Geowissenschaften müssen noch interdisziplinärer arbeiten

Wir haben es in diesem Blog bereits erwähnt, hier sei es nochmals vertieft: 77% der Landfläche sind vom Menschen genutzt bzw. überprägt; die Meere befinden sich spätestens seit der Zeit von Christoph Kolumbus nicht mehr im natürlichen Zustand; der Wasserkreislauf ist stark durch den Menschen reguliert; Sedimente werden durch Staudämme abgefangen und gelangen zunehmend nicht mehr ins Meer; Berg- und Tagebau reloziert viermal so viel Material wie alle Flüsse und Gletscher der Welt bewegen; Küstenbereiche sinken durch Trinkwasser-, Erdöl- und Erdgasentnahme ab; menschenbeeinflusste Stoffflüsse verändern Temperatur und Chemie von Atmosphäre, Böden, Süßgewässern und Meeren. Der Mensch war, wie jedes andere Lebewesen auch, immer schon ein biologischer Faktor. Spätestens seit der Industrialisierung sind anthropogene Prozesse jedoch global und derart intensiv wirksam, dass der Mensch darüber hinaus zu einem geologischen Faktor geworden ist. Planetare Funktionsgrenzen sind dadurch gefährdet.

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Abb. 1: Der Mensch als geologischer Faktor: Die mittlere Denudationsrate während des Phanerozoikums liegt bei 24 Metern pro Million Jahr. Die heutige anthropogene Denudationsrate läge hochgerechnet bei etwa 700 Metern pro Million Jahr. Zum Vergleich sind die Volumina der Eruptiva einiger großer historischer Vulkanausbrüche mit aufgeführt. Leicht verändert nach Wilkinson, B., 2005, Geology, 33, 161-164

Daher sollten gerade auch Geowissenschaftler besonders intensiv über den Anthropozän-Vorschlag nachdenken und in ihm herausragende Chancen der Kooperation untereinander, mit anderen Naturwissenschaften, aber auch mit den Ingenieurs-, Sozial-, Wirtschafts-, und Geisteswissenschaften sehen. Basierend auf einem Vorschlag von Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen sowie dem Paläontologen und Limnologen Eugene Stoermer aus dem Jahr 2002 für das International Geosphere-Biosphere Programme (IGBP) sollte die Epoche des von natürlichen Prozessen dominierten Holozän etwa bis zum Jahr 1800 n. Chr. begrenzt und danach vom Anthropozän abgelöst werden. Dieser Ansatz wird durch eine internationale Gruppe von Geologen vorangetrieben und formalisiert, aber auch Geografen, Historiker, Sozioökonomen, Juristen, Umweltpolitiker und andere greifen das Konzept nutzbringend auf. So stand nicht nur die Jahrestagung der Geological Society of America 2011 unter dem Thema „From the Archaean to the Anthropocene“, sondern auch der internationale Medienimpakt ist beachtlich: The Economist brachte das Anthropozän im Mai 2011 sogar als Titelgeschichte, andere folgten.

