Immunität durch rituelle Strategienfindung und die Vorsatzanwendung zu Neujahr

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Haben Sie schon Vorsätze für das neue Jahr? Wollen Sie sich denn gar nichts vornehmen, so wie die Unternehmen es tun, die sich Wachstum und Profit auf die Fahnen schreiben? Viele von Ihnen nehmen sich persönlich deshalb nichts vor, weil sie wissen, dass sie es nicht tun werden. Das ist bei Unternehmen auch so, aber sie nehmen sich trotzdem etwas vor. Sich etwas vorzunehmen ist nämlich strategisch. Und eine Strategie muss man haben, sonst kann einem jedermann Vorwürfe machen, nicht zu wissen, was man tut. Wer aber eine Strategie hat, ist erst einmal immun gegen Vorwürfe. Die Festlegung einer langfristigen Strategie ist die kurzfristigste und leichteste aller Unternehmensproblemlösungen.

Warum schwören die Unternehmen auf das Festlegen von Strategien und warum sind Privatpersonen in Bezug auf Silvestervorsätze geradezu zynisch? Fast jedes heutige moderne Unternehmen hat sich sehr lange wohlüberlegt, strategisch der Marktführer zu werden und dafür Begeisterung unter den Mitarbeitern zu mobilisieren. Warum legen Sie selbst nichts fest und begeistern sich? Sind Sie denn nicht begeistert, endlich Ihre Finanzen zu ordnen, abzunehmen, mit den Kindern zu spielen, Ihre Ehe glücklicher zu gestalten oder Verwandte auch einmal zwischen den Beerdigungen zu sehen? Bitte sagen Sie doch nicht wie alle andern: „Ich schäme mich, wenn ich meine Vorsätze nicht umsetze. Das ist mir so oft, ja sogar immer passiert. Deshalb nehme ich mir nichts mehr vor.“ Aber dann bekommen Sie doch dauernd Vorwürfe, die Familie zu vernachlässigen oder ungesund zu leben! Wollen Sie das?

Schauen Sie sich Unternehmen an, die schämen sich ja auch nicht. Das Geheimnis ist es, dass Unternehmen oder Staaten sich zwar immer etwas vornehmen, was sie dann auch nicht tun – dass sie aber die Prozedur des Vornehmens schön lange hinziehen, sodass die Zeit für die Umsetzung ausgeht und zu diesem späten Zeitpunkt auch kein Geld mehr da ist. Ich will sagen: Privatpersonen machen etwas falsch, ganz grundsätzlich. Ein Beispiel: Sie schauen Silvester in den Spiegel und sehen, dass Sie Übergewicht haben. Dann nehmen Sie sich vor, Ihr Idealgewicht zu erreichen, obwohl die Welt sehr voller sehr komplexer Wechselwirkungen und Abhängigkeiten ist und das Leben in Kürze das Verdrücken eines sechsgängigen Menüs vorsieht. Hier ist also die Zeitspanne zwischen dem Vorsatz und dem Scheitern so kurz, dass Sie um das Schämen nicht wirklich herumkommen. Sie müssen deshalb wie die Unternehmen das Vorsatzfassen sehr in die Länge ziehen, so dass sie es in vollen Zügen genießen können! Zum Beispiel können Sie sich doch nicht ernsthaft zum Abnehmen verpflichten, nur weil Sie mal schwabbelig im Spiegel aussahen! Sie müssen sich doch erst auf Mikrogramm genau wiegen, danach sollten Sie den Body Mass Index berechnen, und zwar mit einer neuen sehr genauen Formel, für die Sie erst einmal einen Volkshochschulkurs belegen. Oder? Sie fassen doch sicher auch schon seit zwanzig Jahren den Vorsatz, eine Fremdsprache zu erlernen, wozu sie heute noch Tonbandkassetten im Hause haben, obwohl auch im Auto keine Abspielgeräte mehr vorhanden sind. Kaufen Sie einen Sprachkurs auf einer Blu Ray Disc! Dafür haben Sie noch keinen Abspieler, Sie müssen sicher erst sparen …

