Die Auflösung der Judenfrage. Das Bild des Juden im Spielfilm der DDR: Kapitel II

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Dies ist eine unformatierte Version der Magisterarbeit "Die Auflösung der Judenfrage. Das Bild des Juden im Spielfilm der DDR", erforscht und geschrieben von Yoav Sapir an der Hebräischen Universität Jerusalem, 2004-2006. Diese unformatierte Version dient allein der Erschließung durch Google. Wenn Sie sich für die Arbeit interessieren, empfehle ich Ihnen wärmstens, kostenlos die PDF-Version herunterzuladen: Klicken Sie hier.


 

 

 

II. Der geschichtliche Hintergrund der ostdeutschen Judenfrage

 
II.a. Die dreifache Bedeutung des Juden für die DDR

 

Jetzt sollen wir die Voraussetzungen der oben geschilderten Problematik hinterfragen. Warum gibt es überhaupt ein »jüdisches Thema« in der DDR? Warum sind die widersprüchlichen jüdischen Rollen für das SED-Regime wichtig? Warum muss der Zwiespalt überhaupt gelöst werden? Es gibt drei Hauptgründe dafür, deren keiner ausschließlich für die DDR gilt; das sind vielmehr drei Bedeutungsströme, die der DDR nicht voneinander unabhängig zuflossen und somit eine besonders ostdeutsche Bedeutung des Juden schufen.

 
II.a.1. Die kulturelle Rolle des Juden als die abendländische Antithese

 

Woraus besteht eigentlich die immer wieder anders bedingte und aufs Neue gestaltete Judenfrage, die der abendländischen Kultur noch immer, selbst heutzutage, innewohnt? Kurz gefasst: Das Abendland als solches hätte es ohne die jüdische Antithese nicht geben können, denn der Begriff des Judentums ist eine der wesentlichsten Grundlagen der abendländischen Kultur im Ganzen. Diese antithetische Funktion erklärt Christhard Hoffmann, der feststellt (Hervorhebungen im Original), »daß das Judentum durchweg als Gegenbild oder Antithese zum eigenen Ideal und Selbstverständnis figurierte und – ungeachtet der jeweiligen inhaltlichen ›Füllung‹ des jüdischen bzw. des eigenen ›Wesens‹ – immer den negativen Pol bildete.«[61] Durch den Juden als »den Anderen« bestimmen die Europäer bzw. Abendländer sich selbst, ob in religiöser, nationaler, klassengesellschaftlicher, rassischer, weltanschaulicher oder anderer Hinsicht.[62] Diese grundlegende Auffassung des Judentums wohnt aller europäischen Denkweise unausweichlich und unaufhörlich inne; nach dem Zweiten Weltkriege ist die physische Anwesenheit der Juden durch die Erinnerung an den Holocaust[63], die lebenden Juden durch die toten ersetzt worden,[64] wobei der Holocaust als ein »negative myth of origin for the post[-]war world«[65] fungiert.[66] Diese Konstatierung gilt bzw. galt trotz des ideologischen (Schein-)Widerspruchs[67] auch für die Regierung und Bevölkerung der DDR, wo das Judentum diese spiegelbildliche Funktion gleichfalls erfüllte, denn es können höchstens nur die Form und der Inhalt geändert werden, nicht aber das kantische Ding an sich, der bloße antithetische Begriff des »Judentums«, auf welchem die abendländische Kultur beruht.[68]

 
II.a.2. Die deutsche Gruppenidentität nach 1945 und der fehlende Platz des Juden

 

Ehe wir zur besonderen Rolle des Juden in der deutschen Kultur nach 1945 gelangen, muss noch etwas dazu bemerkt werden. Der Zweite Weltkrieg war bekanntlich ein gesamtdeutsches Erlebnis; in vieler Hinsicht das umfassendste von jeher. Für diese Gruppe bildet er ein in nicht geringem Maße identitätsstiftendes Gruppenerlebnis. Das wird auf zweierlei Weise gemeint, sowohl die Form als auch den Inhalt des Begriffs »Deutscher« betreffend:

 

In förmlicher Hinsicht zählte und zählt noch (z. B. im Sinne der Nachkommenschaft) als Deutscher, wer den Zweiten Weltkrieg als Deutscher[69] an der deutschen Seite miterlebte, wenn er vor 1939 auch bspw. die tschechoslowakische oder polnische Staatsangehörigkeit besessen hatte und 1945, wie so viele andere, in jene Gebiete floh bzw. vertrieben wurde, die später innerhalb der Grenzen der BRD, der DDR und der Zweiten Republik Österreich liegen sollten. Dass Sudetendeutsche aus den südlicheren Teilen des Gebirges südwärts in das spätere Österreich und nicht wie ihre »Volksgenossen« aus den nördlicheren Teilen in die späteren DDR und BRD flohen, war m. E. einfach geographisch nächstliegend und zeugt von noch gar keinem unterschiedenen, österreichischen Nationalbewusstsein.

 

Und inhaltlich: Deutscher zu sein, bedeutet für die Deutschen selbst – sowohl für die damaligen Generation(en) als auch für die jüngeren – vor allem, die Last dieser spezifischen Vergangenheit im Allgemeinen und Nichtdeutschen gegenüber im Besonderen noch immer tragen zu müssen. Auch dieser Aspekt gilt genauso für die Österreicher wie für die Deutschen (erinnern wir uns etwa an die Waldheim-Affäre), wobei die Nichtdeutschen, denen die Deutschen noch heutzutage gegenüberstehen müssen, selbstverständlich keine Österreicher sind.[70]

 

Ziehen wir nun unsere hiesige Begriffsbestimmung für »Gruppenidentität« heran,[71] so können wir die Sache auch folgendermaßen formulieren: Das Kriegserlebnis ist das Wesentlichste an der Charakterisierung der Zugehörigkeit zur »deutschen« Gruppe, d.h. an der Beantwortung der Frage, was es bedeutet, ausgerechnet der »deutschen« Gruppe (nach bzw. seit Kriegsende) anzugehören, wobei dieses freilich nicht einzige, aber immerhin wichtigste Charakteristikum der deutschen Gruppenidentität sowohl der deutschen Selbstvorstellung als auch nichtdeutschen Vorstellungen des deutschen Anderen innewohnt. Von dieser Charakterisierung haben die DDR sowie die Zweite Republik Österreich mithilfe ihres jeweiligen Erstes-Opfer-Narrativs lange abzuweichen versucht, was sich aber auf die Dauer als abträglich erwiesen hat.[72]

 

Kurz gefasst, fungiert das gesamt- bzw. (damals) »großdeutsche« Kriegserlebnis sozusagen als das wesentlichste Kriterium der deutschen Gruppenidentität nach 1945, was daraufhin für alle auf den Ruinen des Dritten Reiches gegründeten Nachfolgestaaten gilt. Die Historiker sind also dazu gezwungen, Widerhalle des bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruches, die möglicherweise noch heutzutage auf uns einwirken, zu beseitigen. So muss z. B. die Zweite Republik Österreich ebenso wie die BRD und die ehemalige DDR als ein deutscher Staat angesehen und bei Analysen und Erörterungen der deutschen Vergangenheitsbewältigung nicht weggelassen werden.[73] Damit wird im Übrigen auch die Auslassung der Schweiz gerechtfertigt.[74] Aber jetzt interessieren wir uns für andere Folgen dieser Feststellung, nämlich für ihre Auswirkung auf die gesellschaftliche Stellung der Juden in diesen Ländern und insbesondere in der DDR. Inwiefern können bzw. konnten sie überhaupt als Deutsche (oder Österreicher) gelten? Die krasse Unzugehörigkeit der Juden als eine unterschiedliche Gruppe zum deutschen Gründungserlebnis,[75] welches sich während und insbesondere bei den Schlussphasen des Zweiten Weltkrieges abspielte, weist m. E. darauf hin, dass ihrer Zugehörigkeit zu den erneuerten oder besser gesagt neuen deutschen Nationen ebenfalls ein Grundstein fehlt, weshalb diese Zugehörigkeit auch nicht vollständig sein kann, solange dem deutschen Kriegserlebnis eine so große identitätsstiftende Bedeutung beigemessen wird. Die manchmal zu beobachtende Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft nach 1945 in beiden bzw. allen drei Ländern – mal abgesehen von ihrer äußerst geringen Anzahl – kann folglich nichts mehr als ein erfolgreiches Zusammenleben zweier im Grunde genommen (vom deutschen Gesichtspunkt aus) noch immer unterschiedlicher Gruppen sein.[76] Auch nach 1945 sind die Juden in Deutschland vor (und nach) allem »Juden«, obwohl diese gesellschaftliche Stellung keinen amtlichen, rechtlichen Ausdruck hat bzw. hatte,[77] und ungeachtet dessen, wofür sie sich selbst erachten. Und somit gelangen wir zu ihrer Rolle als solche.

 
II.a.3. Die besondere Rolle des Juden in Deutschland nach 1945

 

Über ihre allgemein abendländische Bedeutung hinaus haben die Juden als Opfer der Nazis eine besonders »deutsche« Rolle in den deutschen Ländern, die aus den Ruinen des Dritten Reiches geschaffen wurden.[78] In der deutschen Kultur nach 1945 haben nämlich die Juden eine nicht nur größere, sondern gar andere Bedeutung als in anderen abendländischen Ländern. Das gilt sowohl für das Judentum schlechthin (v. a. für das im Lande Israels befindliche) als auch für seine örtlichen Vertreter, d.h. für die verhältnismäßig sehr wenigen Juden, die sich (wieder) in diesen beiden Ländern niedergelassen haben, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer physischen Abwesenheit. Dabei wich die Lage in der DDR grundsätzlich von ihrem westlichen Gegenstück ab, wie Harald Schmid festgestellt hat: »Der jüdische Bevölkerungsanteil[79] nahm in der Bundesrepublik seit der Anfang der sechziger Jahre erfolgten Konsolidierung der jüdischen Gemeinden relativ kontinuierlich zu […] Völlig anders gelagert, entwickelte sich die Situation in der DDR, wo das numerische Gewicht der Gemeinden ebenso kontinuierlich abnahm, freilich von einem bereits sehr schmalen Level ausgehend. […] In beiden Staaten nahm das politisch-kulturelle Gewicht der jüdischen Gemeinden im Laufe der vier Jahrzehnte stark zu, in der Bundesrepublik verlief dies einigermaßen parallel zu tatsächlichen Veränderungen der Gemeinden, in der DDR hingegen – in einem bizarren Ausmaß – umgekehrt proportional.«[80]

 

Die Wichtigkeit der Juden in den beiden Republiken des geteilten Deutschland[81] fasst Robin Ostow folgendermaßen zusammen: »Because of Germany’s Nazi past, the Jewish question in the GDR is much more important than local demography would suggest; it goes to the root of national identity – and this is true of West Germany as well.«[82] Worin kommt diese Besonderheit zum Ausdruck? Das erklärt Ostow in einer anderen Veröffentlichung (meine Hervorhebung): »[D]ie Juden [erfüllen] sowohl in der BRD wie auch der DDR auch heute noch bestimmte Funktionen. Sie sind nach wie vor als Vermittler[83] tätig, weniger auf wirtschaftlichem als auf politischem Gebiet. Allein durch ihr Vorhandensein demonstrieren sie den Bruch des jeweiligen Deutschland mit der Nazi-Vergangenheit und dienen als Verbindungsglied zu den westlichen Ländern.«[84]

 

In der DDR kommt diese gesellschaftliche Funktion auf eine etwas feudale Art und Weise zum Ausdruck: »So haben gegenwärtig die Jüdischen Gemeinden in der DDR ein besonderes Verhältnis zu ihrer Regierung und spielen eine besondere Rolle in der Außenpolitik ihres Landes. Im gleichen Maße wie Antifaschismus ein Hauptbestandteil der politischen Identität der DDR bleibt und die Handelsbeziehungen mit dem Westen – in erster Linie mit den USA – gedeihen und sich entwickeln, können die Jüdischen Gemeinden hier mit finanzieller und staatlicher Unterstützung rechnen. Mögen sich die politischen Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR auch ändern, so verfolgt die DDR konstant eine Politik der Anbindung an westliche Märkte. Jede Änderung dieser Politik würde negative Auswirkungen auf die Bevölkerung der DDR – insbesondere die Juden – zur Folge haben.«[85]

 
II.a.4. Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel

 

Zur Vervollständigung unseres Überblicks über die Treffpunkte zwischen dem ostdeutschen und dem jüdischen Thema müssen wir schließlich auch die Rolle des Juden als Musterbeispiel im ideologischen Rahmen des Sozialismus in Betracht ziehen. Wie andere, selbst entgegengesetzte abendländische Weltanschauungen sah sich auch der Sozialismus von Anfang an zur Lösung der Judenfrage nicht nur fähig, sondern auch verpflichtet, weil sich die Richtigkeit und Tragfähigkeit der eigenen These prägnant an der Überwindung der Antithese bekunden soll. Am jüdischen Spiegelbild werden die wichtigsten Grundzüge der jeweiligen Weltanschauung erprobt, da der antithetische Jude jeweils anders betrachtet und aufs Neue gedeutet wird. Das neu gestaltete Judenbild besteht aber immer aus zwei Seiten, nämlich aus der dies- und jenseitigen: Das diesseitige Problem, welches durch die eigene These gelöst werden soll, kommt im »bösen«, weil antithetischen Juden, d.h. im spiegelbildlichen Anderen zum Ausdruck, während sich hingegen das utopische Jenseits in der Idealvorstellung vom Juden widerspiegelt. Diese Idealvorstellung zeigt also den Juden nicht so, wie er in der bisherigen, schlechten Gesellschafts- und Weltordnung ist, sondern, wie er laut den Grundsätzen der jeweiligen Weltanschauung sein soll. Nun wollen wir herausfinden, wie der Jude seine Rolle als Musterbeispiel im sozialistischen Gedankengut spielte und wie die sozialistische Idealvorstellung vom Juden dabei gestaltet wurde. Die beispielhafte Bedeutung der Judenfrage für den Sozialismus erklärte der jüdische Kommunist Otto Heller[86] in seinem 1931 erschienenen Untergang des Judentums: »Von entscheidender Bedeutung für die Arbeiterklasse ist jedoch die Lösung der Judenfrage durch den Sozialismus […] Keine Gesellschaftsordnung vermochte die Judenfrage, in welcher Gestalt immer sie in Erscheinung trat, aus der Welt zu schaffen. Mit allen sozialen und nationalen Widersprüchen und Konflikten bereitet der Sozialismus auch der Judenfrage, die im Bewußtsein der Völker als Erbe der Vergangenheit noch immer ihre Spuren zieht, ein Ende. Die Schöpferkraft des Sozialismus manifestiert sich nicht zuletzt in der Lösung des jüdischen Problems.«[87] Zu Hellers umfassendem Werk kehren wir späterhin noch zurück.

