Dream Wars (oder: Notizen über das Nationale im 21. Jahrhundert)

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Das neue Konstrukt "Europa" ist notwendig, damit Deutsche ihr Geld über Brüssel nach Polen fließen lassen. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein anderes Konstrukt, nämlich der Nationalstaat "Deutschland", damit etwa Bayern (nach heutigen Verhältnissen) bereitwillig bleibt, seine Errungenschaften an einen gewissen "Bund" abzugeben, über den sie nach Brüssel oder Brandenburg gehen. Warum ist das so?

Tragfähige Solidarität – wie diese etwa in den USA eigentlich kaum vorhanden ist – bedarf also nicht nur des Vorhandenseins einer bloßen "Gesellschaft", sondern einer gewollten Nation (in unserem Zeitalter noch die höchste Stufe menschlichen Zusammenlebens), aber nicht im Sinne einer vom Staat deduzierten Bürgerschaft, sondern im Sinne eines staatstragenden Volkes, wie dieses etwa in der Präambel des Grundgesetzes als Subjekt postuliert wird.

Das deutsche Volk als Subjekt, die zweite Republik als Objekt?

Ja: Wäre man 1949 nicht vom Volk, sondern vom Staat ausgegangen, so wäre die scheinbar "inner"-deutsche, tatsächlich aber staatsgrenzenüberschreitende Problematik zwischen der BRD und der DDR gar nicht zustande gekommen – genau so wie sie sich zur damaligen Zeit durch das neu-österreichische Bekenntnis zur "Staatsnation" im Verhältnis zwischen Österreich und Restdeutschland, d.h. den zwei anderen Nachfolgestaaten der ersten Republik bzw. des Deutschen Reiches, erledigte (im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit, wo in Österreich die Volkszugehörigkeit den Vorrang vor der – 1918 von außen oktroyierten – Staatszugehörigkeit hatte).

Selbstverständlich können die einheimischen Staatsbürger der Zweiten Republik Österreich nach wie vor die in der bundesrepublikanischen Gesetzgebung aufgestellten Kriterien deutscher Volkszugehörigkeit (vgl. Bundesvertriebengesetz §6 Abs. 1) ohne weiteres erfüllen. Dass die Grenze zwischen Bayern und Österreich nicht mehr problematisiert wird, geht vor allem darauf zurück, dass die österreichische Staatsräson nicht mehr von einem staatstragenden Volk ausgeht, sondern von einem Staat, der wiederum eine Staatsnation begründet.

Würde man dasselbe Prinzip auf die Bundesrepublik anwenden und nicht mehr vom "deutschen Volk" ausgehen, so würde sich dieses Konstrukt zumindest teilweise, angefangen im noch eigenständig gesinnten Süden, auflösen. Denn sobald sie kein deutsches Volk mehr imaginieren, haben die Altbayern natürlich genauso wenig Grund wie die Österreicher, Solidarität mit Brandenburg zu zeigen. Wer also – im Gegensatz zu Österreich nach dem Trauma des II. Weltkrieges – den Partikularismus nicht bevorzugt, sondern einen Zusammenschluß anstrebt, muss dieser – im Gegensatz zum negativen Narrativ des heutigen Österreich ("Nicht-Deutschland") – mit einem positiven Narrativ begründen ("deutsches Volk").

Der dem Individualismus entgegenwirkende Zusammenhalt, mit dem eine Gesellschaft zusammengeführt wird und sich zur Gemeinschaft weiterentwickelt, basiert also auf dem gemeinsamen, freiwilligen Bekenntnis zu einem bestimmten Narrativ, das seiner Zielgruppe positive Identifikationspunkte, sprich: bessere, weil tiefer eingehende Träume bieten kann als bloßer "Verfassungspatriotismus" o. Ä. (da bräuchte München ja kein Berlin und dieses wiederum kein Brüssel).

