vom Pass oder Wohnort allein abhängig gemacht werden kann, wie Özdemir es postuliert.

    Nach meinem Eindruck unterstellen Sie Özdemir Dinge, die er so nicht gesagt hat. Dass “allein der Wohnort” “von größter Bedeutung” für die Übernahme der Verantwortung wäre, sagt er an keiner (von Ihnen zitierten) Stelle.

    Ich verstehe Özdemirs Aussage so, dass es genügt, formal deutscher Staatsbürger zu sein, dass diese bereits dazu verpflichtet, Verantwortung zu übernehmen.

    Das würde konsequenterweise also auch für deutsche Juden gelten, deren Familien nicht Opfer des Holocaust geworden sind und/oder aus einem anderen Teil der Welt stammen und deutsche Staatsbürger geworden sind. Das mag merkwürdig anmuten, aber die Übernahme der Verantwortung schließt ja nicht aus, dass zusätzlich oder zuvörderst auch “jüdische Schlüsse aus dem Holocaust” gezogen werden. So wie ein deutscher Homosexueller oder Kommunist ebenfalls noch andere Schlüsse aus Auschwitz ziehen wird. Das mentale Konstrukt “Volkszugehörigkeit” scheint mir da zweitrangig zu sein.

    Ich würde ohnehin diesem in frühkindlichen Lernprozessen erworbenen Gefühl, einem bestimmten Volk anzugehören, keine so große Bedeutung beimessen. Dieses Gefühl mag für viele Menschen sehr wichtig sein, aber letztlich ist es doch purer Zufall, in welches Volk man hineingeboren wird und welche Eltern und Großeltern man hat.

    Ich sehe keinen Grund, warum diese Zufälligkeiten objektiv wichtiger und bedeutsamer sein sollten als eine selbst gewählte Staatsbürgerschaft.

  26. @ Balanus

    1. Im oben zitierten Zeit-Interview fragt die Zeit: “Muss die Verantwortung der Migranten genauso stark sein wie die der Deutschen?” Darauf antwortet Özdemir: “Die deutsche Geschichte zwingt uns dazu – und zwar alle, die hier leben.” Ich verstehe Özdemir so, dass er mit dem Wort “hier” das Augenmerk auf den Wohnort lenkt. Aber vielleicht ist mein Deutsch nicht gut genug, um das Wort “hier” zu verstehen…

    2. Man kann natürlich alles ad absurdum führen, tiefe Einsichten bringt das allerdings nicht. Bin ich zufälligerweise Jude? Vielleicht. Aber wäre ich in eine deutsche Familie geboren, so wäre ich doch nicht die Person, die ich durch meine jüdische Geburt bin. Also ist auch die Volkszugehörigkeit kein reiner Zufall.

    3. Und wenn wir schon anfangen, dieses und jenes als “Zufall” abzutun: Nur die allerwenigsten Bürger der BRD haben sich für diese Staatsangehörigkeit bewusst entschieden. Die allermeisten hingegen sind nur rein “zufällig” Bürger dieses Staates (ich wende hier natürlich nur deine Sichtweise an; meiner Meinung nach sind sie keineswegs zufällig Bürger dieses Staates, sondern weil sie Deutsche sind). Warum sollte also die Staatsangehörigkeit, diese ausgesprochene Zufälligkeit, wichtiger sein als die eigene Familiengeschichte?

    4. Was ist in unserer Welt kein “mentales Konstrukt”? Ohne Konstrukte hätten wir keine Staaten, keine Währungen, es gäbe ja nicht einmal den “Menschen”, weil die imaginäre Vorstellung vom “Menschen”, der kein Tier ist, auch ein mentales Konstrukt ist. Auch Völker sind mentale Konstrukte, das macht sie allerdings nicht weniger wirksam als alle anderen Konstrukte, von denen unser Leben abhängt.

  27. @ Ute

    “Auschwitz” – oder, genauer gesagt, Treblinka – ist Teil der deutschen Geschichte, Teil der historisch gewachsenen Substanz des Deutschen schlechthin und somit auch des deutschen Volkes. Es ist nicht alles, aber es ist ein Teil davon. Es kann genauso gut verschwinden wie Goethe oder Schiller.

    Die Zugehörigkeit zu einem Volk bedeutet, an etwas Größerem teilzunehmen als man selbst, an etwas, was über einen hinausragt, was nicht zeitgebunden ist. Es gibt also m. E. keine “Einwanderer aus einer anderen Generation”: Den Deutschen von heute gehört Goethe genau so wie jenen von gestern und von morgen, desgleichen Treblinka.

  28. @Yoav

    Das ist ein interessanter Standpunkt, vielen Dank. Allerdings muß ich gestehen, daß in mir persönlich ein ganz und gar anderes Gefühl herrscht. Der Holocaust ist für mich genauso Geschichte wie die Vertreibung der Indianer in den USA. Es macht für mich keinen Unterschied, daß am Holocaust meine Großeltern beteiligt waren (Großvater in der Waffen-SS auf dem Obersalzberg) und an der Indianervertreibung eine ganz andere Nation. Es ist nicht “meins”. “Meins” ist nur das, was jetzt passiert. Natürlich lehrt die Vergangenheit – aber sie lehrt mich nicht mehr, nur weil sie in dem Land stattgefunden hat, in dem ich zufällig geboren wurde. Und sie lehrt mich nicht weniger, wenn sie in einem Land stattgefunden hat, in dem ich bisher nur ein zeitweiliger Besucher war.

    Ich kann Herrn Özdemirs Standpunkt verstehen.

    Gutes Buch übrigens, wenn auch hart zu lesen: http://bit.ly/9dBWRt

  29. @ Ute

    Wenn alles nur noch Zufall ist und keinen Eigenwert mehr hat, dann ist alles tatsächlich gleichgültig und es gilt bestenfalls nur das Zufällige des Hier & Jetzt.

    Mir scheint es allerdings – ohne es auf irgendjemand persönlich zu beziehen – eine ziemlich erbärmliche Existenz zu sein, in der man vor sich hin schwebt, bar fast aller Vergangenheit, darum auch einer Zukunft.

    Es ist jedoch für die neuen Generationen der Deutschen wohl charakteristisch, dass sie dem Erbe ihrer eigenen Vergangenheit eine solche Schwerkraftlosigkeit vorziehen.

  30. @Yoav

    Genau das ist der Punkt: Ich kann in einer Kultur aufwachsen, die über Generationen geprägt wurde. Ich kann aber keine Vergangenheit erben. Schon gar nicht in dem Sinne, daß ich eine Verantwortung für sie trage.

    Schwerkraftlos fühle ich mich keineswegs. Ich habe ein Zuhause, habe aber auch schon ein paar Jahre in anderen Ländern verbracht und mich zumindest in England ebenso wohl und angenommen gefühlt wie hier.

    Erbärmlich finde ich es eher, wenn ich in Frankreich in einem Geschäft nur aufgrund meiner Nationalität ignoriert und nicht bedient werde, oder mich Holländer als Nazi bezeichnen. Das ist nämlich die Konsequenz, wenn man einer neuen Generation die Verantwortung für die Taten der vorherigen aufdrückt.

  31. @Yoav Sapir

    Punkt 1.

    Özdemir hat auf die Frage: “Muss die Verantwortung der Migranten genauso stark sein wie die der Deutschen?” geantwortet: “Die deutsche Geschichte zwingt uns dazu – und zwar alle, die hier leben.”

    In dem Zusatz “– und zwar alle, die hier leben” liegt die Betonung auf alle. Denn dass die Zugewanderten, um die es hier geht, notwendigerweise hier in Deutschland leben, ist ja klar.

    Es sieht so aus, als hättest Du das tatsächlich missverstanden. Aber das ist eigentlich nebensächlich. Denn grundsätzlich ist es völlig in Ordnung und unproblematisch, wenn sich ein Mensch allein aufgrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit zu der speziellen deutschen Verantwortung bekennt. Sei er nun von Geburt her Türke, Italiener, Inder oder Jude.

    Punkt 2.

    »Was ist in unserer Welt kein “mentales Konstrukt”?«

    Eben! Deshalb besteht auch keine Veranlassung, die durch Zufall und Prägung erlangte Volkszugehörigheit aufzublasen oder gar ideologisch zu überhöhen.

    Unsere sozialen Konstrukte sollten dazu dienen, das gedeihliche Zusammenleben der Menschen zu fördern, und nicht, künstliche Gräben zwischen den Populationen zu ziehen.

  32. Hallo Yoav,

    das Herr Cem Özdemir nicht den gleichen Bezug zum Holocaust haben kann wie ich geht mir auf, auch die Sache mit der Differenzierung zwischen Volks- und Staatsangehörigkeit scheint mir nach längerem Nachdenken nicht mehr ganz Unvernünftig.

    Anfangs hat mich das zu sehr an den Arier Nachweis meines Opas erinnert, aber muss eine solche Differenzierung überhaupt gezwungener maßen zu einer Boshaften Diskriminierung führen? Vielleicht gibt es etwas wie eine Sinnvolle Diskriminierung. Alle Bürger hätten die gleichen Rechte gleich welcher Volkszugehörigkeit, die Regierung müsste halt aus dem Volk kommen. Könnte eine solche Gesellschaft noch wandelbar und Dynamisch sein? Ich glaube schon, man könnte den wandeln wahrscheinlich nur besser Kontrollieren. Vielleicht lieg ich auch total daneben, aber wie gesagt unvernünftig finde ich den Gedanken nicht mehr.

    Viele Grüße

    Alex

  33. @ Ute

    Ich glaube schon, dass man Vergangenheit erben kann und soll, und zwar mitsamt den daraus resultierenden Pflichten und Rechten (…ist wohl so eine jüdische Sache). Aber da haben wir ja unterschiedliche Meinungen.

    Nur kann ich Folgendes nicht so recht verstehen:

    Wenn du – trotz des eigenen Großvaters – eine spezifisch deutsche Verantwortung ablehnst und es erbärmlich findest, wenn dir diese “aufgedrückt” wird: Inwiefern könnte es dann noch sinnvoll sein, Menschen, die aus der Türkei oder etwa Indien stammen und gar keine “einschlägige” Familiengeschichte haben, eine solche Verantwortung dann doch aufzudrücken?

  34. @ Balanus

    1.

    Das Kriterium, das Özdemir hier anwendet, entspringt doch dem Wort “hier”. Er spricht hier ja eindeutig nicht von einer allgemein-menschlichen Verantwortung, die allen Menschen – ganz egal, welchem Volk sie angehören, welche Staatsangehörigkeit sie haben oder in welchem Land sie leben – gleichermaßen gilt. So etwas wäre, wie ich hier schon mehrmals geschrieben habe, an sich nachvollziehbar – doch das sagt Özdemir eben nicht.

    Von daher glaube ich nicht, Özdemir missverstanden zu haben. Özdemir differenziert sehr wohl zwischen Indern, die in Indien leben, und Indern, die zufälligerweise in Deutschland leben – eine Differenzierung, die mit dem Wohnort zu tun hat, was ich absurd finde (aus Gründen, die oben schon ausführlich erklärt habe).

    2.