 

Ehe wir weitermachen, müssen wir noch die Frage beantworten, ob die sozialistischen Schriften zur abendländischen Judenfrage, mit denen wir uns im Nachfolgenden befassen, infolge des Holocaust, d.h. des fast völligen physischen Verschwindens derer, von denen die Rede in diesen Schriften ist, nicht an Bedeutung verloren. Blieb die sozialistische Lösung der Judenfrage angesichts des nunmehrigen weitgehenden Nichtvorhandenseins der Juden in der DDR noch in Geltung? Das Nazireich, welches der Erscheinung der proletarischen Diktatur in Mittel- und Osteuropa bekanntermaßen voranging, gelangte so zwar früher zur Vollziehung der eigenen Lösung als sie, aber die Grundsätze der sozialistischen Lösung blieben auch weiterhin in Kraft, einfach weil kein Abendländer das begriffliche Judentum – im Gegensatz zum physischen – verschwinden lassen kann;[88] infolge der physischen Ausrottung wurde das lebende Judentum, wie vorhin gesagt,[89] durch das tote ersetzt, denn das Judentum als eine kulturelle Grundlage der europäischen Kultur bleibt zwangsläufig bestehen, solange diese Kultur als solche besteht. Das ewige, weil axiomatische Problem verlor zwar äußerst viel infolge der physischen Vernichtung an Aktualität, aber die gedanklichen Grundsätze seiner nunmehr theoretischen Lösung gewannen umso mehr an Bedeutung, zumal in jener proletarischen Diktatur, die auf den Ruinen des Dritten Reiches im Allgemeinen und auf dessen Lösung der Judenfrage im Besonderen gegründet wurde und in welcher der ideologisch-sozialistische Bedeutungsstrom zudem durch zwei weitere, nämlich durch den allgemein abendländischen und den besonders deutschen verstärkt wurde, die wir beide oben geschildert haben.

 

Unsere Übersicht über dieses Thema sollen wir jetzt mit den gedanklichen Grundlagen der sozialistischen Lösung eröffnen, indem wir Karl Marxens zweiteilige Schrift zur Judenfrage[90] heranziehen, die in dem ersten und einzigen, 1844 in Paris erschienenen Doppelheft der deutsch-französischen Jahrbücher veröffentlicht wurde.[91] Zunächst stellt Marx die wechselhafte Natur der Judenfrage fest (Hervorhebungen im Original): »Die Judenfrage erhält eine veränderte Fassung, je nach dem Staate, in welchem der Jude sich befindet.[92] In Deutschland, wo kein politischer Staat, kein Staat als Staat existiert, ist die Judenfrage eine rein theologische Frage. Der Jude befindet sich im religiösen Gegensatz zum Staat, der das Christentum als seine Grundlage bekennt.[93] […] In Frankreich, in dem konstitutionellen Staat, ist die Judenfrage die Frage des Konstitutionalismus, die Frage von der Halbheit der politischen Emanzipation. Da hier der Schein einer Staatsreligion […] in der Formel einer Religion der Mehrheit beibehalten ist, so behält das Verhältnis der Juden zum Staat den Schein eines religiösen, theologischen Gegensatzes. Erst in den nordamerikanischen Freistaaten – wenigstens in einem Teil derselben – verliert die Judenfrage ihre theologische Bedeutung und wird zu einer wirklich weltlichen Frage.[94] Nur wo der politische Staat in seiner vollständigen Ausbildung existiert, kann das Verhältnis des Juden, überhaupt des religiösen Menschen, zum politischen Staat, also das Verhältnis der Religion zum Staat, in seiner Eigentümlichkeit, in seiner Reinheit heraustreten.«[95]

 

Im ersten Teil dieser Abhandlung geht es also um eine Teillösung der Judenfrage; das Judentum, welches im christlichen Staat eine religiöse Rechtsstellung, d.h. eine religiöse Bedeutung hatte, sollte nämlich diese verhüllende Bedeutung durch die »politische« Emanzipation, d.h. durch die Verweltlichung des Staates verlieren (Hervorhebungen im Original): »Die politische Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des religiösen Menschen, ist die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom Christentum, überhaupt von der Religion. In seiner Form, in der seinem Wesen eigentümlichen Weise, als Staat[,] emanzipiert sich der Staat von der Religion, indem er sich von der Staatsreligion emanzipiert, d.h. indem der Staat als Staat keine Religion bekennt, indem der Staat sich vielmehr als Staat bekennt.«[96]

 

Mit der »politischen« Emanzipation sei aber der Staatsbürger im Allgemeinen und der Jude im Besonderen noch nicht völlig emanzipiert, denn es bleibt noch die »menschliche« Emanzipation, welche am Menschen selbst liegt (Hervorhebungen im Original): »Die politische Emanzipation von der Religion ist nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Emanzipation von der Religion, weil die politische Emanzipation nicht die durchgeführte, die widerspruchslose Weise der menschlichen Emanzipation ist. Die Grenze der politischen Emanzipation erscheint sogleich darin, daß der Staat sich von einer Schranke befreien kann, ohne daß der Mensch wirklich von ihr frei wäre, daß der Staat ein Freistaat sein kann, ohne daß der Mensch ein freier Mensch wäre. […] Der Staat kann sich also von der Religion emanzipiert haben, sogar wenn die überwiegende Mehrzahl [der Bürger] noch religiös ist. Und die überwiegende Mehrzahl hört dadurch nicht auf, religiös zu sein, daß sie privatim religiös ist.«[97]

 

Auf die »politische Emanzipation« des Staates müsse folglich die »menschliche Emanzipation«, d.h. die Selbstbefreiung der Staatsbürger von den eigenen religiösen Schranken erfolgen. Nun spielt die Religion für Marx auf einen Mangel im Staatswesen an,[98] auf eine Lücke sozusagen, zu deren Schließung die Religion bestimmt sein solle. Was sei aber der Mangel, infolge dessen der Bedarf am Judentum, also am Juden als solchem noch fortbestehe? Das erklärt Marx im zweiten Teil (Hervorhebungen im Original):

 

»Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondere gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben? Denn die Emanzipationsfähigkeit des heutigen Juden ist das Verhältnis des Judentums zur Emanzipation der heutigen Welt. Dies Verhältnis ergibt sich notwendig aus der besonderen Stellung des Judentums in der heutigen geknechteten Welt. […] Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden. Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld[,] also vom praktischen, realen Judentum[,] wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit. Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andererseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner [=dessen] Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.«[99]

 

Der grundlegende Mangel im bisherigen Staatswesen, welcher das Judentum erforderlich macht, sei also die »Knechtschaft«, d.h. die eigennützige, ausbeuterische Natur der bürgerlichen Gesellschaft. Kurz gefasst, habe der Jude keine »besondere Stellung« mehr, sobald die Welt, d.h. seine Umgebung, nicht mehr »geknechtet« ist. Es sei mithin die ausbeuterische, kapitalistische Gesellschaftsordnung, welche den »Schacher«, d.h. den Juden »als solchen« (in seiner »jüdischen« Funktion) erfordert.[100] Daher sollte nach der »Emanzipation vom Geld«, d.h. in der neuen Gesellschaftsordnung, kein Bedarf am »Juden« mehr bestehen (Hervorhebungen im Original): »Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß. Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum [will sagen: vom Schacher, vom Geld, von der Eigennützigkeit, von der Knechtschaft].«[101] Andersherum formuliert, können die Juden nicht richtig emanzipiert werden, bis die bisherige Gesellschaftsordnung, welche die sozioökonomische Funktion des »Juden« ermöglicht und diese Menschen gerade in ihrer Rolle als »Juden« benötigt, der neuen weicht. Im Nachfolgenden werden wir noch sehen, wie der kommunistische Denker (jüdischer Herkunft) Otto Heller, der den Aufstieg des Nationalsozialismus zu bekämpfen versuchte, und später auch das SED-Regime, welches mit der Last der nationalsozialistischen Vergangenheit umgehen musste, diese marxsche bzw. marxistische Deutungsweise des gesellschaftlichen Konfliktes zwischen Juden und Nichtjuden auf den seinerzeitigen Antisemitismus im Allgemeinen und den nationalsozialistischen im Besonderen anwandten.

 

Was bedeutet also letztlich die Judenemanzipation? Seine Abhandlung zur Judenfrage schließt Marx mit den folgenden Worten ab (Hervorhebungen im Original): »Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude [als solcher, d.h. die »jüdische« Funktion – nicht der Mensch, der diese Funktion erfüllt] unmöglich geworden […] Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum [vom Juden als solchem].«[102]

 

Aus Marxens Schrift – in welcher die antithetische Rolle des Juden als Musterbeispiel darin zum Ausdruck kommt, dass er zum Träger der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, also zum Kern dieses Problems gemacht wird – und insbesondere aus den abschließenden Worten wird ersichtlich, dass die wahrhafte Emanzipation des Juden, die zwar nur in der sozialistischen Utopie stattfinden kann, aber bereits im »Diesseits« die sozialistische Idealvorstellung vom Juden bildet, seine völlige und endgültige Assimilation, das Nichtvorhandensein des Judentums, d.h. einer unterschiedlichen »jüdischen« Menschengruppe schlechthin bedeutet. Dieser Idealvorstellung entsprechend soll es letzten Endes keine »Juden« mehr, sondern nur noch gewöhnliche Menschen geben, die höchstens »jüdischer« Abstammung sein können. Sowohl die umgebende Gesellschaft als auch die Betroffenen selbst sollen dabei gar keinen Bedarf am Juden bzw. am Jüdischsein haben (und es versteht sich von selbst, dass es auch überhaupt keinen Grund mehr dafür geben soll, Jude sein zu wollen). Wer den Juden braucht und von ihm spricht (wie es noch etwa die Nazis tun sollen), gehöre folglich zur bürgerlichen, ausbeuterischen Gesellschaft. Das ist also das Judenbild bzw. die Idealvorstellung vom Juden, welche uns in der Traumwelt des ostdeutschen Spielfilms begegnen soll (und tatsächlich auch wird).

