Legebatteriehuhn: „Früher war nicht alles besser!“

BLOG: WILD DUECK BLOG

Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Wie oft fahren wir aus der Haut, wenn so alte Menschen wie ich mit unwiderleglichem Wissenston apodiktisch diese eine eherne Wahrheit in den Raum stellen: „Früher war alles besser.“ Das ist, pardon, zum Kotzen. Dieselben Emotionen lassen sich im Tierreich beobachten. Erfahren Sie Neuigkeiten und Geschwätz aus einer Legehuhnbatterie. Dort stehen Hühner ohne zu viele Federn, eng gefangen in elenden Käfigen und versuchen, ihr täglich Ei aus einem wunden Hinterteil zu pressen. Sie fressen dabei unaufhörlich, um das nachhaltig für 12 bis 14 Monate möglich zu machen.

„Früher gab es Hähne, die waren wunderschön, man verliebte sich in sie.“ – „Wie sahen die bloß aus?“ – „Sie hatten stolzfarbene Schwanzfedern und konnten sehr laut krähen.“ – „Hört doch mit dem dummen Geschwätz auf, das sind Märchen. Was soll denn Liebe sein?“ – „Wenn ein Huhn vier Monate alt wurde, bekam es einen Hahn, und der Hahn schaffte es irgendwie, dass aus den Eiern, die wir legen, kleine Hühner herauskamen oder so.“ – „Wir wissen doch, was in den Eiern drin ist, ein weißgelber Matsch. Kein Huhn!“ – „Früher war alles anders, das sagen doch alle.“ – „Wer sagt das denn? Keiner von uns hat je einen Hahn gesehen – das wird immer nur erzählt und weitererzählt! Aber unsere erste reale Erinnerung ist, dass wir von Menschen großgezogen wurden, bis wir dann endlich einen eigenen Käfig bekamen. Das finde ich gut, weil ich jetzt nur mit ein paar Freundinnen zusammen bin und nicht mehr von anderen eifersüchtig gepickt werde.“ – „Du fühlst dich wohl schön, oder? Leg lieber dein Ei, schwatz nicht so viel rum.“ – „Ich lege viel mehr als ihr, ich bin eine Legehybride.“ – „Sind wir alle!“ – „Aber ich bin schön! Ich komme bestimmt bald in die erste Käfigreihe, wo ich fotografiert werde.“ – „Da kommen nur die adligen Hühner hin, das weißt du genau. Die legen nur Eier, wenn sie gerade Lust haben, ich glaube nur so 250 im Jahr. Lächerlich. Sie müssen nur für die Journalisten schön sein.“ – „Warum kommen Journalisten?“ – „Das sind Menschen, die immer nachprüfen, ob es uns gut geht.“ – „Aber warum prüfen sie dann nur Hühner, denen es echt gut geht, nicht uns?“ – „Sie sagen, bei Menschen ist das auch so, man schaut nach, ob es den Reichen gut geht, weil dann eine Ökonomystik oder so brummt.“ – „Ich will aber auch überprüft werden! Ich habe leider strunzdumme Mithühner hier im Käfig! Au, was soll das! Au, ich habe schon genug Wunden. Hilfe!“ – „Hört auf! Es dauert doch noch etwas, bis sie Antibiotika sprühen. Wir werden dadurch kaum krank, es geht uns doch gut. Es kann nicht jeder adlig sein, es muss doch auch Legehühner geben.“ – „Früher, mit Hähnen, war es bestimmt besser!“ – „Das sind Märchen!“ – „Nein, früher gab es noch Helden und Hühnen. Da liefen Hühner frei herum und hatten prächtige Hühneraugen.“ – „Und wer hat unseren Kot weggemacht, der jetzt so praktisch durch das Gitter nach unten durch die unteren Hühnerschichten fällt? Wer hat uns Antibiotika gegeben? Wer hat uns vor Füchsen und Habichten geschützt? Wer hat die Hühner gefüttert? Waren die Hühner denn früher auch so stolze Inzuchtlegehybriden wie wir? Konnten die denn auch 328 Eier pro Jahr legen?“ – „Sie haben viel weniger Eier gelegt und sind alt geworden, bis sie starben.“ – „Findet ihr das gut, so wenig zu leisten? Welchen Sinn hat solch ein faules Leben als Urhuhn niederster Herkunft? Schmissen die damals ihr Leben weg? Haben die Urhühner nur gechillt? Nein! Nein! Was denkt ihr denn? Ich glaube doch wohl, sie haben sich ohne Menschen ganz mühsam ihr Futter suchen müssen, oder? Sie werden ohne Käfige verhungert oder wilden Tieren zum Opfer gefallen sein. Stellt Euch einmal vor, die Menschen würden nicht täglich das Futter für uns heranschuften, wovon sollten wir denn leben?“ – „Früher gab es nur wenige Hühner, sagen manche.“ – „Und was ist damals mit den anderen passiert? Sind die von Füchsen gefressen worden?“ – „Ich frage mich nur, ob es wirklich Sinn des Lebens ist, Eier zu legen.“ – „Ja, natürlich, für das Futter! Und dafür muss man etwas leisten.“ – „Ja, ja, aber früher war es besser, oder?“ – „Du redest dauernd von Dingen, die niemand gesehen hat. Es gibt keine Hähne und es gab nie welche. Ich bin mit meinen 720 Quadratzentimetern glücklich, ich habe mehr Fläche als ein Blatt Papier. Die Menschen lieben uns. Wir müssten uns hier nur als Team besser vertragen.“ – „Aber es muss doch Hähne geben, weil einige Male Men-schen gesagt haben, bei unserem Anblick würden sie sich nie mehr überwinden können, ein Brathähnchen auch nur anzuschauen.“ – „Das haben sie gesagt? Was ist ein Brathähnchen?“ – „Ich habe es gehört. Einer sagte: ‚Wer hier Hennen füttert, muss kotzen, wenn er ein Brathähnchen sieht.‘“ – „Meinen die damit, dass Hennen viel schöner sind?“ – „Nein, nein, Hähne waren wunderschön. Früher.“ – „Aha, da war alles besser, ja? Und die Menschen kotzen, wenn sie einen Hahn sehen? Früher! Früher! Euer blödes Früher! Früher! ist zum Kotzen. Reiner Aberglaube. Wenn ich das schon höre! Aaah, aaah, jetzt sprühen sie Desinfektion, da fühle ich mich wieder sauber. Fresst und legt!“