    Ich finde nicht, dass diese Gräben notwendigerweise künstlich sind. Ich würde auch nicht sagen, dass es zwischen mir als Zufallsjuden und irgendeinem Zufallsinder einen “Graben” gibt. Dafür haben wir doch viel zu wenig miteinander zu tun. Einen Graben gibt es hingegen zwischen Juden und Deutschen oder, zum Beispiel, zwischen Polen und Russen – und zwar gerade deswegen, weil diese Nationalgeschichten so eng (und oft leider so negativ) miteinander verwoben sind.

    Ohnehin weiß ich nicht, was du gewinnst, indem du die Gräben als “künstlich” bezeichnest. Denn wenn die Gräben künstlich sind, dann sind die Brücken, die “das gedeihliche Zusammenleben der Menschen fördern” sollten, doch genauso künstlich.

  35. @ Alex

    muss eine solche Differenzierung überhaupt gezwungener maßen zu einer Boshaften Diskriminierung führen?

    Mitnichten…

    Vielleicht gibt es etwas wie eine Sinnvolle Diskriminierung.

    Tatsächlich.

    Zum Beispiel dann, wenn die Araber in Israel als eine anerkannte Nationalität das Privileg bekommen, ihre Kinder in der eigenen Muttersprache zu unterrichten (und nicht in der jüdischen Nationalsprache).

    In Frankreich hingegen wird dieses Recht allen Fremdstämmigen grundsätzlich abgesprochen; alle Kinder werden gezwungen, in der Nationalsprache der französischen Republik unterrichtet zu werden. Das hat mit Toleranz recht wenig zu tun.

  36. @Yoav

    “Inwiefern könnte es dann noch sinnvoll sein, Menschen, die aus der Türkei oder etwa Indien stammen und gar keine “einschlägige” Familiengeschichte haben, eine solche Verantwortung dann doch aufzudrücken?”

    Ich glaube, wir sollten erst einmal klar definieren, für _was_ Verantwortung übernommen werden soll.

    Für die Vergangenheit meines Erachtens auf keinen Fall. Dafür jemandem die Verantwortung aufdrücken zu wollen, ist überhaupt gar nie sinnvoll, sondern führt nur zu noch tieferen Gräben, zu hilfloser Wut ob dieser Unfairness und letztendlich zu Aggressionen. Der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick hat das einmal sehr schön anhand eines irrtümlicherweise eingelieferten Gesunden in einer Irrenanstalt beschrieben: Der Gesunde hat dort die Wahl: Entweder stimmt er zu, tatsächlich irre zu sein. Dann wird er entsprechend behandelt. Weist er aber darauf hin, daß er gesund ist, wird ihm gesagt “Wenn Du wirklich gesund wärst, würdest Du merken, wie irre Du tatsächlich bist.”

    Die jüngeren Generationen in Deutschland – und dazu zähle ich durchaus auch die meiner Eltern schon – haben oft den Eindruck, daß Israel (ich sage jetzt bewußt “Israel” und nicht “die Juden”) sich dieses Konzept von Verantwortung zunutze machen möchte, um Deutschland für alle Zeiten gefügig zu halten und mundtot zu machen. Bei jedweder Kritik an Israel werden gleich die alten Zeiten heraufbeschworen und die Nazi-Keule geschwungen. Das Dilemma liegt meines Erachtens darin, daß ein Deutscher inzwischen scheinbar nur dadurch beweisen kann, ein “Gutmensch” zu sein, indem er sich selbst und die Deutschen allgemein als “Schlechtmenschen” bezeichnet. Motto: “Nur wer erkennt, wie böse er ist, kann überhaupt gut sein.” Die Ursache ist klar: Nach dem Dritten Reich waren Geständnisse, Einsicht, Reue und Buße bzw. Strafe sozusagen “normal” und auch angemessen — wer nicht bereute und büßte, hatte dank der Aliierten im öffentlichen Leben normalerweise keine Chance mehr. Das war(en) ja auch damals noch die tatsächlich verantwortliche Generation(en). Dummerweise hat sich das seitdem bis in die heutige Zeit hinein als das Patentmittel durchgesetzt und fatalerweise sogar in vorauseilenden Gehorsam verkehrt. Folglich wird regelrechte Selbstverteufelung bis heute als der beste, wenn nicht sogar der einzige Weg betrachtet, aller Welt die Sauberkeit der deutschen politischen Gesinnung zu demonstrieren. Obwohl die Basis dafür schon längst nicht mehr existiert. Dieses Guilt-Tripping mag in der Generation meiner Eltern evtl. noch funktioniert haben. In meiner tut es das schon längst nur noch bei Einzelnen, und die Generation meiner Kinder wird hoffentlich selbstbewußt genug sein, derartigem ganz entschieden und geschlossen einen Riegel vorzuschieben.

    Verantwortung für die Politik eines Landes ist in erster Linie mal Verantwortung für das eigene Handeln und natürlich auch die eigenen Unterlassungen. Dabei kann bzw. sollte man sich, gleich welche Nationalität man hat, an der Geschichte orientieren und aus ihr lernen, wie eben Herr Özdemir. Das finde ich nicht nur legitim, sondern auch sinnvoll. Aber man erbt die Vergangenheit nicht wie einen Gendefekt.

    Ich kann in keiner Weise für etwas verantwortlich sein, das vor meiner Geburt passiert ist. Für etwas, bei dem ich nie die Chance hatte oder haben werde, nachträglich eine Änderung herbeizuführen, irgendetwas ungeschehen zu machen. Genausogut könnte man mich für das Wetter von vorgestern verantwortlich machen. Und dabei spielt es keine Rolle, aus welchem Kulturkreis ich ursprünglich komme. Die Geschichte Deutschlands steckt schließlich nicht in meinen Genen oder auch nur in der Muttermilch. Selbst die Generation meiner Eltern (geboren 1940 und 1947) hatte nie Einfluß auf die Ereignisse des Dritten Reiches. Verantworung setzt aber zumindest potentiellen Einfluß voraus. Um verantwortlich für was auch immer zu sein, muß ich eine Sachlage halbwegs einschätzen können, meine Handlungsoptionen kennen und deren Folgen einzuschätzen vermögen. Nichts davon ist in bezug auf den Holocaust bei den letzten drei Generationen dieses Landes gegeben. Egal, wo sie nun leben, egal, welche Nationalität sie inzwischen haben mögen oder einmal hatten.

    Verantwortlich für die _gegenwärtige_ Entwicklung ist man aber natürlich schon, und ich denke, genau darum ging es Herrn Özdemir auch. Da sind stets alle gefragt, wie in jedem Staat. Sei es durch die Art und Weise, wie sie mit Menschen aus anderen Kulturen umgehen (oder sich ihnen verschließen), sei es durch die Werte, die sie ihren Kindern vermitteln, sei es durch die Parteien, die sie wählen, so sie denn das Wahlrecht haben. Da spielt es meiner Meinung nach auch keine Rolle mehr, ob man in Indien oder in Deutschland geboren wurde. Wer hier dauerhaft lebt, gestaltet automatisch das Geschick des Landes mit und trägt somit auch ein gewisses Maß an Verantwortung. Erst recht als aktiver Politiker, der Herr Özdemir ja schließlich ist. Er repräsentiert Deutschland ganz offiziell und kann sich schon alleine deshalb wohl kaum darauf zurückziehen, daß seine Eltern/Großeltern aus der Türkei kamen und ihn die Deutsche Geschichte nichts angehe.

    Ich möchte lieber nicht wissen, was für einen dicken Strick die Israelis Herrn Özdemir daraus gedreht hätten, wenn er als deutscher Politiker mit deutschem Paß gegenüber einer großen israelischen Zeitung zu verstehen gegeben hätte, der Holocaust gehe ihn nichts an. Dafür ist sein Einfluß auf die deutsche politische Gegenwart zu groß. Ich glaube übrigens auch nicht, daß Özdemir Verantwortung für den Holocaust an sich übernehmen möchte, sondern eben genau nur dafür, daß etwas derartiges sich nicht wiederholt. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

  37. @ Ute

    Ich habe deinen langen Kommentar freigeschaltet und nach einer Stunde wieder entfernen müssen, weil er aus irgendwelchen technischen Gründen den ganzen Blog unzugänglich macht.

    Da ich keine Ahnung habe, woran das liegen mag, kann ich nur vermuten, dass es vielleicht mit der Länge zusammenhängt. Darf ich deinen Text in zwei oder drei Kommentare aufteilen?

  38. @Yoav Sapir

    Ich finde, ohne eine “allgemein-menschliche Verantwortung, die allen Menschen – ganz egal, welchem Volk sie angehören, welche Staatsangehörigkeit sie haben oder in welchem Land sie leben – gleichermaßen gilt“, könnte man die spezielle deutsche Verantwortung kaum begründen. Darüber brauchte Özdemir also in diesem Interview über Migranten nicht zu reden, das war ohnehin vorauszusetzen.

    Ich finde es erstaunlich, dass ein so kurzer Satz (“Die deutsche Geschichte zwingt uns dazu – und zwar alle, die hier leben.”) so unterschiedlich verstanden werden kann. Schade, dass man beim Lesen die Betonungen nicht hört 😉

    » Özdemir differenziert sehr wohl zwischen Indern, die in Indien leben, und Indern, die zufälligerweise in Deutschland leben – eine Differenzierung, die mit dem Wohnort zu tun hat, was ich absurd finde (aus Gründen, die oben schon ausführlich erklärt habe). «

    Ich versteh’s einfach nicht:

    In einem Interview über Migranten in Deutschland und deren Haltung zur speziellen deutschen Verantwortung unterscheidet Özdemir zwischen Indern, die in Indien leben, und Indern, die als indischen Migranten in Deutschland leben und deutsche Staatsbürger sind. Was um Himmels Willen soll daran absurd sein? (Rein rhetorische Frage.)

    Ich gebe zu: Dass keiner außer mir Deine Lesart des Interviews kritisiert, stimmt mich etwas nachdenklich. Vielleicht liegt es ja doch an meinem mangelnden Sprach- und Leseverständnis, dass ich Deinem Gedankengang nicht folgen kann.

    Von künstlichen Gräben sprach ich deshalb, weil diese menschengemacht, unnötig und vermeidbar sind. “Künstlich” also auch im Sinne von “nicht notwendig”.

    Die menschliche Neigung zur Gruppenbildung hat sicherlich auch ihr Gutes, aber die _betonten_ Abgrenzungen in Stämme, Völker, Nationen und Religionen sind mir schon suspekt. Ich sehe darin mehr Risiken als Chancen. Man braucht sich ja nur mal die Historie vor Augen zu führen…

    (Ich erwarte keine Antwort. Die sachlichen Differenzen dürften klar geworden sein, und mit neuen Argumenten kann ich nicht dienen 🙂

  39. Ich denke, ich werde mir den Kommentar mal morgen anschauen. Vielleicht kann ich ja einen Fehler entdecken und abstellen.

  40. @Yoav

    Ja, sicherlich, vielen Dank. Wobei ich bei einem Zeichenlimit doch eher mit einer Fehlermeldung rechnen würde, statt daß gleich das ganze Blog zerschossen wird? Sehr eigenartig.

    @ Martin Huhn Gibt es ein Zeichenlimit für die Kommentare? Oder hatte ich evtl. irgendwo im Text versehentlich eine spitze Klammer o.ä.?

  41. Ah, prima…

    … hat ja doch noch geklappt. Vielen Dank!