 

Diese Grundsätze begegnen uns erwartungsgemäß auch in Lenins Schriften,[103] wo er sich nicht mit sozialistischen Juden, also mit den damaligen Bundisten begnügte, sondern deren völlige Assimilation und (erneute) Eingliederung in die SDAPR forderte (Hervorhebungen im Original): »Dafür besitzt zweifellos das dritte Argument des ›Bund‹ [für den Abfall von der SDAPR], das an die Idee der jüdischen Nation appelliert, grundsätzlichen Charakter. Nur ist das leider eine zionistische Idee, die in ihrem Kern vollkommen falsch und reaktionär ist. ›Die Juden hörten auf, eine Nation zu sein, denn eine solche ohne ein Territorium ist undenkbar‹, sagt einer der hervorragendsten marxistischen Theoretiker, Karl Kautsky. […] Den Bundisten bleibt also vielleicht nur noch übrig, die Idee von der besonderen Nationalität der russischen Juden auszuarbeiten, deren Sprache der Jargon und deren Territorium das Ansiedlungsgebiet sei. Die in wissenschaftlicher Hinsicht in keiner Weise haltbare Idee eines besonderen jüdischen Volkes ist ihrer politischen Bedeutung nach reaktionär. […] In ganz Europa ist der Verfall des Mittelalters und die Entwicklung der politischen Freiheit Hand in Hand mit der politischen Emanzipation der Juden gegangen, mit ihrem Übergang vom Jargon zur Sprache des Volkes, unter dem sie leben, und überhaupt mit einem unbestreitbaren Fortschreiten ihrer Assimilierung an die sie umgebende Bevölkerung. […] Die jüdische Frage steht gerade so: Assimilation oder Abschließung? […] Die Idee der jüdischen Nationalität widerspricht den Interessen des jüdischen Proletariats, indem sie mittelbar und unmittelbar eine der Assimilierung feindliche, eine ›Ghetto‹-Einstellung erzeugt.«[104]

 

Indem Lenin vom »jüdischen Proletariat« spricht, geht er nur scheinbar anders an die seinerzeitige Judenfrage heran als Marx, denn in der Tat ist die von Lenin verlangte völlige Assimilation des »jüdischen« Proletariats an das jeweilige Volk, »unter dem sie leben« und dessen Vorhandensein als solches, wohlgemerkt, nicht in Abrede gestellt wird, nichts anderes als die Schlussphase von Marxens »Emanzipation vom Judentum«. Die endgültige Assimilation des Juden soll damals (1903) zwar noch nicht möglich gewesen sein (da die sozialistische Gesellschaftsordnung noch nicht zustande kam und der Jude daher noch nicht »unmöglich« wurde), aber sie fungierte nichtsdestoweniger (oder gerade deshalb) als die Idealvorstellung vom Juden, welche die diesbezüglichen Gedanken und Taten der Sozialisten (laut Lenins Worten auch der Bundisten) leiten sollte, und zwar nicht nur zu Zeiten Lenins, sondern, wie wir noch aus unserem Quellenmaterial ersehen werden, auch später, nämlich zu Zeiten der DDR.

 

Ferner geht aus Lenins Argumentation hervor, dass er eine durchgängige Assimilation der Proletarier aller Länder aneinander nicht beabsichtigte und die Forderung nach gänzlicher Assimilation nur an die Juden stellte. Auf Marxens Verständnis des Judentums bzw. dessen gesellschaftlicher Stellung hin war es Lenin wichtig zu begründen, warum ausgerechnet die Juden keine Nation, d.h. keine Sondergruppe bilden könnten, was wiederum im Einklang mit der Rolle des Juden als Musterbeispiel steht: Es ist nicht die »polnische« oder etwa die »ukrainische Frage«, sondern ausgerechnet die Judenfrage, auf welche es ankommt; es ist der Jude, welcher sich als Proletarier so weitgehend mit seinen jeweils örtlichen Klassengenossen vereinigen sollte, dass er aufhören müsste, Jude zu sein. Denn schließlich ist es immer wieder der antithetisch gedeutete Jude, welcher abgeschafft werden muss, um den Anderen schlechthin eben somit überwunden zu haben.

 

Somit kommen wir nun chronologisch wieder zu Otto Heller, dessen Untergang des Judentums (1931) die umfassendste Darlegung der (angeblichen) Lösung der Judenfrage durch den Sozialismus bietet. Allerdings gesteht Heller zu, dass er wohl nicht der erste sozialistische Denker ist, der an die Judenfrage herangeht: »Die marxistische Literatur besitzt eine Reihe bruchstückartiger Arbeiten zur Judenfrage. Seit der Zeit, da der junge Marx mit seiner genialen Fragestellung den Kern des Problems traf, wurden immer wieder, aus verschiedenstem Anlaß, aus theoretischem wie praktischem Bedürfnis der Arbeiterbewegung, Untersuchungen einzelner Teilfragen, aber auch der grundlegenden Begriffe angestellt.«[105] Die besondere Bedeutung des Untergangs des Judentums besteht also im Versuch (meine Hervorhebung), »eine historisch-materialistische Darstellung des Gesamtproblems der Judenfrage zu geben.«[106] Heller zielt nämlich darauf ab, dem Leser die sozialistische Geschichte des Judentums, d.h. das sozialistische Narrativ zur Judenfrage von den Anfängen bis zur (seinerzeitigen) Gegenwart zu erzählen, was in eine m. E. ebenso faszinierende wie aufschlussreiche Deutung der jüdischen Geschichte mündet, welche die Erkenntnisse, die wir aus den Schriften Marxens und Lenins gewonnen haben, sehr gut ergänzt.

 

Nun widerfährt dem Juden auch in Hellers sozialistischer Utopie die völlige Assimilation, die durch »wirtschaftliche Emanzipation« herbeigeführt werden sollte. Um Hellers Vorstellung vom jüdischen »Untergang« aber richtig verstehen zu können, müssen wir uns zunächst klarmachen, was er überhaupt mit »Judentum« gemeint hat. Wie wir aus Marxens Schrift ersehen haben, musste das Judentum (wie alles andere) im Sozialismus wirtschaftlichen Ursprungs sein. Demgemäß sei es eine »internationale Kaste«, die eine bestimmte wirtschaftliche Funktion in der kapitalistischen Gesellschaft erfülle, nämlich die des Handels.[107] »Die ersten Träger des Warenaustausches aber sind die Nomaden«,[108] und so sei der angebliche Handelscharakter Israels auf dessen ursprüngliches, altertümliches Wesen als Nomadenvolk zurückzuführen. Dazu sei auch der »geographische Faktor« hinzugetreten, nämlich Palästina, das als »Zwischenland in mehrfacher Hinsicht«[109] auf die Juden eingewirkt und ihr Geschick anders gestaltet habe als das anderer Nomadenvölker. Der Zerstreuung zufolge sei Israel vom Handelsvolk zur Handelskaste geworden.

 

Erst auf ihren Handelsbetrieb hin hätten die Juden alle ihre anderen Eigentümlichkeiten, v. a. die eigene Religion, nach den Umständen ihrer wirtschaftlichen Funktion entwickelt: »Ein Kaufmann braucht Gesetze […] Ware, Geld, Ware: Gesetz, erlaubt, verboten.«[110] Und: »Aus den gesellschaftlichen Verhältnissen der Juden, die wiederum auf den Faktoren der Produktion fußen, aus der Anpassung an die gesellschaftlichen Lebensbedingungen des Volkes ist die jüdische Religion entsprungen.«[111] Die jüdische Religion sollte also ebenso rationalistisch und gesetzorientiert sein wie der Handelsbetrieb, zu dessen Unterstützung sie geschaffen worden sei. »Die zu einem Monopol [im Handelsbetrieb] werdende soziale Stellung der Juden in der Antike muß ihrer Religion gleichfalls einen monopolistischen Charakter verleihen«,[112] wodurch die soziale Begrenztheit der jüdischen Religion erklärt werden soll: Wie der Beruf, so sollte auch die Religion der Kaste allein gehören. »Die jüdische Religion wurde zum hervorstechenden, vielfach entscheidenden Merkmal der jüdischen Kaste. Sie war Isolierungsmittel der Juden gegen ihre Umwelt, zum Zweck der Aufrechterhaltung ihrer sozialen und ökonomischen Position, gegen alle Möglichkeiten der Assimilation, die den Juden ihre besondere ökonomische Rolle genommen hätte. Es war in ihrer Stellung im allgemeinen Produktionsprozeß für sie zum Vorteil, Juden zu sein, weil sie von Jude zu Jude die Warenzirkulation betrieben, untereinander aus der Zeit des Transports der Tempelspenden und der Gemeindegründungen in Verbindung standen. Es ergab sich als Selbstverständlichkeit, die ökonomische Funktion des Juden [mithilfe einer eigenen Religion] an seine besondere nationale Existenz zu knüpfen.«[113]

 

Dementsprechend sei nicht nur die Entstehung, sondern auch das Ende der jüdischen Religion den wirtschaftlichen Umständen der »Kaste« unterworfen: »Die jüdische Religion […] ist keine Religion im herkömmlichen Sinn. Sie ist eine Verfassung, ein Gesetz, ein berechnendes Gesetz, ein Nachschlagebuch für das Soll und Haben der Seele, ein Kontokorrent, ein Dossier, in dem man die Wechsel auf die Seligkeit aufbewahrt. Dieses Gesetz ist in dem Augenblick unmöglich, da seine Grundlage versinkt. Die Basis der jüdischen Religion ist allein die besondere soziale und ökonomische Funktion der Juden, nichts anderes. Erlischt diese Funktion, so stirbt mit ihr auch ihr ideologischer Überbau, die jüdische Religion.«[114] Und noch ausdrücklicher: »Die jüdische Religion ist […] auch in der Gegenwart abhängig vom Schicksal der jüdischen Kaste. Sprengen die Produktionsverhältnisse, die Gesellschaft, die Kaste, so vernichten sie damit auch die jüdische Religion. Stirbt die Kaste [als solche], stirbt ihre Religion. […] Die Religion muß mit der Kaste untergehen.«[115]

 

Somit wird auch die bereits oben geschilderte sozialistische Endlösung der Judenfrage verständlicher, denn wenn die gesellschaftliche Abgesondertheit der Juden v. a. von der eigenen Religion verursacht werde, die wiederum zur Bewahrung der besonderen wirtschaftlichen Funktion der jüdischen Kaste diene, so sei nur die Auflösung der wirtschaftlichen Grundlage der jüdischen Kaste erforderlich, damit das ganze gesellschaftlich streng isolierende Gefüge des Judentums zusammenbreche und die Juden nur noch gewöhnliche Menschen sein könnten, nachdem sie dadurch von ihrer Kastenzugehörigkeit befreit worden sind und ihre Religion folglich aufgegeben haben. Der sozialistische »Untergang des Judentums« bedeutete also die Beseitigung einer vom sozialistischen Standpunkt aus nicht nur unproduktiven, sondern auch ausbeuterischen (und schon daher antithetischen) wirtschaftlichen Funktion, nämlich der des Gewinn bringenden Warenhandels; eine Funktion, die der internationalen jüdischen »Kaste« aus (pseudo)historischen Gründen zugeschrieben wurde, die aber nur durch Auflösung der gesamten kapitalistischen Gesellschaftsordnung, welcher die Funktion des Warenhandels zugrunde liegt, beseitigt werden kann (was das seinerzeitige Scheitern der Assimilation der Juden an die bürgerliche Gesellschaft erklären soll; eine völlige Assimilation sei, wie wir bereits oben gesehen haben, nur an das Proletariat in einer sozialistischen Gesellschaft möglich). In der proletarischen Diktatur sollte diese wesentliche Änderung durch Vermehrung jüdischer Arbeitskräfte bzw. der Anzahl der jüdischen Arbeiter, also durch (Zwangs)einstellung von Juden in der Landwirtschaft und der Schwerindustrie zustande kommen (das ist also die so genannte »wirtschaftliche Emanzipation«). Damit sollte auch der Antisemitismus beseitigt werden, der nichts anderes sei als »der letzte Ausdruck der sozialen Konflikte, in deren Mittelpunkt die Juden stehen«.[116] In einer recht sozialistischen Gesellschaft sollten also die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Judenhasses, dessen äußere Erscheinungen früher religiös und später rassistisch begründet worden seien, nicht mehr bestehen.

