Eine Antwort an Rolf Nemitz

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Rolf Nemitz betreibt den Blog »Lacan entziffern« und ist in relevanten Kreisen kein unbekannter Name. Heute hat er in seinem Blog einen Text veröffentlicht zu meiner im vorigen Jahr bei Merve erschienenen Übersetzung von Itzhak Benyaminis »Narzisstischer Universalismus. Eine psychoanalytische Untersuchung der Paulusbriefe mit Freud und Lacan«.

Es ist irgendwie schon interessant zu lesen, wie Nemitz eine Übersetzungsfrage analysiert, mit der wir uns bei der Arbeit beschäftigen mussten. Ausgehend von einer Anmerkung bzw. einer Fußnote, die ich seinerzeit aus nunmehr ersichtlichen Gründen für notwendig hielt, diskutiert er ziemlich kompetent über verschiedene Nomen, mit denen »Begehren« und »Leidenschaft« bei Lacan bzw. Paulus ins und aus dem Hebräischen übersetzt werden können. Da ihm jedoch die für eine solche Diskussion notwendigen Kenntnisse des heutigen Neuhebräischen fehlen, stützt er sich dabei auf zwei beachtenswerte Quellen: Google Translate und ein alt-, also bibelhebräisches Wörterbuch.

Angesichts der Heranziehung solch fachmännischer Quellen könnte hier der Eindruck entstehen, das Buch wäre schon vor Ewigkeiten erschienen, sodass die eigentlichen Kenner der Materie, also etwa der Autor und der Übersetzer selbst, nicht mehr zur Verfügung stünden.

Ebenso wenig darf man vermuten, dass Herr Nemitz keine Kontaktmöglichkeiten zu uns hätte, denn bereits im Vorfeld seines heutigen Blogtextes habe ich aus jenem Kreis Anfragen erhalten, die von ihm mehr oder weniger gut analysierten hebräischen Nomen bereit zu stellen. Der Blogger Nemitz hat aber auch selber Zugang zur Technologie der E-Mail, von welcher er heute prompt nach Veröffentlichung seines Textes Gebrauch gemacht hat, um uns über denselben zu informieren.

Man braucht also wohl kein Psychoanalytiker zu sein, um sich darüber zu wundern, dass Herr Nemitz, dem die Möglichkeiten des Internets nicht völlig unbekannt sind, »Vollgas im Leerlauf« gibt. Einerseits bemüht er sich auf bald mehr, bald weniger einleuchtende Art und Weise darum, ein Problem zu verstehen, das freilich nicht so einfach zu verstehen ist. Andererseits kommt er nicht auf die ziemlich naheliegende Idee, diejenigen zu fragen, die es ihm näher bringen können. Den direkten Kontakt sucht er tatsächlich erst, um uns den Link zu seiner bereits veröffentlichten Analyse zu schicken…
Es scheint, als ginge es Herrn Nemitz nicht gerade darum, sein Wissen zu erweitern oder sein Verständnis zu vertiefen. Da er sich offenbar so sehr beeilt hat, schnell zu veröffentlichen, dass er uns noch nicht um Verständnishilfe bitten konnte, wäre es ja etwas verfrüht, hier sofort und unaufgefordert unsere Erwägungen für und gegen bestimmte Übersetzungsvarianten darzulegen.

Darum möchte ich zum Übersetzungsproblem erst mal nur sagen, dass es auch für uns – Autor, Verlag, Lektor und Übersetzer – keine einfache Entscheidung war. Dies zeigt sich schon darin, dass wir uns für eine entsprechende Anmerkung entschieden haben. Freilich gab und gibt es nicht nur für die von uns gewählte Variante, sondern auch für die Alternativen gute Gründe. Ebenso gibt es verschiedene Gründe nicht nur gegen die Alternativen, sondern auch gegen die von uns gewählte Variante – das geben wir ja vollkommen zu. Außerdem – und das dürfte ebenfalls kein Geheimnis sein – gibt es sehr wenige Übersetzungsprobleme, die eindeutig zu entscheiden sind, also auch sehr wenige Übersetzer, die in solchen Fällen behaupten würden, das hätte man ganz und gar nicht anders entscheiden können.