    Anbei übrigens ein Link, den ich ganz interessant fand, zu einer Statistik bezüglich eben genau dieser Generation-Frage: http://bit.ly/c2prXP

    Ich gehe mal davon aus, daß sich der Anteil der Bejaher mit der Zeit noch weiter verringern wird, in dem Maße wie die Zeitzeugen und somit “echten” Verantwortlichen langsam verschwinden werden. Ein Teil von ihnen dürfte sich ja bisher noch unter den Befragten befunden haben.

    Mein persönliches Fazit: Ja, gebürtige und eingebürgerte Deutsche sind tatsächlich gleichermaßen für “nie wieder Auschwitz” verantwortlich. Und ich gehe sogar so weit zu sagen, daß _jede_ Nation aus dem Holocaust oder vergleichbaren Völkermorden Schlüsse ziehen muß. Es gibt da einen schönen Spruch: “Der Dumme lernt nichts aus seinen Fehlern. Der Kluge sogar aus den Fehlern der anderen.”

  42. Als deutscher Staatsbürger habe ich die Verantwortung [für den Krieg und den Holocaust] zu übernehmen und daraus Schlüsse zu ziehen, darum ist “nie wieder Auschwitz” auch mein Imperativ.

    Was soll denn das bedeuten, die Verantwortung zu übernehmen ?

    Wenn damit gesagt werden soll – wie angedeutet – dass sich Gräuel wie in Auschwitz nicht widerholen sollten, dann sehe ich nicht, inwiefern Deutschen mehr daran gelegen sein sollte als anderen.

    Mir scheint, als glaubten manche Deutsche aufgrund der deutschen Geschichte des NS besonders geläutert zu sein und deshalb fiele ihnen nun die Rolle des Mahners zu. In moralischer Hinsicht haben Deutsche – seien sie nun Deutsche nach völkischem Verständnis oder “nur” deutsche Staatsbürger – weder eine besondere Verantwortung (noch lebende Direktbeteiligte natürlich ausgenommen), noch Schuld noch steht ihnen die reichlich anmassende und eitle Mahnerrolle zu. Der Tatbeweis im hier und heute ist alles, was zählt.

  43. @ yoav

    Hallo Yoav,

    man könnte es den Franzosen auch als Toleranz auslegen, dass sie alle Menschen gleich welcher Herkunft in ihre Kultur einbeziehen, ich meine es wird niemand gezwungen in Frankreich zu leben.

    Das finde ich am Amerikanischen Modell so sympathisch, jeder Mensch gleich welcher Rasse oder Religion kann Amerikaner werden.

    In der Türkei gab es während des Osmanischen Reiches einen ähnlichen Ansatz, wie ich meine ihn in deinen Vorschlag zu sehen. Die Osmanen gewährten allen nicht Muslimen absolute Religionsfreiheit, es ging sogar soweit das sich in Istanbul die einzelnen Volksgruppen wie Armenier Griechen oder Juden in ihren Stadtteilen organisieren konnten und ihre Probleme unter sich regeln durften, solange kein Türke involviert war, über allen Stand natürlich das Islamische Gesetz, was nicht Muslime Diskriminiert. Aber ein gravierender unterschied zu einem Apartheitssystem war, das jeder der wollte Moslem werden konnte, es stand also jedem frei Diskriminiert zu werden oder nicht. Zerfallen ist das Osmanischen Reich dann trotz guter Organisation:

    ” Es war nun einmal so, dass die Osmanen auch großen Wert auf Traditionen legten, auf Althergebrachtes, auf Ränge und Stände, auf Ruhe und Ordnung.”

    Ich nehme an das führte zu Stagnation und schließlich zum Zerfall.

    Viele Grüße

    Alex

    P.S: also meiner Rechtschreibung nach zu urteilen bin ich kein richtiger Deutscher, ich könnte Wetten Herr Özdemir schreibt und spricht ein besseres Deutsch als ich

  44. @ Ute

    Ich möchte jetzt nicht auf alle Details eingehen, die du genannt hast. Schließlich ist das ja deine Sichtweise. Darum nur so viel:

    Ich kann in keiner Weise für etwas verantwortlich sein, das vor meiner Geburt passiert ist.

    Es geht ja nicht um Einzelpersonen, sondern um das Kollektiv, um das deutsche Volk als solches (in Deutschland, Österreich und sonstwo). Was für ein Volk gilt, lässt sich nicht unbedingt auf Einzelpersonen beziehen. Ich bin z. B. davon überzeugt, dass das Volk Israel ein Recht auf das jüdische Land hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich als Jude einen Anspruch auf ein konkretes Grundstück erheben kann.

    Selbst die Generation meiner Eltern (geboren 1940 und 1947) hatte nie Einfluß auf die Ereignisse des Dritten Reiches. Verantworung setzt aber zumindest potentiellen Einfluß voraus.

    Wenn sie potentiellen Einfluss gehabt hätten, wäre es m. E. schon Schuld bzw. Mitschuld gewesen (ob durch Taten oder Unterlassungen). Und es sagt ja keiner, dass das deutsche Volk an sich eine ewige Schuld tragen würde (okay, es gibt welche, die das sagen, aber nicht ich). Verantwortung hingegen – auch und vor allem für diese Vergangenheit – ist etwas anderes als Schuld. Und da bin ich durchaus der Meinung, dass das deutsche Volk (an sich, d.h. keine Einzelpersonen) zwar keine Schuld hat, aber sehr wohl eine historische Verantwortung für solche Taten, die nicht von allein agierenden Einzelpersonen, sondern nur von einem zusammenwirkenden Volk so erfolgreich durchgeführt werden konnten.

    Dabei kann bzw. sollte man sich, gleich welche Nationalität man hat, an der Geschichte orientieren und aus ihr lernen, wie eben Herr Özdemir.

    Aber das tut Özdemir eben nicht. Er meint ja, eine spezifisch deutsche Verantwortung – nämlich Fischers “Nie wieder Auschwitz” -, die er (die Deutschen nachahmend) für gegeben hält, auch auf sich selbst beziehen zu dürfen. Eine Verantwortung, die er nicht als Mensch, sondern gerade “als deutscher Staatsbürger” (nach der einen Formulierung) zu tragen hat; eine Verantwortung, die nicht allen Menschen gilt, sondern denjenigen, “die hier leben” (nach der anderen Formulierung).

    Wie schon mehrmals gesagt: Wenn Özdemir sagen würde, er hätte als Mensch eine allgemein-menschliche Verantwortung, fände ich das Argument nachvollziehbar (das hätte für eine israelische Zeitung auch gereicht; in Israel wird er ohnehin kaum als Deutscher wahrgenommen). Doch das sagt Özdemir nicht. Obwohl von beiden Seiten Türke, meint er, eine Verantwortung tragen zu müssen bzw. zu dürfen, die – seiner eigenen, wenn auch nur nachahmenden Ansicht nach – spezifisch deutsch ist. Und eben darin liegt die ganze Problematik.

    Darum muss ich meine Frage an dich wiederholen: Wenn du eine spezifisch deutsche Verantwortung (nicht Schuld) für dich selbst – trotz deiner spezifisch deutschen Familiengeschichte – ablehnst, warum lässt du eine spezifische deutsche Verantwortung für jemand gelten, den viel, viel weniger (wenn überhaupt etwas) mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust verbindet als dich?

    Ich könnte dich viel besser verstehen, wenn du sagen würdest: “Mit seinem ‘als deutscher Staatsbürger’ und seinem ‘alle, die hier leben’ liegt Özdemir falsch, denn das Imperativ ‘Nie wieder Auschwitz’ darf nicht vom Pass oder vom Wohnort abhängig gemacht werden.” Nicht, dass ich das auch so sehen würde, jedoch würde das m. E. viel konsequenter klingen.

  45. @ Balanus

    Ja, da haben wir halt unterschiedliche Sichtweisen…

    Und nach allem bleibt eines:

    Özdemir, gegen den ich nichts Persönliches habe, kann für mich – und ich glaube, auch für die allermeisten Juden – nie Partner sein für die deutsche-jüdische Verganganheitsbewältigung. Obwohl er Bürger des deutschen Staates ist, kann ich in ihm keinen glaubwürdigen Stellvertreter für die Deutschen erblicken.

    Im jüdischen Staat gibt es übrigens auch arabisch-palästinensische Parteivorsitzende. Sie sind Teil des jüdischen Staates wie Özdemir Teil des deutschen Staates; und sie haben denselben Pass wie die Juden; doch ich bin mir sicher, dass sie für Deutsche, etwa Jugendgruppen, ebenfalls keineswegs als Partner für den deutsch-jüdischen Dialog infrage kommen. Denn die Staatszugehörigkeit eben nicht alles ist, sie ist wohl auch nicht das Wichtigste (diesen Dialog führen Juden ja schließlich auch mit Bürgern der II. Republik Österreich).

    Integration, das bedeutet auch Nachahmung, und das tut Özdemir, einer der Bestintegrierten, sehr gut. Aber auch die Nachahmung stößt irgendwann an ihre Grenzen, spätestens an diesem Punkt.

  46. @ Peter

    Verantwortung anzuerkennen, das bedeutet z. B. einsehen, dass Nationalsozialismus & Holocaust zwar zur Menschengeschichte gehören, aber nicht überall gleichermaßen. Das bedeutet, anzuerkennen, dass sie viel wesentlicher zur deutschen Geschichte gehören als etwa zur mexikanischen. Dass bedeutet, dass sie Teil des Erbes ist, das Deutschland – nicht nur im Sinne des Staates – überhaupt ausmacht.

  47. @ Alex

    Ich finde die Gleichsetzung etwas absurd…

    Im jüdischen Staat gibt es ein Gesetz für alle. Ein Rechtsstreit kommt gleichermaßen vor Gericht, egal, ob daran nur Araber oder auch Juden beteiligt sind. Und dennoch genießen die Araber als eine anerkannte Minderheit Privilegien, die andere, nichtanerkannte Minderheiten (etwa die Thailänder) nicht genießen können.

    Eine ähnliche Situation gibt es auch in Deutschland bzgl. der sorbischen, der friesischen, der dänischen und der zigeunerischen Minderheit (Sinti & Roma). Die Dänen, die in Mittelschleswig leben, dürfen in ihrer eigenen Sprache unterrichtet werden (desgleichen übrigens die deutsche Minderheit im dänischen Nordschleswig). Die Türken dürfen es nicht, weil der deutsche Staat sich aus politischen Gründen weigert, sie als eine nationale Minderheit anzuerkennen (der Staat will momentan gar nicht, dass die Türken auf Türkisch unterrichtet würden).

    Mehr dazu hier: http://www.chronologs.de/…vs.-volkszugeh-rigkeit

  48. nachtrag

    O.k. vielleicht ist Herr Özdemir nicht Deutscher sondern einfach nur klüger als ich.

    Wenn wir in Deutschland zwischen Volkszugehörigkeit und Staatszugehörigkeit Differenzieren würden, wie würde jemand zum Deutschen werden? Wenn man die Menschen nicht daran hindert assimilieren sie sich mit der Zeit nicht ganz von selbst ?

    Wie wird man Mitglied eines Volkes? Müsste es einen Aufnahmeritus geben? Einen Aufnahmetest? Oder ginge es nur über Heirat?