 

Ein weiterer Kommunist jüdischer Herkunft, der sich diesbezüglich eindeutig äußerte, ist Alfred Kantorowicz. Im 1932 veröffentlichten Sammelband Klärung[117], einer wunderbaren zeitgeistlichen Momentaufnahme, wo zwölf zeitgenössische Autoren und Politiker verschiedenster Weltanschauung ihre jeweilige Lösung der Judenfrage in verhältnismäßiger Kürze erläutern,[118] wurde Kantorowicz nebst Otto Heller zur Vertretung und Darlegung des sozialistischen Standpunktes aufgerufen. Erwartungsgemäß stehen Kantorowiczens Worte in seinem mit »Liquidation der Judenfrage« betitelten Beitrag in völligem Einklang mit denen Hellers, dessen dortige, mit dem etwas trockeneren Titel »Kommunismus und Judenfrage« versehene Auslegung wiederum »sich an [s]ein Buch ›Der Untergang des Judentums‹ […] [anlehnt].«[119] Das ist aber kaum überraschend, wenn wir bedenken, dass sich alle sozialistischen Denker schließlich auf die Grundlinien stützen, die in Marxens Schrift Zur Judenfrage festgelegt wurden. Trotzdem wäre es nicht umsonst, einen Eindruck von Kantorowiczens sehr scharfer Ausdrucksweise zu gewinnen (Hervorhebungen im Original):

 

»[D]ie jüdische Bourgeoise ist reif zum Untergang, nicht minder und nicht mehr als die Klasse, der sie angehört, in der sie als eine Kaste existiert.«[120] Und weiter: »Die einzige Lösung der Judenfrage besteht in der Produktivisierung der parasitären Klasse des jüdischen ›Luftmenschen‹, des unproduktiven Vermittlertyps, der nicht nur ›der Kaufmann von Berlin‹ ist, sondern der Kaufmann des Kapitalismus schlechthin.«[121] Und schließlich, die Endlösung der Judenfrage (hier bezieht sich Kantorowicz auf das jüdische autonome Gebiet in Birobidschan[122]): »Die praktische Liquidierung der Judenfrage: das ist die Einbeziehung der Juden in den sozialistischen Aufbau. […] Die Zahl der jüdischen russischen Arbeiter ist absolut und relativ außerordentlich gestiegen. Die Zahl der jüdischen Angestellten und Beamten hat sich dagegen vermindert. […] Der Typus der überflüssigen Vermittler, Zwischenhändler, Kommissionäre, der ›Luftmenschen‹ und, selbstverständlich, der jüdische Kapitalist, ist verschwunden. Die sozialen Gegensätze [vermeintliche Voraussetzungen des Antisemitismus] bestehen nicht mehr. Die Juden als Kaste sind aufgehoben worden. […] Aus Schankwirten, Zwischenhändlern, Schiebern, Wucherern – sind Arbeiter, Bauern und Soldaten geworden.«[123]

 

Das ist also die sozialistische Idealvorstellung vom Juden, der völlig assimiliert und dadurch zu einem ganz gewöhnlichen Menschen werden soll. Dieser rote Faden ist folglich auch in unserem Quellenmaterial zu erwarten, wo er sich selbstverständlich eher unausdrücklich bekunden soll (da wir uns hier mit Spielfilmen beschäftigen), und zwar entweder durch Bejahung der Assimilation oder durch Verneinung der Tradition. Nur müssen wir bedenken, dass diese Vision aufgrund des geschichtlichen Zusammenhanges der Filme (NS-Herrschaft, Weimarer Republik usw.) nicht völlig auf der Leinwand verwirklicht werden kann, einfach weil keine sozialistische Gesellschaft, sondern gerade ihr Gegenteil dabei dargestellt wird; jedoch soll zumindest der Wunsch der Juden bzw. der jüdischen Figuren, diese Idealvorstellung zu verwirklichen, also ihr Wunsch nach Assimilation und gesellschaftlicher Ruhe, die nach der sozialistischen Weltanschauung mit der Assimilation zusammenhängt und nur aus ihr hervorgehen kann, im Quellenmaterial nichtsdestoweniger deutlich erkennbar sein.

 
II.a.5. Bemerkung zur sozialistischen Ablehnung des Zionismus

 

Im Anschluss an das vorige Kapitel wäre es hier wohl noch am Platze, Hellers typisch sozialistische Verurteilung des Zionismus in aller Kürze anzuführen, damit wir die sozialistische Ansicht späterhin mit der Darstellungsweise des Zionismus in den Spielfilmen vergleichen können.[124] Abgesehen von der kurzen Abweichung nach dem Zweiten Weltkriege, bildet der nachstehende Wortlaut die Regel kommunistischer Beziehungen zum Zionismus, wenn diesen auch weitere, pragmatischere Ursachen zugrunde lagen: »Der Kommunismus ist schließlich ein unerbittlicher Gegner des jüdischen Nationalismus, der im Zionismus seine ausgeprägte Gestaltung erfahren hat. […] Unter dem Vorwand, ein rückständiges Land (Palästina) modernen Wirtschaftsformen zuführen zu wollen, verelendet und knechtet er in Wirklichkeit, als ein Instrument des britischen Imperialismus, jüdische und arabische Proletarier.«[125] Der Zionismus sei also keine Lösung der Judenfrage und sollte mithin für aufgeklärte Juden gar nicht infrage kommen. Dementsprechend soll er auch nur recht selten in den Filmen vorkommen, und wenn schon, dann ist aber zu erwarten, dass er einen negativen Eindruck macht, der im Einklang mit den ideologischen sowie mit den bekannten pragmatischen Vorschriften steht.

 
II.a.6. Zusammenfassung der Bedeutung des Juden für die DDR

 

Unser Überblick über die Bedeutung des Juden für die DDR ist somit zu Ende gekommen. Dabei haben wir aus verschiedensten Quellen ersehen, dass das Judentum eine dreifache Rolle in der DDR spielt: eine allgemein abendländische als die Antithese schlechthin; eine besonders (gesamt)deutsche als Zeichen des Bruchs mit der NS-Vergangenheit und demzufolge auch als Verbindungsglied zum Westen; und eine weltanschauliche Sonderstellung als Musterbeispiel für die vermeintliche Richtigkeit des Sozialismus, der auf die vollkommene Assimilation des Juden – und nur des Juden – abzielt. Diese drei Bedeutungsströme fließen der DDR zu: Alle drei erklären, warum sich die Regierung der DDR überhaupt mit dem Juden und insbesondere auf der Leinwand beschäftigte. Der letztere erklärt jedoch auch, wie die SED damit umgehen sollte. Ob und inwiefern das Bild des Juden in den ostdeutschen Filmen diesen ideologischen Vorschriften entspricht, lässt sich späterhin, bei unserer Analyse des Quellenmaterials, erfahren. Weiters können wir auf einen problematischen Grundzug der besonderen Bedeutung des Juden für die DDR hinweisen, nämlich auf eine gewisse Widersprüchlichkeit, denn den Bruch des »neuen Deutschland« mit der »faschistischen« Vergangenheit versinnbildlicht der Jude als solcher, während der Sozialismus hingegen eine Idealvorstellung vom vollends assimilierten Juden hat; das Ergebnis dieser Widersprüchlichkeit wird uns ebenfalls in den Spielfilmen begegnen.

 
II.b. Die Judenpolitik der SED

 

Im Nachstehenden soll ein Überblick über die Wirklichkeit[126] in der DDR gegeben werden, obwohl wir uns die ganze Forschung entlang tatsächlich mit gar keinen »wirklichen«, d.h. irgendwann auf Erden lebenden Juden, ob in der DDR oder anderwärts, sondern nur mit auf der Leinwand bestehenden jüdischen Figuren befassen. Unser Thema bezieht sich lediglich auf die dem ostdeutschen Publikum durch die Filme vermittelten Idealvorstellungen, die nicht darauf abzielten, irgendwelche tatsächlich bzw. wahrhaftig »jüdische« Wirklichkeit wiederzugeben, sondern nur eine rein gedankliche Wirklichkeit wiederzuspiegeln vermögen, die immerhin Teil der damaligen, nichtjüdischen[127] kulturellen Wirklichkeit in der DDR bildete. Dieses filmische Wunschbild bildet sohin ein eher unabhängiges Stück Geisteswirklichkeit, d.h. es ist insofern »wirklich«, als das SED-Regime den Juden – wenigstens laut meiner These – wirklich so zeigte. Mit anderen Worten geht es hier um die wirkliche ostdeutsche Darstellung einer fingierten jüdischen Identität. Trotzdem sollen wir die nachstehenden Hintergrundinformationen heranziehen, erstens um über die reale Basis des jüdischen Themas in der DDR zu erfahren, und zweitens um künftige, wenn auch nur mögliche Schwierigkeiten gegebenenfalls besser erledigen zu können.

 
II.b.1. Ostdeutsche Gesamtzahlen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsanteil

 

Der Datenreport des Statistischen Bundesamtes der heutigen BRD gibt Folgendes an: »Im Gebiet der ehemaligen DDR stieg die Bevölkerungszahl nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Folge der Aufnahme von Vertriebenen zunächst ebenfalls an, und zwar bis auf rund 19 Mill. im Jahr 1948. Die Zahl der Vertriebenen in der ehemaligen DDR – dort als ›Neubürger‹ oder ›Umsiedler‹ bezeichnet – betrug 1950 etwa 4,1 Mill., was einem Anteil an der Bevölkerung von 22% entsprach. Nach 1948 ging die Einwohnerzahl der ehemaligen DDR bis zum Mauerbau 1961 Jahr für Jahr zurück, hauptsächlich als Folge der starken Abwanderung in das frühere Bundesgebiet. 1961 lag sie bei 17,1 Mill. Durch die hermetische Abriegelung konnte der Bevölkerungsrückgang nur vorübergehend gestoppt werden. 1973 sank die Einwohnerzahl – auch bedingt durch Geburtendefizite in den 1970er-Jahren – unter die 17-Millionen-Grenze. Die Massenflucht im Jahr 1989 beschleunigte den Bevölkerungsrückgang, und Ende 1990 hatte die ehemalige DDR nur noch 16,0 Mill. Einwohner.«[128] Nehmen wir also pauschal an, dass die ostdeutsche Bevölkerungszahl 17,0 Millionen betrug.

 

Und nun: Wie viele Juden lebten in der DDR? Angaben gibt es nur zu den jüdischen Gemeinden in der SBZ bzw. DDR. Wir müssen aber annehmen, dass sich nicht alle Juden[129] als Mitglieder jüdischer Gemeinden registrieren ließen. Vermutlich war die Zahl solcher Juden in der gesamten SBZ (einschließlich des sowjetischen Sektors Berlins) größer als in den anderen Zonen, wenn dieses Verhalten ja auf kommunistisch-ideologische Gründe zurückzuführen ist oder wenigstens mit solchen zusammenhing; jedoch gab es hingegen höchstwahrscheinlich recht wenige von ihnen, da die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde mit dem Empfang vom AJDC geleisteter materieller Unterstützung verbunden war,[130] und zwar bis 1950[131]. Ohnehin ist für uns nur die amtliche, aus den Mitgliederzahlen der ostdeutschen jüdischen Gemeinden bestehende Judenzahl wichtig, weil sie die einzige war, welche das SED-Regime berücksichtigte.[132]

 

In den meisten Büchern zum Thema wiederholen sich Angaben zur Berliner Gemeinde.[133] Aber diese Zahlen sind problematisch, weil die Gemeindemitglieder in allen vier Besatzungszonen Berlins in sie eingeschlossen sind; Lothar Mertens ist der mir einzig bekannte Forscher, der sich auf die Judenzahl im sowjetischen Sektor bezieht. Er gibt in einer Tabelle zur »[j]üdischen Bevölkerung in der SBZ nach Ländern nach der Volkszählung 1946« an, dass sich 2.535 Juden damals im sowjetischen Sektor Berlins befanden.[134] Ohnehin waren die Gemeinden in anderen Städten in der SBZ weit kleiner als die Berliner: »In Dresden zählte die Gemeinde 1946 zeitweilig 176 Mitglieder, in Erfurt sogar 227, in Halle 87, in Chemnitz 57, in Magdeburg 184 und in Schwerin 90 Mitglieder. Die größte Jüdische Gemeinde in der SBZ außerhalb Berlins war die Leipziger mit 300 Mitgliedern. Zwischen neun und 20 Mitgliedern [soll sein: »Mitglieder«] zählten die Gemeinden von Plauen, Gera, Jena, Eisenach und Mühlhausen, die jedoch Ende der vierziger oder zu Beginn der fünfziger Jahre ihre Tätigkeit einstellten.«[135] Mertens gibt eine Gesamtzahl der Juden in der SBZ sonder Berlin an, die 2.094 beträgt (also insgesamt ca. 4.629 Juden in der gesamten SBZ).[136]

 

Diese Zahlen schwankten den Veränderungen in der ostdeutschen Judenpolitik entsprechend: Infolge des tschechisch-kommunistischen Schauprozesses gegen den Juden Rudolf Slánský und andere, meist jüdische Kommunisten, die im Dezember 1952 als Verschwörer hingerichtet wurden, erreichte die antisemitische und antizionistische Welle der stalinschen Judenverfolgung auch die SED, die u. a. in einer Flucht von Juden aus der am 7. Oktober 1949 gegründeten DDR in den Westen resultierte. So zum Beispiel: »Bis Ende März 1953 flüchteten etwa 550[137] Juden, größtenteils Gemeindemitglieder, aus der DDR in den Westen, darunter wichtige Repräsentanten jüdischen Lebens. Sie berichteten von Hausdurchsuchungen und beruflicher Zurücksetzung. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, in der zahlreiche Juden organisiert waren, wurde aufgelöst.«[138] »Die Mitgliederzahl der Leipziger Jüdischen Gemeinde sank von 317 im Jahre 1950 auf 173 im August 1953. Auch die anderen Gemeinden verzeichneten einen drastischen Rückgang. Eine Mitgliederstatistik der DDR-Gemeinden nennt für das Jahr 1955 noch 1715[139] Mitglieder, wobei aber auch die natürliche Abnahme aufgrund des relativ hohen Durchschnittsalters der Gemeindemitglieder in Rechnung gestellt werden muß.«[140]

 

