Meine Wurzeln

BLOG: un/zugehörig

Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

AhasverDen Anregungen zufolge schreibe ich nun relativ kurz über die eigenen Wurzeln.

(links: Ahasver in den Augen Paul Gustave Dorés. Ob diesem abendländischen Motiv jetzt endlich ein Ende gesetzt ist?)

Eine Vorbemerkung: Dieser Text ist von der Choronologs-Sprachbarriere betroffen, fremdsprachige Zeichen in polnischen und rumänischen Ortsnamen sind hier darum computertechnisch falsch wiedergegeben.

Väterlicherseits

…stamme ich aus dem ehemals zaristischen Bessarabien, einem der osteuropäischen Gebiete, in denen bis zur tiefen Zäsur, dem Zweiten Weltkrieg, neben einheimischen Völkern auch Deutsche (man denke etwa an die Familie des Bundespräsidenten Horst Köhler) und Juden lebten. Meine Großeltern wurden in relativ wohlhabende, nichtsdestoweniger kinderreiche Familien geboren.
 
Mein Großvater (dessen Namen mir übrigens als zweiten Namen gegeben worden ist) studierte Medizin im kleinrumänischen Jassy (rum. Ia_i) und ließ sich danach als Arzt im nordbessarabischen und inzwischen rumänisch gewordenen Jedinitz (rum. Jedincy, heute Edinec) nieder. In diesem nicht weit von der ehemals cisleithanischen bzw. österreichischen Bukowina gelegenen Städtl besaß die Familie seiner Frau bzw. meiner Großmutter, die als Kind übrigens einmal Nikolaus II. erlebt hatte, ein kleines (soweit ich mich erinnern kann: hydraulisches) Kraftwerk.
 
1940 wurde das Land vom sowjetischen Russland eingenommen. 1941 erkannten meine Großeltern die bevorstehende Gefahr und flohen als einzige vor den Deutschen ostwärts. Die restliche Familie ließ sich nicht überreden und blieb zurück. Die Flucht vor der immer vorwärts rückenden Front führte meine Großeltern schließlich bis ins zentralasiatische Taschkent, wo mein Vater 1943 geboren wurde.
 
Dem zehn-, vielleicht hunderttausendfachen Hungertod, der im damals von Flüchtlingsströmen überfüllten Usbekistan tobte, nur schwerlich entkommen, kehrten sie nach Kriegsende zu dritt nach Jedinitz zurück, um nach ihrer Familie zu suchen. Dort stießen sie allerdings nur auf die Mutter meiner Großmutter, die als Sklavin verschiedene Lager in Polen und den Todesmarsch gen Süden überlebt hatte, bis sie letzten Endes in Dachau befreit worden war.
 
Als die Hoffnung starb, weitere Familienangehörige oder andere Verwandte noch am Leben zu finden, machten sie sich alsdann – das muss um 1946 gewesen sein – zu viert auf den Weg nach Israel. Ihr Schiff wurde jedoch von den Briten entdeckt. Sie wurden gefangen genommen und in eines der britischen Konzentrationslager für Juden auf Zypern gebracht, aus dem sie erst 1949 freikamen.
 
Mein Vater blieb Einzelkind. Meine zwei älteren Schwestern und ich sind mithin die letzten Überbleibsel dieses Stammes. Seit wenigen Jahren habe ich in Israel zwei süße Nichten, welche jedoch keinen der im "Dorten" Geborenen mehr kennen lernen können.
 
Auf dem Grabmal meiner Großeltern wird schriftlich der Familie gedacht, die dem "verfluchten" Europa zum Opfer fiel.
 
In Bessarabien bin ich noch nie gewesen. Wozu auch? Da kann man heute nichts mehr finden. Das Land, aus dem mein Vater kam, ist seitdem dahin.
 
 
Mütterlicherseits
 
…stamme ich – wiederum mütterlicherseits – aus dem ehemals cisleithanischen bzw. österreichischen Ostgalizien, aus verschiedenen Städtln in der Umgebung von Ternopil/Tarnopol: Probu|na, KopyczyDce und Husiatyn, aber auch aus dem mittelgalizischen Prömsel/Przemy[l. Dort ist meine Großmutter 1921 in eine (ebenfalls) kinderreiche Familie geboren. 1918 wurde das Land polnisch und meine Urgroßeltern mussten den Antisemitismus der neuen Herrscher wahrnehmen.
 