    Wie regelt man das in Israel? Theoretisch könnte ein Araber doch Jude werden,die Mitgliedschaft gäbe es nicht geschenkt, er müsste etwas dafür tun, aber möglich wäre es doch.

    Allerdings stellt sich auch die Frage, wozu eigentlich Deutscher oder Israeli werden, wenn man sich wohl fühlt wie man ist und nicht boshaft diskriminiert wird.

    Viele Grüße

    Alex

    P.S: Yoav das war keine Gleichsetzung, dann hast du mich missverstanden oder ich habe einfach schlecht geschrieben, ich glaube nicht das man das Osmanische Reich mit Israel vergleichen kann, Israel ist und bleibt ein Einzelfall, wie gesagt das hatte ich auch gar nicht vor. Es ging um einen “ähnlichen” Ansatz, vielleicht liege ich vollkommen falsch und es besteht gar keine Ähnlichkeit. Der Begriff”Apartheit” sollte sich nicht auf Israel beziehen.

  49. Zwei Fragen

    Lieber Yoav,

    es fällt auch mir nicht ganz leicht, Deinen völkischen Kategorien begrifflich zu folgen. Vielleicht hilft es, wenn ich zwei Fragen dazu stelle?

    1. Wird jemand nach Deiner Definition Jude, wenn er zum Judentum konvertiert? Wie ist es mit den Kindern jüdischer Väter und nichtjüdischer Mütter?

    2. Gerade habe ich einen Artikel über die Geschichte und dem demografischen Erfolg der Amischen geschrieben, die im 18. Jahrhundert aus dem süddeutschen Raum auswanderten, aber bis heute eine eigene Kultur und deutsche Sprache bewahrt haben.
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…y.pdf

    Tragen diese als – nach Deiner Definition wohl – Volksdeutsche nun eigentlich auch eine “besondere Verantwortung” für den Holocaust, die Cem Özdemir nicht trägt? Oder vererbt sich Dein Verständnis von Verantwortung doch eher über die Blutlinie?

    Freue mich auf Deine Antworten!

  50. [i]Verantwortung anzuerkennen, das bedeutet z. B. einsehen, dass Nationalsozialismus & Holocaust zwar zur Menschengeschichte gehören, aber nicht überall gleichermaßen.[/i]
    [i]Das bedeutet, anzuerkennen, dass sie viel wesentlicher zur deutschen Geschichte gehören als etwa zur mexikanischen.[/i]

    Ja, natürlich ist das so. Bis hierher habe ich kein Problem, deinen Ausführungen zuzustimmen.

    [i]Dass bedeutet, dass sie Teil des Erbes ist, das Deutschland – nicht nur im Sinne des Staates – überhaupt ausmacht.[/i]

    Erbfolge im Sinne von “Rechtsnachfolger”, an den allenfalls Reparationsansprüche gestellt werden können, ein Rechtsnachfolger, der aus der Konkursmasse des dritten Reiches entstanden ist. Aber das war nicht gemeint, nehme ich mal an.

    Vielmehr sagst du, Yoav, so verstehe ich dich jedenfalls, dass die Verbrechen der NS, insbesondere die versuchte Ausrottung der Juden, konstituierend für die BRD sei (“geschichtliches Erbe”). Damit wäre die BRD, die Deutschen, für alle Zeit mit einem Makel behaftet, der sich von Generation zu Generation vererbt. Ich glaube darin ein alttestamentarisches Motiv zu erkennen.

    Wenn die Shoa ein Erbe der Deutschen ist, dann ist es ein Erbe, das ausgeschlagen werden sollte. Auschwitz und Treblinka sind in diesem Sinne Schandmale, die nicht gepflegt, sondern dem Erdboden gleichgemacht werden sollten.

  51. @Yoav

    “Obwohl [Özdemir] Bürger des deutschen Staates ist, kann ich in ihm keinen glaubwürdigen Stellvertreter für die Deutschen erblicken.”

    Hmmm… Vielleicht liegt in der Tat hier der Hund begraben. Ich persönlich habe damit kein Problem. Der Mann lebt hier schon länger als ich und ist politisch wesentlich engagierter.

    Ansonsten habe ich den Eindruck, daß ich vielleicht noch nicht ganz verstanden habe, wie Du “Verantwortung” ganz konkret definierst. Und wie definierst Du speziell “historische Verantwortung”? Was muß jemand tun, um sich “historisch verantwortlich” zu zeigen? Was muß speziell ein Deutscher tun, das ein anderer aber nicht tun kann? Inwieweit weicht das Handeln eines historisch Verantwortlichen von der normalen Maxime “nie wieder Auschwitz” ab? Kannst Du das präzisieren?

    Ein Problem habe ich auch mit dem Begriff “Schuldstolz”, der noch dazu ein Privileg sein soll. Ich kann das ganz ernsthaft nicht nachvollziehen. Stolz auf eine Schuld? Die 70% der heute lebenden Deutschen doch aber offenbar von sich weisen? Wie geht das? Woraus leitest Du die Existenz dieses Stolzes ab? Ich bin dieser Empfindung unfähig, fürchte ich.

  52. @yoav

    Ich würde das Leben als Mitglied einer Minderheit in Israel eindeutig dem im Osmanischen Reich vorziehen.

    Deinen Text Staatsangehörigkeit v.s Volkszugehörigkeit habe ich noch einmal gelesen, und wie schon zuvor geschrieben, finde ich die Differenzierung durchaus Sinnvoll.

    Was jetzt interessant ist, ist die Frage wie ein Mensch Mitglied eines Volkes werden kann, Völker sind ja keine Rassen. Assimilieren sich Minderheiten, wenn man sie lässt, mit der Zeit von ganz alleine, durch das bloße zusammen leben oder muss nachgeholfen und motiviert werden?

    Warum sollen sich Minderheiten überhaupt Assimilieren? Wenn sie nicht boshaft diskriminiert werden und an ihrer Identität hängen, wozu?

    Viele Grüße

    Alex

  53. @Peter

    Hallo Peter,

    “Wenn die Shoa ein Erbe der Deutschen ist, dann ist es ein Erbe, das ausgeschlagen werden sollte. Auschwitz und Treblinka sind in diesem Sinne Schandmale, die nicht gepflegt, sondern dem Erdboden gleichgemacht werden sollten.”

    Ich glaube nicht dass das geht, oder zumindest bin ich der Meinung das “wir” als Deutsche den Holocaust niemals vergessen sollten. Ich finde den Gedanken eines Kollektiven Erbe schon nachvollziehbar, schön ist das nicht, aber welche Verantwortung ist schon leicht zu tragen.

    Allerdings finde ich den Begriff “Schuldstolz” auch seltsam.

    Viele Grüße

    Alex

    Viele Grüße
    Alex

  54. @ Peter

    Zitat: “Damit wäre die BRD, die Deutschen, für alle Zeit mit einem Makel behaftet, der sich von Generation zu Generation vererbt. Ich glaube darin ein alttestamentarisches Motiv zu erkennen.”

    Genau das ist der Eindruck, der sich auch mir aufdrängt. Deshalb habe ich Yoav um eine Präzisierung seiner Definition von “historischer Verantwortung” gebeten. Denn falls meine Befürchtung zutreffen sollte, müßte man von Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte übergreifender Sippenhaft sprechen. Die jedoch wurde schon bei den Nürnberger Prozessen explizit ausgeschlossen und verstößt darüber hinaus auch gegen das Völkerrecht.

    Ich fände es mehr als bedenklich, wenn sich eine solche Sichtweise mehrheitlich durchsetzen sollte oder sogar schon durchgesetzt hat.

  55. @Peter und Ute

    “Solange das deutsche Volk die deutsche Sprache spricht, sich an deutschen Landschaften erfreut, solange es mit vollen Händen aus dem Erbe der früheren deutschen Generationen schöpft, aus der Literatur und Philosophie, der Musik, der Architektur und der Kunst ihrer Vorfahren betrachten, solange sollten sie aus ihrem Erbe die Verbrechen ihrer Väter und Mütter weder verdrängen noch tilgen. Solange deutsche Schulen deutschen Kinder deutsches Erbe vermitteln, sollten sie es ohne Auslassungen tun, sollten über Goehte und Himmler lehren, über Weimar und Buchenwald, Heine und Heydrich, Michael Kohlhaas und Horst Wessel, Imanuel Kant und Alfred Rosenberg.'”

    Von Amoz Oz

  56. @ Alex

    Durch Assimilation meistens, unter bestimmten Vorbedingungen, die von Gruppe zu Gruppe ändern, je nachdem, was für Konventionen im jeweiligen Volk herrschen. Ich könnte jedenfalls als Weißer wohl auch beim bestem Willen nicht als Teil der Maori angesehen werden.

    Es ist nämlich kein Computerspiel oder ein “globalisiertes” Gut. Und es geschieht m. E. auch nicht per Be- oder Entschluss, sondern ist ein Prozess, der sich über mehrere Generationen vollzieht. Das können wir momentan etwa an den Sorben beobachten, die sich durch allmähliche Assimilation ins deutsche Volk langsam, aber sichtlich “auflösen”. Die meisten Jugendlichen können kaum noch Sorbisch.

    Ohnehin wäre das eigene Volk und das eigene Erbe kaum so wertvoll, wenn jeder, der darauf Lust hat, sich das einfach aneignen könnte, wie man etwa ein Nike-Schuhpaar ersteht.

    Das mit der Gleichsetzung war mein Fehler. Ich hätte es im Irrealis schreiben sollen: Wenn damit eine Gleichsetzung gemeint wäre, dann…

    Und danke für das Amos-Oz-Zitat. Wo genau gefunden?

  57. Deutsch@Yoav

    Yoav, Du sprichst vom geschichtlichen Erbe der Deutschen, wobei Du einen völkischen Begriff von “Deutscher” hast. Darum ja deine Kritik an Özdemirs Aussagen, der aufgrund seiner türkischen Herkunft nicht als Deutscher in völkischem Sinne gelten kann. Ich will hier nicht weiter erörtern, was denn nun “Deutscher nach völkischem Verständnis” genau bedeutet. Es ist deine Kategorisierung, nicht die meine.

    Gemäss deinem völkischen Verständnis, müsste da das geschichtliche Erbe der Deutschen nicht auch für die Deutschschweizer gelten, die doch grösstenteils alemannisch sind und den süddeutschen Schwaben nahe stehen ?

  58. @ Michael

    1.

    Meines Erachtens sollen solche Kinder als Juden gelten. Früher war es auch tatsächlich so. Leider bin ich hier in der Minderheit, d.h. mein Postulat gilt de facto nicht. Die unter Juden gängigen Konventionen diktieren eine andere Bewertung.

    Was die Konversion angeht, so kann man m. E. nicht pauschalisieren. Da die historisch gewachsene Substanz des Jüdischen nunmehr so zusammensetzt, dass der jüdische Kult ein sehr wichtiges Moment darstellt, kommt man nicht um einen Übertritt herum. Die Frage ist allerdings, ob der kultische Akt an sich schon ausreicht? Meine Antwort auf diese Frage ist: Nein.

    Im Übrigen diffenziert selbst die rabbinische Halacha in manchen Fällen zwischen geborenen und gewordenen Juden. Erst die Kinder sind gleichgestellt. Manchmal gibt es indes selbst in der 2. Generation noch Ausnahmen: So darf die Tochter eines Nichtjuden nicht mit einem Priester (Cohen) getraut werden, auch wenn diese Tochter erst nach dem Übertritt der Mutter geboren ist. Aber das ist schon eine andere Oper.

