Über das Angriffsloben

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Die Deutschen schimpfen, andere Völker granteln – über das schlechte Bildungswesen, die Politik im Allgemeinen oder den Stress zu Weihnachten. Aber wehe, einer will etwas daran verändern! Dann fällt allen plötzlich wieder ein, wie ideal alles ist. Und dieser Reflex stellt sicher, dass alles mies bleibt. Für immer.

Seit vielen Jahren schreibe ich über die nahe und real nahende Zukunft. Ich lobe das Kommende gar nicht einmal oder mache mich zu seinem Protagonisten. Ich sehe nur: sie kommt. Und gerade die Leute, die das Gegenwärtige ätzend bespucken, ziehen dann über die Zukunft her, indem sie das Heutige über allen Klee loben.

Videos im Unterricht oder Univorlesungen im Internet: In Zukunft werden die allerfeinsten Lehrer und Professoren, die Leuchten ihrer Zunft, den Unterricht oder die Vorlesungen in bestmöglicher Didaktik präsentieren und die jungen Köpfe vor Lerneifer erglühen lassen. Noch ganz unbekannte Lehrformen werden das alles toppen. Es sieht nach Neuaufbruch aus. Huiih, das ist schlimm. Der typische Gegner: „Das wichtigste beim Lernen ist der Lehrer, ohne den es nicht geht. Der ist ein Mensch und leitet das Kind behutsam mit großer Liebe. Ohne Augenkontakt zugeneigter Seelen stirbt die Bildung ganz gewiss.“ Ich frage, warum der Befürworter selbst die Schule gehasst hat. „Das ist ein Einzelfall, im Übrigen habe ich das nie so gesagt.“ Noch ein Gegner: „Ohne die persönliche Präsenz des Gelehrten ist eine Vorlesung nicht denkbar.“ Ich frage, warum er selbst beim Repetitor lernte, weil der Professor nichts brachte – ja, und: „Warum erhalten Professoren ausschließlich für Forschungsleistungen die Lehrbefugnis? Würde man einem, der Muskelphysiologie oder Ballologie erforscht hat, DESWEGEN eine Fußballtrainerlizenz erteilen?“

Neue Formen des Gottesdienstes im Internet und überhaupt: Der katholische Kirchentag 2012 stand unter dem Motto „Einen neuen Aufbruch wagen“. Es muss also schon einmal früher einen gegeben haben!? Egal. Warum gibt es nur Orgeln, wo wir doch jetzt richtig Musik mit Heimkinoanlagen machen könnten? Männerzwang? Leere Kirchen und bald weite Anfahrten zum Seelsorgeeinheitszentrum? Wer das fragt, bekommt Überkleekirchenlob zurück: „Der Pfarrer vor Ort ist die tragende Säule der Gemeinde und ein unverzichtbares Element des Lebens und der Kultur. Er füllt die Herzen der Gemeinde mit bewegenden Predigten, die viele Seelen retten.“ Ich gebe zu bedenken, dass gerade geklagt wurde, dass aus Osteuropa stammende Pfarrer das Deutsche zum Teil nur schlecht vom Blatt vorlesen. „Das ist ein Einzelfall. Man könnte das Problem, wenn es denn eins wäre, leicht durch die Wiedereinführung von Latein lösen.“

Wenn irgendjemand etwas Neues vorschlägt, wird er mit den prinzipiell möglichen Vorteilen des gegenwärtigen Systems konfrontiert. Man zeigt ihm das Jetzige so verklärt, wie es ursprünglich gedacht worden sein könnte. Das aber ist so ideal, dass es kaum kritisiert werden kann. Dieses Ideal vergleicht man nun mit den Mängeln der gerade entstehenden Zukunft.

Politik: „Die Piraten wollen unsere wundervolle freiheitliche Demokratie aushöhlen, die Deutschland schon seit mehr als äh vielen Jahrhunderten prägt. Demokratie gibt die Macht an die feinsten und erlesensten Köpfe unseres Landes, die es weise und umsichtig regieren, sodass das Volk vor ihnen dankbar das Knie beugt.“

Das ist aggressives Hochloben des Gegenwärtigen, um es gegen Veränderungen zu verteidigen. Ehrliche Menschen fragen sich, ob das alles ernst gemeint sein kann? „Es ist unsere Position.“ Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um die Positionierung des Jetzigen, das für bestmöglich erklärt wird, damit es nicht verändert werden muss. Denn nur das Bestmögliche kann nicht besser gemacht werden. Ach, wie hasse ich dieses Wort „positionieren“! Sieht denn niemand das Übel? „Man muss alles positiv sehen. Optimismus ist Pflicht. Wer nicht begeistert ist, fliegt raus. Unsere Position hat nichts mit der Realität zu tun, sie ist eine Frage der charakterlichen Einstellung.“

