Die Gottessohnschaft wieder besucht

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Christen werden vor allem deswegen an den Pranger gestellt, weil sie in Jesu den Sohn Gottes erblicken, Teil einer dreifaltigen Gottheit. Ob aber die Anbetung Jesu nicht gerade im Hinblick aufs Jüdische verstanden werden kann?

Was in beinahe jedem christlichen “Gotteshaus” zur Schau gestellt wird, ist schließlich nichts anderes als die Abbildung eines sterbenden Juden (und oft sogar der Leiche des hingerichteten Juden). Man bekennt sich zu diesem Juden, der im Glaubensbekenntnis zu Gottes Sohn und sogar selbst Gott wird. Nicht nur der schöpfende Gott, sondern vor allem auch der Jude wird angebetet.

Von außen betrachtet, scheint diese Struktur auf eine gewisse Obsession hinzudeuten, die insofern auch verständlich ist, als das Heidenchristentum das Jüdische im Allgemeinen und diesen Juden im Besonderen als Fundament heranzog. Aber heutzutage ist das im Grunde genommen nur noch Tradiertes. Man muss sich also fragen, wie es beim Übergang ins Heidenchristentum dazu gekommen ist, dass die Heiden Jesum vergöttlichten. Dies wird oft damit erklärt, dass es im Hellenismus üblich war, Geistesgrößen nachträglich als Söhne von Gottheiten anzusehen. Aber soweit ich weiß, wurden die großen Philosophen in der Hoch- und Spätantike nicht selber als Götter angebetet. Mir scheint also, dass dieser Entwicklung noch ein Moment zugrunde gelegen sein dürfte.

Dass Jesus selbst sich als Gottes Sohn erachtet haben mag, ist aus jüdischer Sicht natürlich vollkommen verständlich. Die geistige Gottessohnschaft Israels bzw. die Beziehung Israels zu seiner Gottheit als einem Vater ist zu Zeit Jesu tief im Jüdischen verwurzelt. Die (von Paulus natürlich stark beeinflusste) Neuerung des Heidenchristentums bestand darin, dass man diesen Attribut nicht auf sich selbst bezog, sondern auf Jesum beschränkte, wodurch möglich wurde, den Attribut überhaupt biologisch zu interpretieren.

Diese wesentliche Änderung ist wiederum vor dem Hintergrund erklärlich, dass es den ersten Heidenchristen durchaus bewusst war, dass sie keine Juden sind und – im Gegensatz zum bisherigen Verlauf – auch keine Juden werden. Dies mag insofern problematisch gewesen sein, als das Heidentum noch nicht mit monotheistischen Vorstellungen vertraut war, sondern auch zur hellenistischen Zeit vor allem Orts-, Landes-, Stammes- und Völkergottheiten kannte. Die ersten Heidenchristen mussten also einen gedanklichen Abgrund überbrücken: sich zur jüdischen Gottheit zu bekennen und diese anzubeten, ohne zur eigentlichen Gemeinschaft dieser Volksgottheit anzugehören.

Diese Spannung wurde überwunden, indem man sich zu Jesu bekannte. Der Jude, Gottes Sohn, fungierte wohl als die Brücke, die die Heidenchristen zur jüdischen Gottheit verhalf. Dieser Mechanismus wirkt bis heute: Die Verehrung nicht irgendeines Bildes, sondern gerade des Bildes eines Juden bzw. die Anbetung dieses Juden berechtigte die Heidenchristen – wenn auch eher unbewusst – dazu, sich zum himmlischen Vater der Juden und natürlich auch dieses Juden zu bekennen. Jesus erfüllt mithin die Funktion eines Mittlers: Als Sohn Gottes wird er – nicht irgendein zufälliger Jude, sondern der Jude schlechthin, der vermeintliche Rex Iudaeorum – selber zu Gott, damit durch das Bekenntnis zum Juden auch die Beziehung zum himmlischen Vater der Juden bzw. zum jüdischen Gott ermöglicht und gebahnt wird.

Besonders deutlich wird dieser Mechanismus am Beispiel der Eucharistie. Dabei erreicht der Heidenchrist die (angeblich) höchste Stufe auf dem Weg zur jüdischen Gottheit. Praktisch gesehen geht dies vonstatten, indem er des Juden Leib, ggf. auch sein Blut verzehrt und verinnerlicht (bei den Reformierten erfolgt der Ritus zwar im symbolischen Sinne, ist aber wegen der neuen Interpretation nicht weniger zentral, im Gegenteil). Somit eignet sich der Heidenchrist, wie in totemistischen Kultformen, die Attribute des Verzehrten an, d.h. der außenstehende Heide wird gewissermaßen selber jüdisch – und dadurch zu einem Insider, also einem Christen. Allerdings muss die Aneignung immer wieder bestätigt werden, indem das Ritual, genauso wie im Totemismus, von Zeit zu Zeit wiederholt wird.