    2.

    Zur historisch gewachsenen Substanz des Deutschen gehört nunmehr ganz wesentlich der II. Weltkrieg. Deutscher ist, wer die Kriegserfahrung (auf die eine oder andere Weise) als Deutscher machte oder aus einer solchen Familiengeschichte entstanden ist. Das trifft z. B. auch auf die Russlanddeutschen zu, auf die der Krieg gerade als Volksdeutsche Auswirkungen hatte, oder etwa auf die Bessarabiendeutschen (ohne der Krieg wäre dein Bundespräsident, sofern überhaupt geboren, dann wohl nicht im Generalgouvernement, geschweige denn nach “Kerndeutschland” gekommen).

    Mit den Amischen kenne ich mich nicht gut genug aus, um zu beurteilen, inwiefern sie identitätsmäßig den Krieg miterlebten; ich würde allerdings vermuten, dass sie ihn kaum bis gar nicht miterlebten, und in ihnen eher Deutschstämmige erblicken als Deutsche.

  59. @ Peter

    Damit wäre die BRD, die Deutschen,

    Die BRD und die Deutschen sind zwei Sachen, die eng miteinander zusammenhängen (wie Israel und die Juden), aber nicht miteinander identisch sind.

    für alle Zeit mit einem Makel behaftet, der sich von Generation zu Generation vererbt.

    Aber auch mit vielen “Tugenden” geschmückt: Nibelungenlied, Reformation, Faust etc. Nur kann man sich nicht aussuchen, was zum Erbe gehört. Wenn die BRD sich trotz einer Zeitlücke von 117 Jahren von einem “Goethe-Institut” vertreten lässt, dann gehört Auschwitz mit einer Zeitlücke von lediglich 4 Jahren umso wesentlicher dazu. Ich stehe dafür, dass man das ganze Bild im Auge behält: Dass man auf sein Deuschtum stolz ist, ohne Auschwitz zu verdrängen.

    Ich glaube darin ein alttestamentarisches Motiv zu erkennen.

    Das klingt nicht verkehrt. Aber den Juden haftet auch ein Makel an: Kaum zurückgeschlagen zu haben, kaum gekämpft zu haben, ist eine Schande, die sich niemals tilgen lässt.

    Wenn die Shoa ein Erbe der Deutschen ist, dann ist es ein Erbe, das ausgeschlagen werden sollte. Auschwitz und Treblinka sind in diesem Sinne Schandmale, die nicht gepflegt, sondern dem Erdboden gleichgemacht werden sollten.

    Vielleicht verstehe ich dich falsch, aber falls nicht: Juden und Deutsche haben m. E. “eine offene Rechnung”. Doch nicht jede Rechnung soll und kann beglichen werden.

    Juden und Deutsche können sich (als solche, d.h. ganz abgesehen vom Persönlichen) mithin nicht auf gleicher Augenhöhe begegnen. Schließlich ist für die deutsch-jüdischen Beziehungen der Holocaust, diese sehr ungleiche Erfahrung von und Erinnerung an deutsche Täter und jüdische Opfer (beides recht unangenehm) – das wirksamste Moment. Und das wird in absehbarer Zukunft auch so bleiben.

    Gemäss deinem völkischen Verständnis, müsste da das geschichtliche Erbe der Deutschen nicht auch für die Deutschschweizer gelten, die doch grösstenteils alemannisch sind und den süddeutschen Schwaben nahe stehen ?

    Ob mein Verständnis “völkisch” ist, kommt darauf an, wie man’s definiert. Aber das ist wiederum eine andere Opfer.

    Zu den Deutschschweizern: Natürlich sind die Deutschschweizer Deutsche. Nicht nur wegen der Abstammung, sondern vor allem wegen der engen Zusammenhänge, die bis in die Gegenwart fortbestehen. Allerdings sind die Deutschschweizer eine auf ihre Art und Weise besondere Gruppe im deutschen Mitteleuropa (wie es die Deutschen in Österreich – auf ihre Art und Weise – auch sind).

    Zum geschichtlichen Erbe: Es kommt darauf an, was genau und inwiefern… Die Reformation gehört zum geschichtlichen Erbe der Deutschen und daran sind die Deutschschweizer durch die reformierte Kirche bis zum heutigen Tage beteiligt (Zwingli war damals ja genauso deutsch wie Luther).

    Zum Holocaust-Erbe: Siehe meine Antwort an Michael (Punkt 2). Haben die Deutschschweizer den Krieg miterlebt? Auf ihre besondere Art und Weise, sicher. Haben sie die Kriegserfahrung als Deutsche gemacht? Nochmals ja, aber auf ihre Art und Weise (auch Horst Köhlers Eltern hatten nicht die gleiche Erfahrung wie Reichsdeusche in Köln; es gab also keine einzige Erfahrung, die “wirklich” deutsch war). Gerade wegen der Dominanz der Deutschschweizer hatte die Eidgenossenschaft damals ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Reich und dessen Politik, das von einer Mischung aus Furcht und Zuneigung geprägt war. Und waren es schließlich nicht Deutschschweizer (Stichwort Heinrich Rothmund), die veranlassten, dass aus Deutschland fliehende Juden in ihren Pässen ein “J” gestempelt bekamen?

    Aber ohne die Eidgenossenschaft wäre Deutschland ein (zumindest für mich) wesentlich weniger interessanter geistiger Raum.

  60. @ Alex

    Ich habe mit keinem Wort gesagt, daß die Geschichte verdrängt und nicht gelehrt werden soll. Ganz im Gegenteil. Das wird wohl aus einigen meiner Kommentare deutlich, und gegen eine derartige unterschwellige Unterstellung verwahre ich mich auch ganz entschieden.

    Aber ich kann eben nur aus der Geschichte lernen – nicht aber sie erben, so daß mir daraus Verpflichtungen erwachsen, die über die eines jeden anderen Staatsangehörigen hinausgehen. Die Geschichte kann und darf nicht dazu führen, daß nachfolgende Generationen nur aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit stigmatisiert werden. Da ist doch der nächste Konflikt gleich vorprogrammiert, denn niemand wird sich sowas Absurdes auf die Dauer aufbürden lassen. (Das Märchen vom Fischer und seiner Frau ist bekannt?)

    Eine “besondere Verantwortung” sehe ich für Deutsche und Einwanderer in Deutschland insofern, als es unfaßbar wäre, wenn sich überhaupt irgendwo und dann auch noch _ausgerechnet_hier_ Ähnliches wiederholen würde. Und dabei, dies zu verhindern, ist ein Cem Özdemir ganz genauso gefordert wie ich. Von daher verstehe ich seine Aussage vollkommen.

    Ich sag’s nochmal: Für den Holocaust sind die Nachkommen nicht verantwortlich. In keiner Weise. Never ever. Darauf zu beharren und auch künftige Generationen mit unerfüllbaren Forderungen in die Ecke zu drängen, wird sonst möglicherweise irgendwann in Deutschland eine ähnliche Lunte zünden, wie es die untragbaren Reparationsforderungen nach dem 1. Weltkrieg taten.

    Genausowenig maße ich mir übrigens an, Goethe “geerbt” zu haben. Mein lieber Scholli, wenn ich mir angucke, wie mies viele Deutsche ihre Landessprache beherrschen, müßte eigentlich klar sein, was es mit dem Erben der Vergangenheit auf sich hat: Nichts. Jeder von uns muß nach der Geburt bei Null anfangen. Und das Beste daran ist: Jeder von uns _darf_ auch bei Null anfangen.

    Ich als Mitglied der Enkel-Generation muß ganz klar aus der Geschichte lernen und meinen Beitrag leisten, daß sie sich nicht wiederholt. Aber alles darüber hinaus ist Sippenhaft und somit nicht nur völkerrechtlich, sondern auch auf persönlichem Level komplett inakzeptabel. Diesen Schuh ziehe ich mir – wie offenbar ca. 70% der derzeit lebenden Deutschen – nicht an und werde ich garantiert auch meinen Kindern nicht anziehen, das sage ich hier ganz deutlich und unmißverständlich.

    Und bevor jetzt irgendeiner meint, mich in die Braune Ecke drängen zu müssen: Wenn ich gezwungen wäre, eine der Weltreligionen für mich zu wählen, dann wäre ich wohl am ehesten noch Jüdin. Meine 6. Fremdsprache war übrigens Hebräisch. Völlig freiwillig und aus echtem Interesse heraus. Also bitte: Nazikeule stecken lassen, ja?

  61. @ Ute

    1.

    Du suchst, dünkt mich, das Geistige so zu konkretisieren, wie es sich kaum konkretisieren lässt.

    Geschichte ist ein sehr wichtiges Moment in der jeweils kollektiven Identität ist. Als Privatperson, als Individuum, haben Juden nicht unbedingt mehr mit mir zu tun als Deutsche, doch was meine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv angeht, habe ich – durch die Geschichte – viel mehr mit Juden zu tun als mit Deutschen.

    Wir haben also nicht mit Aufgaben an Einzelpersonen zu tun (obwohl jedem natürlich freisteht, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinander zu setzen), sondern mit etwas, was erst für ein halbwegs abstraktes Kollektiv von bestimmender Bedeutung ist, und zwar aufgrund seiner Geschichte.

    Also stellt sich die Frage, inwiefern der Holocaust Teil der deutschen Geschichte und somit der deutschen Identität ist. Da würde ich gerne vergleichen: Kannst du dir erklären, inwiefern Otto von Bismarck Teil der deutschen Geschichte ist? Und kannst du dir erklären, warum Otto von Bismarck nicht zur irischen Geschichte gehört? Genau so – um es einfach zu machen – gehört auch der Holocaust dazu. Es ist nicht das Einzige, woraus die deutsche Nationalgeschichte besteht, aber auch kein “Betriebsunfall”.

    In meinen Augen haben die Deutschen insofern eine historische Verantwortung, als der Holocaust zu ihrer Geschichte gehört. Da muss jeder für sich selbst entscheiden, inwiefern ihm Geschichte überhaupt von Bedeutung ist. Doch ein Volk entsteht erst recht aus seiner Geschichte: Ohne den bewussten Blick auf Treblinka wird letzten Endes auch das deutsche Volk verschwinden.

    Manchmal lässt sich die historische Verantwortung auch konkretisieren (obwohl das keine Voraussetzung ist). So etwa in der Lieferung atomarer U-Boote an den jüdischen Staat, mit dem er die Möglichkeit hätte, auf einen atomaren Angriff trotz totaler Vernichtung noch zumindest samson-artig zu reagieren (und diesen somit vielleicht zu verhindern).

    2.

    Zum Schuldstolz: Es gibt in Deutschland eine ganze Industrie, die sich letztendlich von der Kriegserfahrung ableitet und weltweit marktführend ist. Friedensforschung, Demokratieförderung, Erinnerungsarbeit, Vergangenheitsaufarbeitung zählen schon zu den erfolgreichsten Exportzweigen der deutschen Intelligenz und Hochschullandschaft… Oft allerdings mit Finanzierung durch den deutschen Steuerzahler, nicht durch die ausländischen Konsumenten.

