Gedächtnis und Wahrheit

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Als Kind war ich kein guter Fußballspieler (daran hat sich übrigens bis heute nichts geändert). Auf dem Schulhof, wenn die guten Spieler ihre Mannschaften aussuchten, war ich immer der letzte. Einmal kam es zu so einem Elfmeter – ich nehme an, es waren in Wirklichkeit weniger als elf. Das kannst du machen, sagten mir die anderen und ehrten mich mit der wichtigen Aufgabe. Ich schoss den Ball so stark ich konnte. Direkt gegen die Latte.

Davon habe ich diese Nacht, also nach dem gestrigen vier zu null gegen Portugal, geträumt. Da ich mich hier in letzter Zeit öfter mit der Bedeutung von Wahrheit befasst habe, frage ich mich, woher ich denn eigentlich weiß, dass diese Erinnerung wahr ist.

Heutzutage weiß man, wie flexibel Erinnerungen sein können, dass sie also nichts Konstantes sind. Auf dem Gebiet der Oral History haben Zeithistoriker wichtige Erkenntnisse erzielt, was die gebührende Skepsis gegenüber Zeitzeugen belangt. Manchmal berichten diese, z. B. Holocaust-Überlebende, sehr ehrlich und aufrichtig von Begebenheiten, von denen wir wissen, dass sie nicht wahr sein können bzw. sich nicht zum angegebenen Zeitpunkt am angegebenen Ort in der angegebenen Weise hätten zutragen können.

Menschliche Erinnerungen, das menschliche Gedächtnis überhaupt, befindet sich stets im Fluss, ist Einflüssen durch Umwelt und Psyche ausgesetzt. Was mich nun auf die Frage zurückwirft: Woher will ich wissen, dass meine Erinnerung an meinen (übrigens bis heute einzigen) Elfmeterschuss und dessen Ergebnis wahr ist?

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

12 Kommentare

  1. Es liegt erst einmal ein Faktum vor der Art ‘Person X berichtet, dass Person X zum Zeitpunkt Y dies oder jenes geleistet hat.’ – über Fakten streitet man nicht, sondern nur über die Einordnung.
    Es ist hier egal, ob eine Person selbst am Faktum beteiligt war.
    ‘Wahr’ ist hier nichts, es um die durch Fakten bereitgestellte Datenlage, die analysiert/interpretiert wird.

    Wobei es wohl im Artikel auch um die Zeitzeugenproblematik geht, also viele Zeitzeugen sind sich des oben Beschriebenen nicht bewusst, sind auch nicht sonderlich daran interessiert möglichst genau zu berichten, was geschehen ist, sondern vertellen irgendetwas.

    Q: Wie kann der an der Richtigkeit der Faktenschilderung interessierte Zeitzeuge selbst feststellen, ob sein Eindruck “wahr” ist?
    A: Philosophisch gesehen ist dies unmöglich, er sollte sich aber kennen und sein Leistungsvermögen, was die Erinnerung betrifft; es spricht auch nichts dagegen sich Notizen zu machen und Selbsterlebtes durch andere Fakten zu stützen zu suchen.
    Gerade der ältere Mensch kann bei Gedächtnisproblemen massiv abbauen.
    >:->

    MFG
    Dr. W

  2. Die Mitspieler von damals fragen – alle. Und dann den Mittelwert zur Wahrheit erklären.

    Geschichtsschreibung geht auch so.

    Was wirklich geschehen ist, interessiert doch keine Sau – wenn sich eine (qualifizierte) Mehrheit für eine Version entschieden hat. Die Erinnerungen im Bewusstsein funktionieren auch so. “Argumente” sind da nur Rechtfertigungen.

    • Ohne die “Wahrheit” zu suchen den “Mittelwert” zu bilden, könnte die historisierende Kunst ausmachen; allerdings sind die Geschichtswissenschaften nicht utilitaristisch unterwegs, insofern geht es schon ein wenig darum, was genau geschehen ist.


      Eigentlich würde der Schreiber dieser Zeilen, wenn, wie so oft, auch hier nur: interessierter Laie oder Dilettant, erwarten, dass diese Problematik längst auf das Beste als philosophische Grundlage der Geschichtswissenschaften herausgearbeitet ist.

      MFG
      Dr. W

          • WebLog-Artikel interessant, Fragestellungen ebenso, wobei dem Schreiber dieser Zeilen nicht ganz klar ist worauf Sie hinauswollen. – Ist der Wahrheitsbegriff in der Geschichtswissenschaft üblich? Meint man, wenn man sich dem Denken von Heydrich, Ihr Beispiel, annähert, wirklich seine persönliche Wahrheit? Vor dem Hintergrund der “Wahrheit”, jetzt sind doch Anführungszeichen herausgerutscht, wie sie seinerzeit unter Nationalsozialisten üblich war?

          • Ich denke, dass ich eben doch diesem Ansatz folgte. Ihre oben geschilderte Frage lässt sich anders nicht beantworten. Das gilt auch für die meisten Fragen zur Historie. Von der absoluten “Wahrheit” werden sie sich aber wahrscheinlich verabschieden müssen.

