Offener Brief an die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

…den ich jenen Abgeordneten, welche die Kleine Anfrage vom 31.04.2009 (s. hier: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/125/1612539.pdf) eingereicht haben, hätte zukommen lassen, wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass es etwas bringen könnte. 

 

Sehr geehrte Bundestagsabgeordnete,
 
mit großem Interesse habe ich Ihre Kleine Anfrage zur "Aufklärung von schwerwiegenden humanitären Völkerrechtsverstößen im jüngsten Gaza-Krieg" vom 31. März d. J. gelesen. Allerdings musste ich mich dabei fragen, was es eigentlich bringen soll und welcher Sinn dahinter steckt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei einem der Raketenbeschüsse wurde ein jüdischer Kindergarten komplett verwüstet, welcher aufgrund des Kriegszustandes leer stand. Vom Blickpunkt dieses Textes aus wäre es für Israel "günstiger", wenn der Kindergarten doch in Betrieb gewesen wäre und die Anzahl der Toten, welche Sie mit Frage 4 Ihrer Kleinen Anfrage in Erfahrung bringen wollen, somit größer wäre. Aber was für Prämissen sind es denn, dass es für Sie auf so etwas ankommt, während die qualitativen Erwägungen anscheinend keine Rolle spielen?
 
Auf der einen Seite des Konflikts dürfen Soldaten Zeugnisse veröffentlichen, wofür man auf der anderen Seite mit seiner Hinrichtung rechnen müsste. Auf der einen Seite genießen regierungskritische, sowohl in- als auch ausländische Journalisten und Organisationen (wie etwa amnesty international, deren freilich nicht unproblematische Stellungnahmen Sie heranziehen) Rechtsschutz und Handlungsfreiheit, während sie auf der anderen Seite oft bedroht und bestenfalls geduldet werden, damit und solange sie sich für das dortige Regime nützlich machen.
 
Könnte nun dieser Schritt seitens der Grünen, so wenig er auf dem großen Spielbrett ins Gewicht fällt, jener Seite zugute kommen, deren Wertesystem die Grünen befürworten und wo sie selber leben würden? Viel wahrscheinlicher erscheint es mir, dass die von Ihnen unterstützten Forderungen von amnesty international dazu führen würden, dass die Moral der Hamas sich durchsetzen würde. Denn je öfter Israel etwa deswegen kritisiert wird, bei der Bekämpfung der Hamas sich auch dann nicht zurückgehalten zu haben, wenn die Hamas Zivilisten als lebende Schutzschielder eingesetzt hat, umso mehr lohnt es sich für die Hamas, auch in Zukunft von Zivilisten Gebrauch zu machen. Sollte sich Israel in Zukunft wirklich zurückhalten, so käme die Hamas bei ihren Kampfeinsätzen in den Genuss von mit Menschenrechten (!) begründeter Immunität…
 
Da die Hamas sich nicht im Geringsten für die Werte interessiert, zu denen sich amnesty international und Sie bekennen, und da die Waffenlieferanten der Hamas genauso wenig auf die Positionen von amnesty international achten, kommen die politischen Leistungen von amnesty international unterm Strich gerade der Hamas zugute, deren Taktik sich mit Ihrer Hilfe de facto bewährt. amnesty international, auf deren Papier sich Ihre Kleine Anfrage stützt, mag damit konsequent sein und insofern auch Recht haben; ob sie dabei aber klug handelt?
 
Wenn die eigene Moral zur Schwäche wird, die der Gegner – wie etwa die Hamas – auszunutzen sucht, und die konsequente Umsetzung der eigenen Moral dazu führt, dass diese abgebaut wird, lässt sich das Paradoxon nur überwinden, indem man die freilich nachvollziehbare Versuchung des reinen Gewissens übersteht und vorläufig das aussetzt, was zum Verlust der Moral führt. In solchen Fällen muss man also vorläufig von der eigenen Moral und somit von sich selbst absehen, damit diese – und nicht diejenige des Gegners – die Zeit nach der Auseinandersetzung, also die bevorstehende Zukunft bestimmt.
 
Freilich kann es zu heftigen Meinungsverschiedenheiten über das eine oder andere Wie kommen. Wenn diese jedoch dazu führen, dass man selbst das gemeinsame Was bezweifelt, setzt man seine Prioritäten offensichtlich falsch. Wenn die Kritik am Mitstreiter umkippt und sich in "Objektivität" gegenüber zwei vermeintlich gleich zu behandelnden Parteien verwandelt, hat man der Versuchung des reinen Gewissens offenbar nicht standhalten können.
 
