Prädestination im Judentum

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Angeblich haben Vorstellungen von Prädestination (nicht zu verwechseln mit Determinismus, was hier nicht behandelt wird und sowieso kaum einen allmächtigen Gott zulässt) im Judentum nichts zu suchen. Denn das jüdische Denken ist seit biblischen Zeiten stark an der Vorstellung von Lohn und Strafe orientiert. Ist dem aber wirklich so?
 
 
 
Allgemeine Hintergrundinformationen
 
Die Vorstellung von "Lohn und Strafe" bedeutet, dass das Schicksal des Menschen (d.h. vor allem des Juden, ob als Individuum oder als Volksangehöriger) von seinen Taten abhängig gemacht wird. In der Bibel bezieht es sich noch auf die diesseitige Welt, während es in nachbiblischen Zeiten – nicht zuletzt aufgrund von Schwierigkeiten mit der diesseitigen Verwirklichung – allmählich aufs Jenseits ausweicht bzw. verlegt wird.
 
In all ihren Prägungen liegt dieser Vorstellung ein Grundsatz zugrunde: Die freie Wahl des Menschen, ohne die dem Menschen kein Urteil zumutbar ist und von Lohn und Strafe keine Rede sein kann. Ob der Mensch Gutes oder Böses tut, ist im jüdischen Denken durchgehend dem Menschen allein anheim gegeben.
 
Jedoch möchte ich jetzt mit euch eine Übung durchführen, welche, wie ich meine, die zumindest theoretische bzw. gedankliche Möglichkeit tatbezogener Prädestination im Judentum eröffnen kann.
 
 
 
Die Übung
 
Laut rabbinischer Tradition werden am jüdischen Neujahr drei Bücher im Himmel aufgeschlagen. Denn der theologische Inhalt des Neujahrsfestes besteht zwar nicht nur, aber vornehmlich im Neujahrsgericht, bei dem das Geschick aller Menschen fürs eben angefangene Jahr festgelegt wird. Davon erzählt der babylonische Talmud (Traktat Rosch Haschone 16:2) im Namen von Rabbi Jochanan: "Drei Bücher werden am Neujahr geöffnet: Eines für die durchaus Bösen, eines für die vollkommen Gerechten und eines für die Mittelmäßigen. Vollkommen Gerechte werden gleich fürs Leben [d.h. ins "Buch der Lebenden"] eingeschrieben und besiegelt. Durchaus Böse werden gleich für den Tod [d.h. ins "Buch der Toten"] eingeschrieben und besiegelt. Mittelmäßige bleiben vor Gericht vom Neujahr bis zum Versöhnungstage [am 10. Tishrej] stehen: Sind sie freigesprochen worden, so werden sie fürs Leben eingeschrieben; sind sie nicht freigesprochen worden, so werden sie für den Tod eingeschrieben."
 
Ferner kommen im "Unser Vater, unser König"-Gebet, das vom Neujahr bis zum Versöhnungstage in der Synagoge aufgesagt wird, das "Buch des guten Lebens", das "Buch der Erlösung und Rettung", das "Buch von Unterhalt und Versorgung", das "Buch der Verdienste" sowie das "Buch von Vergebung und Verzeihung" vor. In einem festlichen Zusatz zum normalen Achtzehn- bzw. Standgebet wird zu dieser Zeit auch das "Buch von Leben, Segen und Frieden, gutem Unterhalt und guten Urteilen, Rettungen und Tröstungen" erwähnt. Am wichtigsten ist aber die zwiespältige Vorstellung vom Buch der Lebenden und dem der Toten – und mit dieser Vorstellung möchte ich hier weiterarbeiten.
 