  62. @ Ute

    Ich als Mitglied der Enkel-Generation muß ganz klar aus der Geschichte lernen

    Warum gerade du “als Mitglied der Enkel-Generation”?

    Hast du nicht eben gesagt bzw. geschrieben, du hast bei Null angefangen, wie jeder andere auch? (also etwa wie ein Chinese, bei dem der Begriff “Enkel-Generation” in diesem Zusammenhang gar keinen Sinn ergibt.)

    Wäre es (aus deiner vermutlichen Sicht) nicht logischer gewesen, es so formuliert zu haben: “Ich als Mensch – ganz ungeachtet meines ‘Sitz-im-Leben’ als Mitglied einer vermeintlichen ‘Enkel-Generation’ – muß ganz klar aus der Geschichte lernen” – ?

  63. Warum gerade du “als Mitglied der Enkel-Generation”?

    Gemeint war keine Betonung dieser Zugehörigkeit, sondern des nachfolgenden Inhalts. Der erläutert, daß ich als Nachfahre nur lernen, nicht aber erben kann. Von mir aus formuliere es um, wie es Dir richtig erscheint.

    Aber mal ganz ehrlich: Du meinst ernsthaft “Die Deutschen” und “Die Juden” hätten noch eine Rechnung offen? Soll heißen? On second thought: Ich will es lieber gar nicht wissen. Und bin nur froh, daß keiner der mir bekannten Juden aus England oder den USA diese Ansicht teilt.

    Bei Deiner Erläuterung, ab welcher Generation man dann als “echter Jude” anerkannt ist, fiel mir die Kinnlade noch weiter runter. Da geht das Erben der Vergangenheit also nicht ewig weiter, nein? Aber bei den Deutschen und ihren Verbrechen schon? Ähm… Hallo?

    Eine Zugehörigkeit zum Kollektiv muß übrigens nicht in Stein gemeißelt sein. Kommt immer auf die Flexibilität des Einzelnen an. Und nicht zuletzt auf das Wohlwollen des gewählten Kollektivs. Und der Name Goethe-Institut dürfte wohl eher dem weltweiten Wiedererkennungswert entsprungen sein. Aus der Benennung eines Instituts eine Verantwortung für Auschwitz & Co abzuleiten, grenzt ja schon fast an Demagogik. Noch schlimmer finde ich Deine Anspielung, Deutschland solle oder würde deshalb an Israel Atom-Uboote liefern, um einer von Dir noch immer nicht präzise definierten historischen Verantwortung gerecht zu werden. Wie schön, daß Du keine konkrete Forderung daraus machst. Sehr großzügig… Heiliger Strohsack – ich sitze hier absolut fassungslos, und das ganz sicher nicht nur deshalb, weil zu meiner Familie auch Iraner gehören.

    Mach’s gut.

  64. @Ute

    Hallo Ute,

    “Ich sag’s nochmal: Für den Holocaust sind die Nachkommen nicht verantwortlich. In keiner Weise. Never Ever”
    Sie sind nicht für den Holocaust verantwortlich, das wäre Unsinn, aber sie sind dafür verantwortlich das der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät. Darum ging es.
    Wieso sollte ich die Nazikeule schwingen? Nach allem was du schreibst klingst du eher nach einem Individualisten und auch so recht sympathisch.
    “Genausowenig maße ich mir übrigens an, Goethe “geerbt” zu haben. Mein lieber Scholli, wenn ich mir angucke, wie mies viele Deutsche ihre Landessprache beherrschen, müßte eigentlich klar sein, was es mit dem Erben der Vergangenheit auf sich hat: Nichts”
    Dafür wäre ich dann wohl das passende Beispiel.
    Hast du bei deinen sechs Fremdsprachen auch mal Zeit gehabt dich mit Schopenhauer zu beschäftigen? Ich bin ein recht durchschnittlicher Mensch mit einer eher durchschnittlichen Intelligenz, ich konnte noch nicht einmal ein Gymnasium besuchen, trotzdem habe ich es geschaft in Italien und der Türkei zu studieren, mein Italienisch ist wahrscheinlich noch schlechter als mein Deutsch, aber ich kann mich fließend unterhalten und ein Buch lesen ohne ein Wörterbuch benutzen zu müssen, ach und mein Türkisch ist auch gar nicht so schlecht, aber warum schreibe ich das hier überhaupt?
    Ich glaube das Deutsche sich in der Regel auf Grund ihrer Geschichte davor scheuen in Kollektiven zu denken, ganz einfach weil es in Deutschland ein böses Ende genommen hat. Aber muss das denken in Kollektiven überhaupt zu etwas wie dem dritten Reich führen?
    Viele Grüße
    Alex

  65. @Yoav

    Hallo Yoav,

    Aus: Amoz Oz, Israel und Deutschland, vierzig Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen

    erschienen 2005 im Suhrkamp Verlag

    Viele Grüße

    Alex

  66. @ Alex

    Es sind natürlich nur Spekulationen, aber würdest du sagen, dass Oz dem deutschen Volk, von der er in diesem Zitat spricht bzw. schreibt, auch Özdemir zurechnen würde?

  67. “Sie sind nicht für den Holocaust verantwortlich, das wäre Unsinn, aber sie sind dafür verantwortlich das der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät. Darum ging es.”

    Darum mag es im Idealfall gehen. Darum geht es auch mir, wie ich ja schon sagte. Aber schau Dir doch die letzten Kommentare von Yoav an, da kommt’s doch langsam ans Tageslicht, wo der Hase wirklich langläuft: “Die Juden” und “die Deutschen” haben seiner Ansicht nach noch “eine Rechnung offen”. Und offenbar leitet Yoav aus dem Holocaust zum Beispiel die Forderung nach Atom-U-Booten für Israel ab. Wenn ich mal zitieren darf: “Manchmal lässt sich die historische Verantwortung auch konkretisieren (obwohl das keine Voraussetzung ist). So etwa in der Lieferung atomarer U-Boote an den jüdischen Staat (…)”

    Da rollen sich mir die Fußnägel einzeln auf! Wie soll ich das sonst interpretieren wenn nicht als eine Art “Wiedergutmachungsforderung”? Ausgerechnet in Form von Waffen! Ausgerechnet in Form von Waffen, die noch dazu geeignet sind, gleichfalls einen Völkermord durchzuführen! Ich fasse es nicht!

    Ich könnte es evtl. noch verstehen, wenn Israel oder wer auch immer fordern würde, daß Deutschland in anderen Regionen der Erde, wo Völkermord droht, seine Truppen einsetzt, um dieses zu verhindern. (Haha, deutsche Truppen in Israel – interessante Vorstellung.)

    Aber Waffenlieferungen an Israel als moralische Wiedergutmachung an den Nazi-Opfern und ihren Nachkommen? Noch dazu in Anbetracht der Tatsache, daß Israel seit seiner Gründung rigoros alles plattmacht, was sich seiner aggressiven Siedlungspolitik in den Weg stellt? Wo sogar Kinder erschossen werden, weil sie einen Schritt in die falsche Richtung machen? Mit der Begründung, das Land hätte vor 2.000 Jahren den Juden gehört und ein Gott, dessen Existenz nie bewiesen wurde, wolle das gefälligst so? Denen sollen wir als demütige Geste der Wiedergutmachung Massenvernichtungswaffen liefern?

    Ja aber hallo! Geht’s noch? Das hat mit “Nicht vergessen” überhaupt gar nichts mehr zu tun. Waffen an Israel… Ich glaube, hier wurde noch nicht erkannt, daß Israel sich längst an seinen eigenen Verbrechen messen lassen muß.

  68. @Yoav

    Hallo Yoav,

    ehrlich gesagt glaube ich nicht das Amos Oz während er das schrieb darüber nachgedacht hat, dann hätte er es anders formuliert, also um deine Frage zu Beantworten: nein.

    Aber würde Amoz Oz an dieser Diskussion teilnehmen (reine Spekulation) könnte ich mir Vorstellen das er der Meinung wäre das Cem Özdemir ein Deutscher ist, mit allen Rechten und Pflichten, allerdings ist es sehr gut möglich das ich meine eigene Meinung auf Amoz Oz projiziere, weil ich ihn als Schriftsteller mag und er mir sehr sympathisch ist.

    Es wäre Interessant zu wissen was ein kluger Kopf wie Amoz Oz darüber denkt, angeblich beantwortet er ja Leserbriefe, du könntest ihm theoretisch auf Hebräisch schreiben wenn Du Lust und Zeit hast, und die Frage und Meinung von Amoz Oz für wichtig oder interessant genug hältst dir die Zeit zu nehmen. Ich könnte natürlich auch auf Englisch schreiben, mein Englisch ist gar nicht so schlecht, und seins ist sehr gut wie ich in Bochum bei einer Lesung hören konnte.

    Viele Grüße

    Alex

  69. @ Alex

    Ich habe nach deiner Spekulation gefragt, weil er in diesem Zitat das deutsche Volk bzw. seine Vorstellung hiervon auf eine ziemlich “völkische” Art und Weise konstituiert, nämlich als etwas, was erst aus seiner Geschichte entsteht und sich aus dem Erbe früherer Generationen speist, was allerdings notwendigerweise auch das negative Erbe der “Väter und Mütter” enthält (und bei Özdemir glücklicherweise völlig fehlt).

    Das ich genau das, was ich mit der historisch gewachsenen Substanz meine, und so, wie das Zitat steht, könnte ich es auch unterschreiben.

    Allerdings werde ich in nächster Zeit nicht dazu kommen können, ihm einen Brief zu schreiben. Würdest du das auf Englisch machen? Auf den Brief eines Deutschen würde er wohl umso wahrscheinlicher antworten.

  70. @ Ute

    Irgendwie erinnert mich – aus wohl rein zufälligen Gründen – deine Argumentationslinie an die deutschen Linken, die 1976 zusammen mit arabischen Terroristen Juden nach Entebbe entführten. Es waren die Deutschen, die unter den Flugzeugpassagieren die Selektion durchführten. Unter den jüdischen Passagieren fand sich auch jemand, der selber schon mal eine Selektion erlebte Wilfried Böse, dem linken Terroristenführer, die an seinem Arm tätowierte KZ-Nummer zeigte. Darauf erwiderte Böse empört: “Ich bin kein Nazi! Ich bin Idealist!”

    Böse wurde übrigens von einer jüdischen Spezialeinheit erschossen, die in Entebbe die Geiseln befreite. Ihn einfach so zu erschießen, ohne dass er die Gelegenheit bekam, vor Gericht zu stehen und aller Welt seinen Idealismus darzulegen – das war wohl noch ein Verbrechen Israels.

    Es würde mich also auch freuen, wenn Israel nicht auf atomfähige U-Boote angewiesen wäre, um auf eine mögliche Vernichtung noch reagieren zu können. Wenn das Land etwa so groß wäre, dass es nicht durch eine oder zwei Atom-Bomben völlig zunichte gemacht werden könnte und somit auch ohne atomfähige U-Boote in der Lage wäre, einen Gegenschlag durchzuführen. Oder noch besser: Wenn die Nachbarn so nett wären, dass man von vornherein nicht von solchen Rückschlagkapazitäten abhängig wäre, um die Gefahr eines Atom-Angriffs auf Israel zu reduzieren.

    Ja, all das wäre tatsächlich ideal, aber ich bin nicht bereit, an diesem Idealismus zugrunde zu gehen.