Ebenfalls interessant finde ich die Paralelle zur mystisch-kabbalistischen Interpretation des Juden als Teil Gottes, als eine Art Emanation Jahwes in menschlicher Form. In dieser Tradition jüdischen Gedankenguts, deren gedankliche Wurzeln sich übrigens in die Antike verfolgen lassen, befindet sich auch die Sichtweise, die den Menschen als die höchste Stufe innerhalb der Schöpfung, d.h. als das höchste aller Geschöpfe ansieht, während der Jude hingegen die niedrigste Stufe im komplexen Wesen des Schöpfers bilden würde. Somit steht das Heidenchristentum bei der Vergöttlichung des Juden nicht alleine da.

Mir ist natürlich klar, dass man nicht erfahren kann, inwiefern dieser Erklärungsansatz zutrifft, solange man nicht in der Lage ist, in die Zeit der ersten Heidenchristen (zu denen eigentlich auch Paulus zu zählen ist) zurückzureisen und dann irgendwie ins Unbewusste der willigen Rezipienten hineinzublicken. Nichtsdestoweniger darf dieser Ansatz m. E. auf die christliche, ja bereits frühchristliche Judenfeindlichkeit Licht werfen. Denn vor diesem Hintergrund lässt sich diese Feindlichkeit als das Ergebnis einer mehrfachen psychologischen Not verstehen, die erst durch die Substitutionslehre – die ultimative “Vergeltungswaffe” – behoben werden konnte.

Beim Vergeltungsdrang darf es sich um Empörung über das Fehlen einer jüdischen Bestätigung der Anbetung Jesu gehandelt haben (wie wirksam dieses Bedürfnis auch heute noch ist, lässt sich an der Karfreitagsfürbitte erkennen); um Zorn über das doch gar nicht göttliche und daher extrem störende Vorhandensein von Jesu eigenen Leuten (auch heute noch weist die Kritik am Staat Israels auf irreale Erwartungen hin); und vielleicht auch Schuldgefühle wegen des rituellen Verzehrs des Juden, die ein erfolgreicher Abwehrmechanismus in den Vorwurf des Gottesmordes umwandelte.


In eigener Sache: Jewish Heritage Tours in Berlin


Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

23 Kommentare

  1. Denkfehler

    In christlichen Kirchen werden keine Bilder oder gar am Kreuz hängende Juden angebetet.
    Ganz egal, wieviele es davon gibt – die wirkliche Hauptfunktion von solchen Bildern/Skulpturen ist diejenige einer meditativen Gedankenstütze (ähnlich wie indische Mandalas).
    Dazu kommen Nebenfunktionen – z.B. Raumschmuck, Statussymbol, usw.

  2. @ Richard

    Das ist m. E. nicht so einfach, wie du es beschreibst. Gerade in katholischen Regionen finden im direkten Zusammenhang mit solchen Bildern (inner- und außerhalb der Kirchen) Praktiken statt, die von den heidnischen Wurzeln gar nicht so weit entfernt sind. Ganz zu schweigen von den Ostkirchen bzw. dem dort verbreiteten Ikonenkult (mit oder ohne Anführungszeichen).

    Bei den Evangelischen und insb. bei den Reformierten sind diese heidnischen “Überbleibsel” natürlich erheblich beseitigt worden. Aber selbst dort, wo deine Beschreibung zutrifft: Jesus wird angebetet und den Gläubigen zu gleicher Zeit ganz plastisch vor Augen geführt. Gerade in dieser kultischen Situation – im Gegensatz etwa zu einem Museum – sind Abbildung und Abgebildeter eng miteinander verknüpft.

  3. Trinitätslehre vs. Arianismus

    Ganz klar ist mir noch nicht, warum sich die Trinitätslehre derart dominant in der Geschichte des Christentums durchsetzen konnte. Was sind die Gründe dafür?

  4. Paulus

    “Heidenchristen (zu denen eigentlich auch Paulus zu zählen ist)”

    Paulus war ein Heidenchrist? Ich würde ihn eher als einen messianischen Juden bezeichnen. Ein ausgebildeter Rabbi, der die Christen bis zum Erlebnis in Damaskus verfolgte und meinte, es wäre ein Gottes Dienst. Der missionierte ganz kräftig, aber wenn er in einen neuen Ort kam, dann ging er zuerst zu den Juden und wenn diese ihn ablehnten ging er zu den Heiden. Und wenn er argumentierte, dann berief er sich viel auf die Schrift (AT).

    Wie kommst Du dazu ihn zu den Heidenchristen zu zählen?

  5. Jesus Christus hat zu den gläubigen Juden seiner Zeit gesagt: “Euer [geistige] Vater ist der Teufel.”

    Auch von den mosaischen Gesetzen und Verordnungen hielt Jesus nicht viel. Als er gefragt worden ist, was das vornehmste Gesetz sei, antwortete er: “Liebe Gott über alles und Deinen Nächsten wie Dich selbst.”

    Das Kreuz ist ein Symbol des von Menschen versklavten Menschen, der den Foltertod erleidet und dennoch triumphiert.

    mfg
    Luchs

  6. Logos als Gottessohn nachlesen

    So wie die Christen das jüdische Volk an den Pranger stellen, weil es angeblich für die Ermordnung ihres Religionsgründers verantwortlich ist, prangern die Juden die Christen wegen der Vergottung eines Gurus an.