Wir waren uns indes einig, dass eine kurze Fußnote nicht den passenden Rahmen für eine detaillierte Darlegung bieten kann, und dass diese, wenn überhaupt, in einem gesonderten Text vorgenommen werden müsste.

 

Nachtrag [5.10.2014]:

Herr Nemitz hat gestern seinen Text aktualisiert, auf meine Antwort Bezug genommen und diese folgendermaßen zusammengefasst: “Sapir moniert, dass ich als Lexikon den Google-Translator verwendet habe.”

Auch diese “Zusammenfassung” führt in die Irre (und erscheint mir ebenso geschmacklos wie sein erster Text). Denn wer meine obige Antwort liest, der weiß, dass ich nicht seinen Rückgriff auf Google Translate moniere (das finde ich einfach lustig). Was ich moniere, ist die Tatsache, dass Herr Nemitz sich überhaupt anmaßt, als Allererstes öffentlich zu spekulieren und auch mangels entsprechender Sachkenntnisse anzuprangern, bevor er uns diesbezüglich schreibt (was er zwar gleich nach Veröffentlichung seines Blogtextes tat – aber eben erst danach).

Apropos Sachkenntnisse bzw. Mangel an denselben: Ich verstehe wirklich nicht, was man sich öffentlich alles anmaßt, ohne sich in der relevanten Materie bzw. Sprache auch nur ansatzweise auszukennen. Denn auch in seinem gestrigen Zusatz wiederholt Nemitz seine Spekulation:

Wenn Sapir Lacans désir mit „Leidenschaft“ übersetzt, ergibt sich das nicht zwingend daraus, dass Benyamini hier den Ausdruck תשוקה verwendet. תשוקה hätte auch mit „Begierde“ oder „Begehren“ übersetzt werden können.

Hierzu muss ich nunmehr doch Folgendes feststellen:

1. Würde sich Herr Nemitz mit der Wissenschaft der Übersetzung auskennen, würde er sich nicht nur fragen, wie man das hebräische Wort תשוקה ins Deutsche übersetzen könnte, sondern vor allem auch, wie man dieses Wort in Benyaminis Zusammenhang und Sinngebung ins Deutsche übersetzen sollte. Ebenso müsste Nemitz, der Benyaminis »תשוקה« als Begehren verstehen will, sich fragen, wie das deutsche Wort »Begehren« oder das französische Wort »désir« im Hebräischen ausgedrückt wird – nicht mit »תשוקה«, sondern ganz anders, nämlich mit »איווי«. Letzteres ist Benyamini durchaus bekannt, wird von ihm trotzdem nur selten verwendet. Deshalb würde sich Nemitz – wäre er ein wirklich professioneller Übersetzer – die Frage stellen, warum Benyamini, der das hebräische »Begehren« ja kennt, dieses aber in seinem Originaltext vermeidet, sich stattdessen meistens – und zwar ganz bewusst – für die hebräische »Leidenschaft« entschieden hat. Denn so viel Respekt vor einem Autor, der sich in seiner eigenen Muttersprache schon auskennt, sollte man als Leser – nicht nur als Übersetzer – schon haben, geschweige denn, wenn man als Fremder die Wortwahl des muttersprachlichen Autors hinterfragen, ihn ja sogar “korrigieren” möchte.

2. Im Gegensatz zu Nemitz’ Spekulation haben wir uns im Verlag nicht dafür entschieden, Lacans »désir« mit »Leidenschaft« zu übersetzen, sondern Benyaminis »תשוקה«, was wiederum Benyaminis Verständnis von Lacans »désir« ausdrückt. Überhaupt ist dieses Buch keine Übersetzung von Lacan, sondern von Benyamini und dessen Gedanken, auch wenn es bei Benyaminis Gedanken oft um Lacan geht. Dort also, wo Benyamini über »das lacansche Begehren« spricht, geht es um Benyaminis Auffassung und Analyse von Lacans Gedanken – und nicht um Lacan selbst (desgleichen natürlich in meiner Anmerkung zu Benyaminis Ersetzung des lacanschen Begehrens durch »Leidenschaft«). Insofern ist Nemitz’ Behauptung, dass »Sapir Lacans désir mit „Leidenschaft“ übersetzt«, einfach falsch. Richtig ist, dass ich Benyaminis Begriff von Lacans désir mit »Leidenschaft« übersetze.