    Nachdem im großdeutschen Projekt der Judenvernichtung ein Drittel des jüdischen Volkes ausgerottet wurde, gehört es m. E. zur deutschen Verantwortung (nicht nur in der BRD), sofern möglich dafür zu sorgen, dass der jüdische Staat trotz solch tödlicher Ideale nicht um seine Existenz bangen müsste. Dazu gehören heutzutage leider auch atomare Rückschlagkapazitäten, die aufgrund der winzigen Größe Israels durch U-Booten zu verwirklichen sind, die auch nach einem Angriff auf Israel im Meer existieren und reagieren könnten.

    Aber ich kann schon nachvollziehen, warum du dir Angst machst, dass die Weltmacht Israel mit ihren sechs Millionen Juden und knapp 29 Tausend qkm eines Tages den kleinen Iran mit seinen 74 Millionen Bewohnern und 1,6 Millionen qkm vernichten könnte.

  71. @Yoav

    Mein Brief wird sicherlich eine Katastrophe, aber Inhaltlich sollte ich die Sache auf den Punkt bringen können, ich schicke dir den Brief bevor ich ihn abschicke, dann kannst du noch mal überprüfen ob ich wirklich die Problematik begriffen habe.

    Wird aber was dauern, ab Sonntag bin ich bis zum 3. Mai in Istanbul, wegen meiner Prüfungen habe ich auch noch einiges um die Ohren, aber ich kriege es schon hin, ich mache es sogar gerne.

  72. @Yoav Sapir Der linke Idealismus und Atisemitismus

    Zitat @Ute: “Böse wurde übrigens von einer jüdischen Spezialeinheit erschossen, die in Entebbe die Geiseln befreite. Ihn einfach so zu erschießen, ohne dass er die Gelegenheit bekam, vor Gericht zu stehen und aller Welt seinen Idealismus darzulegen – das war wohl noch ein Verbrechen Israels.”

    Böse zu erschiessen war wohl eher eine Dummheit der jüdsichen Spezialeinheit. Vor ein deutsches Gericht gestellt, wäre der Antisemitismus Böses, der weite Teile der deutschen Nach-68er-Linken durchdringt, wohl zum Thema geworden und sicher auch in einem Spiegel-Artikel reflektiert worden.
    Es ist die deutsche Linke im weiteren Sinn – inklusive Kulturgrössen, die den Antisemitismus durchaus pflegt. Man erinnere sich an Rainer Werner Fassbinder, den grossen deutschen Regisseur mit seinen eigenwilligen Filmen und dem (antisemitischen) Theaterstück “Der Müll, die Stadt und der Tod”.

    Den tieferen Hintergrund des linken Antisemitismus verstehe ich übrigens nicht und die Nach-68er-Linke versteht ihn ja selber nicht, spricht sie doch von Idealismus.

  73. @Ute

    “Mit der Begründung, das Land hätte vor 2.000 Jahren den Juden gehört und ein Gott, dessen Existenz nie bewiesen wurde, wolle das gefälligst so?”

    Glaubst du ernsthaft das wäre die Prämisse die zum Staat Israel und all den Konflikten geführt hat?

  74. Juden und Deutsche können sich (als solche, d.h. ganz abgesehen vom Persönlichen) mithin nicht auf gleicher Augenhöhe begegnen. Schließlich ist für die deutsch-jüdischen Beziehungen der Holocaust, diese sehr ungleiche Erfahrung von und Erinnerung an deutsche Täter und jüdische Opfer (beides recht unangenehm) – das wirksamste Moment. Und das wird in absehbarer Zukunft auch so bleiben.

    Aus diesem Grund würde ich es begrüssen, wenn sich die Juden entschliessen könnten, die Schandmale Auschwitz, Treblinka und wie sie alle heissen, vom Erdboden zu tilgen. Die stehen zwar nicht in Israel, aber einem solchen Wunsch würde wohl entsprochen.

    Wenn Auschwitz immer ein wesentlicher Faktor in den Beziehungen zwischen Israel und der BRD, zwischen Deutschen und Juden bleibt, dann ist eine Normalisierung des Verhältnisses undenkbar, und echte Freundschaft – echte, nicht die ritualisierten Beschwörungsphrasen der Politiker – unmöglich. Ein Verhältnis, dass auf Schuld und Sühne aufbaut, lässt keine Begegnung auf Augenhöhe zu, was Du ja selbst feststellst.

    Das klingt nicht verkehrt. Aber den Juden haftet auch ein Makel an: Kaum zurückgeschlagen zu haben, kaum gekämpft zu haben, ist eine Schande, die sich niemals tilgen lässt.

    Dieser Makel ist aber mittlerweile getilgt worden. Jedermann weiss spätestens seit dem Unabhängigkeitskrieg Israels, dass Juden durchaus zu kämpfen verstehen. Die “Unfähigkeit zu kämpfen” ist somit nichts, was den Juden heute und in Zukunft als Makel anhaftet. Es ist Vergangenheit, Teil einer Vergangenheit, die, um einen bekannten Historiker zu zitieren, einfach nicht vergehen will.

    Wenn du Erbe als Rechtsnachfolge verstehst, dann haben wir keine Differenzen. Dann wäre die Frage lediglich, was denn an Reparationsforderungen gerechtfertigt ist und von der BRD geleistet werden muss. Aber das ist natürlich nicht so. Schliesslich lässt sich Leid nicht durch materielle Wiedergutmachung ungeschehen machen. Also stellt sich die Frage : Was muss der Deutsche als Erbnachfolger tun, um seinem Erbe in moralischer Hinsicht gerecht zu werden ? Und würde nicht trotzdem sein Erbe und die sich daraus aus deiner Sicht ergebenden moralischen Verpflichtungen die genau gleichen bleiben, was auch immer der Deutsche tut oder unterlässt ? Ist es nicht doch eine künstliche Unterscheidung, wenn von Erbe und Schuld gesprochen wird, auch wenn die Schuld nicht eine individuelle, sondern einem Kollektiv angelastet wird ?

  75. @ Peter

    Nein, eben nicht nur als Rechtsnachfolge. Sicher besteht auch dieser Aspekt (v. a. bzgl. materieller Fragen), aber das ist nicht der zentrale Punkt. Das Erbe besteht als Teil des Jüdischen sowie des Deutschen, ein nunmehr konstituierendes Moment für beide Seiten (wie auch in jeweils anderer Form für andere Substanzen wie etwa das Europäische). Es gehört dazu wie Martin Luther, die Völkerschlacht und die Paulkirchenverfassung.

    Insofern ist es wirklich egal, was der Deutsche tut oder unterlässt. So der so bleibt die Geschichte wie sie ist, darum auch das Erbe gleich. Und wenn der Deutsche etwas tut oder unterlässt, nur um etwas loszuwerden, was nunmehr ewiglich zur historisch gewachsenen Substanz des Deutschen gehört (wie Karl der Große, der Dreißigjährige Krieg oder Goethes Faust), dann finde ich diese Taten oder Unterlassungen ziemlich uninteressant.

    Der deutsche Nationalstaat muss – abgesehen von bestimmten, meist materiellen Fragen, die großteils wohl schon abgeschlossen sind – nichts tun oder unterlassen. Der deutsche Staat darf manches tun oder unterlassen, wovon er selber meint, damit das für ihn moralisch und historisch Richtige zu machen. Das mit den U-Booten war ein Beispiel hierfür. Aber es war nicht, ist nicht und wird nicht in jedem Fall so sein: 1973 wollten die Amerikaner Israel mit Waffenlieferungen helfen, sich gegen den Überraschungsangriff vom jüdischen Versöhnungstag zu wehren. Das sollte auch auf deutschem Bundesgebiet abgewickelt werden, wurde jedoch schließlich von der Bundesregierung unterbunden. Bundeskanzler war damals Willy Brandt (apropos die deutsche Linke und ihr “Idealismus”).

  76. Noch ein Beitrag – um den Kern, vielleicht, offen zu legen.

    Du sprichst von historischem Erbe.

    Die BRD als Staat, ihr geschichtlicher Werdegang kann nicht erklärt werden, ohne die Zeit der NS – Herrschaft angemessen zu berücksichtigen. Diese Feststellung ist trivial, weshalb ich vermute, dass Du weitergehende Ansprüche an die Deutschen stellst, was ihren Umgang mit ihrem geschichtlichen Erbe anbelangt.

    Dein Verhältnis zu den Deutschen ist von Ambivalenz geprägt. Du bemängelst einerseits u.a die unterlassene Hilfestellung durch die deutsche Regierung unter W.Brandt während des Jom Kippur – Krieges, andrerseits sagst du auch, dass es dir ziemlich egal sei, was die Deutschen tun oder unterlassen.

    Ich formuliere es mal ohne Umschweife, direkt und klar. Falls ich Dir Dinge unterstelle, die nicht wahr sind, korrigiere mich.

    Du erwartest von den Deutschen, dass sie Israel als Staat der Juden unterstützen, zumindest dann, wenn die Existenz des Staates Israel bedroht wird, und es erfüllt dich mit Bitterkeit, dass gerade eine deutsche Regierung dies wie im Falle von W.Brandt während des Krieges 1973 nicht tat. So auch im von Dir angesprochenen Beispiel der angestrebten atomaren Aufrüstung durch den Iran, dessen Regime ein Feind Israels ist, eine atomare Aufrüstung, welche die Vernichtung Israels als reale Möglichkeit zumindest denkbar, wenn auch höchst unwahrscheinlich, werden lässt.

    Somit, ich fahre mit meinen Unterstellungen fort, bist Du der Ansicht, dass die Deutschen die Lehren aus ihrer Geschichte nicht gezogen oder nur mangelhaft gezogen haben.

    Was die real existierende deutsche Linke anbelangt : es lohnt sich nicht, diesen anmassenden, selbstgerechten Gutmenschenkitsch lang und breit zu analysieren.

  77. @ Peter

    Es ging nicht einmal um eine direkte Hilfe durch die Brandt-Regierung. Die eigentlichen Helfer waren ja die Amerikaner. Brandts Scheitern besteht darin, dass er nicht einmal wollte, dass diese – amerikanische, nicht deutsche – Hilfe auch über die amerikanischen Lager in der BRD abgewickelt worden wäre.

    Ich habe zu den Deutschen (auch zu den eidgenössischen unter ihnen) ein tatsächlich ambivalentes Verhältnis. In Anbetracht der Geschichte und meines “Sitz im Leben” als Jude in Deutschland ist das wohl auch verständlich. Allerdings glaube ich nicht, dass mein Verhältnis zu den Deutschen von einem “Einer- und Andererseits” bzw. Zwiespältigkeit geprägt ist.

    Es ist mir unterm Strich tatsächlich egal, was die Deutschen tun oder unterlassen, denn ich bin nicht derjenige, der sich unter dem Aspekt der deutsch-jüdischen Beziehungen mit dem schwierigen Erbe auseinander setzen muss (’ “nicht auf Augenhöhe”). Mit anderen Worten: Mir ist es egal, weil ich Außenseiter bin, aber ich bin der Meinung, dass es den Deutschen selbst wichtig sein sollte.