    Doch können wir bei all dem was wir wissen, weiter davon ausgehen, dass ein hingerichteter Prediger von antiken Reformjuden zu Gott erklärt wurde bzw. es den Verfassern des NT oder der unzählichen, teils gnostischen, philosophischen… Begleittexte um einen Wanderprediger ging, der zum lebendigen Wort oder gar Gott selbst erhoben wurde?

    Sollten wir unser Wissen nicht verwenden, um darüber nachzudenken, warum für Heidenchristen, wie auch für die jüdischen Kulturtradition der im griechischen Monismus wahrgenommene Logos allen Lebensflusses eine menschliche Gestalt brauchte, um Wirk-lich zu sein, Wirkung zu entfalten?

    Welche Gegensätze würden sich überwinden lassen, wenn wir nicht weiter einem hingerichteten Heilsprediger nachtrauern oder dem biblischen Wort, das der Welt kaum noch was zu sagen suchen würden?,

  7. @ Franzerl

    Das ist ein Thema für sich, aber soweit ich mich an meine ersten Studienjahre erinnern kann, wurde die Vorstellung vom Heiligen Geist in der Geschiche des frühen Christentums erst relativ spät in die Gottesvorstellung hineingearbeitet, möglicherweise aus Gründen der gedanklichen Ästhetik (die Drei als typologische Zahl, die in der Natur Stabilität erzeugt).

  8. @ Martin Huhn

    Weil er sich bewusst aus dem jüdischen Diskurs herausgelöst hat, in dem die seinerzeitigen Judenchristen noch verwurzelt waren. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern arbeitete er gezielt auf etwas anderes und Neues hinaus, mit dem die Grundlage für ein Heidenchristentum geschaffen wurde. Daher sind übrigens auch die Überlieferungen von ihm und demjenigen, auf den er sich (m. E. eher zu Unrecht) dabei brief, in diesem Licht bzw. mit Vorbehalt zu lesen.

  9. Auseinandersetzung der Antike neu verst.

    Können wir bei all dem, was wir heute über das Denken der Zeitenwende, wie den Anfang des Monotheismus wissen, weiter davon ausgehen,dass sein Wanderguru als lebendiges Wort oder gar Gott selbst verherrlicht wurde?

    Lässt es das Wissen um alte kallalistische Vorstellungen zu, ebenso wie die philosophischen Lehren, in denen der monoistische Logos selbst als Gott gesehen wurde, was Hintergrund des hellenistischen Weltbildes war, das im Kult gleichzeigig weiter an seinen Göttergestalten hielt, dass wir antiken Denkern unterstellen, sie hätten einen Heilsprediger zum Gottessohn oder gar Gott selbst gemacht?

    Können wir das allegorische Schriftverständnis und die Betrachtung der Vernunftprinzipien allen nat. Werdens als Gottessohn/-wort (irdische Vermittlung schöpferischen Willens), wie wir es von damaliger Bildung in Alexandrien wissen, einfach ausblenden?

    Wird nicht gerade die geistige Auseinandersetzung bzw. der Aufklärungsprozess der Antike erst deutlich, wenn wir keinen Wanderprediger der altjüdisch oder heidnisch zu Gott erklärt wurde, sondern den Logos bzw. die Weltvernunft (was im Sinne des schöpferischen Werdens menschlich vernünftig wäre) als dessen Wesen an den Anfang stellen?

    Sicher ist es nicht möglich, zu Paulus zurückzureisen. Aber wenn wir ernsthaft über ein neues monotheistisches Paradigma nachdenken, wissen, dass auch am prophetisch-exilischen Anfang keine Vergeisterung war, sondern ein Aufklärungsprozess, in dem das ewige Wort im Rahmen der Hochkulturen verstanden wurde, erscheint dann nicht alles in einem völlig neuen Licht?

    Wird dann nicht auch klar, warum Paulus (bzw. das neue Paradigma) sich immer wieder an die Juden wendet, von denen er/es abgelehnt wird? Warum das NT die griechischen Philosphiegötter ebenso wie die entleerten Grundlagen (ob mystische Gottesbilder oder reinen Schriftlehren) des stehen gebliebenen Glaubens verteufel? Auch wenn es sich in der Argumentation der Gesetzeslehren bedient.

    Wird nicht gerade in der Trinitätslehre deutlich, dass auch die Kirchväter weder den schöpferischen Geist, noch den menschlichen Logos als Gott selbst sahen, sondern am unsagbaren Schöpfungsgrund der jüdischen Glaubensväter als eigene Person hielten?

    Ist bei dem was wir wissen noch anzunehmen, die damaligen Denker (ob jüdische Apologeten oder Hellenisten) hätten ihre messianischen Hoffnungen in einen aufgemotzten anmaßenden Heilspediger gesesetzt?

    Welche Heilswirkung könnte heute davon ausgehen, wenn wir im wissenschaftlich beschriebenen Weltprozess des ewigen Werdens das schöpferische Wort nachdenken würden, das nur in Anknüfung an die verschiedenen Kulturtraditionen menschlich zu verwirklichen ist?

  10. Paulus

    “Weil er sich bewusst aus dem jüdischen Diskurs herausgelöst hat, in dem die seinerzeitigen Judenchristen noch verwurzelt waren.”