 

Nachtrag II [7.10.2014]:

Rolf Nemitz hat seinen Text zum zweiten Mal aktualisiert (und uns auch diesmal per Mail darauf hingewiesen). Ja, man könnte diese inzwischen schon mehrtägige Diskussion noch weiter fortführen, aber ich möchte sie an dieser Stelle abschließen. Es macht mir wenig Spaß, mit einem, der kaum Hebräisch kann, über hebräische Feinheiten zu diskutieren, oder Grundentscheidungen, die bereits vom Autor getroffen und im Original festgelegt worden sind, als Übersetzer zu rechtfertigen.

  • Veröffentlicht in: Ethik

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

20 Kommentare

  1. Du ärgerst Dich hier über sein Vorgehen, was ich nachvollziehen kann. In seiner Aussage muss Herr Nemitz damit aber nicht Unrecht haben.
    Gruß, Kai

    • Ja freilich, er muss ja auch ein Stück Recht haben. Ist bei solchen Grauzonen-Fragen immer so. Und schließlich weisen wir im Buch selber darauf hin… “Der Ton macht die Musik”.

      • Womit (mit welcher Formulierung konkret) soll sich Nemitz im Ton vergriffen haben? Ich habe mir seinen Blogbeitrag durchgelesen und konnte keinen Anstandsverstoß finden und seine Argumentation, dass Benyamini und/oder Sapir ein Übertragungsfehler unterlaufen ist, ist darüberhinaus auch noch schlüssig.

        Dass Nemitz bei einem bereits veröffentlichten Werk (Ihre Übersetzung) direkt in die Öffentlichkeit geht ist, gereicht weder ihm noch Ihnen zur Schande, sondern ist der natürliche Weg, mit einem Fehler in einer Publikation umzugehen.

        • Womit (mit welcher Formulierung konkret) soll sich Nemitz im Ton vergriffen haben?

          Mit dem Ganzen, wie doch schon oben beschrieben. Was Nemitz in seinem Blog nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass er sehr wohl mit uns Kontakt nehmen möchte und dies auch schon getan hat, allerdings nicht, um seine Frage vorzutragen und das Problem zu verstehen, sondern nur, um uns nachträglich über seinen Blogartikel zu benachrichtigen… Das finde ich anmaßend.

          Im Prinzip ist die Sache doch sehr einfach: Herr Nemitz interessiert sich für diese Thematik und hat sich das Buch besorgt, um darüber etwas zu lernen. Als kritischer Leser ist bei ihm naturgemäß die eine oder andere Frage entstanden. So weit, so gut. Will man nun eine Antwort erhalten, so muss man den Sachverständigen (deren Kontaktdaten Nemitz ja offenbar schon herausgefunden hat!) die Frage stellen. Stellt man keine Frage, so will man offenbar auch nicht wirklich verstehen, sondern gleich kritisieren, obwohl einem – wie Herrn Nemitz – dazu sowohl das Hintergrundwissen als auch die grundlegenden Fachkenntnisse fehlen.

          Dass Nemitz bei einem bereits veröffentlichten Werk (Ihre Übersetzung) direkt in die Öffentlichkeit geht ist, gereicht weder ihm noch Ihnen zur Schande, sondern ist der natürliche Weg, mit einem Fehler in einer Publikation umzugehen.

          Darum geht es doch nicht, sondern um die Vorwegnahme unserer Beweggründe und die Unterstellung eines “Fehlers”. Auch eine Frage hätte er in seinem Blog veröffentlichen können, das wäre ja ganz in Ordnung gewesen – was hätte ihn daran gehindert? Stattdessen hat er sich selbst als derjenige dargestellt, der uns auf etwas hinweist, was uns scheinbar unterlaufen wäre – eben ein “Fehler”. Und dann will er uns noch über unsere eigene Sprache belehren – und zwar mithilfe von Google Translate. Dazu kann ich nur sagen: “what the fuck?”

          Es gibt keinen Grund, anderen dieses und jenes zu unterstellen und über ihre Beweggründe zu spekulieren, wenn man sie einfach mal fragen kann, warum sie sich so und nicht anders entschieden haben.

