Das Jüdische in der DDR: Kontinuität vs. Diskontinuität

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Vor langem habe ich hier einige Texte zur ostdeutschen Judenfrage veröffentlicht. Von Anfang an wollte ich in dieser Reihe auch die Frage besprechen, wie das ostdeutsche Judenbild historisch bewertet werden kann. Leider bin ich über Monate hinweg nicht dazu gekommen – doch heute möchte ich dieser selbst auferlegten Pflicht nun endlich gerecht werden.

Ent- oder Umthematisierung?

Wie in meiner Magisterarbeit zum Bild des Juden im ostdeutschen Spielfilm erklärt, hat es in der SBZ/DDR, wie aus einer Analyse des sehr wichtigen Mediums des Kino- und Fernsehfilms hervorgeht, keine umfassende Entthematisierung des Jüdischen gegeben. Entgegen der (zumindest damals, 2004-2006, noch) vorherrschenden Meinung wurde die jüdische Thematik und insbesondere die nationalsozialistische Judenverfolgung nicht pauschal verschwiegen oder verdrängt. Bereits in der SBZ – also ziemlich unmittelbar nach Kriegsende – wurde sie filmisch verarbeitet, und auch später kam im Durchschnitt knapp alle drei Jahre ein Film in die DDR-Kinos, der das Jüdische auf die eine oder andere Weise vergegenwärtigte.

Im Gegensatz zur BRD-Praxis waren das stets eigene Produktionen, d.h. keine importierten wie im berühmten Fall des US-amerikanischen Mehrteilers "Holocaust". Hinzu kommt, dass diese DEFA-Produktionen sich durch ihre intellektuell anspruchsvolle Qualität auszeichnen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass diese Filme, auch wenn sie ein dem SED-Staat dienliches Judenbild vermittelten, großteils bemerkenswerterweise keine auffällig pro-sozialistischen "Handlungsdiktate" aufweisen.

Diese Fülle an Leistungen sollte in der BRD erst nach der Wiedervereinigung "nachgeholt" werden, zumindest ansatzweise. Aber wenn es in der DDR keine Entthematisierung des Jüdischen gab, was gab es da doch?

Zwar blieb der Jude, wie im Dritten Reich auch, nach Kriegsende an der mittel- bzw. ostdeutschen Leinwand, jedoch wurde er im sozialistischen Diskurs umthematisiert, d.h. das Jüdische wurde grundsätzlich anders konstruiert als bislang. Nicht nur die dem Juden zugeschriebenen Attribute waren nunmehr andere als im Dritten Reich, sondern der Judenbegriff selbst wurde von Grund auf neu bzw. im Einklang mit sozialistischen Traditionen konzipiert, wodurch sich das ostdeutsche Judenbild zugleich auch von jenem in der Bundesrepublik, den USA oder in Israel unterschied.

Die Charakteristika der filmischen Judenkonstruktion

Die neuartige Thematisierung des Juden im ostdeutschen Spielfilm beruhte auf zwei Grundzügen. Die Basis bildete der Versuch der Leugnung bzw. "Undefinition": Das propagierte Bild des Juden war nunmehr der sozialistischen Idealvorstellung vom Juden unterworfen (mehr dazu in meiner Magisterarbeit, Kap. II). Das bedeutete, dass der Jude als solcher abgestritten wurde. Einerseits wurden die früheren, rassistischen Definitionen sowohl mit expliziten als auch mit impliziten Mitteln abgelehnt, andererseits wurden für die jüdische Existenz, an der es im rationalistischen Sozialismus angeblich keinen Bedarf mehr gab, keine neuen Definitionen eingeführt. In diesem ideologischen Rahmen konnten also die alten, negativen Definitionen durch keine neuen, vielleicht positiven ersetzt werden.

Daran knüpfte eine angestrebte Neutralisierung bzw. Normalisierung des Juden: Die früheren, negativen Inhalte und Werte, die dem Juden im Nationalsozialismus zugeschrieben worden waren, wurden nunmehr auf "neutral" umgestellt. Die Juden, die als solche sowieso nicht vorhanden seien, seien in dieser Konstruktion durch nichts Besonderes gekennzeichnet, haben auch nichts Besonderes gemeinsam und sind unterm Strich nichts anderes als gewöhnliche, ganz gewöhnliche Menschen.

Diese Umthematisierung des Juden war die ostdeutsche Weise, die unerwünscht ererbte Problematik des Jüdischen zu behandeln, um sie somit entkräften zu können. Das SED-Regime, welches als die bessere Alternative zum bundesrepublikanischen Wiedergutmachungsdeutschland die jüdische Problematik nicht liegen lassen konnte, wich dem bundesdeutschen Bewältigungsmuster durch eine abschaffende Thematisierung des Juden bzw. der Judenverfolgung aus.

Immanente Spannung

In dieser "entthematisierenden Umthematisierung" widerspiegelt sich die Widersprüchlichkeit des ostdeutschen Judenbildes: Der Jude musste den Zuschauern unverkennbar als solcher, d.h. als Jude vorgestellt werden, um dabei als ein gewöhnlicher Mensch dargestellt werden zu können; sonst wäre die "Normalisierung", d.h. die normalisierende Bedeutung dieser Darstellungsweise des Juden, völlig verloren gegangen.