Zwar muss das Narrativ zunächst Fremde ausschließen, aber nicht weil sie für minderwertig gehalten würden, sondern um die relative Besonderheit der zusammenzuhaltenden Gruppe nahezuliegen.

Das gemeinsame Narrativ erzeugt mithin eine Schicksalsgemeinschaft, die er zusammenhält. Diese ermöglicht wiederum, ob innerhalb "Deutschlands" oder "Europas", gegenseitige Solidarität und andauernde Zugeständnisse, die der gesunde Menschenverstand ausschließen würde (da könnten sich die Brandenburger ja um sich selbst kümmern und die Polen sowieso).

Dass die Narrativgemeinschaft nicht mit einer Abstammungsgemeinschaft identisch ist, zeigt sich beispielhaft am kleinsten Bestandteil der Narrativgemeinschaft. Während die Gesellschaft sich aus Individuen zusammensetzt, die ihrem eigenen Wohl sinngemäß den Vorzug einräumen, ist das Volk auf Familien angewiesen. Die Familie gründen aber Menschen, die ihren Stammbaum bestenfalls nicht teilen; dafür bekennen sie sich (ob explizit oder implizit) zu einem gemeinsamen Narrativ, welches mächtig genug ist, um über den Augenblick hinauszugehen, den Zusammenhalt der (Mikro-)gruppe zu sichern und sie als solche zu bewahren – zwar durch Abgrenzung von anderen (Mikro-)gruppen und Begünstigung gruppeneigener Mitglieder, aber nicht aufgrund negativer Bewertung anderer (Mikro-)gruppen.

Zuwanderung als eine Form des Austausches ist ist in diesem Zusammenhang nach wie vor sehr wichtig – und das Narrativ muss seinerseits durchlässig genug sein, um sie verkraften, einverleiben und somit bereichert werden zu können. Allerdings darf man dabei Elastizität mit Auflösbarkeit nicht verwechseln, sodass die Bewahrung des Gleichgewichts bzw. die Beachtung der Verhältnismäßigkeit hier am Platze ist. Denn im Endeffekt ist es eine Frage des Vertrauens: Eine Familie, in der Gruppefremde (Arbeitgeber, Kunden, Nachbarn, Freunde, Liebhaber etc.) in zu großem Ausmaß in den Genuss von eigentlich den Gruppeneigenen vorbehaltenen Privilegien (Zeit, Zuwendung, Fürsorge etc.) kommen, unterminiert mit der Zeit das gegenseitige Grundvertrauen unter den Gruppeneigenen und verliert schließlich die narrative Basis ihres Zusammenhalts. Wie auf der Mikroebene, so auch auf der Makroebene: Wenn man zu viele Zuwanderer hereinlässt (und ich bin gewissermaßen ja selber einer), die sich nicht zum Narrativ, also etwa zum "deutschen Volk" bekennen (und oft freilich wenig Grund dafür haben), geht man allmählich das sehr reale Risiko ein, dass sich das zusammenhaltende Narrativ langsam auflöst – und damit auch jene gedankliche Substanz, auf der etwa das Grundgesetz der Bundesrepublik beruht.

Zu welchem "Schicksal" bzw. Narrativ man sich bekennt, muss jeder für sich selbst entscheiden (die Konstrukte "Deutschland" und "Europa" bilden hier ja lediglich Beispiele) – nicht zuletzt im Hinblick auf vorhandene Paradigmen. Allerdings hat man keine wirkliche Möglichkeit, die Frage an sich zu leugnen. Wo keine Gemeinschaft entstehen kann bzw. wo diese von innen unterminiert wird, erfolgt früher oder später notwendigerweise der Rückfall in eine zwar rational aufgefasste, aber letzten Endes solidaritätslose Gesellschaft.

