Die Schichtung der Geschichte

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Im letzten Beitrag habe ich erklärt, warum die Vergangenheit, die in der Theorie das ist, was war, in der Praxis nur eine Vorstellung davon ist, was war. Darum ist die uns als Menschen, also dem menschlichen Geist irgendwie erreichbare Vergangenheit nichts Objektives, sondern etwas durchaus Subjektives: das Ergebnis menschlicher Wahrnehmung.

Damit rückt der Begriff von »Vergangenheit« ganz in die Nähe desjenigen von »Geschichte«, die ja ebenfalls Wahrnehmung und Darstellung von Vergangenem ist, seine Beschreibung und Deutung. Wie verhalten sich also die beiden zueinander, wenn keine absolute Trennung möglich ist?

Nicht umsonst betone ich immer wieder, wie sehr alles, was mit dem historischen Fach zu tun hat, relativ ist. Auch die Differenzierung zwischen Geschichte und Vergangenheit ist eine relative, die von der jeweiligen Perspektive der historischen Betrachtung abhängt, also davon, wie der Autor eines Textes seine Frage stellt und sein Thema definiert. Denn in jedem geschichtswissenschaftlichen Text gibt es im Prinzip zwei Schichten:

Die eine – sagen wir mal: untere – Schicht ist das, was der Autor bzw. Historiker für gemeinhin gültig hält und deswegen nicht selber erforscht oder infrage stellt. Das können die Ergebnisse anderer Forscher sein (dann kommen die Fußnoten und Verweise zur Geltung), aber auch allgemeine Konventionen, z. B. dass der Zweite Weltkrieg am 1.9.1939 begonnen hat. All das ist die Grundlage für seine eigene Arbeit, also nichts, was er selbst interpretiert und analysiert. Diese Grundlage ist hier die »Vergangenheit«, also das, was in seinem Text als das gilt, »was war«.

Die andere, sozusagen obere Schicht ist seine eigene These, seine Arbeit, die zu neuen Erkenntnissen führt. Diese ist die »Geschichte«, die er selbst schreibt. Wie bereits im ersten Beitrag erklärt, bezieht sich eine Geschichte auf die Vergangenheit (weshalb sie nicht mit ihr identisch sein kann) und baut auf ihr auf, hier also auf der unteren Schicht, welche der Historiker in der oberen Schicht, seiner Geschichte, verarbeitet. Hierin kommt das zur Geltung, was er der Welt zu bieten hat: seine Analyse, seine Darstellung und Erklärungen, seine Sinngebung.

Wenn ich also im ersten Beitrag sage, dass Geschichte eine Verarbeitung, eine Darstellung des Vergangenen durch den Historiker ist, bedeutet das, dass der Historiker eine Vergangenheit verarbeitet, die er nicht selbst formuliert hat; diese Informationen gelten im Rahmen seiner Arbeit als wahr, weil sie bei anderen Historikern Anerkennung finden. Es bedeutet aber nicht, dass diese Informationen, also die von ihm als Grundlage herangezogene Vergangenheit selbst irgendwie objektiv wäre; das ist sie nicht, sondern selbst verarbeitet, das Produkt menschlicher Wahrnehmung, Darstellung und Deutung.

Wenn der Historiker in diesem Beispiel auf vorhandenem »Wissen« aufbaut, stützt er also seine These auf tradierte Wahrnehmungen. In unserem Beispiel lässt er sie gelten, aber das muss nicht sein: Er kann den thematischen Fokus auch etwas verschieben und das, was zuvor die Grundlage für seine eigene Arbeit war, nunmehr in Frage stellen. Für die neue Fragestellung, also in dem neuen Text, wird dann die untere Schicht zur oberen. Was zuvor die Funktion von »Vergangenheit« erfüllte, ist jetzt »Geschichte«.

Diese Relativität zwischen Geschichte und Vergangenheit kann sich natürlich auch andersrum ausdrücken: Wenn die neue These unseres Historikers von vielen anderen als schlüssig, wohlfundiert und richtig angenommen wird, gilt sie dann als »Grundlagenwerk« für das jeweilige Thema. Dann können künftige Historiker auf seiner Arbeit aufbauen. Was bei ihm »Geschichte« war, wird bei den Nachfolgern Teil einer allgemein gültigen »Vergangenheit«.

Wir haben hier also mit einer wechselseitigen Beziehung zu tun: Jede Geschichte, jede Deutung von Vergangenem, enthält eine Schicht, die der Historiker nicht bezweifelt, obwohl er sie bezweifeln könnte; diese Schicht lässt er als die Vergangenheit gelten, auf der er seine eigene, neue Geschichte basiert. Somit enthält jede Geschichte eine Schicht von Vergangenheit. Aber auch diese Vergangenheit ist ja das Ergebnis von Darstellung und Deutung; sobald man die Fragestellung bzw. die Perspektive auf dasselbe Thema ein bisschen ändert, ist diese Vergangenheit wiederum selbst Geschichte.