Aufgrund dieses Paradoxons war das ostdeutsche Unterfangen einer neuen Judenkonstruktion von vornherein zum Scheitern verurteilt. Darum musste die jüdische Vaterfigur in "Bronsteins Kindern" – wie in meinem alten Beitrag "Zu Besuch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung" erklärt und zitiert – nach 40 Jahren DDR und ostdeutscher Judenkonstruktion die letzte Chance vor der Auflösung der DEFA ergreifen, um nun ganz ausdrücklich zu erklären, "dass es Juden überhaupt nicht gibt" (womit sie das Jüdische eben doch noch einmal vergegenwärtigte).

Dieses anspruchsvolle Unterfangen war in einer Spannung begründet, in welche die DDR praktisch geboren wurde: Einerseits sollte der Jude, der als Prüfstein den Bruch dieses "neuen Deutschland" mit der "faschistischen" Vergangenheit versinnbildlichte, gerade als solcher thematisiert werden, andererseits musste bei dieser Thematisierung die "aufgeklärte" Alternative, d.h. die sozialistische Idealvorstellung vom vollends assimilierten Juden propagiert werden.

Ein Gordischer Knoten?

Die Zweideutigkeit des ostdeutschen Judenbildes bekundet sich auch, wenn die Umthematisierung des Jüdischen im ostdeutschen Spielfilm einem historischen Vergleich unterzogen wird.

In der Vorgeschichte der SBZ/DDR hatten die Nazis die Abschaffung des Juden durch dessen physische Vernichtung beabsichtigt. Nun war durch den Sozialismus – sieht man von den stalinistischen Schauprozessen in der Nachkriegszeit ab – die physische Bedrohung endlich vorbei, jedoch galt gerade jetzt, die von Marx in dessen (wenn auch relativ früh entstandener) Schrift "zur Judenfrage" (Paris 1844) postulierte "Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum" endlich auch auf deutschem Boden zu verwirklichen.

Das SED-Regime erstrebte also freilich nicht das gleiche Ziel wie der Nationalsozialismus; aber es war indes ein gewissermaßen ähnliches, weil sinnverwandtes Ziel, das filmisch verfolgte wurde, indem jedwede jüdische Gruppenidentität, d.h. der Jude als solcher in Abrede gestellt wurde.  Aus dieser Perspektive manifestiert sich also eine gewisse Kontinuität, und zwar eine Kontinuität der Intoleranz gegenüber dem jüdischen Volke.

Denselben Vergleich können wir aber auch zugunsten des ostdeutschen Sozialismus interpretieren: Die Nationalsozialisten hatten den Juden zwar ausrotten wollen, ihn jedoch vielmehr erschaffen, indem sie erstmals im deutschen Rechtsstaat eine rechtliche Bestimmung des Juden (und erst dadurch eben auch des "Ariers") – ungeachtet des Willens der Betroffenen – eingeführt hatten. Angesichts dessen scheint das SED-Regime der nationalsozialistischen Thematisierung des Juden tatsächlich eine wirkliche Alternative entgegengesetzt zu haben, indem es eine Undefinition des Juden durchzusetzen versuchte. Von diesem Gesichtspunkt aus enthüllt sich mithin eine Diskontinuität, d.h. der Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erscheint wie ein gehaltenes Versprechen.

Kein Schlusswort

Die ostdeutsche Umthematisierung des Juden kann folglich als ein Zustand des ständigen Entweder-und-Oder charakterisiert werden, der vom Zwang herrührt, eine angeblich vollkommene Überwindung der nationalsozialistischen bzw. "faschistischen" Judenverfolgung zu zeigen, ohne jedoch sich durch Verantwortungsübernahme mit der eigentlichen Problematik dieses abgestrittenen Erbes auseinander gesetzt zu haben.

Heutzutage, im 21. Jahrhundert, stellt sich die Frage: War das eine Art Antisemitismus? Gewissermaßen schon, weil das SED-Regime – wie andere im abendländischen Sozialismus – den Juden jegliches Recht auf Selbstbestimmung absprach. Andererseits handelt es sich hierbei um kein Antisemitismus im herkömmlichen Sinne, wo natürlich notwendigerweise von der Existenz des Juden ausgegangen wird.

Die traditionellen 613 Ge- und Verbote der jüdischen Religion ergänzte Emil Fackenheim bekanntermaßen um ein sechshundertundvierzehntes:

Thou shalt not hand Hitler posthumous victories. To despair of the God of Israel is to continue Hitler’s work for him.

Es ist schon viel darüber diskutiert worden, ob Fackenheims Postulat kein Paradoxon ist, indem es Hitler in einem sonst so erhabenen Zusammenhang verewigt und ihm somit erst recht einen postumen Sieg schenkt. Ich habe es hier angeführt, weil es die Zweideutigkeit des Jüdischen im ostdeutschen Spielfilm verdeutlicht: Man kann zu Recht behaupten, dass das SED-Regime mit der gedanklichen Auflösung des Judentums Hitlers Arbeit mit anderen Mitteln fortsetzte (was Fackenheim verbietet), aber man kann genauso gut auch dahin gehend argumentieren, dass die sozialistische Auflösung des Judentums die Betroffenen erst recht vom Schicksal befreien sollte, dem sie durch die Charakterisierung als Juden – bis hin zum hitleristischen Extrem – ausgesetzt waren.

Darum sage ich an dieser Stelle, was ich in diesem Blog schon mehrmals gesagt habe: Auch wenn die DDR ihren Geist aufgab, besteht für mich als Juden der intellektuelle Reiz fort, den sie, zumindest teilweise, in sich barg.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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