Die Geistesgeschichte, die unsere Lebensumstände mindestens genauso einflussreich gestaltet wie die physisch vorhandene Umwelt, kennt kein Vakuum. Eine traumlose Welt gibt es nicht. Die Frage, die sich uns notwendigerweise stellt, lautet daher nur: Wovon wollen wir träumen?

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

6 Kommentare

  1. Deutschland, ein Kindermärchen

    Ich würde mich niemals als Deutschen bezeichnen, sondern immer als Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Und das, obwohl ich hier geboren bin. Wobei, abgesehen von der realsozialistischen Konnotation, wäre für mich Deutsche Demokratische Republik der treffendere Titel, denn Republik heisst ja nur, öffentliche Angelegenheit, Sache des Volkes,
    Demokratie dagegen Volksherrschaft. Für mich ist ganz klar die Verfassung die Klammer, wer sich zu ihr “bekennt”, der möge meinetwegen Bürger der Bundesrepublik werden. Der damit verbundene Traum wäre der einer Verfassung, die nicht immer weiter ausgehöhlt sondern im Sinne der Menschlichkeit und Gerechtigkeit weiter ausgebaut würde.
    Und genial wäre natürlich die Erfüllung des Traumes einer funktionierenden Demokratie ohne Parteien.

  2. Einbürgerungstest

    Ich persönlich halte ja einen Einbürgerungstest für eine sehr sinnvolle Einrichtung. Allerdings würde ich nicht die Deutschen Mittelgebirge abfragen, sondern den Probanden auf seine Einstellung zur Verfassung prüfen. Darüber hinaus müßten sich eben nicht nur Einwanderer diesem Test unterziehen, sondern auch native Bürger, sobald sie volljährig werden.
    Damit keiner ungeschoren davonkommt, müßten sich natürlich bei Einführung dieses Testes ebenfalls alle Bürger der BRD diesem Test unterziehen. Ob er mit oder ohne Dolmetscher durchgeführt würde, wäre mir eigentlich egal. Er müßte allerdings so gestaltet sein, dass er unabhängig vom Bildungsstand ist, so dass es keine Bildungshürde zur Erringung der Staatsbürgerschaft gäbe. Alsoein mehr praktischer Test zur Verfasungsfähigkeit.

  3. Verfassung

    Im Beitrag habe ich bereits darauf hingewiesen, dass das Selbstverständnis dieser Bundesrepublik so aussieht, dass nicht die bundesrepublikanische Verfassung um sich eine Bürgerschaft schart, sondern das deutsche Volk sich eine Verfassung gibt. Erst aufgrund dieses Selbstverständnisses kam es nach dem letzten Krieg überhaupt erneut zu einer deutschen Frage.

    Man könnte es auch bildlich beschreiben: Nach dem Selbstverständnis des vorhandenen Deutschland (wenn auch nicht aller bundesrepublikanischen Bürger) ist das Volk das Huhn und der Staat das Ei. In Belgien z. B. ist es umgekehrt: Da müssen nämlich – mal abgesehen von den wenigen Deutschen, die nicht ins Gewicht fallen – zwei Völker über den gemeinsamen Staat zueinander finden, d.h. der belgische Staat ist (solange er noch als solcher bestehen kann) das Huhn und die belgische Staatsnation sein Ei. Nebenbei erzählt: Es soll in Belgien, wie man hie und da hört, doch echte Belgier geben, nämlich die Juden… (den gleichen Witz erzählte man seinerzeit in Cisleithanien; da wurden die Juden als die einzig echten Österreicher erachtet.)

    Allerdings scheint sich seit der Lösung der ausgesprochen national(istisch)en Frage in Deutschland 1989/90 und im Zusammenhang mit dem (teilweise tatsächlich erfolgreichen) “Marsch durch die Institutionen” der 68er ein Ruck weg vom Nationalen im Sinne des staatstragenden Volkes und hin zu einer Staatsnation im Sinne einer vom Staat deduzierten Bürgerschaft abzuzeichnen, wobei ich nicht absehen kann, ob dieser Trend in Zukunft noch so weit ginge, dass die Präambel des Grundgesetzes und/oder die gesetzliche Begriffsbestimmung deutscher “Volkszugehörigkeit” geändert würden.