Das Anthropozän-Konzept bietet für also auch für die Geowissenschaften große Chancen, daher kann angenommen werden, dass nicht nur die Internationale Subkommission für Quartärstratigraphie (mit der bereits gegründeten Anthropozän-Arbeitsgruppe), sondern auch das IGBP hier weiter voranschreiten werden. Es geht allerdings nicht nur darum, das aktuelle Anthropozän samt seiner Prozesse geowissenschaftlich zu beschreiben, so wichtig es auch ist, die menschengemachten Umgestaltungen an Land und in den Ozeanen zu erfassen und zu verstehen. Das Konzept geht durch seinen ganzheitlichen, interdisziplinären Ansatz weiter darüber hinaus: Im Unterschied zu klassischen Ansätzen der Umweltvorsorge, die entweder auf Vermeidung setzen, um die Welt im bisher so stabilen Holozän zu belassen oder technikbasierte Adaptation vorantreiben wollen, um der menschenveränderten Umwelt Rechnung zu tragen, stärkt das Anthropozän-Konzept den systemischen Bezug, berücksichtigt unterschiedliche Zeitskalen und generiert Zukunftsverantwortung, indem der Mensch und sein industrieller Metabolismus in das Natursystem mit einbezogen werden. Insgesamt soll dadurch eine verträgliche und nachhaltige Gestaltung der zukünftigen Menschenwelt erreicht werden. Hierzu müssen allerdings Skalierungen, Systeme, Entwicklungen und Dynamiken der Natur sowie deren Interaktion mit der „Anthroposphäre“ bzw. „Soziosphäre“ hervorragend bekannt sein bzw. genauer erforscht werden.  Darauf hat kürzlich auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen in seinem Transformationsgutachten hingewiesen.
Anthropozän-Wissenschaften sind also inter- und transdisziplinär, systemisch und zeitbezogen. Zur wissensbasierten Gestaltung des Anthropozän muss sowohl aus der Zukunft (Zukunftsszenarien unterschiedlicher Handlungspfade) als auch der Vergangenheit (natürliche Fallbeispiele) gelernt werden. Alle geowissenschenschaftlichen Bereiche, darunter die Geologie, Geochemie, Geophysik, Mineralogie, Paläontologie, Geobiologie, Stratigraphie, Quartärgeologie sowie die Geographie mit all ihren Teilgebieten sollten sich daher aktiv an Anthropozän-Forschungen beteiligen. So bietet die Erdgeschichte hervorragende Fallbeispiele für unterschiedliche Skalierungen, für Dynamiken und Tipping-Points sowie für Klassifikations- und Korrelationsmöglichkeiten. Beispiele mit Anthropozän-Bezug gibt es zuhauf, etwa die Reaktivität und Evolution mariner Ökosysteme auf Umweltveränderungen, die Rekonstruktion „teleskopierter“ rascher Umweltereignisse insbesondere in kondensierten Schichten, Meeresversauerungen, Fluktuationen der Karbonatkompensationstiefe und Plankton-Reaktivität, Sauerstoffzehrung bei Meeresspiegelanstiegen, aber auch Anpassungen und Organismenmigrationen nach geologischen und klimatischen Veränderungen oder Adaptations- und Diversifikationsmuster nach lokalen und regionalen Aussterbeereignissen. Auch aktuopaläontologisch-geobiologische Studien sollten in den Kontext der Anthropozänforschung einbezogen werden, wie  z.B. „atavistisches“ Adaptationsverhalten von Organismen und Ökosytemen, umweltrelevante geo- und biochemische Stoffflüsse oder die Abhängigkeit biologischer Wirkstoffproduktion von Umweltstressparametern.
Das Anthropozän-Konzept hat, sofern es konsequent verfolgt wird, auch umfassende Konsequenzen, wie wir in Zukunft Forschung und Bildung verstehen, wie wir Natur, Technik und Kultur ganzheitlich miteinander verbinden müssen, welche Verantwortung wir zu übernehmen haben und wie die Zukunftsaufgabe des nachhaltigen Wirtschaftens vielleicht doch bewältigt werden kann.
Wenn wir als geologischer Faktor die Welt an den Rand ihrer planetaren Grenzen bringen können, so müssten wir doch, eben gerade wegen dieses großen Einflusses, die Nutzung der Welt zukünftig auch nachhaltig gestalten können, und zwar global und generationenübergreifend. Die ganze Stärke der Anthropozän-Idee liegt darin, eine Plattform für ein wissensbasiertes und bewusstes planetares Gestalten dieses Erdsystems zu schaffen. Eine derartige Plattform sollte gerade auch in Deutschland mit aufgebaut werden. Hier wurde das Konzept des Anthropozäns ersonnen. Deutschland hat durch zahlreiche wissenschaftliche und technologische Durchbrüche selbst zivilisationsbildend gewirkt. Als dicht besiedelte Industriegesellschaft ist es eines anthropozänsten Gebiete der Welt. Die Beteiligung auch der deutschen Geowissenschaften an diesem Konzept ist gleichermaßen Chance wie Herausforderung: Es liegt an uns allen mitzubestimmen, ob das Anthropozän nur ein blitzlichtartiger geologischer Event ist, oder ob wir es als langandauerndes Erdalter mitgestalten können.