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

5 Kommentare

  1. Dem Neuen keine Zeit

    Neben der Betonung des Positiven eines alten Systems existiert noch ein weiteres Hindernis.
    Bevor sich das Neue wirklich entwickeln kann, werden die Anfangsfehler benutzt, um das Neue insgesamt niederzumachen.
    Durch diesen Mechanismus bekommen viele Neuigkeiten überhaupt Chance, sich überhaupt zu entwickeln.
    Wenn wir uns wirklich weiter entwicklen wollen, müssen wir lernen, dem Neuen eine Chance zu geben. Und wir müssen eine Fehlertoleranz lernen, über die wir heute überhaupt nicht verfügen. Für mich ist es immer wieder ein gutes Training, mich mit extremen Positionen zu beschäftigen, denn meine Urannahme ist, daß es in jedem Gedankengebäude – und sei es noch so absurd – wichtige Erkenntnisse und auch Wahrheiten gibt.

  2. Wenn irgendjemand etwas Neues vorschlägt, wird er mit den prinzipiell möglichen Vorteilen des gegenwärtigen Systems konfrontiert.

    Ist das wirklich so schlimm? Das “Neue” soll doch, wenn möglich, besser als das “Alte” sein. Von daher ist es in meinen Augen kein schlechter Test, wenn es sich mit den Vorteilen des “Alten” messen muss. Ich frage mich, ob ein “Angriffsloben” des “Neuen” nicht mindestens ebenso schädlich wäre. Im Übrigen sollte man auch Neuerungen stets ein gewissen Maß an Skepsis entgtegenbringen und sie durchaus (wenn auch gerne wohlwollend) prüfen. Nur so können sie ihren Wert auch zeigen. Und man verhindert ein sprunghaftes und experimentelles herumstolpern, wie es unsere Schulpolitik (als Beispiel) über viele Jahre zeigte und auch heute oft noch zeigt. Wo nämlich mit jeder neuen Idee eine eine Sau durch das Dorf gejagt wird, anstatt alle Vor- und eben auch Nachteile sachlich zu diskutieren und dann Zu entscheiden.

    Politik: „Die Piraten wollen unsere wundervolle freiheitliche Demokratie aushöhlen, die Deutschland schon seit mehr als äh vielen Jahrhunderten prägt. Demokratie gibt die Macht an die feinsten und erlesensten Köpfe unseres Landes, die es weise und umsichtig regieren, sodass das Volk vor ihnen dankbar das Knie beugt.“

    Bei aller Liebe zur Polemik halte ich das für ein “Strohmann-Argument”, das man genüsslich abfackeln kann, das aber mit den tatsächlichen Debatten um und über die Piraten nicht allzu viel zu tun hat.

  3. Neu ist gut, wenn man es kaufen kann

    Innovativ ist das neue Neu und damit sicher positiv besetzt. Allerdings nur, wenn man dieses Neue kaufen, erwerben und in seinen Genuss kommen kann. Zum Beispiel in Form eines Gadgets oder einer besseren, weniger invasiven Operationsmethode.

    Es gibt also eine Sphäre, in der die Dinge austauschbar, durch bessere ersetzbar sind.
    Die meisten kennen aber auch eine Sphäre, wo sie Eingriffe sehr schnell abwehren, wo sie das Neue draussen halten wollen. Wenn das neue eben das lieb gewonnen Alte bedroht, es keine Wahl mehr gibt und man sich entweder für das Neue oder das Alte entscheiden muss. Für einen Lehrer kann das ein neuer Lehrplan sein, für eine Busfahrer, die Pflicht, Neueinsteiger zu begrüssen, für einen Bewohner einer Stadt die Umnutzung einer Strasse.
    Als Neuerer muss man also versuchen das Neue als Geschenk schmackhaft zu machen, denn wer will schon alte Geschenke.

  4. Planck

    “Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben …”
    Dieser Prozess scheint hierzulande ins Stocken geraten zu sein. Die Alten wollen nicht sterben, die Jungen vergreisen schon in den Jugendorganisationen der Parteien, den Unternehmen fehlt der Zustrom neuer Ideen.

  5. Beides blöd

    Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um die Positionierung des Jetzigen, das für bestmöglich erklärt wird, damit es nicht verändert werden muss.

    …, denn wir wollen weder die Wahrheit finden, noch das Jetzige für unveränderbar erklären.

    ‘Die Wahrheit finden’ aber noch eine Spur döfer.

    MFG
    Dr. Webbaer