    Und was soll das neue gewesen sein? Der erste Heide, der Christ wurde war der Hauptmann Kornelius und den hat Petrus bekehrt und getauft, nachdem er eine Erscheinung hatte. Nach der Taufe geriet der Heilige Geist über die frisch bekehrten und das war die vollendende Bestätigung für Petrus, daß auch die Nationen Zugang zu Gott bekommen. Damit hat nicht Paulus angefangen. Aber es ist auch egal, wer damit angefangen hat. Laut Apostelgeschichte haben sich das die Apostel nicht selbst ausgedacht, sondern es war der Wille Gottes.

    Jesus Christus sagte, er ist nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen. Er hat auch immer wieder aus dem AT zitiert. Und was Paulus zu diesen Dingen schrieb, das ist eigentlich nichts neues. Das NT (bis auf die historischen Evangelien und die Apostelgeschichte) ist eigentlich nur eine Interpretation/Auslegung des ATs. Wirklich Neues ist da nicht zu finden.

  11. Anbetung

    “vor allem auch der Jude wird angebetet”

    Ich fühle mich durchaus mit dem Judentum verbunden. Ich lese gerne im AT und lasse mich davon sehr ansprechen. Aber dadurch bewundere ich doch nicht das Judentum oder bete es gar an. Wozu sollte ich das tun?

    Das Judentum hinterläßt viele Fragen. Antworten darauf bekomme ich im Christentum. Das Judentum bleibt diese Antworten schuldig. Das Gesetz zeigt nur eins, für den Menschen ist es unmöglich aus eigener Kraft gerecht zu werden. Das Judentum führt mir also nur vor Augen, daß ich ein sündiger Mensch bin. Das Christentum führt mir vor Augen, daß ich ein sündiger, aber auch ein erlöster Mensch bin. Was hat das Judentum gegen die Sünde zu setzen? Früher gab es den Opferdienst. Aber damit kann man sich doch nicht wirklich von der Sünde reinwaschen.

  12. @ Martin: Paulus

    Ich will mich hier nicht in eine theologische Diskussion begeben, zumal die obige Hypothese keine theologische ist (daher lasse ich die Kommentare von theologie-der-vernunft nur so stehen: ich habe nichts dagegen, aber mit dem, was mein Text sagt, hat es m. E. kaum zu tun). Als Außenseiter habe ich da zudem nicht viel zu sagen, und es ist mir eigentlich egal, welche Interpretation “richtig” ist.

    Für mich ist alleine die Tatsache von Bedeutung, und zwar von größter Bedeutung, dass es damals zum Phänomen eines Heidenchristentums überhaupt kam, d.h. dass aus der jüdischen Sekte (wobei damals fast alle “Sekten” waren) Glaubensgemeinschaften hervorgingen, die das Jüdischsein bzw. Jüdischwerden nicht mehr voraussetzten.

    Ob diese Entwicklung theologisch richtig war oder nicht, ist eine Frage, die sich mir im obigen Zusammenhang nicht stellt, und wenn ich mir die Frage trotzdem stelle, dann ist diese Entwicklung in meinen Augen schon deswegen richtig, weil sie erfolgreich (bis hin zur weitestgehenden Einverleibung des antiken Judenchristentums) stattfand.

  13. @ Martin: Anbetung

    Nicht das Judentum (und schon gar nicht das spätere, rabbinische Judentum) wird angebetet, sondern ein Jude, und zwar der Jude schlechthin, der in seiner Rolle/Funktion als Rex Iudaeorum das Jüdische beinhaltet und verkörpert (erst daher kann das damals Jüdische – angeblich – in diesem Juden aufgegangen und durch ihn verwandelt worden sein).

    Nicht nur, aber auch in psychologischer Hinsicht sollte damals seine vergöttlichte Figur – so möchte ich hypothetisch behaupten – den in der Antike sehr präsenten Abgrund zwischen Nichtisraeliten einerseits und dem von ihnen ersehnten Gott Israels andererseits überbrücken (etwa damit sie die Vergebung erlangen, die sie sich von dieser Gottheit versprechen; aber wie gesagt, geht es hier nicht um diese oder jene Theologie, sondern um die Struktur, die dem Heidenchristentum seit seinen Anfängen und selbst in dessen arianischer Form zugrunde liegt).

  14. Projektion

    Lieber Yoav,

    mir scheint, Du unternimmst mit Deinem Beitrag eine Projektion im psychologischen Sinne.
    http://de.wikipedia.org/…Projektion_(Psychologie)

    Viele Geschichten des Alten Testaments deuten darauf hin, dass eine wichtige Wurzel des Judentums die Verehrung einer alten Hochkultur und ihrer Träger war. Beispiele für einschlägige Textstellen: Abraham diskutierte z.B. mit drei Männern, deren „Antlitz wie die Sonne leuchtete (hellhäutg?)“, und die in den Augen Abrahams Gott darstellten. Lot und seine Familie wurde von drei Männern, die Gott oder Engel darstellten, aus Sodom geführt. Sodom wurde durch „Feuer vom Himmel“ zerstört. Eine Beobachtung des Vorgangs sollte geheim bleiben. Oder Jakob machte einen Ringkampf mit Gott. Obwohl Gott sich zu einem Faul hinreißen ließ und durch einen Schlag Jakobs Hüftmuskel lähmte, konnte (der allmächtige) Gott sich dennoch nicht aus dem eisernen Griff Jakobs entwinden und musste ihn „segnen“. Drei Textstellen, die Gott als Menschen wie Du und ich darstellen, allenfalls etwas hellhäutiger und militärtechnisch überlegen.