Ist man also im einem beliebigen Jahr nach dem 10. Tischrej – wenn auch nur rein zufälligerweise – gestroben bzw. umgekommen, so sei dieser Todesfall von vornherein dem im Himmel Thronenden bekannt gewesen und von diesem spätestens am 10. Tischrej beschlossen worden (ziemlich umstritten ist die aschkenasische Tradition, nach der das Schicksal erst an Hoschana Raba, dem letzten Laubhüttenfesttag bzw. den 21. Tischrej, wirklich endgültig besiegelt wird). Es besteht zwar die Denkrichtung, in der der Mensch sein Handeln noch während des Jahres verbessern bzw. korrigieren kann, um seinem Urteil zu entkommen, aber "eigentlich" stehe dieses seit dem 10. Tischrej fest. Da dieses Urteil aber vom bisherigen Handeln des Menschen abgeleitet wird, stellt es, obwohl es ab einem bestimmten Datum schon feststehe, keine richtige Prädestination dar.
 
Vor diesem theoretischen Hintergrund möchte ich aber einige Beispielsfälle darlegen:
 
1. Ein junges Kind, das noch kein richtiges Bewusstsein hat und daher im Judentum nicht einmal zu den sieben Noahidischen Geboten verpflichtet sei, wird bei einem Anschlag ermordet. Da es noch zu nichts verpflichtet ist, hat es unmöglich eigene Sünden begangen, sodass man gezwungen ist zu sagen, dass es mit diesem Tod für die Sünden seiner Vorfahren bestraft wird. Zwar heißt es in der Bibel (Deut. 24:16): "Die Väter sollen nicht für die Kinder noch die Kinder für die Väter sterben, sondern ein jeder soll für seine Sünde sterben", jedoch steht da auch (Ex. 20:4): "[…] Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen". Jedenfalls ist die Ermordung dieses Kleinkindes nicht von seinen eigenen Taten abgeleitet, für die es noch nicht verantwortlich gemacht werden kann. Demnach muss aber sein Tod nicht erst seit dem lezten Versöhnungstag, sondern bereits seit seiner Geburt eine beschlossene Sache gewesen sein. Er sei geboren, um als unschuldiges Kind zu sterben und damit vielleicht die Sünden seiner Väter zu begleichen. Das kann man schon als teilweise Prädestination bezeichnen: teilweise deswegen, weil das Urteil immerhin von den Taten seiner Vorfahren abgeleitet worden ist, für welche sie sich frei entschieden haben.
 
2. Ein acht Monate alter Säugling stirbt im Monat Elul, dem letzten Monat im rabbinishcen Jahr, auf den Tischrej folgt. Am letzten Versöhnungstag, welcher elf bzw. (in einem Schlatjahr) 12 Monate davor stattgefunden hat, ist er noch gar nicht auf die Welt gekommen. Das heißt, dass er während des himmlischen Gerichts, vom Neujahr bis zum Versöhnungstage, noch im Mutterleib gewesen ist. In diesem Fall ist ja klar, dass er auf die Welt gekommen sei, um als Säugling zu sterben. Allerdings ist daraus zu schließen, dass jeder Mensch schon vor der Geburt einen Namen trage, der Gott von vornherein bekannt sei und mit dem etwa ein solcher Säugling noch vor dessen Geburt ins Buch der Toten eingeschrieben wird. Die Überlegung der Eltern bringe diese folglich nur zum eigenlich bereits feststehenden Namen, sodass man sagen muss, dass sie dabei keine freie Wahl haben, womit wir uns der jüdischen Prädestionation noch ein Stück genähert haben.
 
3. Ein Säugling stirbt im Monat Elul im Alter von einer Woche. Am letzten Versöhnungstag ist er im Mutterleib noch gar nicht empfangen worden, doch schein sein Name damals bereits ins Buch der Toten eingeschrieben worden zu sein. Das bedeutet, dass es dem Herrscher der Schöpfung spätestens am vorausgehenden Versöhnungstag bereits bekannt war, dass die Eltern Geschlechtsverkehr haben werden, dass die Mutter dadurch schwanger werden wird, dass sie das Kind gebären wird und schließlich auch, dass dieses Kind einen Krippentod sterben wird.
 
