Dispathie – Unterschiedliche Wahrnehmungsweisen

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Wir sind von Dispathen umgeben und wahrscheinlich in vieler Hinsicht selbst einer. Gibt es das Wort Dispathie schon? Im Duden nicht. Manche sagen, es bedeute „Unterschiedlichkeit der Empfindungsweise“. Ich ändere es eigenmächtig in: „Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungsweise oder Wahrnehmungsebene“. Die Neurolinguistische Programmierung predigt es in einem Minikosmos schon lange: Der Mensch nimmt die Welt vor allem über seine Sinne wahr – so stellt NLP fest – über das Auge, die Zunge, das Ohr, die Haut oder die Nase – jeder hat dabei seine Prioritäten, und die prägen sein ganzes Wesen.

Na, da macht es sich die NLP zu einfach. Es gibt viel mehr Wahrnehmungsebenen. Gefühl versus Vernunft zum Bespiel. Gerechtigkeit versus Barmherzigkeit. Da fällt mir gerade Uli Hoeneß ein. Der sitzt jetzt schon über ein Jahr und muss zu seinem verlorenen Vermögen noch die Steuern nachzahlen. Die Gerechtigkeitsebene sagt: Der Herr Hoeneß ist vor dem Gesetz kriminell und soll büßen wie jeder. Er hat so viel an Ehre verloren, dass eine Wiedereinsetzung in hohe Ämter bedenklich erscheint. Die Barmherzigkeit sagt: Unser Uli ist genug bestraft. Wir lieben ihn als Mensch noch immer. Schwamm über die Spekulationen – jetzt, wo seine Frau Bescheid weiß, ist eine Wiederholung ausgeschlossen. Das Herz der bayrischen Bayern soll wieder auf der Bank sitzen. Bank, äh, mit den Spielern natürlich. Spieler, äh, mit den Fußballern natürlich.
Die Kontroverse um Hoeneß ist eine der Wahrnehmungsebenen „Gerechtigkeit“ versus „Barmherzigkeit“, vielleicht zwischen Kaiser und Gott. Damit ist sie als Kontroverse völlig sinnlos. Es gibt in jeder Frage diese beiden Seiten der Medaille, das ist so! Aber in jedem Einzelbeispiel exerzieren die Leute, die jeweils nur EINE Wahrnehmung kennen, das Anschmutzen der anderen Seite.
Noch ein Beispiel: Ex-Bundespräsident Wulff hat vor dem Gesetz („Gerechtigkeit“) eine weiße Weste. Auf der Gefühlsebene hat er uns enttäuscht. Er musste gehen, weil er die andere Seite selbst nicht zu kennen scheint, die Ebene unseres Herzens.
Viele von uns nehmen alles nur durch eine Spezialbrille mit Filtern wahr. „Berlusconi? Verjagt ihn!“ – „Berlusconi? Starker Macho, ein echtes Vorbild!“ Die verschiedenen Teilblinden mit ihren Brillenfiltern diskutieren also an jedem beliebigen Einzelfall immer dasselbe: Deine Brille – meine Brille. Ich sehe, was du nicht siehst. Du bist DESHALB nicht mein Freund.
Zwischen „Sicherheit“ und „Innovation“ ist ein tiefer Wahrnehmungsgraben, also zwischen den mehr zwanghaften und hysterischen Menschen. Ein weiterer ist zwischen „Ich“ und „Wir“, zwischen „Staatsmacht“ und „Laissez faire“, zwischen „Zentralisierung“ und „Freiheit vor Ort“, zwischen „Hierarchie-Management“ und „Netzwerk-Agilität“…

Diese Gräben zwischen den polaren Gegensätzen spalten die Menschen jedes Mal. Dispathie in jedem Einzelfall. Könnten wir vor der gegenseitigen Anschreierei bitte erst einmal die Gräben explizit benennen, um die es geht? Und dann sehen, dass es eigentlich wieder nur um die Gräben geht, nicht um die Einzelfallbetrachtung an sich? Dann wäre klarer, dass wir viel weniger aufgebrachte Dispute brauchen, sondern Brücken. Viele Brücken.

Übungsaufgabe Griechenland/Elendsflüchtlinge: Wie sieht jeweils die Lösung aus der Sicht von „Ich“, „Wir“, „Gerechtigkeit“, „Barmherzigkeit“, „Gemeinsinn“, „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“ etc. aus? Sind die Menschen auf der anderen Seite des Grabens nur schwarz schlecht? Können wir uns keine Brücke vorstellen?
Gehen Sie in sich: Ist es überhaupt theoretisch denkbar, dass alle Menschen jemals gleichzeitig auf der einen Seite des Grabens wären? Das ginge natürlich theoretisch nur dann, wenn alle auf Ihrer Seite stünden… Dafür kämpfen Sie offenbar. Wer ist dann, bitte, für Ihren Frust verantwortlich?