Im Ernst: Schauen Sie erst einmal, wie sich Unternehmen etwas vornehmen. Angenommen, in der Zeitung wird in höhnischer Weise über die Mistprodukte einer Firma geschrieben und dabei der lausige und grottenunfreundliche Service beklagt. Was soll das arme Unternehmen jetzt tun? Es kann jetzt nicht einfach sagen: „Aha, das muss abgestellt werden. Morgen fangen wir an.“ Womit fangen wir denn an? Wer ist dafür zuständig? Wer entscheidet, womit wir anfangen? Wer gibt denn Geld, damit die Mitarbeiter freundlicher werden – es muss doch investiert werden! (Der Staat hat auch immer kein Geld, damit die Lehrer gut lehren, auch da fehlen die hohen Investitionen – ebenso wie auf der Uni, wo die Lehre mit Geldern genauso schlecht bleibt, wie sie ist. Die Studiengebühren waren viel zu wenig an Geld, das hat man ja gesehen!) Und vor allem: Wo kommt die nötige Begeisterung her?

Sie sehen, Sie fallen sofort in ein schwarzes Loch voller „Herausforderungen“, wie man heutzutage verzweifelte Lagen bezeichnet.

Liebe Leute, es gibt doch Beratungsmethoden! Berater nehmen zum Beispiel an, dass man nur abnehmen kann, wenn man weiß, wie viel man quantitativ konkret genau abnehmen will. Das Abnehmen kann doch nicht plan- und ziellos angefangen werden! Ebenso kann nicht jeder Mitarbeiter plötzlich auf eigene Faust mit Freundlichkeit im Service beginnen, das muss mit System geschehen und einheitlich ablaufen. Lehrer oder Professoren können auch nicht selbstständig gut lehren, weil sie dann gegen den Lehrplan verstoßen oder unmodular daherreden. Die Beratungsmethoden verlangen kategorisch ein Ziel für jede Aktivität! Ohne Ziel wird nichts angefasst! Das ist das eigentliche Geheimnis, warum Privatpersonen mit Vorsätzen viel zu schnell scheitern. Beratungsmethoden fragen beharrlich: Was soll am Ende dabei herauskommen? Das ist eigentlich klar: Wenn Sie schon abnehmen, dann doch gleich auf das Idealgewicht, oder? Wollen Sie sich im Ernst für weniger begeistern? Das Ziel muss das Ideal sein. Das Ideal ist fast immer im Prinzip bekannt – aber nur den Beratern, weil die Berater dafür Tabellen haben. Sie wissen, wer „Best Practice“ bieten kann, sie wissen, wer durchschnittlich ist und  wer nachhinkt. Wenn Sie Ihren Berater gut bezahlen, berechnet er anhand seiner Tabellen Ihren Idealzustand. Dieser Idealzustand, für den Sie sich begeistern, muss nun mit dem Ist-Zustand verglichen werden. Wie freundlich sind die Mitarbeiter genau? Wie schlecht sind denn die Produkte des Unternehmens wirklich? Die Berater sagen, dass man erst mit dem Verbessern anfangen kann, wenn man weiß, wo man steht und wohin man will.

Deshalb werden Assessments durchgeführt, die alles genau untersuchen. Das dauert schön lange. Am Ende kommt der Ist-Zustand heraus, der vereinzelt noch innerhalb des Unternehmens bestritten wird. Die Produktionsleute wissen natürlich von dem schlechten Service, finden die Produkte aber gut. Der Service dagegen fühlt sich gegen berechtigte Produktbeschwerden der Kunden machtlos. Jetzt muss über den Ist-Zustand noch Einigkeit erzielt werden, das nennt man ein Kulturproblem … Irgendwann wird ein Ist-Zustand befohlen, damit man einen hat. Dieser Ist-Zustand wird nun mit dem Soll- oder Idealzustand verglichen. Die Differenz heißt immer englisch „Gap“ wie Lücke. Diese Lücke muss nun geschlossen werden.

Man klassifiziert die Lücke in ihrer Größe. Stufe 1 zum Beispiel bedeutet: „Ist stark übergewichtig, hat aber das Problem und das Gesundheitsrisiko noch gar nicht erkannt.“ Stufe 2: „Weiß im Prinzip, dass es Diäten gibt und dass es Methoden gibt, die Herausforderung anzugehen.“ Stufe 3: „Kennt ausgewählte Diäten und ist mit Problemlösungsmethoden vertraut, hat schon Versuche gemacht.“ Stufe 4: „Wendet die Methoden fachgerecht mit einigem Erfolg an.“ Stufe 5: „Beschäftigt sich so vorbildlich mit Diäten, dass das Idealgewicht nachhaltig gehalten werden kann.“