          • Mit dem Ganzen, wie doch schon oben beschrieben.

            Es stellt kein Sichimtonvergreifen dar, wenn jemand in sachlichem Ton – jedenfalls scheint mir Nemitz in sachlichem Ton zu schreiben – wenn also jemand in sachlichem Ton behauptet, dass der Übersetzer oder der Autor des übersetzten Werkes einen handwerklichen Fehler begangen hat.

            Er vergriffe sich selbst dann nicht im Ton, wenn der Fehler gar keiner wäre, etwa wenn Nemitz sich seinerseits irrte. Aber wenn Nemitz sich irrt, muss der, der Nemitz’ Irrtum behauptet, zeigen, was an seinen Ausführungen falsch ist.

            Was Nemitz in seinem Blog nicht erwähnt, ist die Tatsache, die er sehr wohl mit uns Kontakt nehmen möchte und dies auch schon getan hat, allerdings nicht, um seine Frage vorzutragen und das Problem zu verstehen, sondern nur, um uns nachträglich über seinen Blogartikel zu benachrichtigen… Das finde ich anmaßend.

            Wo ist die Anmaßung? Nemitz recherchiert eine Fragestellung und findet einen Fehler. Ihrer Meinung nach ist es keiner. Jetzt veröffentlich er darüber einen Blogartikel und setzt Sie anschließend davon in Kenntnis. Wo ist denn das Problem? So läuft doch das Geschäft.

            Und wenn der Fehler, den Nemitz gefunden haben will, wirklich gar keiner ist:

            1. Warum gönnen Sie ihm denn nicht seinen Irrtum?
            2. Warum schreiben Sie nicht eine Absatz zur Sache anstatt acht zum Drumherum und stellen einfach nur richtig, was bei Nemitz falsch ist.

            Im Prinzip ist die Sache doch sehr einfach: Herr Nemitz interessiert sich für diese Thematik und hat sich das Buch besorgt, um darüber etwas zu lernen.

            Sie sollten nicht von sich auf andere schließen! Wer sich einen Krimi kauft, der macht das doch auch nicht, um etwas über die Polizeiarbeit zu lernen.

            Stellt man keine Frage, so will man offenbar auch nicht wirklich verstehen, sondern gleich kritisieren, obwohl einem – wie Herrn Nemitz – dazu sowohl das Hintergrundwissen als auch die grundlegenden Fachkenntnisse fehlen.

            Dass auch nichtmedizinische Laien dem Arzt Diagnosevorschläge unterbreiten, ist heute gang und gäbe. Daran ist nichts Verwerfliches und nichts Anmaßendes.

          • Jamei, übertreib es doch nicht. Ich brauche dich doch nicht zu überzeugen. In meinen Augen ist es anmaßend, über etwas ein Urteil zu fällen, wovon man offenbar keine Ahnung hat. So einfach ist das für mich – du magst es anders sehen, was ja okay ist.

            Nemitz recherchiert eine Fragestellung und findet einen Fehler

            Ach so? Nemitz kennt sich offenbar weder mit dem Handwerk des Übersetzers noch mit der Quellsprache, aber er “recherchiert”! Schade nur, dass seine “Recherche” ihn nicht dazu gebracht hat, diejenigen zu fragen, die tatsächlich Ahnung haben.

            Also, ich bitte dich… Wenn schon von einem “handwerklichen Fehler” die Rede ist: Hätte man da nicht damit anfangen müssen, zu recherchieren, wie man “Begehren” auf Hebräisch sagt und schreibt (und nicht nur sagen könnte, als Nebenbedeutung von “Leidenschaft”)? Hätte er das gemacht, so hätte er gleich gesehen, dass es dafür ein eigenes, anderes Wort gibt.

            So läuft doch das Geschäft

            …ja, offenbar unter Amateuren, die sich anmaßend als Kenner aufführen.

            1. Warum gönnen Sie ihm denn nicht seinen Irrtum?

            Weil er in dieser Frage von vornherein gar kein Urteilsvermögen besitzt und es sich trotzdem anmaßt. Und weil es sich unter solchen Umständen gehört, erst einmal zu fragen, bevor man andere anprangert, zumal wenn es um eine Sprache geht, die man gar nicht beherrscht.