    mfg
    Luchs

  15. @ Luchs

    Es steht in der Bibel nicht immer so, wie du es hier geschildert hast, aber selbst wenn, kann man die Christologie m. E. nicht mit diesen und ähnlichen Erzählungen gleichsetzen. Denn die Heranziehung und Vergöttlichung Jesu bilden ein historisch entstandenes Phänomen, während der nächtliche Kampf Jakobs, sofern er überhaupt stattgefunden habe, bestenfalls nur ein persönliches Erlebnis darstellt. (Übrigens: Wo siehst du da die Verehrung einer vorausgegangenen Hochkultur durch das biblische Israel?)

    Ansonsten aber: Ja, es gibt hier freilich eine Projektion, aber diese besteht in der Vergöttlichung Jesu, d.h. darin, dass das Göttliche in die Figur dieses Juden hineinprojiziert wurde (und noch immer wird).

    Ich erachte Jesum hingegen nicht für Gott. Im Gegenteil. Daher versuche ich hier hypothetisch zu erklären, wie es zu dieser Projektion, d.h. zu dieser Entwicklung gekommen sein mag.

  16. Tochterreligion & Universalisierung

    Das ist eine durchaus spannende These! Und es hat in der Religionsforschung ja auch immer wieder Diskussionen darüber gegeben, wie sich ältere und neuere Religionen aufeinander auswirken, vor allem auch im Prozess der Ablösung. Ich darf nur an die zahlreichen Diskussionen um Moses und die Spuren ägyptischer Religionskultur in der frühjüdischen Schrift und Religion, die Theorien Freuds und heute Assmanns dazu etc. erinnern! Oder darauf hinweisen, wie sich der spätbiblische Glaube je an eine teuflische bzw. messianische Gestalt auch in der Begegnung mit dem babylonischen Zoroastrismus entfaltet und verfestigt hat.

    Ohne mit Yoavs These völlig überein zu stimmen, darf ich doch auf ein weiteres, stützendes Argument verweisen: Während sich der christliche Monotheismus aus dem Judentum herausbildete und ablöste, hatten nachfolgende, monotheistische Religionen dieses Traditionsstroms (wie Islam, Sikhismus, Bahaiismus) tatsächlich immer weniger Bezug dazu, sondern befasste sich stärker je mit dem christlichen, hinduistischen oder islamischen Vorgängern. In diesem Sinne hätte das Christentum tatsächlich einen vorher v.a. ethnisch tradierte Kultform universalisiert und globalisiert, damit Milliarden Menschen direkt und indirekt zugänglich gemacht.

    @ Yoav, für Deine Überlegungen könnten außerdem die Paulusstellen interessant sein, in denen er das Judentum als Wurzel des Gottesglaubens betont, z.B. im Römerbrief, seinen rabbinischen Lehrer preist etc. Da wird ggf. auch eigenes Ringen zwischen Universalisierung und Verwurzelung deutlich.

    @ Luchs: Das Johannesevangelium ist das späteste und reflektiert bereits den Konflikt zwischen den sich trennenden, religiösen Traditionen. Sicher hat es schon zu seinen Lebzeiten erbitterte Debatten gegeben, aber Jesus hat sicher nicht “die Juden” als Kinder des Teufels bezeichnet.

  17. @ Michael

    Die israelische Gottheit war auch vor dem Heidenchristentum schon universalisiert – und wie ich behaupte, sogar seit Jesaja I. (das ist allerdings ein Thema für sich, zu dem ich hier noch etwas veröffentlichen will). Jedoch war die israelische Gottheit nur im geographischen Sinne mit dem Attribut des Universalen versehen – nicht im ethnischen Sinne. Jahwe wurde zu einer Gottheit, die über alle Völker herrscht, aber nicht zu einer, die allen Völkern zugänglich ist (in diesem Punkt hat sich im Judentum bis zum heutigen Tage kaum etwas geändert).

    Dieser andere Schritt, nämlich Jahwe auch in ethnischer Hinsicht zu universalisieren, wurde auch meiner Meinung nach erst durch das Heidenchristentum nachgeholt. In diesen Zusammenhang gehört übrigens der Hellenismusbegriff Johann Gustav Droysens sowie die heilsgeschichtlichen Interpretationen, die er mit diesem historiographischen Konstrukt verknüpfte. Denn tatsächlich wäre die heidenchristliche Vermarktung (mit oder auch ohne Anführungszeichen) Jahwes ohne die bereits vorhandene Basis eines griechisch sprechenden Orients wohl kaum möglich gewesen.