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

5 Kommentare

  1. Was die Menschen nicht einigt, ist die Gefühligkeit, was sie einigen könnte, ist der Anstand.
    Gerade auch, wenn dieser vor dem Hintergrund derjenigen Gesellschaftssysteme verstanden oder derart entwickelt worden ist, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgend implementieren konnten; dbzgl, könnte es recht weitgehenden Konsens, bundesdeutsch beispielsweise, was die sogenannte Freiheitlich Demokratische Grundordnung betrifft, geben, also unter den Leutz oder in der Menge.
    So wie’s zurzeit ausschaut, gerade in der BRD, dort wo die Gefühligkeit dabei zu sein scheint dem Anstand den Rang abzulaufen, also dort wäre “Dispathie” (der Begriff ist nicht von Ihnen, Herr Dr. Dueck, woll?!) womöglich Einzelnen höchst angeraten, zumindest: gelegentlich.
    MFG + ein schönes WE schon einmal,
    Dr. W

  2. @Dr. W
    Anstand Rang ablaufen, klasse, das klau ich! Dispathie hab ich selbst erfunden, aber beim Googeln natürlich schon gleich gefunden, es wird aber praktisch nicht verwendet (sooo wenig Treffer), also bisher nicht!

  3. “Teile und Herrsche”…

    Aus diesen zwei geht nicht hervor, dass etwa Reichtum geteilt wird, und daraufhin eine Herrschaft ermöglicht. So würden viele leicht denken. Geteilt wird das Lager der Gegner in Bezug auf das Thema der Streitfrage.
    In einer Dreiecksbeziehung entsteht dann immer ein strategisches Machtungleichgewicht, wenn sich die Streitparteien durch so einfache psychologische Tricksereien entzweien lassen, sodass dann in einer Frage ein Zusammenhalt in Übermacht entsteht, dass eine Weile andauert, sodass nächste Fragen damit auch gleich geklärt werden können. Politisch ergeht sich die Bandbreite des Dreiecks da gewohnheitsmäßig zwischen Links, Mitte und Rechts. Und wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Alte Weißheit der Dritten.

  4. Dispathie (” (lat.-griech.), Ungleichheit der Empfindungsweise, des Gefühls”) würde ich interindividuell ansiedeln und nicht intraindividuell wie Gunter Dueck das gemacht hat. Spontan fällt mir als Beispiel folgendes ein: “der Mann kommt vom Mars, die Frau von der Venus”, was eben übersetzt bedeutet: Männer und Frauen empfinden anders, ja teilweise völlig anders. Zwar hat sich in den letzten Jahrzehnten unsere ganze Zivilisation feminisiert, aber jeder kennt wohl noch den Macho oder die Klatschtante. Früher, aber zum Teil heute noch, kennt jeder Phänomene wie das Weghören des Mannes als Reaktion auf diarrhoeartiges Erzählen der Frau oder Männerinteresse an Machoschlitten (Sportautos) oder Fussball. Auch bei Frauen finden sich gemeinsame Interessen und Verhaltensweisen, die sich bei Männern weniger finden. Die Geschlechter sind also dispathisch. Doch das sind vielleicht auch Extrovertierte gegenüber Introvertierten, Raucher und Säufer gegenüber Abstinenzlern. Dispathie wird den betroffenen Partnern oft erst spät bewusst, weil die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Vokabular die Dispathie verdecken.

    • Na, ich hab jüngst kennen lernen müssen, dass es erhebliche inkonsistenzen geben kann – intraindividuell – also innerhalb einer Person.

      Andere Perspektiven auf dieser Begebenheit weisen aber auch auf eine merkwürdige interindividuelle “Wanderung” von Identitäten hin. Also eine Art Seelenwanderung – kein Scherz, voller Ernst.
      (wenn jemand stirbt, wandert seine Identität(en) zum nächstmöglichem, passendem Körper – teilt sich auf andere Menschen auf. Und es sterben jeden Tag Menschen – leider)(Der jüngst in Rom abgelebte Mafioso war so einer, der wirklich großes chaos erzeugte, als seine an ihn gebundene Identitäten freiwurden)