    Denn nur deswegen, weil es mir im Endeffekt egal ist, werden die Taten oder Unterlassungen der Deutschen nicht alle gleichgültig, als ob die Deutschen Kinder wären, deren Handlungen auch bei schlimmen Konsequenzen nicht ernst zu nehmen sind.

    Um ein Beispiel zu geben: Es ist mir unterm Strich egal, ob der benachbarte Gemüsehändler auf meiner Straße all sein Einkommen ordnungsgemäß versteuert. Aber das bedeutet freilich nicht, dass seine Handlungsmöglichkeiten dadurch alle gleichgültig würden. Tut er das Richtige, so ist es sein (etwa moralischer) Erfolg, nicht meiner. Und sollte er das Falsche tun, so wäre das sein Scheitern, nicht meiner.

    1973 ist also die deutsche Regierung gescheitert, 2009 hat sie Erfolg gehabt – mir ist beides insofern wichtig, als ich mich für diese Thematik interessiere, und insofern unwichtig, als ich so oder so auch weiterhin um mein persönliches Überleben kämpfen muss…

    Für mich ist also die Thematik interessant, die einzelnen Entscheidungen sind mir jedoch gleichgültig (das Scheitern interessiert mich genauso wie der Erfolg). Den Deutschen in der Bundesrepublik aber dürfte es nicht so sein. Ihnen müsste es schon wichtig sein, dass ihre Regierung in historischen Momenten das Richtige tut. Aber ich weiß, dass der einfache Deutsche so viel Sorgen hat, um Arbeit, Weib und Kinder, dass man ihm nicht so viel zumuten darf (womit wir beim Scheitern der Eliten wären und dem Verrat der Intellektuellen).

  78. Will Cem Özdemir deutscher als die Deutschen sein?

    Cem Özdemir scheint unter dem Komplex zu leiden, deutscher als die Deutschen sein zu müssen. Mir als Muslim ist es, obgleich als Deutscher deutscher Herkunft geboren und in Deutschland aufgewachsen, unmöglich, ein Schuldbekenntnis zu der unpassend „Holocaust“ genannten planmäßig von den Nazis durchgeführten Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Regimekritikern u.a. abzulegen. Warum? Weil nach der islamischen Glaubenslehre „keine lastragende Seele die Last einer anderen tragen kann“. Demnach kann ich als nach dem Zweiten Weltkrieg geborener Deutscher keine moralische Schuld oder Verantwortung für die von der vorherigen Generation verübten Verbrechen übernehmen. Und die materielle Schuld – falls man die Opfer solcher Verbrechen überhaupt materiell entschädigen kann – ist bereits beglichen, auch wenn ein Großteil der Entschädigungen an die falsche Adresse geraten zu sein scheint. Für die Christen, die an den Opfertod Christi glauben, mag die Vorstellung der Aufsichnahme einer solchen Schuld vielleicht akzeptabler sein. Herr Özdemir jedenfalls ist weder Muslim noch Christ, sondern Alevit – falls er überhaupt einer Glaubensgemeinschaft angehört.
    Die Deutschen von heute sollten bei dem Schlagwort „Nie wieder Auschwitz“ vielmehr achtgeben, daß es anstelle der Verfolgung von Juden und anderen als unter den Nazis lebensunwert angesehenen Menschen angesichts der unaufhörlich und sich steigernd von den Massenmedien und einigen Politikern betriebenen Volksverhetzung nicht zu einer Muslimverfolgung kommt. Sollte es tatsächlich soweit kommen, dann wäre das der Beweis dafür, daß sie aus ihrer Geschichte nichts gelernt haben und daß ihre Schuldbekenntnisse nutzlos waren.

  79. Konvertiten (OT)

    Die Deutschen von heute sollten bei dem Schlagwort „Nie wieder Auschwitz“ vielmehr achtgeben, daß es anstelle der Verfolgung von Juden und anderen als unter den Nazis lebensunwert angesehenen Menschen angesichts der unaufhörlich und sich steigernd von den Massenmedien und einigen Politikern betriebenen Volksverhetzung nicht zu einer Muslimverfolgung kommt.

    Um etwas auf den Boden der Realität zurückzufinden : Tatsache ist, dass die Diskriminierung und Verfolgung von Christen in islamischen Ländern ein Phänomen ist, welches durch Bezugnahme auf Texte des Koran von den Verantwortlichen legitimiert wird.

    Anstatt über die Vergangenheit nachzudenken, wäre vielleicht mal ein Blick in die Gegenwart hilfreich. So sahen sich Christen in den vergangenen Jahren im vorwiegend christlichen, südlichen Teil des Sudans mit einem versuchten Genozid konfrontiert, der von der fundamentalistisch – religiösen Junta in Khartoum vorangetrieben wurde.

    Es ist mir ein Rätsel, warum ein Christ zum Islam konvertiert.

  80. Immer wieder dieselben Fehler

    “Unser beider Völker, das deutsche und das jüdische, sind nunmehr eng miteinander verwoben.” – dieses Blut-und-Boden-Denken ist Ursache alles Übels. Es gibt kein “jüdisches Volk”. Das Judentum ist eine Religion, ebenso wie Christentum, Islam, Hinduismus etc. Seit der Herausbildung der Nationalstaaten in der Frühen Neuzeit in Europa sind Bevölkerungen nicht mehr von der Volkszugehörigkeit abhängig, sondern vom Lebensraum. Alles andere ist Folklore. Auch wenn manchmal unsinnigerweise von einer “Nation of Islam” die Rede ist, oder der Vatikan sich als Vertreter aller Katholiken sieht, ist dem nicht so. Am Ende kommen wir wieder zur Gleichsetzung von Juden und dem Staat Israel. Eine kaum weniger schlimme Hypothek für unsere deutschen Mitbürger jüdischen Glaubens.

    Wenn Özdemir für sich den Holocaust als Verpflichtung annimmt, und man ihn dafür tadelt, weil er ja nichts damit zu tun hat, ist das ein unglaublicher Vorgang. Wer selbst, wie offenbar sie, Herr Sapir, noch nicht in der Moderne angekommen ist, und noch immer in diesen erschreckenden Dimensionen denkt, wie es beispielsweise auch die Verursacher des Holocausts taten, ist das ein Schrecken.

    Was man einmal mehr merkt – Religion bringt nichts Gutes in die Welt.

  81. @ Marcus

    Es gibt kein “jüdisches Volk”. Das Judentum ist eine Religion, ebenso wie Christentum, Islam, Hinduismus etc.

    Danke für deine Bereitschaft, uns zu erklären, wie Juden sich gefälligst verstehen sollten. Wenn sie vor sechs Jahrzehnten nur gewusst hätten, dass es eines Tages dich geben wird, hätten sie sich bestimmt die Mühe gespart, ihre Souveränität wieder zu erkämpfen. Wozu sich selbst regieren, ja wozu für den jüdischen Staat auch heute noch zu kämpfen und zu sterben, wenn Gott uns Marcus Cyron geschenkt hat, der das alles besser weiß?

    Ach, wenn sie nur so weise wären wie du.

  82. “Auschwitz”

    Cem Ö. bringt Gysi, Giordano, Knobloch aber nicht Kramer in Verlegenheit.
    Wenn geschichtliche Ereignisse zur Religion mutieren, entstehen solche Paradoxien. Und nur dann!
    Kann man also nur einstimmen in den Ruf: Nie wieder “Auschwitz”!
    Wohlgemerkt als Parenthese …

  83. Ich glaube Adorno hat mal geschrieben:
    “Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.”

    Özdemir bezieht sich wohl auch implizit auf dieses Zitat.

    Aber meiner Meinung nach ist diese Ansicht irgendwo auch fehlerhaft, denn Auschwitz war ein singulärer Tiefpunkt der menschlichen Geschichte, den alleine zu vermeiden noch allzuvielen anderen Greueln Raum lässt.

  84. @ Serdar

    Özdemir bezieht sich wohl auch implizit auf dieses Zitat.

    Gehen wir mal davon aus, dass dem so sei, wie du es vermutest: Es bliebt doch bei der Frage, was diese von Özdemir beherzigte Forderung mit Özdemirs Pass bzw. Staatsangehörigkeit zu tun hat. Ob Özdemir als Staatsbürger der Türkei weniger zu dieser erzieherischen Forderung “verpflichtet” wäre? Und ob ein Deutscher mit einer österreichischen Staatsangehörigkeit, dessen Vater oder Großvater etwa in der SS war, als Nicht-BRD-Bürger ebenfalls weniger dazu verpflichtet wäre?

  85. @Yoav

    Mein Hinweis auf Adorno war eine Spekulation bezüglich der Referenz und keine Rechtfertigung von Özdemir.

    Ich stelle mir diese Fragen auch. Vielleicht (das ist auch Spekulation) meint er einfach nur die banale Tatsache, das man sich als deutscher Staatsbürger (egal welcher ethnischen Herkunft) damit auseinandersetzt.
    Ich deute das mal so, aber muss nicht so sein.

    Es stellt sich natürlich schon die Frage, wie das Gedenken sein wird, wenn die Gesellschaft in Zukunft aus Deutschen besteht, in deren kollektivem Gedächtnis Auschwitz so nicht vorkommt.

    Viele deutsche Familien sind irgendwie in diese Geschichte involviert. Sei es das der Großvater ein Nazi var, ein Mitläufer oder im Widerstand. Egal es gibt eine genealogische Referenz.

    Es ist eine Herausforderung für die Pädagogik und für das Erziehungssystem.

    Ich hab keine fertigen Antworten bezüglich deiner Fragen, aber ich nehme mal diese werden sich in Zukunft auch noch ganz anders stellen.

  86. Czem Özdemir

    Selbstverständnis der Bundesrepublik als einziger Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches bis zu dessen Gründung im Jahre 1871.

    Hier mal die Anmerkung,das die BRD nie Rechtsnachfolger des deutschen Reiches war und ist. Dies hat das Bundesverfassundsgericht in einem Urteil aus dem Jahre 1973 festgestellt.

    Mann kann ein Volk nicht in Sippenhaft nehmen,für etwas was die Väter oder Großväter getan haben.Wenn das so wäre würde fast jedes Volk auf der Erde Schuld mit sich herumtragen bis ans Ende seiner Tage. So müssten die Amerikaner noch heute für die Ermordung von Millionen Indianer büßen oder für die Sklavenhaltung. Nur hier hört man dergleichen nichts.Ebenso die Türken an dem Genozid der Armenier. Ich will hier keine Schuld aufrechnen.Genauso wenig wie die Nachkommen anderer Völker ist das heutige deutsche Volk für den Holocaust zur Verantwortung zu ziehen.
    Gedenken an den Holocaust ja, aber bitte nicht mit dem Finger auf die heutige Generation zeigen.Denn das wird gerne von Israel gemacht obwohl Israel selber mit den Palistinenzern nicht anders verfährt.

  87. Ich denke nicht, dass sich der größte Teil der Migranten in Deutschland mit dem Teil der Geschichte identifizieren geschweige denn mehr als allg. Schulwissen besitzen. Sonst käme es wohl nicht vor, dass z.B. türkische und russische Jugendliche hier feurige Verfechter der NPD sind.
    Denn Sie passen doch eigentlich so schön in das “Feindbild” der NPD.

  88. @ philgeland

    Yoav hatte schon einmal eine längere Pause. Er hat sich jedenfalls nicht offiziell abgemeldet. Ich schätze, da kommt bald wieder was.

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