    Was die Inspirationsquellen ur- bis frühisraelischen Denkens angeht, so hat das neueste und m. E. auch umfassendste Werk zu dieser Thematik neulich der Bibelforscher Israel Knohl vorgelegt, der nicht nur die ägyptischen, sondern auch andere, etwa die hethitischen Wurzeln urisraelischer Bräuche und urisraelischen Gedankenguts zurückzuverfolgen versucht.

    Knohls Buch – auf Hebräisch heißt es “Wo wir herkamen” – würde ich dir empfehlen, nur könntest du mit solch einer Empfehlung leider nicht viel anfangen, weil es noch nicht in übersetzter Form vorliegt. Assmann hilft mir zurzeit (als dem von Knohl vorgesehenen Übersetzer) für das Buch einen Verlag zu gewinnen, aber das wird noch lange dauern, weil z. B. auch die Mittel noch beantragt werden müssen etc.

    Eine Gleichsetzung mit dem Heidenchristentum wäre hier jedoch falsch am Platze, denn die ausgestoßenen Priester des echnatonschen Sonnengotteskultes – wenn wir bspw. diese spezifische These heranziehen und sie zumindest diskussionshalber für richtig halten – nicht auf ihrer Herkunft aufbauten. Im Gegenteil: Sie gingen im werdenden Israel auf. Ihre Nachkommen, die mit anderen Priestern, Propheten, Visionären und/oder Denkern im damaligen Israel diese und andere Ansätze weiterentwickelten und später das erreichten, was du zurückblickend Monotheismus nennst, stützten sich nicht auf das seinerzeit Ägyptische und hatten keinen Bezug zu den naturgebundenen Gottesvorstellungen Ägyptens, in denen ja auch der echnatonsche Sonnengotteskult noch verwurzelt gewesen war.

    Beim Heidenchristentum handelt es sich hingegen um ein usurpatorisches Aufbaumodell, das eher an die römische Übernahme griechischer Traditionen erinnert, wobei selbst diese nicht so weit ging wie es das Heidenchristentum mit seiner Substitutionslehre wagte. Damit war das Heidenchristentum zunächst ein m. E. ganz neues und einzigartiges Phänomen. Später jedoch reproduzierte sich das usurpatorische Aufbaumodell im entstehenden Islam: Das islamische Äquivalent zum christlichen Vorwurf des Gottesmordes ist der Vorwurf, dass Israel die heilige Schrift gefälscht hätte. Beides ist ein Abwehrmechanismus nicht nur gegen Israel, dessen bloßes Dasein das eigene Rechtsgefühl unterminiert, sondern vor allem auch gegen das mit einer so direkten Usurpation einhergehende Unbehagen in einem selbst.

  18. @ Yoav: Ja 🙂

    Lieber Yoav,

    Du schriebst: Die israelische Gottheit war auch vor dem Heidenchristentum schon universalisiert – und wie ich behaupte, sogar seit Jesaja I. (das ist allerdings ein Thema für sich, zu dem ich hier noch etwas veröffentlichen will). Jedoch war die israelische Gottheit nur im geographischen Sinne mit dem Attribut des Universalen versehen – nicht im ethnischen Sinne. Jahwe wurde zu einer Gottheit, die über alle Völker herrscht, aber nicht zu einer, die allen Völkern zugänglich ist (in diesem Punkt hat sich im Judentum bis zum heutigen Tage kaum etwas geändert).

    Ja, genau deswegen schrieb ich von einer Universalierung des “Kultes”, nicht Gottes. Der war auch m.E. schon lange vorher in universalen Kontexten gedacht und gepredigt worden (mich würde in der Tat interessieren, wann Du die Anfänge davon siehst). Da sind wir wohl einer Meinung.

    Knohls Buch – auf Hebräisch heißt es “Wo wir herkamen” – würde ich dir empfehlen, nur könntest du mit solch einer Empfehlung leider nicht viel anfangen, weil es noch nicht in übersetzter Form vorliegt. Assmann hilft mir zurzeit (als dem von Knohl vorgesehenen Übersetzer) für das Buch einen Verlag zu gewinnen, aber das wird noch lange dauern, weil z. B. auch die Mittel noch beantragt werden müssen etc.

    Klingt sehr interessant! Einen Leser habt Ihr schon sicher! 🙂

    Ihre Nachkommen, die mit anderen Priestern, Propheten, Visionären und/oder Denkern im damaligen Israel diese und andere Ansätze weiterentwickelten und später das erreichten, was du zurückblickend Monotheismus nennst, stützten sich nicht auf das seinerzeit Ägyptische und hatten keinen Bezug zu den naturgebundenen Gottesvorstellungen Ägyptens, in denen ja auch der echnatonsche Sonnengotteskult noch verwurzelt gewesen war.

    Ja, sehe ich auch so. Anregungen mögen aus Ägypten, Babylon etc. eingeflossen sein, die Bearbeitung und Entwicklung erfolgte eigenständig. Und es ist natürlich jede Religionsgeschichte einzigartig, wie auch jede Biografie. Ich halte zur Erklärung der spezifisch monotheistischen Entwicklung in Israel Assmanns Buch “Religion und kulturelles Gedächtnis” für hervorragend, zumal es in geradezu unheimlicher Weise mit der “Linkeschen These” korreliert. (Der Hirnforscher Detlef Linke formulierte genau die Mechanismen der Schriftverarbeitung, die Assmann in seinem Buch herausarbeitet. Mal schauen, was zukünftige Forschung dazu erbringt.)