Geschichte besteht also aus vielen Schichten von Wahrnehmung, Analyse und Deutung; Geschichte ist immer geschichtet. Welche Schicht jeweils als Ausgangs- und Anschlusspunkt für die eigene Arbeit gelten soll, bleibt stets dem einzelnen Historiker überlassen und hängt immer von der jeweiligen Fragestellung bzw. vom eigenen Interesse ab. Es kommt also darauf an, wie er seine Fragen formulieren und was er dabei als die Grundlage heranziehen will, auf der er seine eigene These aufbauen kann.

Jedes neue, kühne Argument eines Historikers, jede dem Publikum vorgelegte Geschichte ist eine weitere Schicht, die auf einer anderen aufbaut, einer scheinbar einfacheren bzw. unumstrittenen Schicht. Diese letztere Schicht ist aber ebenfalls eine Erzählung, die sich ihrerseits auf eine weitere Schicht reduzieren ließe, die man wiederum auch hinterfragen könnte. So weit geht man aber meistens nicht, weil man nicht alles historische Wissen, nicht alle Schichten binnen eines einzigen Menschenlebens bezweifeln kann. Aber auch das neue und kühne Argument, mit dem das Ganze angefangen hat, kann sich Bahn brechen und späteren Historikern als eine (scheinbar) solide Grundlage dienen. Dann wird das vormals umstrittene Argument zur neuen Schicht, auf der neue Fragen gestellt und neue Geschichten konstruiert werden.

Diese unaufhörliche Entwicklung lässt sich mit der Geschichte der Geschichtsschreibung wunderbar veranschaulichen: Als Ranke über die Reformationszeit in Deutschland geschrieben hat, schrieb er nicht, wie behauptet, wie es »eigentlich gewesen« sei, sondern seine Deutung davon. In seiner Arbeit fungierte die Reformationszeit als die Vergangenheit, aus der er seine Geschichte webte; die Quellen aus der Reformationszeit galten in diesem Zusammenhang als »Primärquellen«, wie es im Fachjargon heißt. Befasst sich nun ein gegenwärtiger Historiker ebenfalls mit der Reformationszeit, so gilt ihm die von Ranke geschriebene Geschichte als »Sekundärquelle«. Sollte er sich aber nicht für die Reformationszeit selbst, sondern für vergangene Historiker (etwa Ranke) und ihre Geschichtsbegriffe interessieren, so werden Rankes Texte wiederum zu »Primärquellen«. Auch Geschichte wird also im unaufhörlichen Gang der Zeit zur Vergangenheit. Die Darstellung einer früheren Zeit wird selbst zur Quelle über ihre eigene Zeit (die Entstehungszeit der Darstellung) und zu dem Material, aus dem neue Darstellungen konstruiert werden. So ist sie eben, die Schichtung der Geschichte.

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

2 Kommentare

  1. Yoav macht Überstunden und quält sich mit der Epostomologie (Erkenntnistheorie) der Geschichtswissenschaft….

    Hier nochmal die knackige Grundlage von der Wissenschaft der Geschichte:

    Unter Geschichte versteht man im Allgemeinen diejenigen Aspekte der Vergangenheit, die vom Menschen erinnert und gedeutet werden, um sich über den Charakter zeitlichen Wandels und dessen Auswirkungen auf die eigene Gegenwart und Zukunft zu orientieren….

    Und weil ich die praktische Vernunft der rationalen Philosophie eines Kant, Hegel, Popper, Schopenhauers, Adorno etc. p.p. so schätze…. hier noch ein jüdischer Witz für Yoav:

    Im Zug treffen sich ein Rabbi und ein SA-Strumtruppenführer. Meint der
    SA-Mann:”Man Jud, kannst Du mir sagen warum wir den Krieg verloren haben???”
    Rabbi :”Ja, wegen der jüdischen Generäle.”
    SA-Mann:”Aber wir hatten keine Juden als Generäle das hätt’s bei uns nie gegeben.”
    Rabbi: “Aber die anderen hatten welche…!”

    So und nun ab in die Horizontale…. 🙂

    Gut’s Nächtle…

    S. Happ

  2. Das Mittelalter als “Zeit der Dunkelheit” ist so eine Ausgeburt eines vergangenen Geschichtsbilds, ein Geschichtsbild, welches zeigt, wie Geschichtsbilder selbst zu Geschichtsquellen werden, denn inzwischen haben sich viele Historiker nicht nur mit dem Mittelalter sondern auch mit dem Bild, das die Leute vom Mittelalter haben, beschäftigt. Entstanden ist das Bild vom finsteren Mittelalter wohl in der Renaissance, später wurde diese Einschätzung von der Aufklärung übernommen. Dazu gehört folgende Vorstellung (Zitat Wikipedia): ” In der Renaissance prägten Humanisten den Topos vom „dunklen“ oder „finsteren Mittelalter“, das ihrer eigenen, nun „erleuchteten Zeit“ voranging “

    Die Bezeichnung “Dunkle Jahrhunderte” für die Zeit des Mittelalter bedeutet aber auch noch etwas anderes. Nämlich den Mangel an Quellen (Texten, Artefakten) aus dieser Zeit.

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