            2. Warum schreiben Sie nicht eine Absatz zur Sache anstatt acht zum Drumherum und stellen einfach nur richtig, was bei Nemitz falsch ist.

            Hab ich doch schon. Mach ich vielleicht noch ausführlicher in einem separaten Text, aber mal ehrlich – wie viele Leser dieses Blogs könnten unseren verlagsinternen Überlegungen schon folgen?!

            Dass auch nichtmedizinische Laien dem Arzt Diagnosevorschläge unterbreiten, ist heute gang und gäbe. Daran ist nichts Verwerfliches und nichts Anmaßendes.

            Doch, schon, wenn der Laie, der keine Ahnung hat, den Arzt belehren will, wie man einen Laborbefund bewertet.

  2. Interessant, eine öffentliche Übersetzungsdebatte. Ich bin gespannt auf Deine hoffentlich kommenden Erläuterungen zu diesem Problem.
    Die deutsche Übersetzung der Vulgata von Allioli, die ich oft heranziehe (was nicht heißt, wörtlich zu übernehmen), übersetzt die genannten Paulus-Stellen mit “Lust” und “gelüsten”. Es wäre aber hilfreich, wenn Rolf Nemitz noch aufgezeigt hätte, in welcher Hinsicht deine Übersetzung mit “Leidenschaft” die Aussagen oder Theorien Lacans seiner Meinung nach verfälscht oder ihnen Unrecht tut.

    • Nemitz sucht sich da eine Stelle aus, Benyamini zieht aber verschiedene heran, und wie schon im Buch gesagt, ist die deutsche Übersetzung da nicht einheitlich. Denn es wurde und wird viel diskutiert über die Bedeutung “des griechischen Wortes ἐπιθυμήσεις, das neben ›Begierde‹ auch ›Leidenschaft‹ bedeuten kann.” (Zitat aus dem Buch).

      Im Prinzip geht es hier um zwei Fragen (von denen, nebenbei bemerkt, keine direkt mit dem Übersetzer als solchem zu tun hat):

      1. Was bedeutet – zunächst einmal im hebräischen Original Benyaminis, dessen Gedankengänge (und nicht diejenigen Lacans oder des Paulus) in erster Linie zu übermitteln sind – der von ihm bewusst ausgewählte Nomen “Tschuka”? Nemitz’ Rückgriff auf Google Translate etc. kann hier den gesunden Menschenverstand eines Muttersprachlers nicht ersetzen, zumal Benyamini selbst ja noch lebt und weiß, was er mit diesem Nomen meint – nämlich Leidenschaft, nicht Begehren.

      2. Ist der Begriff der Leidenschaft, den Benyamini als einen für Paulus zentralen Begriff darstellt, mehr oder weniger “paulinisch” als das Begehren? Da es ja an Literatur zu Paulus nicht fehlt, brauche ich hier keine Diskussion darüber zu entfachen, wie sehr das Leiden und die Leidenschaft bei Paulus wichtig sind.

      Das hätten wir dem Nemitz auch erklärt, wenn er so nett gewesen wäre, um uns danach zu fragen. Auch ihn hätte eine kurze Frage weniger Mühe gekostet als ein langer Blogtext, nur geht es ihm bei diesem Blog offensichtlich nicht so sehr um die Sache selbst… Also, wie ich schon unten geschrieben habe: Der Ton macht die Musik.

      • Vielen Dank für die Erklärung. Nemitz witterte hier womöglich einen leichten Sieg und ist selbst aufs Glatteis geraten.

      • 1. Was bedeutet – zunächst einmal im hebräischen Original Benyaminis, […] “Tschuka”? […] zumal Benyamini selbst ja noch lebt und weiß, was er mit diesem Nomen meint – nämlich Leidenschaft, nicht Begehren.

        Dann liegt doch der Übertragungsfehler (aus dem griechischen bzw. dem französischen Original) bei Benyamini und nicht bei Ihnen.