Da Sie als Urheber dieser Kleinen Anfrage wohl wissen, dass Sie damit der Hamas nur helfen können, geht es hierbei vermutlich darum, Recht zu haben und dies der Öffentlichkeit, etwa der eigenen Wählerschaft, auch zu zeigen (immerhin ist jetzt ja schon Wahlkampf angesagt). Wenn dem so ist, erscheint mir die Sache ziemlich selbstgefällig. Denn es gibt nichts moralisch Leichteres, als eben das und nur das zu tun, was notwendig ist, damit man sich selbst im (wirklichkeitsgetreuen!) Spiegel gut gefällt. Wahre Größe zeigt aber derjenige, der sich in moralischer Hinsicht auch dann noch zu ertragen weiß, nachdem er Entscheidungen hat fällen müssen, die ihn ansonsten abgeschreckt hätten.
 
Helmut Schmidt muss bis zum Ende seiner Tage die Mitverantwortung für den Tod Schleyers tragen, den er, wie 1975 im Fall von Peter Lorenz, durchaus hätte retten können, aber wissentlich ermordet werden ließ (inwiefern diese Verantwortung ihm schwer fällt bzw. wie oft er sich überhaupt noch damit befasst, sind andere Fragen). Das war eine freilich grausame Entscheidung, zugleich aber die richtige. Schmidt war auch bereit, für den etwaigen Tod zahlreicher Opfer unter den Landshut-Entführten mitverantwortlich zu sein, denen dieses Geschick notabene aufgrund der Verhandlungsverweigerung widerfuhr; glücklicherweise ist ihm diese moralische Last erspart geblieben, doch hätte es sehr wohl auch anders verlaufen können. Jenes freilich schreckliche und dennoch durchaus notwendige "Spiel" mit Menschenleben, zu dem sich Schmidts Großer Krisenstab entschloss, wäre aber selbst dann die richtige Entscheidung gewesen, wenn die Rettungsaktion gescheitert wäre.
 
Darum: Kein Handeln ohne Schuld. Verantwortungsvolles Handeln ist keines, bei dem es nur darum geht, das eigene Gewissen rein zu halten. Denn Verantwortung bedeutet, dass man sein Bestes tut, um auch die Zeiten zu erkennen, wo man sich doch schuldig machen muss, obwohl man es am liebsten vermeiden würde. Eben hierdurch unterscheidet man sich von den Bösen, die grausam handeln wollen und auf solche "Heldentaten" stolz sind. Ja, manchmal muss man scheinbar so handeln wie sein Gegner; aber nur scheinbar, denn mit dieser Aufopferung versucht man, die Achillesfersen, die unserer Moral innewohnen, zu überwinden und somit zu verhindern, dass die Unmoral des Gegners sich durchsetzt, wie es etwa infolge des Geschäfts zur Freilassung von Lorenz leider der Fall war.
 
Bei solch schwierigen Entscheidungen muss man also der Herausforderung gewachsen sein, die Angst vor der Schuld nicht das eigene Handeln diktieren zu lassen, sondern sich selbst mit der Schuld ertragen zu können. Ob Sie dieser Herausforderung ebenfalls gewachsen wären, wenn sie es wären, welche die Verantwortung tragen müssten?
 
Recht haben ist in moralischen Fragen das Privileg derer, die nicht handeln müssen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Partei, dass sie auch weiterhin dieses Privileg genießen dürfen, und verbleibe

Mit freundlichen Grüßen
Yoav Sapir
Ein Israeli in Deutschland

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

2 Kommentare

  1. Eher eine naive Frage an die Abgeordneten der kleinen Anfrage. Der Sinn der Anfrage könnte sein, sowohl mit wenig Aufwand die Friedens- und Menschenrechtskompetenz der Anfragenden zu demonstrieren als auch die öffentliche wählerwirksame Parteinahme für die Armen und Schwachen dieser Welt gegenüber Starken, die sich nicht mal durch menschliche Schutzschilder von der Wahrnehmung ihrer Interessen abhalten lassen -).

  2. @ adenosine

    Im Hinblick auf die Menschenrechte kann so etwas leider nur abträglich wirken. Aber mit der “wählerwirksame[n] Parteinahme” liegst du völlig richtig. Denn auch die Wähler möchten eher sich selbst gefallen als die Welt verbessern.

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