            Ich habe ein ähnlichs Problem mit einer “Erinnerung” an einen Arztbesuch, der sich nach den Szenarien in den Erinnerungen so nicht ereignet haben kann. Und trotzdem sind die Erinnerungsteile weiterhin sowas, wie eine Wahrheit – wesendliche Teile müssen sich ereignet haben. Nur nicht in diesem Zusammenhang.

      • Genauest mögliche Rekonstruktion der Eeignisse ist ja eine schöne Zielsetzung. Bleibt aber trotzdem ein Wunschtraum. Also bleibt weiterhin die prakmatische Strategie, es zuweilen entweder überasoziiern oder Verzicht auf Vervollständigung. Wir haben ja schon Probleme damit allejüngste Ereignisse in voller Wahrheit aufzulösen – etwa die Ereignisse in der Ukraine. Wer was getan; was wirklich passierte, bleibt unklar. Und so bilden wir (uns) eine Kausalkette mit unserem uns gegebenen Wissen und Erfahungen und subjektiven Glauben an gegenwätig anerkannte Ursache- und Wirkungsmechanismen – die “Überassoziation”.

        Allerdings/ausserdem: mit der Befragung der Beteiligten ist doch schon das “Mögliche” zur Suche nach der Wahrheit getan – oder nicht?

        Unbefriedigend ist es auf jedem Fall – und nur durch verdrängung auszuhalten. Die kollektive Entscheidung über die Wahrheit entlastet einem ja dann vor Gewissenskonflikten, nicht wahr? Meint auch: man kann den größten Blödsinn öffentlich verbreiten – solange das eine (irgendwie) qualifizierte Mindestmenge Menschen glaubt, kann man damit glücklich sein.
        Das dies absurd ist, ändert nichts daran, dass es Alltag ist – und zwar schon immer. Weswegen ja auch Ideologien so gut funktionieren. Man kann jetzt auch sogenanntes “besseres Wissen” (über kausale Zusammenhänge von Alternativwahrheiten) als Strategie einbauen. Das hängt immer ganz davon ab, wie Zivilisationen/Kulturen gerade geprimed sind – welche Assoziationen “üblich” (kulturel konditioniert) sind.

  3. Diese nebulöse Äußerung:
    /Zitat/ Manchmal berichten diese, z. B. Holocaust-Überlebende, sehr ehrlich und aufrichtig von Begebenheiten, von denen wir wissen, dass sie nicht wahr sein können bzw. sich nicht zum angegebenen Zeitpunkt am angegebenen Ort in der angegebenen Weise hätten zutragen können./Zitatende/
    hätte ich gerne ein wenig konkreter erleutert haben.

    Zum Begriff der Wahrheit: http://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheit

    Wenn man beispielsweise körperliche Gewalt erlebt, dann wirst du das als persönliche Wahrheit wohl ziemlich schnell in deinem Gedächtnis abspeichern. Das gleiche gilt auch für psychische Gewalt.
    Ich verstehe ehrlich gesagt nicht diese metaphysischen Ansätze…. Ich denke (und handle), also bin ich! Ich fühle, also lebe ich! Was hat das mit einem kulturhistorischen Ansatz zu tun? Bitte um Aufklärung! Taten lügen nicht! Bilder lügen auch nicht! Oder leben wir alle in einem Paralleluniversum?

  4. Menschliche Erinnerungen, das menschliche Gedächtnis überhaupt, befindet sich stets im Fluss, ist Einflüssen durch Umwelt und Psyche ausgesetzt. Was mich nun auf die Frage zurückwirft: Woher will ich wissen, dass meine Erinnerung an meinen (übrigens bis heute einzigen) Elfmeterschuss und dessen Ergebnis wahr ist?

    Durch Intersubjektivität. Wenn sich 10 Zeitzeugen erinnern und unabhängig voneinander bezeugen, dass Du den Ball damals an die Latte geknallt hast, dann ist es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so gewesen.

  5. Davon habe ich diese Nacht, also nach dem gestrigen vier zu null gegen Portugal, geträumt. Da ich mich hier in letzter Zeit öfter mit der Bedeutung von Wahrheit befasst habe, frage ich mich, woher ich denn eigentlich weiß, dass diese Erinnerung wahr ist.

    Einige kleine Anmerkungen dazu – ausnahmsweise off topic, aber interessant.

    Ich gehe davon aus, dass der verschossene Elfmeter objektiv betrachtet bedeutungslos war, d.h weder für dich noch sonstwen bedeutende Konsequenzen hatte. Subjektiv aber hat er offensichtlich eine Bedeutung für dich, denn du erinnerst dich und träumst sogar davon.

    Ich kenne einen ziemlich guten Schachspieler (IM-Norm), der immer wieder auf ein Match zu sprechen kam, das er verlor, weil ihn das reflektierende Licht auf dem Schachbrett irritiert habe und in seiner Konzentration störte. Obwohl das verlorene Spiel kein besonders wichtiges war, beschäftigte es ihn. I.m.h.o war es für ihn ein traumatisches Erlebnis. Warum?

    Um doch noch einen Bezug zum Uasgangsbeitrag herzustellen: Ist die Erinnerung von Ereignissen, die als traumatisch erlebt werden und in Gedanken immer wieder “erlebt” werden, öfters verzerrt und daher unzuverlässiger als andere Erinnerungen?

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