Es handelte sich also um höchstens 2000 Juden, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung (17,0 Mil. angenommen) von etwa 0,01% entsprach. Jedoch war das Durchschnittsalter, wie oben erwähnt, verhältnismäßig hoch. Die Geburtenziffer konnte die Sterblichkeitsziffer folglich kaum erreichen, und 1976 gab es in der ganzen DDR nur noch 710 Mitglieder jüdischer Gemeinden, deren 64,6% über 60 Jahre alt waren.[141] Harald Schmid gibt einen zusammenfassenden Überblick über die ganze DDR-Zeit: »Bekannten sich 1949 [vor der antisemitischen Welle am Ende der Ära Stalin] noch etwa 3 750 Personen zum Judentum, so sank die Mitgliederzahl auf 1 078 im Jahr 1970 und auf existenzbedrohende 372 Personen im Herbst 1990.«[142] Aber machen wir dennoch mit dem allerdings zu großen, aber etwas bequemlichen Anteil von 0,01% weiter, denn nach allem ist es hier keine statistische Arbeit und wir wollen uns ja nur einen Überblick über das zahlenmäßige Gewicht der Juden in der DDR verschaffen.[143]

 
II.b.2. Vergangenheits(nicht)bewältigung

 

Dem Tode Stalins am 5. März 1953 zufolge ging die oben erwähnte kommunistische Judenverfolgung zu Ende.[144] »The small remnants of the Jewish Communities in the GDR became the recipients of large government grants […] Jews now [1989] living in the German Democratic Republic receive special pensions as Victims of Nazism and partial pensions for any physical damage suffered under Hitler […] Thus since 1953, the GDR government has been more than cooperative in all matters regarding Jews […]«[145] Und doch: »Da die DDR bis zum Herbst 1989 ihr stalinistisches Erbe jedoch niemals wirklich überwand, bestand auch keine Möglichkeit zur wahrheitsgetreuen Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels ihrer Geschichte. Es gab somit auch keine Chance, die Opfer wirklich zu rehabilitieren.«[146]

 

Dennoch überschritt eine Seite dieses Kapitels die episodenhafte Grenze der Ära Stalin und wurde somit zum Merkmal nicht nur der Judenpolitik der SED, sondern auch des grundlegenden Selbstverständnisses des ostdeutschen Regimes, auch wenn es den Anweisungen Moskaus in dieser wie in allen anderen internationalen Angelegenheiten unterworfen war. Damit wird die völlige Verweigerung[147] des Wiedergutmachungsgrundsatzes gemeint, welcher 1952 ins Luxemburger Abkommen mündete. Die hiesige Erwähnung dieser Affäre will sich nicht auf die Frage beziehen, ob der Anspruch seitens Israels durch seinen Staat einerseits und die Jewish Claims Conference andererseits an die Deutschen[148] berechtigt oder gar den Gräueln angemessen[149] war, sondern auf die dieser Politik zugrunde liegende Verantwortungsleugnung. Dabei »kam vor allem der Tatsache, daß Israel im Kalten Krieg auf der anderen Seite dar Barrikade stand, Bedeutung zu.«[150] Jedoch wurde diese Ablehnung in der Ende 1955 (also schon in der Ära Chruschtschow) gegebenen amtlichen Antwort und daraufhin auch in der ostdeutschen Öffentlichkeit folgendermaßen begründet (meine Hervorhebung): »Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat bisher alles in ihren Kräften Stehende getan, um den deutschen Faschismus mit seinen Wurzeln zu vernichten und Bedingungen zu schaffen, die ausschließen, daß von Deutschland nochmals eine Bedrohung der Sicherheit und Existenz anderer Völker – auch des jüdischen Volkes – ausgeht. Den auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik wohnhaften Opfern des Faschismus wurde in großzügiger Weise Unterstützung und Hilfe gewährt. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik hat die von den vier Alliierten festgelegten Reparationsleistungen zur Wiedergutmachung des von dem deutschen Faschismus angerichteten Schadens erfüllt.«[151]

 

Die Erwähnung des privilegierten Zustands der »Opfer des Faschismus«, deren es sowohl Juden als auch Nichtjuden gab, ist nichts anderes als irrelevante Apologetik. Zwar waren so gut wie alle jüdischen Bürger der DDR zu diesem Status berechtigt (weil fast keine jüdischen Kinder in der DDR geboren wurden), aber der israelische Anspruch bezog sich lediglich auf die Eingliederungskosten der ins Land Israels geflüchteten Opfer. Die Grundbehauptung gegen eine ostdeutsche Pflicht zur Wiedergutmachungszahlungen an den Staat Israels war also die historische Diskontinuität,[152] welche die DDR grundsätzlich vom Dritten Reich getrennt habe und aufgrund deren die DDR nicht für die Verbrechen des »deutschen Faschismus«, sondern eher für die Verhinderung seiner möglichen Wiederkunft verantwortlich[153] gewesen sei. Jedoch ergibt sich die Auffassung der neuen Gesellschaftsordnung als Ausrottung der »braunen Vergangenheit« mit der Wurzel, so wirklichkeitsfremd sie auch immer war, ganz logisch aus den weltanschaulichen Grundlinien des Sozialismus im Allgemeinen und der oben dargelegten sozialistischen Betrachtungsweise des Juden im Besonderen.[154] Wie gesagt, seien in der sozialistischen Gesellschaftsordnung die sozialen Gegensätze und Konflikte, bei denen vom Antisemitismus Gebrauch gemacht worden war, beseitigt und somit seien auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Faschismus sowie des Antisemitismus ausgerottet worden. Zur Beiseiteschiebung des Antisemitismus schon von Anfang an schreibt Dieter Schiller: »Schon im zweiten Heft der Zeitschrift [»Aufbau«] findet sich eine Studie von Georg Lukács über den ›Rassenwahn als Feind des menschlichen Fortschritts‹ aus dem Jahr 1943. […] Charakteristischerweise schließt der Begriff des Rassenwahns bei Lukács aber den Antisemitismus ein, über dessen spezielle Problematik dann nicht mehr gesprochen wird. Das ist ein folgenreiches Denkmuster, das viel zur Herausbildung eines selektiven Antifaschismus im öffentlichen Bewusstsein der späteren DDR beigetragen hat.«[155] Der Begriff des »Mitläufers« war in der sozialistischen Auffassung der NS-Zeit von vorneherein undenkbar: Unterm Hakenkreuz habe es nur faschistische Täter und deren verschiedenartige Opfer gegeben bzw. geben können. Dementsprechend wurden die restlichen, gewöhnlichen Deutschen ebenfalls zu Opfern, und zwar zu den allerersten Opfern des »faschistischen« Kapitalismus und seiner Kriegspolitik.

 

Den Abstand zwischen Ideologie und Wirklichkeit fasst Mertens folgendermaßen zusammen: »Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) verstand sich von ihrem Staatsverständnis her als ein ›antifaschistisches‹ Land, in dem der Antisemitismus angeblich ›mit der Wurzel ausgerottet war‹ [soll sein: »‹ war«]. In diesem von Ignoranz gekennzeichneten Selbstverständnis der kommunistischen Machthaber lag eine der Lebenslügen des zweiten deutschen Staates begründet, da die Vergangenheitsbewältigung der Millionen Mitläufer ausblieb und nie eine ernsthafte und repressionsfreie Auseinandersetzung mit der NS-Zeit stattfand. Deshalb wurden antisemitische Grundtendenzen in der Bevölkerung bewußt negiert und vertuscht, da die DDR doch ›antifaschistisch‹ sein sollte. Zugleich wurde staatlicherseits der Antizionismus nicht nur geduldet, sondern sogar tagtäglich in den zentral gelenkten Massenmedien praktiziert.«[156] Gewisse Reste des nationalsozialistischen Antisemitismus haben also in der DDR fortbestanden, was auf einen weiteren, vierten Bedeutungsstrom hinweist, der bei der Bevölkerung parallel zum bei der Regierung wirksamen, sozialistisch-ideologischen Bedeutungsstrom verlief.[157]

 

Es ist aber fraglich, ob die ostdeutschen Spielfilme zum jüdischen Thema u. a. auch darauf abzielten, nationalsozialistische judenfeindliche Vorurteile bei der Bevölkerung durch die sozialistische Idealvorstellung zu ersetzen. In den Filmen kommt die nationalsozialistische Verhaltensweise in den Nazi- und ähnlichen »faschistischen« Figuren zum Ausdruck und wird somit zwar aufs Strengste verneint; aber wie vorhin gesagt, sollte es von vornherein gar keinen Antisemitismus (mehr) in der DDR geben. Es ist daher kaum anzunehmen, dass es eine absichtliche Bekämpfung antisemitischer Vorurteile gab. Eher wahrscheinlicher erscheint die umgekehrte Sichtweise, nämlich dass die in den Filmen häufig anzusehende Verbindung des Antisemitismus mit dem »Faschismus« die Möglichkeit verhindern sollte, vom Antisemitismus in der gerade »antifaschistischen« DDR zu sprechen. Was den oben erwähnten Antizionismus des SED-Regimes anbelangt, so sollen Hinweise auf den Zionismus, wie bereits früher vermutet,[158] nur selten vorkommen (und wenn schon, dann soll er aber auf negative Weise dargestellt werden), da er als Ausdruck von jüdischem Nationalismus bzw. Separatismus den im Sinne der sozialistischen Idealvorstellung assimilierten Juden bzw. jüdischen Figuren keine echte Existenzmöglichkeit bieten solle.[159]

 
II.b.3. Exkurs: Vergleich mit der sorbischen Minderheit

 

Inwieweit die zahlenmäßig völlig bedeutungslose[160] jüdische Minderheit doch von größter kultureller Bedeutung war, kann durch einen Vergleich mit dem Anteil der sorbischen Minderheit an der Gesamtbevölkerung der DDR einerseits und mit ihrer Behandlung durch das SED-Regime andererseits erkannt werden.[161] Die Sorben sind ein kleines slawisches Volk, welches nur in der westlichen, heutzutage deutschen Lausitz, also westlich der Lausitzer Neiße, in Teilen der heutigen Bundesländer Brandenburg und Sachsen sesshaft ist.[162] Die Angaben zu ihrer Anzahl weichen stark voneinander ab. In einem russischen Bericht aus dem Jahre 1955,[163] den mein Mitstudent Arjeh Germanski teilweise für mich übersetzt hat, steht, dass 1946 sich mehr als fünfundzwanzigtausend Menschen in der SBZ zur »sorbischen Nation« bekannten. Aber diese Zahl wird dort für zu gering gehalten und mit damals trotz des Untergangs des Nazi-Regimes noch anhaltender Furcht vor solch einem Selbstbekenntnis erklärt; außerdem seien in diese Zahl nicht alle Gebiete eingeschlossen. Spätere, amtliche Angaben der DDR, die gerade in dieser sowjetischen Veröffentlichung für unzuverlässig gehalten werden, sollen bis zu 250.000 Menschen betragen. Der russische Verfasser selbst schätzt die Zahl der Sorben in der DDR bzw. weltweit auf 150.000. Einen anderen Beleg für die Schwierigkeit, eine Gesamtzahl der sorbischen Bevölkerung anzugeben, bringt die westliche Veröffentlichung des Cambridger Forschers Gerald Stone[164] bei, der sich bis zur vorletzten Seite merkwürdigerweise auf keine absoluten Zahlen bezieht. Allerdings stellt er schon ganz am Anfang fest, dass »they are constantly subject to assimilatory pressures […] How long they will preserve their identity is a matter for speculation. There can be no doubt that the numbers are declining.«[165] Und am Ende seines Buches schreibt er: »A realistic figure today [1972] would be somewhere in the region of 70 000.«[166] Wahrscheinlich hatte er Recht, denn auf der Website der Region Lausitz stehen zurzeit folgende Angaben: »Gegenwärtig gibt es etwa 60.000 Sorben (Wenden), davon leben ca. 40.000 in der Oberlausitz und ca. 20.000 in der Niederlausitz.«[167] Ähnliche, aber etwas unschlüssige Zahlen gibt die Website des Sorbischen Instituts an: »Sorbisch wird heute von ca. 40-60 000 Menschen gebraucht […]«[168]

 

Eines ist aber klar: Es gab weit mehr Sorben in der DDR als Juden.[169] Ebenso wie bei den jüdischen Gemeinden (und aus demselben Grunde) ist für uns auch hier nicht die eigentliche Zahl, die infolge unaufhörlicher Assimilierung wahrscheinlich von schätzungsweise 80.000 in den fünfziger Jahren auf weniger als 60.000 heutzutage gesunken ist, sondern die amtliche Zahl wichtig. Diese Zahl betrug also ca. 250.000, was einem Anteil an der Gesamtbevölkerung (nochmals 17,0 Mil. angenommen) von etwa 1,47% entsprach, und mit anderen Worten: 147-mal so groß wie der jüdische Anteil (mit 70.000 wäre das 0,41% bzw. 41-mal). Angesichts des (vermeintlichen) zahlenmäßigen Gewichts der beiden Minderheitsgruppen wäre also zu erwarten, dass 147-mal so viele Spielfilme zum sorbischen Thema hergestellt worden wären wie zum jüdischen Thema; späterhin werden wir aber sehen, dass dies kaum zutrifft (höchstens 2-3 Spielfilme zum sorbischen Thema gegenüber mindestens 12-13 Spielfilmen zum jüdischen Thema).[170] Trotz des zahlenmäßigen Gewichts gab es kein »sorbisches Thema«, schon aber ein jüdisches, und zwar eben deswegen, weil das begriffliche Judentum, welches durch das Zusammentreffen der drei oben erläuterten Bedeutungsströme gestaltet wurde, in der DDR sehr viel bedeutsamer war als das kaum vorhandene physische Judentum.