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

4 Kommentare

  1. Was früher wirklich war wissen nur die von früher. Diejenigen also, die gar nicht mehr leben und deren Gedanken, Gefühle und Probleme wir nicht wirklich kennen (Worte von ihnen die überlebt haben, bedeuteten damals vielleicht etwas anderes als heute).

    • Nicht einmal die, die noch leben und die von früher sprechen, wissen, wie es früher war. Es gibt kein objektives Gedächtnis, es gibt nicht einmal eine subjektiv richtige Erinnerung.

      • Über Nomen und die Zeit
        Nomen sind klein. Im großen und ganzen leben kleine
        Geschöpfe nicht lange, aber vielleicht leben sie schnell.
        Hier mag eine Erklärung nötig sein.
        Eins der kurzlebigsten Geschöpfe auf dem Planeten
        Erde ist die gewöhnliche Eintagsfliege. Ihre Lebenserwartung
        beträgt genau einen Tag. Andererseits gibt es
        Mammutbäume, die über viertausend Jahre alt sind
        und sich noch immer bester Gesundheit erfreuen.
        Eintagsfliegen halten das vielleicht für ungerecht,
        aber wichtig ist nicht die Länge des Lebens, sondern
        wie lang es zu sein scheint.
        Für eine Eintagsfliege haben sechzig Minuten vielleicht
        die Länge eines Jahrhunderts. Man stelle sich vor,
        wie alte Eintagsfliegen beieinandersitzen und darüber
        klagen, das Leben in dieser Minute sei nicht mehr so
        wie in den guten alten Minuten vor langer Zeit, als die
        Welt jung war, als die Sonne heller schien und Larven
        noch Respekt zeigten. Bäume hingegen sind nicht wegen
        ihrer schnellen Reaktionen bekannt; möglicherweise
        bemerken sie das seltsame Flackern des Himmels,
        bevor sie von Trockenfäule und Holzwürmern heimgesucht
        werden.
        Alles ist relativ. Je schneller man lebt, desto mehr
        dehnt sich die Zeit. Für einen Nomen-Wicht dauert ein
        Jahr ebenso lange wie zehn Jahre für einen Menschen.
        Denken Sie daran. Ohne deshalb betrübt zu sein. Die
        Nomen kümmert es nicht. Sie haben überhaupt keine
        Ahnung davon. (Quelle)