    Damit war das Heidenchristentum zunächst ein m. E. ganz neues und einzigartiges Phänomen.

    Die u.a. auf die weite Verbreitung der griechischen und also vokalisierten Septuaginta zurück ging. Auch das passt wunderbar zu Linkes These. Habe schon lange vor, dazu mal einen Beitrag zu machen…

    Später jedoch reproduzierte sich das usurpatorische Aufbaumodell im entstehenden Islam: Das islamische Äquivalent zum christlichen Vorwurf des Gottesmordes ist der Vorwurf, dass Israel die heilige Schrift gefälscht hätte. Beides ist ein Abwehrmechanismus nicht nur gegen Israel, dessen bloßes Dasein das eigene Rechtsgefühl unterminiert, sondern vor allem auch gegen das mit einer so direkten Usurpation einhergehende Unbehagen in einem selbst.

    Der Vorwurf der Schriftfälschung in islamischen Traditionen trifft aber Christen und andere Religionen ganz genau so und hebt die jüdische Gottesbeziehung nicht auf – alle vorhergehenden, monotheistischen Religionen gelten gleichermaßen als Völker von Gott geoffenbarter Schriften. Und bei Sikhs und Bahai werden die exklusiven Bezüge auf das Juden- und auch Christentum dann noch schwächer.

    Danke für diesen Blogpost, das war wirklich interessant!

  19. @ Michael

    Zwei Anmerkungen:

    Der Vorwurf der Schriftfälschung in islamischen Traditionen trifft aber Christen und andere Religionen ganz genau so

    Was die Christen angeht, ja bzw. fast; schließlich bezieht sich das usurpatorische Moment bei Mohammed bzw. im Islam auch auf das ihm vorausgehende Christentum (wobei zu bedenken ist, dass Mohammed nicht überraschenderweise ad fontes ging und den dortigen Juden Anerkennung abverlangte, deren Ausbleiben er mit dem psychologischen Schutzmechanismus des Schwertes zu vergelten wusste).

    Was “andere Religionen” angeht, so trifft deine Aussage m. E. nicht zu. Zwar wurden östliche Religionen wie etwa der Zoroastrismus oder der Hinduismus im Laufe der Expansion quasi rückwirkend ebenfalls als “Leute der Schrift” anerkannt, doch die eigentliche, bei Mohammed stattgefundene Usurpation, welcher (neben anderen Aggressionen) der Vorwurf der Schriftfälschung entsprang, galt den Juden und den Christen.

    und hebt die jüdische Gottesbeziehung nicht auf

    Das trifft m. E. nicht ganz zu. Siehe z. B. die islamische Verzerrung der usurpierten Mythologie Israels dahin gehend, dass bei den Sunniten plötzlich nicht mehr der im biblischen Auswahlverfahren erkorene Isaak, sondern gerade die Nebenfigur Ismaels, die man nunmehr für sich beansprucht, auf die man sich zurückführt und mit der man sich identifiziert (vgl. Beschneidung im Alter von 13 Jahren), von Abraham geopfert werden soll (was bei Id Al-Adcha, dem Opfer- bzw. “Großen Fest”, gefeiert wird).

    Ohne die Erzählung selber zu bewerten, ist es klar, dass sie zumindest aus sunnitisch-islamischer Sicht positiv bewertet wird. Die Mythologie Israels wird also nicht nur usurpiert, sondern auch missbraucht, um in zynischer Weise gerade die israelitische Linie auszugrenzen und dadurch die (angeblich) eigene Stellung zu verbessern. Solcherlei klingt für unsere heutige, abendländische Ohren zwar extrem unwichtig, aber hierbei geht es ja nicht um unsere eigene Geisteshaltung. Im Nachhinein wird Ismael bekanntermaßen auch im Christentum und sogar im Judentum selbst als Erzvater der Araber interpretiert und mit dem Islam identifiziert (demzufolge starb der bis dahin noch unter Juden verbreitete Name “Ismael” aus).

    Und übigens, was kann im Islam schon eine “Gottesbeziehung” wert sein, die gerade in islamischen Augen auf der Fälschung von Gottes Wort beruht? Offensichtlich nicht viel, sondern wären wir nicht als “Affen und Schweine” (s. im Koran, Sure 5, v.59-69) bezeichnet.

  20. @ Yoav

    Nur zwei Anmerkungen zu Deinen beiden Anmerkungen:

    Es ist sehr interessant, dass im Koran der Sohn in der Abrahams-Opfer-Geschichte gerade nicht benannt wird und die frühislamische Tradition noch von Isaak ausging. Erst später setzte sich die Ismael-Deutung an dieser Stelle durch.