        Auch ihn hätte eine kurze Frage weniger Mühe gekostet als ein langer Blogtext, nur geht es ihm bei diesem Blog offensichtlich nicht so sehr um die Sache selbst

        Warum äußern Sie sich – verhalten, aber immerhin doch nun schon auch – zur Sache (der richtigen Übertragung zwischen den Sprachen), wenn es Nemitz darum “nicht so sehr” geht? Wenn ich weiß, dass mich einer ablenken und mir die Geldbörse aus der Jackentasche ziehen will, dann beantworte ich doch seine Frage nach der Uhrzeit erst gar nicht – ich mache um den einen großen Bogen.

        • Dann liegt doch der Übertragungsfehler (aus dem griechischen bzw. dem französischen Original) bei Benyamini und nicht bei Ihnen.

          Es ist zunächst einfach eine Abweichung von einer Konvention. Wenn dies auf eine bewusste Entscheidung zurückgeht, wie ja schon im hebräischen Original, dann ist es kein “Übertragungsfehler” mehr, sondern allenfalls eine Entscheidung, die man nicht nachvollziehbar findet.

          Warum äußern Sie sich – verhalten, aber immerhin doch nun schon auch – zur Sache (der richtigen Übertragung zwischen den Sprachen), wenn es Nemitz darum “nicht so sehr” geht?

          Weil die Frage an sich – ungeachtet des inkorrekten Benehmens – ja sehr berechtigt ist und schon von uns im Buch angesprochen wird.

          • Wenn dies auf eine bewusste Entscheidung zurückgeht, wie ja schon im hebräischen Original, dann ist es kein “Übertragungsfehler” mehr, sondern allenfalls eine Entscheidung, die man nicht nachvollziehbar findet.

            Ein Fehler bleibt natürlich ein Fehler auch dann, wenn er bewusst gemacht wird. Aber wo genau liegt denn das Problem, die zwei oder drei Sätze Benyaminis des hebräischen Originals in Ihren Artikel einzuarbeiten, so dass die bewusste Wortwahl des Autors ersichtlich wird?

          • Ist doch schon geschehen!

            Benyamini erklärt in seinem Buch seine Entscheidung, das “Begehren” durch die “Leidenschaft” zu ersetzen. Ich habe dem noch hinzugefügt, dass seine (bewusste) Abweichung vom konventionellen Sprachgebrauch über Lacan auch in meiner deutschen Übersetzung (von Benyamini – nicht von Lacan!) wiederholt wurde. Ich zitiere aus dem Buch (zuerst spricht Benyamini selbst, dann kommt meine “Anmerkung des Übersetzers” – A. d. Ü.):

            Ich habe mich dafür entschieden, das lacansche Wort ›désir‹ in diesem Buch nicht mit ›Begehren‹, sondern mit ›Leidenschaft‹ zu übersetzen, um somit die lacansche Theorie mit der paulinischen Auffassung der Leidenschaft zu verknüpfen. [A. d. Ü.: Um Benyaminis Entscheidung nachvollziehen zu können, ist es wichtig zu wissen, dass auf Hebräisch weder eine autoritative Übersetzung des Neuen Testaments noch eine Übersetzung von Lacans Schriften vorliegen. Wenn Benyamini im hebräischen Original auf Paulus und Lacan Bezug nimmt und sie zitiert, übersetzt er sie selbst ins Hebräische, zumal er keine bereits vorliegende Übersetzung zitieren muss oder (wie im Fall von Lacan) dies tun kann. Somit bleibt ihm die Entscheidung darüber, wie er sie übersetzt, auch wenn er damit von der etablierten Begrifflichkeit abweicht. Um seinem Text wiederum getreu zu bleiben, gilt seine Entscheidung auch für diese deutsche Übersetzung, sodass hier, genauso wie im hebräischen Original, das lacansche ›Begehren‹ oft mit ›Leidenschaft‹ übersetzt wird.]