 

Ein weiterer, ebenfalls nützlicher Vergleichspunkt der jüdischen Minderheit in der DDR mit der sorbischen ist der politische Zustand beider Gruppen. Die Sorben, die im Gegensatz zum Juden ja keine Sonderstellung als Musterbeispiel für den Sozialismus hatten und deren vollkommene Assimilation demzufolge im Sozialismus nicht erstrebt wurde, genossen die amtliche Rechtsstellung einer nationalen Minderheit in der DDR. So wurde gerade in der neuen Verfassung vom Jahre 1968, die in engster Verbindung mit radikalsozialistischer Denkweise stand, festgeschrieben (Artikel 40): »Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sorbischer Nationalität haben das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur. Die Ausübung dieses Rechts wird vom Staat gefördert.«[171] Aber schon in der alten, d.h. ersten Verfassung der DDR vom Jahre 1949, die sich an die Weimarer Verfassung anlehnte, wurde der Schutz der sorbischen Minderheit gesichert (Artikel 11): »Die fremdsprachigen Volksteile der Republik sind durch Gesetzgebung und Verwaltung in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung zu fördern; sie dürfen insbesondere am Gebrauch ihrer Muttersprache im Unterricht, in der inneren Verwaltung und in der Rechtspflege nicht gehindert werden.«[172]

 

Eine der Folgen dieser Anerkennung im Allgemeinen und deren Festlegung in der neuen Verfassung im Besonderen war die Gründung der »Sorbischen Arbeitsgruppe Film und Fernsehen« im Jahre 1971, »aus der wenige Jahre später der Arbeitskreis sorbischer Filmschaffender hervorging«;[173] im Jahre 1980 wurde die Produktionsgruppe »Sorbischer Film« bei der DEFA gegründet. Diese Gruppen befassten sich im Grund genommen sowohl mit Produktionen für die Sorben als auch mit Produktionen über die Sorben (d.h. für das deutsche Publikum), wodurch der Abstand zwischen der Zahl der Spielfilme zum sorbischen Thema und der der Spielfilme zum jüdischen Thema umso bemerkenswerter wird: Die Bedeutung des Juden für die DDR, aufgrund welcher eine Sondergruppe für Filme zum Judentum bei der DEFA nicht nur unmöglich, sondern auch durchaus unvorstellbar war, lenkte das Augenmerk sowieso auf das jüdische Thema (welches nach 1945 natürlicherweise die nationalsozialistische bzw. »faschistische« Judenverfolgung war).

 

Demgegenüber wurde weder in der neuen noch in der alten Verfassung von Juden bzw. jüdischer Nationalität gesprochen, was im Sozialismus ja ganz und gar unvorstellbar war; ihre jüdische nationale Zugehörigkeit – soweit sich irgendwelche unter den in der DDR gebliebenen Juden in diesem Sinne verstanden bzw. verstehen wollten – wurde also selbstverständlich nicht anerkannt. Für die SED als eine sozialistische Regierung war das Judentum kein Volk bzw. keine Nation, sondern nur noch eine (rechtskörperschaftlich organisierte) Religion,[174] ein überflüssiges Überbleibsel der vergangenen wirtschaftlichen »Kaste«, die nunmehr entbehrliche Schale eines wirklichkeitsfremden Fossils, das sogar im Sozialismus blindlings darauf bestanden habe, sich noch als »jüdisch« bzw. die »jüdische Gemeinde« zu bezeichnen.[175] So wurde den Juden, im Gegensatz zum Zustand der Sorben, bspw. kein eigenes Schulwesen genehmigt.[176] Politische Tätigkeiten unter Bezugnahme auf den Staat Israels waren verboten.[177] Damit sollten die Juden letzten Endes zu »Deutschen mosaischen Glaubens« o. Ä. werden, sodass es »Juden« insofern gäbe, als es »Christen« oder »Moslems« auf Erden gibt;[178] dann wäre das Judentum eine internationale Religion, die im Sozialismus ebenso überflüssig sei wie alle anderen.[179] Dass sich das Judentum, dessen religiösem Gedankengut der Grundbegriff der Auserwähltheit eines bestimmten Volkes innewohnt, anders verstand bzw. versteht, war für die sozialistische Weltanschauung völlig belanglos. Eine solche übernationale Auffassung des Judentums konnte aber in Anbetracht der oben erläuterten Bedeutungsströme auch für das SED-Regime nichts mehr als ein Wunschbild sein, welches voraussetzte, dass der abendländische Grundbegriff des »Judentums« seiner gegenwärtigen bzw. »diesseitigen«, unterscheidenden und absondernden Inhalte entleert wird; aus unserer Quellenanalyse werden wir noch ersehen, dass sich dieses Wunschbild des Juden samt seinen Voraussetzungen tatsächlich aus den Spielfilmen ergibt, welche der ostdeutschen Zuschauerschaft eben diese entleerende bzw. assimilatorische Idealvorstellung vom Juden zu zeigen suchten.

 

Dieser scharfe und wesentliche Unterschied in der politischen Behandlung der jüdischen gegenüber der sorbischen Minderheit ist lediglich durch die oben dargelegte Rolle des Juden als Testfall für die Verwirklichung des Sozialismus erklärlich: Von Marx an wurde das Judentum im Sozialismus als eine sozioökonomische Funktion gedeutet, welche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung innewohne und mit deren Auflösung unnötig werden sollte, sodass die Juden im Sozialismus auf keinen Fall als Nation an sich bzw. als nationale Minderheit anerkannt werden konnten.[180] Demgegenüber waren bzw. sind die Sorben kein Testfall für Weltanschauungen, weshalb sie nach den gewöhnlichen Vorschriften des Sozialismus zur Nationalitätenfrage behandelt werden konnten und demzufolge tatsächlich als eine nationale Minderheit anerkannt wurden, wodurch das SED-Regime auch seine angeblich aufgeklärte Haltung gegenüber Minderheiten bekunden konnte.

 

Diese Erklärung wird m. E. noch einleuchtender, wenn wir den zahlenmäßigen Unterschied zwischen den beiden Gruppen in Erwägung ziehen. Denn rein logisch betrachtet sollte man das gesellschaftliche Gewicht einer beliebigen Bevölkerungsgruppe aus ihrer verhältnismäßigen Größe, d.h. aus ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung folgern, sodass man sich umso strenger an die ideologischen Vorschriften halten müsste, je größer sie ist, und bei ihrer Behandlung umso freier verfahren könnte, je kleiner sie ist. Dass diese logische Schlussfolgerung aber gar nicht auf die jüdische Minderheit in unserem ostdeutschen bzw. sozialistischen Fall zutrifft, bildet ein weiteres Zeugnis für die besondere Bedeutung des Judentums, das hierbei als ideologisches Musterbeispiel fungiert und dessen kulturelles sowie gesellschaftliches Gewicht keinesfalls auf seinen verhältnismäßigen Anteil an der ostdeutschen Gesamtbevölkerung zurückgeht.

 

Wenn wir nun das Fazit aus dem obigen Vergleich ziehen, stellt sich also heraus, dass die Juden in der sozialistischen DDR eine ideologische Sonderstellung hatten, als Musterbeispiel galten und laut der einschlägigen Vorschriften des Sozialismus behandelt wurden, während die Sorben hingegen keinen Sonderfall bildeten und laut der gewöhnlichen Vorschriften behandelt, d.h. als eine nationale Minderheit anerkannt wurden.

 

[61] Christhard Hoffmann, »das Judentum als Antithese. Zur Tradition eines kulturellen Wertungsmusters«, in: Werner Bergmann und Rainer Erb (Hrsg.), Antisemitismus in der politischen Kultur nach 1945 (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990), S. 20-38, hier 21. Unter demselben Titel veröffentlicht worden auch in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils (München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1995), S. 25-46, hier 25.

[62] Das heutzutage bekannteste Beispiel dafür ist die Selbstbestimmung in Nazi-Deutschland durch Ausgrenzung der Juden: Aus der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 ergab sich, wer als »Reichsbürger deutschen oder artverwandten Blutes«, also kurz als »Deutschblütiger« anzusehen war. Indem in der Verordnung bestimmt wurde, wer als Jude gelten sollte, wurde zugleich implizit bestimmt, wer als Deutscher gelten sollte; denn durch die Bestimmung der Antithese wird gleichzeitig auch die These bestimmt. Es wäre daher sinnvoller zu sagen, dass sich das Abendland nicht unmittelbar als die ursprüngliche These, sondern vielmehr als die Antithese der Antithese, also als die gute, weil nicht-»jüdische« Antithese der bösen, weil »jüdischen« These versteht, wie die ursprüngliche (Anti-)These, also das böse »Judentum«, auch immer bestimmt wird. Eines der heutigen Beispiele für eine solche Bestimmung des jüdischen Anderen ist die antithetische Rolle des »bösen« Zionismus; s. bspw. Alain Finkielkraut, »The Religion of Humanity and the Sin of the Jews«, in: Azure, No. 21 (Summer 5765/2005), pp. 23-32

[63] Zum Begriffsgebrauch siehe in Kap. ‎I.b.3, ›Das Signifikat hinter dem »Holocaust«-Signifikant‹, S. 11.

[64] Siehe: מנואלה קונסוני, זיכרון והיסטוריה: מלחמה, התנגדות ושואה באיטליה 1985-1945, חיבור לשם קבלת תואר דוקטור לפילוסופיה (ירושלים: האוניברסיטה העברית בירושלים, תשס״ג), עמ’ 194-195, 196-201

[65] Avishai Margalit and Gabriel Motzkin, »The Uniqueness of the Holocaust«, Philosophy and Public Affairs 25 (1996), pp. 65-83, here 80-81. Siehe auch: Moshe Zimmermann, »Globalisierte Erinnerung«, in: Zeichen, Heft 2 des Jahres 2000 (verfügbar unter: http://www.asf-ev.de/zeichen/00-2-08.shtml), wo es steht: »Daß die Shoah zum Fundament der Welt geworden ist, kann man nicht bestreiten.« – was ja wenigstens auf den so genannten Westen zutrifft.

[66] Diesbezüglich ist die DDR dem Westen ähnlicher als der restliche Ostblock, nicht nur weil sie von ihren deutschen kulturellen Grundlagen her ein untrennbarer Teil des Kernes des Abendlandes immer noch bildete, sondern auch weil die im Grunde genommen ununterbrochene Auseinandersetzung mit der BRD eine kulturelle Absonderung im Allgemeinen und eine Beiseiteschiebung des beiderseits abträglichen Erbes der Judenverfolgung im Besonderen verunmöglichte. Ein solcher Mythos entsteht allerdings allmählich und die Ergebnisse dieses langen Prozesses werden erst heutzutage recht sichtbar; der Weg hierher umging die DDR aber freilich nicht, wenn die Rede dort auch lieber von den Folgen des »Hitlerfaschismus« war als von der Judenverfolgung als solcher.

[67] Inwieweit der Jude auch im Sozialismus als die (diesmal »unproduktive« und »ausbeuterische«) Antithese figurierte, werden wir späterhin u. a. auch aus den Worten der »vormaligen« Juden Karl Marx, Otto Heller und Alfred Kantorowicz ersehen, und zwar in Kap. ‎II.a.4, »Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel«, auf S. 21 ff.

[68] Vorher, nämlich in Kap. ‎I.b.4, »Zur angemessenen Definition des Judenbegriffs« (auf. S. 13 ff.), haben wir schon von einem anderen Gesichtspunkt aus die dreifache Beziehung zwischen Begriff, Form (Definition) und Inhalt (Wert) besprochen.

[69] Also nicht als Italiener, Ungar, Rumäne usw., sondern nur als Reichsdeutscher, Volksdeutscher usw.

[70] Es wird hier nicht beabsichtigt, eine Diskussion über die österreichische Nationalidentität zu eröffnen, sondern nur darauf hinzuweisen, was von einem geschichtswissenschaftlichen (im Gegensatz zum politischen) Gesichtspunkt aus keinesfalls wegfallen darf. Im Übrigen soll man bemerken, dass Österreich und die BRD, d.h. »Deutschland«, seit dem 1. Januar 1995 durch ein und denselben politischen Oberrahmen, nämlich durch die noch im Werden befindliche EU, (wieder) zusammengeschlossen sind; mit dieser Problematik möchte ich mich im Rahmen meiner Dissertation beschäftigen.

[71] Siehe dazu in Kap. ‎I.b.2, ›Was heißt hier »Identität«?‹, auf S. 7 ff.