4. Eine Frau hat im Monat Elul in ihrer zehnten Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt. Ab dem 41. Schwangerschaftstag gilt der Embryo im Judentum als Mensch, da er an diesem Tag eine Seele verliehen bekommt (übrigens habe ich mal gehört, dass an diesem Tag laut moderner Wissenschaft das Herz zu schlagen beginne). In der zehnten Woche kommt die Fehlgeburt mithin einem Todesfall gleich. Wie im vorigen Beispiel ist man auch hier gezwungen zu sagen, dass nicht nur der Tod, sondern auch der bloße Geschlechtsakt zwischen den Eltern von vornherein festgelegt worden sind. Über das vorige Beispiel geht dieses gewissermaßen hinaus, weil es hier umso klarer ist, dass der Embryo nicht wegen eigener Sünden hat sterben müssen; doch zugegebenermaßen sei der Tod auch in diesem Fall noch vor dem Empfängnis beschlossen worden.
 
 
 
Die Erkenntnisse
 
Die vielleicht wichtige Erkenntnis, die man aus den obigen Beispiel gewinnen kann, ist dass man, wenn man dieses rabbinische Gedankengut zu Ende denkt, zu der Auffassung kommt, dass der im Himmel Thronende nicht nur über Tod und Leben im Vorhinein entscheide, sondern auch über andere Sachen, von denen man sonst meint, dass sie im Judentum vollkommen dem Menschen überlassen seien. Das gilt nicht nur für die Namensgebung, sondern vor allem auch für den Geschlechtsakt. Doch wenn Gott entscheide, dass die männliche Person X mit der weiblichen Person Y Sex haben muss: Inwiefern lässt es sich noch ausschließen, dass Gott nicht etwa auch beschließe, dass der X die Y küssen oder ihr Kaffee zubereiten wird? Oder sich selbst? Oder dass X diesen Kaffee auf dem Weg in die Arbeit kaufen wird? …wobei er vielleicht "zufällig" die Y kennen lernen wird? usw. usf.
 
Diese Übung haben wir anhand der rabbinischen Vorstellung vom himmlischen Neujahrsgericht durchgeführt, jedoch gibt es im Rabbinertum auch andere Ansätze, die von Prädestination zeugen oder zumindest "prädestinatorisch" angehaucht sind. So heißt es z. B. im babylonischen Talmud (Traktat Sota 2:1, eine Aussage von Raw Jehuda im Namen von Raw): "Vierzig Tage vor der Empfängnis, ertönt eine Stimme, die sagt: ‘die Tochter von X dem Y’ ". Das heißt, dass das Paar feststehe, noch bevor der Mann und die Frau überhaupt im jeweiligen Mutterleib empfangen worden sind, also auch in diesem Fall noch vor dem – demnach nur vermeintlich freien! – Entschluss beider Elternpaare zum Geschlechtsverkehr.
 
 
 
Das Paradoxon
 
An dieser Stelle taucht eine schwierige Frage auf: Wenn es Gott sei, der über die Taten des Menschen entscheidet, was für Sinn könnte da noch ein Neujahrsgericht ergeben, dass sich nach den Tagen des Menschen richten soll?
 
Die Tage vom Neujahr bis zum Versöhnungstag heißen im Judentum u. a. "die zehn Umkehrtage" (vgl. oben das erste Zitat aus dem Talmud, im Namen von Rabbi Jochanan). Doch worin bestünde der Sinn dieser von Gott angeblich erwarteten und gewollten, ja verlangten Umkehr, wenn selbst diese Umkehr ggf. nicht vom Menschen selbst herrühre?
 
Denkt man die rabbinische Vorstellung vom Neujahrgericht und den zehn Umkehrtagen zu Ende, so kommt man offensichtlich zu einem Schluss, der den Ausgangspunkt dieses Gedankenganges unterminiert.
 