            Natürlich könnte man in Bezug auf das hebräische Original darüber diskutieren, ob Benyamini zu Recht von “Leidenschaft” spricht und auch Lacans Begehren mit Leidenschaft übersetzt. Aber – und das habe ich hier oben auch schon erwähnt – der Leser sollte als Erstes nicht den Autor “korrigieren” und ihm erklären, wie er sich hätte ausdrücken müssen, sondern erst mal versuchen, die bewusste Entscheidung des Autors zu verstehen (was will der Autor damit ausdrücken?). Nemitz aber will sowohl Benyamini vorschreiben, wie er sich hätte ausdrücken sollen, als auch mir vorschreiben, wie ich ihn hätte übersetzen müssen, beides ohne jedwede Sprachkenntnisse, aber mit ganz viel Chuzpe…

          • Ich glaube ich hatte Nemitz falsch verstanden. Er zitiert genau diese Passage (versehen mit seiner Fußnotennummer 3). Diese Passage ist nicht Sapir sondern Benyamini (das war mein Fehler). Sinn macht dieser Abschnitt ja nur dadurch, dass er aus dem Begriff “tschuka” gerade die Bedeutung “Begierde” herausnimmt und nur noch die Leidenschaft übrig lässt.

            Nemitz aber will sowohl Benyamini vorschreiben, wie er sich hätte ausdrücken sollen, als auch mir vorschreiben, wie ich ihn hätte übersetzen müssen, beides ohne jedwede Sprachkenntnisse, aber mit ganz viel Chuzpe…

            Ja irgendwie schon.

          • ” dass er aus dem Begriff “tschuka” gerade die Bedeutung “Begierde” herausnimmt und nur noch die Leidenschaft übrig lässt.” – wen meinst du hier mit “er”? Benyamini?

          • ” Ja irgendwie schon.” – vielleicht beginnst du jetzt zu verstehen, wie absurd, aber auch frustrierend, diese ganze Diskussion für mich ist.

  3. Etymologisch muss natürlich schon genau hingeschaut werden, wenn es um das ‘désir’ oder um das ‘ἐπιθυμέω’ geht. – I.p. Altlatein könnte der Schreiber dieser Zeilen aushelfen.
    Insgesamt ist die Darstellung zum Vorgang im WebLog-Artikel leider ein wenig unklar geblieben.
    Korrekt bleibt es aber in jedem Fall bei Unklarheiten die Verwendung von Begriffen betreffend nicht den Nutzenden abzufragen, sondern eben dem Sinn oder der Bedeutung des Begriffs etymologisch nachzuspüren.

    MFG
    Dr. W

    • Ehrlich gesagt, verstehe ich dich nicht ganz. Aber wenn du den Sinn eines Begriffs einzig und allein von der Etymologie abhängig machen willst, muss ich dir widersprechen. Es sollte doch selbstverständlich sein, dass jeder Begriff in erster Linie in einem bestimmten Kontext steht, in einem bestimmten Bedeutungsraum, aus dem er seine Bedeutung bezieht. Und dass dieser Kontext maßgeblich vom jeweiligen Autor abhängt, versteht sich auch von selbst.

      • Da ist Ihr Kommentatorenfreund, der den Begrifflichkeiten und deren Geschichte, der Schwarmintelligenz und der gewesenen, einen hohen Wert beimisst, anderer Meinung.

        Wenn Sie Wörter verwenden, verwenden Sie Bedeutung, Ideen, Werte und Konzepte der Vergangenheit. Rein praktisch. Es kann natürlich erörtert werden, welche Bedeutungsräume besonders zu beachten sind, in der Fachterminologie ist dies pflichtig, aber…

        es ist schon so, dass die Etymologie außerordentlich wichtig ist zu verstehen, um das, was überhaupt gesagt (auch: vs. gemeint) worden ist, zu verstehen.


        Die Alternative, und das ist jetzt ebenfalls wichtig, besteht darin sich von Fachkräften, typischerweise von Linguisten, beraten zu lassen, wie dieser oder jene Begriff, dieses oder jene Wort denn im Moment zu verstehen und zu nutzen ist, also eigene Macht und Verantwortung abzugeben.

        MFG
        Dr. W (der darauf hinweist, dass es bei konsequenter Beachtung linguistischer Meinung bspw. zu so etwas kommen muss: ‘Im Deutschen gibt es kein generisches Maskulinum und die „generische“ Verwendung maskuliner Formen bringt keinen praktischen Vorteil mit sich.’ (Quelle))

        • PS:
          Vielleicht kam das nicht klar heraus:
          Dass Sie auf den Artikel bezogen in der Sache recht haben, wird hier schon angenommen.

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