    Aber stellen wir uns diskussionshalber mal vor, Frankreich und Deutschland hätten vom sachbezogenen Wortlaut her die gleiche Verfassung (sodass auch Frankreich föderalistisch aufgebaut wäre) und würden diese auf Bundesebene sogar weitgehend mit gleicher Gesetzgebung umsetzen:

    Bestünde in diesem hypothetischen Fall deiner Meinung nach noch die Notwendigkeit nach zwei unterschiedlichen Staaten? Oder sollte man dann die 16 deutschen Bundesländer und (sagen wir mal:) die 26 französischen Régions zu einem großen “Belgien” vereinen?

    Wenn es ausschließlich auf die Verfassung ankommt, scheint so etwas der logische Schluss zu sein. Man könnte sogar das passende Narrativ dafür finden und unter Berufung auf Karl den Großen und sein erweitertes Frankenreich von einer “Wiedervereinigung” sprechen… Arme Sachsen!

  4. Belg-Frank-Land

    Eine übergreifende gemeinsame Verbindliche “europäische” Verfassung wäre doch was wunderbares. Ich würde dann aber als Konsequenz keine Ausweitung der “Nationen” bzw. Zusammenfassung der Staatterritorien vorschlagen, sondern genau das Gegenteil. Demokratische Republik Ruhr, Demokratische Republik Bayern, Demokratische Republik Liege,
    Demokratische Republik Cevennen, etc.. Ich halte jeden Zentralismus für contrproduktiv gemessen an den praktischen Effekten und bin jeglicher Hauptstadtidee grundsätzlich abholt.
    Ich muß Dir bei Deiner Befürchtung leider recht geben, dass sich das Selbstverständnis der meisten Bundesbürger leider überhaupt nicht über die Verfassung identifiziert, sondern durch ein Nationales Gewaber im Sinne von “Wir sind Deutschland. Du bist Deutschland.” Das hat ganz klar die Regierung Kohl 1989/90 verbockt, um eine wirklich demokratische Wiedervereinigung mit der möglichen Option zweier voneinander unhabhängiger Staaten zu Gunsten eines rein kapitalistischen Raubbaus zu verhindern. Schröder hat das dann vertieft, Ebert läßt grüßen. Und so deutschen wir weiter dumpf vor uns hin, mit allen darunter verborgenen latenten Gefahren der sich radikalisierenden Xenophobie.

  5. Ad fontes

    Vertrittst du also die Position, dass Bayern (oder sogar nur Altbayern, falls Franken in diesem Szenario unabhängig würde und das überwiegend katholische Bayrisch-Schwaben ggf. zum bi-konfessionellen Württemberg fände) keine (in finanzieller oder sonstiger Hinsicht) größere Solidarität mit der brandenburgischen Altmark bekunden sollte als etwa mit Ungarn?

    Ich vertrete übrigens nicht unbedingt eine andere Position, sondern möchte mit dieser Frage die Sache gleich auf den Punkt bringen.

  6. @Yoav

    Grundsätzlich ja, allerdings in ganz klarer Devisenfreiheit auf rein naturaler Ebene, wobei folkloristische Darbietungen der gefördeten Region als vollwertige Valuta anerkannt würden.
    Das ganze aber nur unter der Prämisse der absoluten Religionsfreiheit. Ich würde die Religionen in einem derart vereinigtem Europa so frei machen, dass sie einfach ihre Schwingen ausbreiten und wegfliegen würden. Amts- & Schulsprache wäre der jeweilige regionale Dialekt, Lingua Franca wäre Mameloschen, denn das ist ja in allen betroffenen Regionen irgendwann schon mal gesprochen worden.

Schreibe einen Kommentar