Stufe 1 kommt nie vor, weil ja Berater erst kommen, wenn man das Problem sieht. Oder Berater kommen, weil ein neuer Chef alles als einziger sieht, dann aber lernen die Mitarbeiter das Problem beim Beantworten von Fragen zum Ist-Zustand ja kennen. Stufe 5 kommt auch nie vor, da braucht man keine Beratung. Stufe 5 ist auch logisch falsch beschrieben – Leute mit Idealgewicht auf Stufe 5 wenden gar keine Diäten an, sie sind einfach schlank. Und freundliche Leute haben keine Ahnung von Freundlichkeitsprogrammen, sie sind nur freundlich (Das ist aber unsystematisch, deshalb zieht man das logisch falsch Formulierte vor). Am Ende kommt fast immer heraus, dass  das Untersuchte, was immer es ist, in den einzelnen Punkten auf Stufe 2 oder 3 ist, ganz selten auf 4.

Jetzt wird ein Plan angefertigt, wie man den Idealzustand erreichen kann. Der sieht so aus: Man versucht, in jedem Einzelpunkt eine Stufe höher zu kommen. Das wird in vielen Teilplänen ausgearbeitet, die anschließend harmonisiert werden müssen, wobei es wieder zu Kulturproblemen kommt.

Hoffentlich kommt Ihnen das Ganze viel zu kompliziert vor, obwohl es das nicht ist. Es wird ja nur kompliziert gemacht. Und man darf vor dem Komplizierten auf keinen Fall schon plan- und ziellos mit dem Verbessern anfangen! Ganz sicher nicht gleich am Neujahrstag! Deshalb wird das Schämen auf etliche Monate so stark verteilt, dass es nie über die fühlbare Schämschwelle gelangt.

Und Sie werden sich jetzt am Kopf kratzen und fragen: Wozu das Ganze um die Abnehmerei und die Diäten, wenn alle Aktivitäten in Messungen von Zuständen und Streit über die Stufen versanden? Haha, Sie merken es immer noch nicht? Niemand kann Ihnen mehr Vorwürfe machen! Wenn Sie jemand auf Ihr Übergewicht anspricht, antworten Sie nun mit wichtiger Miene: „Ich habe zu Silvester den Vorsatz gefasst, eine grundlegende Strategie ausarbeiten zu lassen, wie ich meiner Herausforderung strukturiert begegne. Ich lasse gerade systematisch alle Daten erfassen, die zur Beurteilung meiner Lage erforderlich sind, ich habe Analysten engagiert, die mir optimierte Pläne ausarbeiten. Ich werde nicht auf den üblichen Fehler verfallen, einfach ohne Plan weniger zu essen, das sehen Sie doch überall scheitern. So viele Leute werden durch Fasten dicker und ruinieren die Gesundheit! Ich gehe die Herausforderung jetzt erfolgssicher strategisch an. Ich beharre auf einer nachhaltigen Lösung. Ich will konkrete Zielsysteme und verlange, dass meine ganze Umgebung in meinen tiefgreifenden Wandel integriert ist und meine Begeisterung teilt. Die Analysen zeigen, dass es einfacher ist, wenn meine ganze Umgebung in mein System eingebunden ist und ebenfalls mit mir gesund wird. Ich zähle auf alle, die ab jetzt nicht mitessen. Ich will überall systemische Begeisterung sehen – in allen Augen muss der pure Wille zum Sieg blitzen …“

Verstehen Sie? Wer eine Strategie hat, ist stark. Vorwürfe prallen ab. Bewunderung für die Stärke kommt auf. Ihre Kraft wird bestaunt. Wenn Sie je noch übergewichtig sind, dann sind Sie es jetzt heroisch, nicht aus Schwäche, Gleichgültigkeit oder Ignoranz. Sie kämpfen wie ein König der Löwen, so wie Staatsoberhäupter auf Weltklimagipfeln der Stufe 1 bis 2. Die Welt mag sterben, aber heroisch und strukturiert strategisch – und keiner von uns muss sich schämen.

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Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

1 Kommentar

  1. Ich tippe eher darauf, dass das Management einfach Handlungsfelder benötigt mit dem es seine Bonusberechtigung nachweisen kann. Wenn die nicht von selbst kommen muss man die erfinden, das ist wie in der Politik.