Wer dieses Ergebnis vermeiden will, soll hier daher wohl nur minimalistisch folgern: Gott mag im Vornhinein über den Namen, den Geschlechtsakt, die Empfängnis etc. entscheiden, doch vielleicht nicht über andere Taten des Menschen. Das würde bedeuten, dass nur das, was zur Entstehung eines neuen Menschen gehört und eng mit diesem Entwicklungsgang zusammenhängt, von Gott prädestiniert ist.
 
Eine andere Lösung dürften uns zwei weitere Sprüche bieten:
 
"Alles ist vorausgesehen und die Entscheidung ist [dem Menschen] überlassen" (ist in der Mischna, im Traktat Awot 3:18, im Namen von Rabbi Akiwa angeführt): Wenn alles vorausgesehen ist, wie kann denn der Mensch die Entscheidung treffen? Oft wird dieser Widerspruch so gedeutet, dass es nur die Konsequenzen sind, die bereits bekannt seien, während der Mensch sich nach wie vor frei zwischen Gut und Böse, den vorauszusehenden Alternativen, entscheiden dürfe bzw. müsse. Wenn wir diese Logik auf die oben besprochenen Beispielsfälle anwenden, scheint es, dass Gott nur darüber entscheide, was (etwa aufgrund der Sünden der Vorfahren) mit einem Kind bzw. einem Neugeborenen geschehen soll, falls sich die Eltern zum Geschlechtsverkehr entschließen. Damit wird auch das Paradoxon hinsichtlich des Neujahrsgerichts und der zehn Umkehrtage gelöst, denn die Taten des Menschen bleiben dann in dessen Ermessen.
 
"Alles liegt im Ermessen Gottes außer der Furcht Gottes" (ist im babylonischen Talmud, Traktat Nida 16:2, im Namen von Rabbi Chanina angeführt): Demnach ist dem Menschen eigentlich nur die Entscheidung überlassen, ob er Gottes Anweisungen folgen möchte oder nicht. Unklar bleibt, ob aus dieser Entscheidung alles andere resultiert, d.h. etwa, ob man Gutes oder Böses tut sowie die Konsequenzen. Der ursprüngliche Zusammenhang dieser Talmudstelle weist einerseits auf Prädestination hin, bei der Gott darüber entscheide, ob aus dem Samentropfen ein etwa kluger oder dummer, reicher oder armer Mensch entstehen soll; andererseits sind da keine Taten erwähnt, d.h. es ist eher von charakterlicher und sonstwie allgemeiner Prädestination die Rede. Ohnehin scheint der Spruch an und für sich doch zu implizieren, dass man sein Schicksal durch Umkehr ändern bzw. verbessern kann. Unser Paradoxon kann dann der Spruch insofern lösen, als dem Menschen damit das Neujahrsgericht wie auch die Umkehr doch zugemutet werden können.
 
 
 
Fazit
 
Die – insbesondere tatbezogene – Prädestination ist als Begriff dem jüdischen Gedankengut zwar ziemlich fremd und wird von den meisten Denkern weitgehend abgelehnt, lässt sich aber theologisch gesehen nicht ganz ausschließen, sondern muss, wenn auch nur am Rande jüdischer Theologie, doch in Betracht gezogen werden.

 

 

Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

1 Kommentar

  1. Vorherbestimmung?

    Könnte Gott nicht einfach vorher wissen, was Menschen sich zu tun entschließen werden, ohne dass er sie dazu bringt? Also X und Y küssen sich aus freier Entscheidung. Gott wollte vielleicht, dass das passiert oder es passt ihm nicht. Er wusste schon davor, dass es passiert. Er tut aber nix dafür oder dagegen. Da er aber auch weiß, dass sie es nicht beim Küssen belassen werden und dass sie letztlich ein Kind kriegen werden (obwohl Gott sich da nicht einmischt), schreibt er das Kind schon mal mit ins entsprechende Buch. Vorhergesehen von Gott, aber nicht vorherbestimmt. Oder bin ich einfach blind, weil ich nicht sehen kann, dass das gegen den freien Willen oder so verstößt?

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