Als die Familie einen Sohn bekam, weigerte sich meine Urgroßmutter, in diesem Land zu bleiben, wo ihr Sohn sonst später in die polnische Armee müsste. 1925 wanderten sie mithin ins damalige Cisjordanien bzw. Westpalästina aus, welches für sie aber das Land Israels war.

Der besagte Sohn, der kleinere Bruder meiner Großmutter, ging später doch in die Armee. Das war aber die jüdische Brigade, in der er im Namen der jüdischen Nation zusammen mit seinen Volksgenossen an der Seite der Alliierten gegen Deutschland kämpfte. An der norditalienischen Front bekam er eine erfreuliche Nachricht aus der Heimat, und es gelang ihm, von dort bis ins jüdische Land zurück seine Gratulation zu versenden. Dort wurde nämlich seine Nichte, meine Mutter, geboren, während er aus jüdischem Pflichtbewusstsein heraus freiwillig für die Befreiung Europas, jenes verfluchten Europa, sein Leben riskierte (und zwar grundsätzlich noch mehr als die nichtjüdischen Alliierten: Man braucht ja nicht lange darüber nachzudenken, um zu verstehen, dass Soldaten der jüdischen Brigade, die an ihrer Uniform stolz das Brigadenwappen mit dem Judenstern trugen, von vornherein keine Chance hatten, von den Deutschen ggf. nur gefangen genommen zu werden). Nach dem Sieg halfen seine Kameraden und er den Überlebenden, aus den DP-Lagern illegal nach Israel zu flüchten.

Meine Urgroßeltern und deren Kindern blieben der einzige Familienzweig, der Galizien rechtzeitig verließ. Das Schicksal der Verwandtschaft konnten sie nach dem Krieg nicht in Erfahrung bringen. Es war keiner mehr da.
 
Auch dort, in Ostgalizien, bin ich noch nie gewesen (sondern nur im westgalizischen Krakau). Heute liegt diese Landschaft in der Ukraine und es wird dort nur noch Ukrainisch gesprochen. Wie Bessarabien, so ist heute auch Galizien nur noch auf uralten Friedhöfen und Ähnlichem zu finden.
 
Mein Großvater mütterlicherseits wurde 1914 in Jerusalem geboren, in eine erzchassidische Familie, die in der dritten Generation von der Linie der Karliner Rabbis abzweigte und in die Jerusalemer Altstadt übersiedelte. Dieser Zweig der Familie leitet bis heute die Chassidus von Karlin-Stolin mit. Die Chassidus stammt aus dem inzwischen weißrussisch gewordenen Region um die Stadt Pinsk – Karlin und Stolin waren (und sind vielleicht noch) Vororte davon – und die Familie scheint (auch) in dieser Region ihre Wurzeln zu haben.
 
 
Meine Eltern

…lernten sich in Jerusalem kennen. Mein Vater studierte an der Hebräischen Universität (wie ich 37 Jahre später auch). Eigentlich wollte er als sozialistischer Jude mit Freunden einen neuen Kibbutz gründen, aber Ben-Gurion lehnte ihr Ansuchen ab. Meine Mutter studierte ebenfalls: Damals war es für religiöse Mädchen noch etwas ungewöhnlich, aber nicht nur sie, sondern auch ihre orthodoxen Eltern wollten es so und selbst die ultraorthodoxen Großeltern, mit denen sie übrigens fast nur Jiddisch sprach, unterstützten sie dabei (heute wäre das, vor allem in dieser Chassidus, undenkbar). So begegneten sich die beiden am Seminar für Orientalistik.

Trotz gewisser Gesinnungsunterschiede – Religiosität einerseits, Säkularismus andererseits – erwies sich die Liebe als stärker (zumal mein Vater halachische Grundregeln auf sich nahm). In Jerusalem wurde noch meine älteste Schwester geboren, aber als die Stadt – nicht zuletzt infolge der Wiedervereinigung 1967 und der damit einhergegangenen Blüte – für eine junge Familie zu teuer wurde, übersiedelten sie nach Haifa. Dort bin ich 1979 auf die Welt gekommen bzw. in diese Familie, in der, wie ich im Rückblick erkenne, Tradition und Moderne, Glaube und Kritik in ein jüdisches Ganzes zusammenflossen.

Eine Bilanz
 
Ob meine Wurzeln mich beeinflussen?
 