[72] In letzter Zeit versucht nämlich die österreichische Regierung, die österreichische Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen und insbesondere für den Holocaust nicht nur verbal einzugestehen, sondern auch Wiedergutmachungszahlungen zu leisten, wie es die BRD seit langem tut. Darüber hinaus finanziert Österreich seit Jahren in einer Reihe von Gedenkstätten, Museen und anderen Einrichtungen in Polen einen »Gedenkdienst«, der im jährlichen Wechsel vorzüglich ausgebildete und hoch motivierte Freiwillige vermittelt. Zum diesbezüglichen, letzten Endes ebenfalls unausbleiblichen Politikwechsel in der DDR in den 1980er Jahren (und insbesondere am Ende derselbigen) siehe zum Beispiel bei Angelika Timm, Jewish Claims against East Germany: Moral obligations and Pragmatic Policy (Budapest: Central European University Press, 1997), chap. 4: »New Accents in the Eighties«, pp. 123-180

[73] Das schlechte Erbe der Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 soll also wenigstens im Rahmen des akademisch-wissenschaftlichen Bereiches überwunden werden. Siehe auch Anm. 148 auf S. 34. Diese erforderliche Einbeziehung Österreichs ist allerdings schon im Werden begriffen; siehe z. B. Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau (Hrsg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (Frankfurt a. M.: Campus, 1995).

[74] Also nicht weil sie schon vorm Dritten Reich an den damaligen deutsch-österreichischen Erlebnissen eher unbeteiligt war, sondern vielmehr weil die Schweizer den Krieg nicht ganz und gar als Deutsche miterlebt haben. Dasselbe gilt auch für das Fürstentum Liechtenstein, und was das Großherzogtum Luxemburg angeht, so kann es meines Wissens schon als ein besetztes Land zählen, selbst wenn es 1942 annektiert wurde.

[75] Oder aber auch zum Kriegserlebnis der Alliierten, ob der Westmächte oder der Russen, obwohl der Zwiespalt in diesem Fall schwächer ist als im deutschen, da der Antisemitismus bei den Alliierten verhältnismäßig verborgen war und Juden (also im Ggs. zur deutschen Wehrmacht auch »Volljuden«) in ihren Streitkräften mitkämpfen konnten bzw. mussten, wobei die »Jewish Brigade« mit ihrer ausgesprochen jüdischen Zusammensetzung allerdings eine Ausnahme bildete.

[76] Diese Feststellung bezieht sich nicht auf die weltanschauliche Theorie, sondern auf die alltägliche Wirklichkeit und steht sohin in keinem Widerspruch zur sozialistischen und daher auch ostdeutschen assimilatorischen Idealvorstellung vom Juden (s. in Kap. ‎II.a.4, »Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel«, auf S. 21 ff.).

[77] Die Renten und sonstige Zahlungen an die Überlebenden, wie sie in der DDR aus der Berechtigung zum Status der »Opfer des Faschismus« hervorgingen, sind in dieser Hinsicht völlig belanglos, da diese Unterstützung den Juden nicht als solchen gewährt wurde, selbst wenn eine nachträgliche Identifikation der Juden, deren fast alle aufgrund des verhältnismäßig hohen Durchschnittsalters dazu berechtigt waren, mit diesen Zahlungen erfolgte.

[78] Auf die Einzelheiten der einzigartigen österreichischen Ausnahme, welche im vorigen Kapitel erwähnt worden ist, können wir hierbei leider nicht eingehen.

[79] Angaben zum Anteil der jüdischen Minderheit in der DDR sind in Kap. ‎II.b.1, »Ostdeutsche Gesamtzahlen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsanteil«, auf S. 31 ff. zu finden.

[80] Harald Schmid, Antifaschismus und Judenverfolgung. Die »Reichskristallnacht« als politischer Gedenktag in der DDR (Göttingen: V&R unipress, 2004), S. 12

[81] Das gilt im Übrigen auch für das heutige, (wieder) vereinigte Deutschland.

[82] Robin Ostow, Jews in Contemporary East Germany: The Children of Moses in the Land of Marx (London: Macmillan, 1989), p. 141

[83] Zur sozialistischen Deutung der jüdischen Rolle in der Welt- und insbesondere abendländischen Geschichte als Vermittler siehe in Kap. ‎II.a.4, »Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel«, auf S. 21 ff., v. a. in den Worten Otto Hellers.

[84] Robin Ostow, »Das Erbe des Holocaust im antifaschistischen Deutschland. Die Jüdische Gemeinde Ost-Berlins und ihre Integration in die Deutsche Demokratische Republik«, in: Werner Bergmann und Rainer Erb (Hrsg.), ebd., S. 332-344, hier 342

[85] Ebd.

[86] Geb. am 14. Dezember 1897 in Wien, gest. am 24. März 1945 im KZ Ebensee (Oberösterreich).

[87] Otto Heller, Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus (Wien und Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1931), S. 6-7

[88] Siehe dazu in Kap. ‎II.a.1, »Die kulturelle Rolle des Juden als die abendländische Antithese«, auf S. 17 f.

[89] Siehe Anm. 64, auf S. 17

[90] Im Folgenden beziehe ich mich auf die folgende Ausgabe: Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften. Herausgegeben von S. Landshut und J. P. Mayer unter Mitwirkung von F. Salomon (Leipzig: Alfred-Kröner-Verlag, 1932), erster Band, S. 227-255 (erster Teil) und 255-263 (zweiter Teil)

[91] Und zwar als Antwort auf zwei im Jahr zuvor veröffentlichte Schriften Bruno Bauers; siehe: Bruno Bauer, Die Judenfrage (Braunschweig: Friedrich Otto, 1843); sowie: Bruno Bauer, »Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden«, in: Georg Herwegh (Hrsg.), Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz (Zürich und Winterthur: Verlag des Literarischen Comptoirs, 1843), Jahrgang 1, Band 1 (Juli 1843) [der einzige Band], S. 56-71. Zur Person Bruno Bauers siehe: Douglas Moggach, »Bruno Bauer«, in: Edward N. Zalta (Ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Edition of Fall 2005 (unter folgender Webadresse verfügbar: http://plato.stanford.edu/entries/bauer). Allerdings haben wir hierbei gar kein Interesse an Bauers, sondern nur an Marxens Stellungnahme zur Judenfrage.

[92] Was ja im Einklang mit der Rolle des Juden als die abendländische Antithese steht, denn nicht nur die Fassung der Judenfrage, sondern auch die Bestimmung des Juden an sich ändert sich je nach dem jeweiligen, nichtjüdischen Selbstverständnis und bildet somit stets das Spiegelbild dieses Selbstverständnisses (s. dazu in Kap. ‎II.a.1, »Die kulturelle Rolle des Juden als die abendländische Antithese«, auf S. 17 f.).

[93] Diese Beobachtung dürfen wir weiterentwickeln: Später soll sich also der Jude im nationalen Gegensatz zum Staat befinden, der ein bestimmtes Volk (etwa das »deutsche«) als seine Grundlage bekennt, im rassischen Gegensatz zum Staat, der eine bestimmte Rasse (etwa die »arische«) als seine Grundlage bekennt oder aber auch im klassengesellschaftlichen Gegensatz zum Staat, der eine bestimmte Klasse (etwa das »Proletariat«) als seine Grundlage bekennt – kurzum genauso, wie es Christhard Hoffmann erklärt hat (s. in Kap. ‎II.a.1, »Die kulturelle Rolle des Juden als die abendländische Antithese«, auf S. 17 f.).

[94] Damit meint Marx, in dessen Abhandlung die seinerzeitigen USA als Beispiel für die abträglichen Folgen der ausbeuterischen Judaisierung der Gesellschaft dienen (s. etwa S. 258), dass es dort leichter sei, die seinem Verständnis nach eigentliche Natur der Judenfrage richtig zu erkennen, weil sie dort nicht mehr von der christlichen Theologie verhüllt sei.

[95] Marx, ebd., S. 232-233. Das besagte Verhältnis weist auf einen Mangel im Staatswesen hin, wie im Nachstehenden erklärt.

[96] Marx, ebd., S. 234

[97] Marx, ebd., S. 234-235

[98] Marx, ebd., S. 233-234 (Hervorhebungen im Original): »Da aber das Dasein der Religion das Dasein eines Mangels ist, so kann die Quelle dieses Mangels nur noch im Wesen des Staates selbst gesucht werden. Die Religion gilt uns nicht mehr als der Grund, sondern nur noch als das Phänomen der weltlichen Beschränktheit. Wir erklären daher die religiöse Befangenheit der freien Staatsbürger aus ihrer weltlichen Befangenheit. Wir behaupten nicht, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben müssen, um ihre weltlichen Schranken aufzuheben. Wir behaupten, daß sie ihre religiöse Beschränktheit aufheben, sobald sie ihre weltliche Schranke aufheben. […] Den Widerspruch des Staats mit einer bestimmten Religion, etwa dem Judentum, vermenschlichen wir in den Widerspruch des Staats mit bestimmten weltlichen Elementen, den Widerspruch des Staats mit der Religion überhaupt, in den Widerspruch des Staats mit seinen Voraussetzungen überhaupt.«

[99] Marx, ebd., S. 257

[100] Siehe auch Marx, ebd., S. 259: »Der Jude, der als ein besonderes Glied in der bürgerlichen Gesellschaft steht, ist nur die besondere Erscheinung von dem Judentum [also der »jüdischen« Stellung bzw. Funktion innerhalb] der bürgerlichen Gesellschaft. […] Aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.«

[101] Marx., ebd., S. 257-258

[102] Marx, ebd., S. 263

[103] Hierfür wird die folgende Schriften- und Redensammlung in deutscher Übersetzung herangezogen: Wladimir I. Lenin, Über die Judenfrage [Herausgeber ungenannt] (Wien und Berlin: Verlag für Literatur und Politik, 1932)

[104] Lenin, »Assimilierung oder Absonderung?«, aus: »Die Stellung des ›Bund‹ in der Partei«, Iskra vom 22. Oktober 1903, in: Lenin, ebd., S. 12-16, hier 12-14

[105] Heller, ebd., S. 5

[106] Ebd.

[107] Dass sogar »jüdische« Denker bzw. Denker jüdischer Abkunft – wie Marx, Heller und im Nachstehenden auch Kantorowicz – den Juden als den im Wesentlichen antithetischen Anderen beschreiben, soll uns im Übrigen gar nicht wundern, erstens weil die europäischen Juden ebenso der abendländischen Denkweise unterworfen sind wie alle anderen Europäer, und zweitens weil sich ein »gewesener« Jude (zum Beispiel) gewöhnlich einer umso dringenderen Notwendigkeit ausgesetzt fühlt, seiner neuen Umgebung zu bekunden, wie sehr er sich von seiner früheren Gesellschaft distanziert hat.

[108] Ebd., S. 27

[109] Ebd., S. 30

[110] Ebd., S. 115

[111] Ebd., S. 117

[112] Ebd., S. 117

[113] Ebd., S. 118

[114] Ebd., S. 83

[115] Ebd., S. 122-123

[116] Ebd., S. 127-128

[117] Ernst Johannsen et alii, Klärung. 12 Autoren [und] Politiker über die Judenfrage (Berlin: Tradition Wilhelm Kolk, 1932)

[118] Wobei die allerdings nicht mitgezählten Auszüge aus Friedrich Nietzsches Schriften eine Ausnahme bilden.

[119] Otto Heller, »Kommunismus und Judenfrage«, in: Klärung, S. 79-96, hier 81

[120] Alfred Kantorowicz, »Liquidation der Judenfrage«, in: Klärung, S. 153-168, hier 157

[121] Ebd., S. 159-160

[122] Bekanntlich wich die sowjetische, insbesondere die stalinsche Praxis in mancher Hinsicht sehr stark von der sozialistischen Theorie ab, wofür die Geschichte des jüdischen autonomen Gebiets in Birobidschan, auf welche wir hier leider nicht eingehen können, als treffendes Beispiel dienen kann. Allerdings strengte sich Kantorowicz (wie auch Heller u. v. a.) an, von den vielen Missklängen abzusehen, was freilich nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass die Umsetzung dieses Vorhabens in die Tat erst kurze Zeit zuvor begonnen hatte, weil sowohl die bloße Idee als auch deren Einzelheiten – etwa der (zumindest anfängliche) Gebrauch des Jiddischen, d.h. der Verzicht auf Assimilation – die Grundsätze der sozialistischen Lösung der Judenfrage aufs Strengste widersprachen.

[123] Ebd., S. 167-168

[124] Siehe in Kap. ‎VI.b, »Behandlung der weltanschaulichen Alternativen zur Religion«, auf S. 85 ff.

[125] Otto Heller, »Kommunismus und Judenfrage«, in: Klärung, S. 79-96, hier 96

[126] Eine kurze Erklärung des hiesigen Gebrauchs des Wirklichkeitsbegriffs ist in Kap. ‎I.b.1, ›Politisch-ideologische »Wirklichkeit« gegenüber filmischer »Fiktion«‹, auf S. 6 f., zu finden.