    Dass Ismael als Reaktion auf den Aufstieg des Islam als jüdischer Name seltener wurde ist ein gutes Beispiel dafür, dass Ab- und Ausgrenzung immer auch beidseitige Prozesse sind (so gehören zur Geschichte des Frühchristentums natürlich auch Ausschluss und Gewalt durch die sich bedroht fühlende Mehrheit in den Synagogen). Und die Bedeutung z.B. von Rabbi Ishmael ist ja u.a. in der Mischna dokumentiert, erst später grenzte man sich auch in der Namensgebung ab.

    Und ja, sowohl unfreundliche wie freundliche Stimmen im Bezug auf das Judentum finden sich sowohl im Neuen Testament wie im Koran. Scharfmacher aller Seiten versteifen sich natürlich stets auf die feindseligen Texte, um zu belegen, dass “mit den anderen” ohnehin kein Frieden möglich sei, während Menschen, die nach Dialog und Frieden streben, die freundlichen betonen. Erfreulicherweise bilden die Scharfmacher je innerhalb ihrer religiösen Traditionen meist Minderheiten, die jedoch leider bisweilen per Lautstärke oder Gewalt die Agenda bestimmen.

    Schade übrigens, dass Du auf den Monotheismus von Sikhs und Bahai gar nicht eingegangen bist, die ja wiederum ganz eigene Formen der “Usurpation” und Identitätserzählung entwickelt haben. Daran kann man m.E. sehen, dass immer die vorhergehende(n) Religionen eine besondere Rolle spielen, dies also kein Spezifikum des jüdisch-christlichen Verhältnisses ist. Für eine historische Betrachtung der Entwicklung von Gottesbeziehungen und Kultformen sind diese Weltreligionen also m.E. ebenfalls zu beachten.

    Beste Grüße!

  21. Michael hat recht, in der früh-islamischen Exegese ist es noch nicht so klar, ob Ismael der Sohn war oder doch Isaak. Der Mainstream geht zwar heute von Ismael aus, aber streng wissenschaftlich gesehen, ist das nicht so klar.

    Was die Schriftverfälschung betrifft: Nun das ist kein einfaches Feld, zumal es verschiedene Meinungen gibt, was mit Verfälschung gemeint ist. Veränderung des Wortlautes, Verfälschung der Interpretation usw.

    Verfälschung kann auch (wenn man es eher im deskriptiven Sinne meint und nicht pejorativ), einfach nur Veränderung oder Kodifizierung heißen. Ich kann mir gut vorstellen, das dieser Tatsache später der moralische Vorwurf hinzugekommen ist, der von einer “ursprünglichen” Fassung eines Textes ausgeht, der dann verfälscht(!) wurde.

    Viele Religionen grenzen sich von anderen ab, wenn sie in ihrer Konstitutionsphase sind. Das dient der Identitätsbildung. Daher auch Polemiken gegen Christen und Juden. Der Unterschied zum Christentum ist, das die ersten Muslime keine Juden waren. Der Islam ist sogesehen keine Entkopplung/Weiterentwicklung aus dem Judentum und hat daher keine theologische Feindschaft gegenüber Juden gepflegt.

  22. @ Serdar

    1. In diesem Punkt – dass die Hineininterpretierung Ismaels erst später hinzukam – waren Michael und ich uns (ausnahmsweise) einig…

    2. Der einzige Grund, weshalb der Vorwurf der Schriftfälschung (in welcher Bedeutung auch immer) bzw. die *Vorstellung* hiervon überhaupt entstand, ist die Usurpation jüdischer Traditionen, die dem Islam zugrunde liegt. Ohne diesen Hintergrund wäre es auf islamischer Seite nicht zur apologetischen Not gekommen, aus der die Vorstellung von einer jüdischen Schriftfälschung hervorging. Um ein kontrafaktisches Beispiel zu nennen: Hätte der frühe Islam nicht die jüdische Mythologie – samt der Figuren Abrahams, Isaaks und Ismaels – übernommen, so wäre weder die Möglichkeit vorhanden gewesen noch der Bedarf entstanden, Isaak zu verwerfen und durch Ismael zu ersetzen, dessen Bild als Wüstenbewohner der zunächst rein arabische Islam identitätsstiftend ebenfalls übernahm.

    3. Wenn man bedenkt, wie wichtig die Tradition ist, die die Sunniten auf den usurpierten Ismael beziehen, und wie positiv sie bewertet wird (man denke an Id al-Adcha!), dann wird m. E. offensichtlich, warum die Verwerfung Isaaks einen doch sehr feindlichen Charakter hat(te), und zwar gerade im sunnitisch-islamischen Kontekt.

    4. Das usurpative Moment im Islam gegenüber dem Judentum ist keine einmalige Erscheinung, sondern wiederholt sich auch später, etwa in Bezug auf Jerusalem: Wäre sie für das jüdische Volk (und demzufolge auch für die christlichen Religionen) nicht so bedeutungsvoll, so wäre es auf islamischer Seite nicht zur Usurpation der Stadt im Allgemeinen und des Tempelberges im Besonderen gekommen (ob als die anfängliche Gebetsrichtung bei Mohammed, als die vermeintliche “Al-Aqsa” unter Umar bin al-Chattab, als vermeintliche Raststätte des Buraq, als Bauort des Felsendomes unter den Umayyaden etc.). Eben in diesem Moment bekundet sich am deutlichsten die Feindschaft.

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