Natürlich tun sie das, wie bei jedem anderen Menschen auch und insbesondere bei Denkern. Was aber nicht heißt, dass ihre Wirkung irgendwie feststeht: Mein Vater war ein linksradikaler Zionist, ein Regierungskritiker zu einer Zeit, wo das noch nicht en vogue war, und ein früher Unterstützer des 20 Jahre älteren Uri Avnery. Ich habe sinngemäß sehr ähnliche Wurzeln, bin aber, obwohl ich ja zudem in diesem sehr linken Milieu aufgewachsen bin, nun mal doch schon anders gesinnt. Die politischen Kreise, in denen er aktiv war, bzw. deren heutige Nachfolger unterstütze ich seit ca. zehn Jahren nicht mehr.
 
Sein großes Interesse an "Deutschem" – er bereiste mit Frau und Mutter schon relativ früh (und relativ oft) die deutschen Lande – geht wohl auf unser Familienschicksal zurück. Diese angeborene Faszination habe ich ererbt; meine Schwestern hingegen nicht. Mein Interesse an Polen hat meine Mutter, die ja auch aus Galizien stammt, wiederum ebenfalls nicht.
 
Noch wichtiger als diese etwas willkürlich anmutende Beeinflussung durch die eigenen Wurzeln ist aber, dass meine Wurzeln mein Denken auf eine Art und Weise beeinflussen, die mir weitestgehend unbewusst ist. Sie bilden sozusagen die Voraussetzungen für meinen Sitz im Leben, der für mich normalerweise ganz durchsichtig ist und aus dem ich kaum "hinausspringen" kann. Ich vermag höchstens die Konturen dieser Einflussnahme zu spüren, ungefähr so, wie Kosmologen auf schwarze Löcher schließen, die sie aber als solche nicht erkennen können.
 
Diese Hinweise auf die Wirksamkeit der Wurzeln tauchen ganz selten auf. Etwa dann, wenn mir ein Gesprächspartner über seine Wurzeln erzählt. Dabei bekomme ich langsam zu verstehen, wie es sich fühlt, wenn man über einen ganz weiten, großteils sogar unbekannten und dennoch real existierenden Stammbaum verfügt, der im eigenen Lande seit Jahrhunderten lebt und dort tief verwurzelt ist; wie ein richtiger Baum, der an seinem Ort fest steht, weil ihn zahlreiche Wurzeln direkt an diesen Boden binden.

Über dieses flüchtige Gefühl, wie es in der Welt des anderen so ist, wird mir dann kurz klar, was bei mir (und vielen anderen) anders ist und wessen Fehlen mich ebenfalls zutiefst prägt:

Die Bodenständigkeit.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

5 Kommentare

  1. Danke!

    Lieber Yoav, es war wie immer eine Freude deinen Text zu lesen. Ich finde es nun viel einfacher, vieles was du geschrieben hast, nach zu vollziehen.

  2. Wurzeln und fehlende Bodenständigkeit

    Es besteht, so scheint mir, ein poetischer und schöner Wider-Spruch zwischen Deiner Überschrift (“Meine Wurzeln”) und Deinem Fazit (fehlender Bodenständigkeit, trotz-allem), der mich an diese wundervollen Zeilen aus Mascha Kalékos Gedicht ‘An mein Kind’ (Cf. Verse für Zeitgenossen. Reinbek 1995, p. 46) erinnert: “Du bist, vergiß es nicht, von jenem Baume, der ewig zweigte und nie Wurzel schlug. Der Freiheit Fackel leuchtet uns im Traume – bewahr den Tropfen Öl im alten Krug!”

  3. @ Abe

    Tja, ich geb mir Mühe… Dein Zitat erinnert mich wiederum an ein Wiegenlied von Saul Tschernichowski:

    […]

    עיברי הינך בני, אך זה הוא
    אשרך גם אסונך
    חוטר גזע עם הקדומים
    על העמים גאונך

    עודך נער, תיגדל תדע
    גדולות עמך פעל
    אז תבינה נצורות יפעל
    עת שימשנו יעל

    […]

    Und meine lediglich sinngemäße Übersetzung:

    […]

    Hebräer bist du, mein Kind
    Doch dieses Glück ist dir auch Verhängnis
    Ein Spross des uralten Volkes
    Noch herrlicher bist du als andere Völker

    Du bist jetzt noch Kind, doch wenn du erwachsen wirst, weiß du dann
    Wie groß die Taten deines Volkes waren
    Dann verstehst du auch, was für Geheimnisse wirken
    Wenn unsere Sonne wieder aufgeht

    […]

  4. … ich bin zufällig auf den Blog gestoßen, weil ich für Ethik recherchieren wollte. War sehr interessant zu lesen. Danke für die persönlichen Eindrücke.

    Eva

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