[127] Selbstverständlich gab und gibt es noch »wirkliche« Juden, deren Selbstverständnis als Juden dem SED-Wunschbild mehr oder weniger entspricht. Sie bezeichnen sich also nicht als Juden und weigern sich aus ideologischen Gründen, als solche bezeichnet zu werden. Sie sind aber eine bestimmt unerhebliche Minderheit, die meiner Meinung nach nicht in Betracht gezogen zu werden bräuchte, selbst wenn es irgendetwas mit unserer hiesigen Fragestellung zu tun hätte.

[128] Statistisches Bundesamt [der BRD] (Hrsg.), Datenreport 2004. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland (Keine Ortsangabe: Bundeszentrale für politische Bildung, 2004), S. 33.

Der ganze Report steht auf folgender Webadresse zur Verfügung:

http://www.destatis.de/datenreport/d_datend.htm

Der betroffene Auszug: http://www.destatis.de/download/d/datenreport/1_01gesch.pdf

[129] Selbstverständlich bleiben jüdische Insassen von DP-Lagern, Juden auf dem Wege in die USA oder das Land Israels u. Ä. unberücksichtigt. Ich meine hier nur Juden, die sich dafür entschieden, sich in der SBZ bzw. DDR niederzulassen, ohne aber Mitglieder der örtlichen jüdischen Gemeinden zu werden.

[130] Ostow (S. 2) erwähnt die damalige Frage, wer als Jude zählen konnte, um als Mitglied aufgenommen werden zu können und die damit verbundene materielle Unterstützung der AJDC bekommen zu dürfen. Aber unser Zweck ist ja nur einen Überblick zu geben.

[131] Mario Keßler, Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967 (Berlin: Akademie Verlag, 1995), S. 102

[132] Selbstverständlich war sie auch die einzige, über die dieses Regime verfügte.

[133] Keßler, S. 100 (AJDC-Reporten entnommen): Im Februar 1945 hatte die jüdische Gemeinde zu Berlin 7070 Mitglieder. Timm, S. 59: Fast 8000 im Jahre 1948. Ähnliche Zahlen werden in anderen Werken angegeben.

[134] Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990 (Hildesheim: Georg Olms, 1997), S. 28

[135] Keßler, S. 100

[136] Mertens, ebd.

[137] Diese Zahl wiederholt sich bei Ostow, S. 5.

[138] Keßler, S. 149

[139] Es steht bei Keßler nicht fest, ob in dieser Zahl auch die Ostberliner Gemeinde einbegriffen ist. Die Miteinbeziehung dieser größten ostdeutschen jüdischen Gemeinde scheint mir aber in Anbetracht der von Mertens angegebenen Zahl von 2.094 in der SBZ außer Berlin befindlichen Juden sowie der obigen Auswanderungszahlen unerlässlich.

[140] Keßler, S, 103

[141] Mertens, S. 114

[142] Harald Schmid, ebd., S. 12

[143] Die zahlenmäßigen Angaben werden sich besonders beim Vergleich mit den Sorben als wichtig erweisen; siehe in Kap. ‎II.b.3, »Exkurs: Vergleich mit der sorbischen Minderheit«, auf S. 36 ff.

[144] Aber nicht gleich danach: »[…] Stalin’s death on 5 March heightened the uncertainty and tension among Jews in all sectors of the divided city.« (Ostow, S. 5). Daher die obige Bezugnahme auf »Ende März«.

[145] Ostow, S. 5-6

[146] Keßler, S. 105

[147] Erst Ende 1988 gab endlich das Honecker-Regime seine Einwilligung zu einer »symbolischen« Wiedergutmachungsgeste über einen Betrag von 100 Millionen US-Dollar, die ein Fünftel der fast 40 Jahre zuvor geforderten Summe ausgemacht hätte und freilich nie stattfand. Siehe dazu: Lothar Mertens, »Die SED und die NS-Vergangenheit«, in: Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau (Hrsg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland (Frankfurt a. M.: Campus, 1995), S. 194-211, hier 203

[148] Hier tritt nun wieder das österreichische Problem, denn sowohl die Regierung als auch die Bevölkerung der BRD waren für die Verbrechen des Dritten Reiches ebenso verantwortlich wie jene der Zweiten Republik. Mit anderen Worten: Das nationalsozialistische Regime war in der »Ostmark« bzw. den »Alpen- und Donaureichsgauen« ebenso diktatorisch wie im »Altreich«. Von einem rein logischen Gesichtspunkt aus, der von den politischen Erwägungen der Moskauer Erklärung absieht, sollte also der jüdische Anspruch entweder an alle deutschen Staaten, die aus den Ruinen des Dritten Reiches hervorgingen, oder an keinen von ihnen gestellt werden.

[149] Denn heute besteht schon gar kein Zweifel darüber, dass mit der westdeutschen Einwilligung zur Wiedergutmachung nicht nur die Entschädigung für das geplünderte jüdische Vermögen gemeint war, oder wenigstens darüber, dass die west- und später gesamtdeutsche Allgemeinheit unter »Wiedergutmachung« mehr als die materielle Sache verstehen wollte bzw. will.

[150] Timm, S. 131. Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch die finanzielle Last an sich eine gewisse Rolle spielte, da unter allen Menschen immerhin auch Sozialisten, eben deren eigener Weltanschauung nach, durch wirtschaftliche Gründe bewegt werden.

[151] Zitiert in Timm, S. 137

[152] Siehe auch: Agnes Blänsdorf, »Die Einordnung der NS-Zeit in das Bild der eigenen Geschichte. Österreich, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich«, in: Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau (Hrsg.), ebd., S. 18-45, hier 27-32

[153] Von einer »Schuld« war gar keine Rede und zwar mit gutem Grunde: Wären alle zeitgenössischen Deutschen des Holocaust schuldig gewesen, so trug eigentlich keiner von ihnen wahrhafte Schuld. Die Schuld ist ein im Grunde genommen rechtlicher Begriff, der nur im Vergleich mit der antithetischen »Unschuld« auf irgendetwas hinweisen kann. Bedeutung kommt ihr erst zu, nachdem eine Strafe an ihr gekoppelt worden ist, und da Gesamtbevölkerungen schließlich nicht als solche bestraft werden können, lässt sich der Schuldbegriff nicht auf sie anwenden. Im Übrigen trägt u. a. auch dieser unvermeidliche Umstand zum Verständnis dessen bei, warum die weitgehenden Entschlüsse in der Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin, dem so genannten Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, wo vom »deutschen Volke« die Rede war, nur teilweise in die Tat umgesetzt wurden bzw. werden konnten (der vollständige Text des Abkommens steht unter folgender Webadresse zur Verfügung: http://www.documentarchiv.de/in/1945/potsdamer-abkommen.html).

[154] Siehe dazu in Kap. ‎II.a.4, »Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel«, auf S. 21 ff.

[155] Dieter Schiller, »Alltag, Widerstand und jüdisches Schicksal. Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich in der literarischen Öffentlichkeit der SBZ und frühren DDR«, in: Werner Bergmann, Rainer Erb und Albert Lichtblau (Hrsg.), ebd., S. 393-407, hier 394-395

[156] Lothar Mertens, »Antizionismus: Feindschaft gegen Israel als neue Form des Antisemitismus«, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils (München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1995), S. 89-100, hier 94

[157] Über die drei Bedeutungsströme, die für das SED-Regime galten, wird in Kap. ‎II.a, »Die dreifache Bedeutung des Juden für die DDR«, auf S. 17 ff. diskutiert.

[158] In Kap. ‎II.a.5, »Bemerkung zur sozialistischen Ablehnung des Zionismus«, auf S. 30 f.

[159] Zur Darstellungsweise des Zionismus siehe in Kap. ‎VI.b, »Behandlung der weltanschaulichen Alternativen zur Religion«, auf S. 85 ff.

[160] Siehe dazu in Kap. ‎II.b.1, »Ostdeutsche Gesamtzahlen gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsanteil«, auf S. 31 ff.

[161] Hier wird notabene keine Gleichsetzung beider Minderheitsgruppen beabsichtigt; ganz im Gegenteil, denn dieser Vergleich soll gerade darauf Licht werfen, wie groß der Abstand zwischen den kulturellen Rollen beider Gruppen ist, und zwar dem jeweiligen Bevölkerungsanteil umgekehrt proportional.

[162] Gerald Stone, The Smallest Slavonic Nation: The Sorbs of Lusatia (London: Athlone, University of London, 1972), p. 1

[163] Die Umschrift im Webkatalog der Universitätsbücherei auf dem Skopusberg lautet: Mikhail Ivanovich Semiriaga (Михаил Иванович Семиряга), Luzhichane (Лужичане) (Moskva: Akademiia Nauk SSSR, 1955) (Москва: Академия Наук СССР, 1955). Herr Germanski hat frei aus den ersten Seiten übersetzt.

[164] Siehe Anm. 162.

[165] Stone, p. 2

[166] Stone, p. 184

[167] http://www.lausitz.de/Regionales/de/Sorben%252FWenden.html

[168] http://www.serbski-institut.de/sipows5.html

[169] Damit wird selbstverständlich nicht bestritten, dass es in der deutschen Geschichte schlechthin mehr Juden gab als Sorben und dass die jüdische Gegenwart in der deutschen Kultur weit größer und einflussreicher war bzw. ist als die sorbische; ganz im Gegenteil: Es ist gerade der lange Schatten des Juden (womit übrigens nichts Negatives gemeint wird), welcher dem begrifflichen Judentum seine große Bedeutung verlieh bzw. noch immer verleiht, selbst wenn das physische Judentum an sich diese Bedeutung nicht zu rechtfertigen vermag.

[170] Siehe in Kap. ‎III.c, »Statistische Überlegungen«, auf S. 43 ff.. Um den Anteil jeder der beiden Minderheitsgruppen an den Themenbereichen der ostdeutschen Filmherstellung ernsthaft zum Vergleich heranziehen zu können, müssen wir zuerst anfangen, uns mit den Spielfilmen zum jüdischen Thema bekannt zu machen, was ja im besagten Kapitel getan wird. Dort werden wir auch den Vergleich mit den Filmen zum sorbischen Thema ziehen.

[171] Der vollständige Wortlaut dieser Verfassung steht unter folgender Webadresse zur Verfügung:

http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1968.html

Im Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974 wurde Artikel 40 nicht berührt (siehe: http://www.verfassungen.de/de/ddr/ddr-gesetz74.htm).

[172] http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1949.html

Vgl. mit Artikel 113 der Weimarer Verfassung: »Die fremdsprachigen Volksteile des Reichs dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht, sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden.«

(http://www.documentarchiv.de/wr/wrv.html)

[173] Diese Angaben sind dem folgenden, anscheinend nur im Internet veröffentlichten Aufsatz entnommen: Toni Bruk, »Der Film bei den Lausitzer Sorben«, http://www.rastko.org.yu/rastko-lu/uvod/tbruk-film_ger.html (s. auch Anm. 209 auf S. 45).

[174] Siehe Ostow (ebd., S. 7): »In East Berlin [d.h. in der DDR] […] Judaism is defined as a ›faith‹ […]« (die Religion als solche war in der DDR zwar unerwünscht, wurde aber geduldet.)

[175] Aber, wie vorher erklärt, hatte die SED letzten Endes großes Interesse an der Erhaltung eben dieses Fossils, das der Außenwelt den grundsätzlichen Bruch mit dem Nationalsozialismus bzw. »Faschismus« gerade durch seine längst veraltete, weltanschaulich unangemessene Jiddischkeit unwiderlegbar zeigen sollte; siehe dazu in Kap. ‎II.a.3, »Die besondere Rolle des Juden in Deutschland nach 1945«, auf S. 20 ff.

[176] Siehe bei Ostow, z. B. auf Seite 117 (einem Interview mit Thomas Eckert entnommen): »In the GDR there are no special schools or classes for Jewish children.«

[177] Ostow, z. B. Seite 19 (aus einem Interview mit Dr. Peter Kirchner): »Ostow: Does the Jüdische Gemeinde take a position on developments within Israel? Kirchner: No. We have an agreement with our state institutions that we take no position on the situation in the Middle East […] this theme has become a bit of a taboo.«

[178] Vgl. mit Heller, S. 123: »Das Ergebnis der Auflösung der Kaste und des Ghettos auf religiösem Gebiet ist das Entstehen einer jüdischen Kirche. Die jüdische Religion wird verkirchlicht, sie soll eine Religion wie irgendeine andere werden […]«

[179] Die Folgen dieser Problematik bei den ostdeutschen Juden fasst Ostow (S. 142) folgendermaßen zusammen: »[I]n the GDR the main break [innerhalb des örtlichen Judentums] is between the Jews in the Jüdische Gemeinde and the Jews in the SED.« Das heißt, dass religiöse Tätigkeit im Rahmen der jüdischen Gemeinde nicht im Einklang mit politischer Tätigkeit in der sozialistischen Partei stand – und, wie aus unserer Diskussion hervorgeht, auch nicht stehen konnte.

[180] Siehe in Kap. ‎II.a.4, »Die ideologische Stellung des Juden als Musterbeispiel«, auf S. 21 ff. (insbesondere Lenins Worte zur nationalen Stellung der Juden).

 

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Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

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