Reinhold Leinfelder, Berlin/München
Dieser Blogbeitrag stellt die erweitere Version eines zum Jahresende im gemeinsamen Nachrichtenblatt der deutschen geowissenschaftlichen Gesellschaften und Verbände erschienenen Artikels dar (Leinfelder, R. 2011: Das “Anthropozän” – ein neues Forschungsfeld für die Geowissenschaften.- Geowissenschaftliche Mitteilungen (GMIT), 46, S. 20-22)

Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe. Er ist Professor an der Freien Universität zu Berlin (Arbeitsgruppe Geobiologie und Anthropozänforschung) sowie (seit Okt 2018) zusätzlich Senior Lecturer am Institut Futur der FU. Seit April 2022 ist er formal im Ruhestand. Seit 2012 ist er Mitglied der Anthropocene Working Group der International Stratigraphic Commission. Von 2006-2010 war er Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin, von 2008-2013 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), von 2011-2014 Research Fellow und affiliate Carson Professor am Rachel Carson Center an der LMU, München, von 2012-2018 Principal Investigator am Exzellenzcluster "Bild-Wissen-Gestaltung" der Humboldt-Universität zu Berlin, von 1. Sept. 2014 bis 15. Sept. 2016 Gründungsdirektor der Futurium gGmbH in Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen beim Anthropozän, Korallenriffen, neuen Methoden und Herausforderungen des Wissenstransfers und Museologie | Homepage des Autors | blog in english, via google translate

4 Kommentare

  1. Der Mensch als Astronaut auf der Erde.

    Wenn Anthropozän bedeutet, dass der Mensch nun Verantwortung für die ganze Erde übernehmen soll im Sinne einer “globalen Raumplanung” so tritt der Mensch wirklich in eine völlig neue Phase ein. In meinen Auge in eine Phase der Ungewissheit, wo Fehlplanungen auch mal zum Verlust der Habitalität der Erde führen können. In so einer zukünftigen Welt ist ein Planet tatsächlich nicht mehr genug. Da braucht man ein Backup, mindestens eine Mondbasis, besser noch eine Kolonie auf dem Mars um einer grösseren Zahl von Menschen eine Existenz unabhängig von den Unwägbarkeiten dessen was auf der Erde geschieht zu gewähren und um gegebenfalls eine Neubesiedelung des Planeten in die Wege zu leiten.

    Will der Mensch dagegen auf der sicheren Seite bleiben und eine Existenz auf diesem Planeten auch in Tausenden von Jahren gewährleisten, sollte er versuchen, seinen Einfluss auf die Erde zurückzunehmen. Ein Ansatz dazu wäre der Aufbau einer Raumschiffökonomie, in der der Mensch seine Umwelt selbst gestaltet allerdings nur innerhalb einer eng umgrenzenten Menschenwelt, wohl der Welt seiner Städte. Dazu würden 10% der Landfläche genügen, der Rest der Erde könnte wieder der Natur übergeben werden. Die technischen Voraussetzungen dazu wären eine 100%-ige Rezyklierung aller vom Mensch konsumierten Stoffe und eine Kompensation der vom Menschen erzeugten Energie beispielsweise über die Gestaltung der Albedo der vom Menschen bewohnten Gebiete. Auch die Nahrungsmittelproduktion müsste bei der menschlichen Überzahl zu einer verstärkteten Indoor-Produktion oder gar synthetischen Produktion von Nahrungsmitteln übergehen, das heisst die vom Menschen bewohnten 10% der Landfläche würden gleichzeitig alle vom Menschen benötigte Nahrung hervorbringen.

    In so einer Zukunft würde der Mensch auf der Erde ähnlich leben wie er es heute auf einer Mondbasis tun muss. Er bleibt vor allem drinnen (in seiner städtischen Umwelt) und verlässt diese Basis nur zu gelegentlichen Expeditionen.

  2. Nachtrag:

    a) Der Mensch baut spätestens dann gasdichte Kuppelstädte, wenn man im Freien nicht mehr überleben kann.

    b) Der Mensch bedeckt 90 % der Erdoberfläche mit gasdichten Kuppelstädten.

  3. Typ 3 Dyson-Sphäre besser als Erde?

    @Karl Bednarik

    Wenn wir in Zukunft in gasdichten Kuppelstädten leben, dann können wir wirklich überall leben. Wobei nicht alle Umgebungen gleich günstig sind.

    Später beneiden wir vielleicht Zivilisationen, die eine Typ 3 Dyson-Sphäre nutzen, welche um ein supermassives schwarzes Loch im Zentrum einer Galaxie möglich ist.

    The condition around a SMBH [Super Massive Black Hole] at the centre of galaxy would be more efficient both in extracting energy and exhausting the waste energy for advanced civilizations, than those of a Dyson Sphere. Some active galactic nuclei (AGN) are extremely luminous, hundreds of times the integrated stellar luminosity of a whole galaxy.

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