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BLOG: WIRKLICHKEIT

Hirnforschung & Theologie
WIRKLICHKEIT

In einer bisher kaum wahrgenommenen Arbeit zeigten Epileptologen kürzlich, dass die elektrische Stimulation eines sehr eng umgrenzten Hirngebietes das Bewusstsein umgehend abschalten kann. Damit liefern sie einen interessanten Beleg für eine von Francis Crick (kurz vor seinem Tod) und Christof Koch formulierte und im Jahr 2005 publizierte These über eine recht unscheinbare und schwer zugängliche Hirnregion, die ein wichtiges neuronales Substrat des Bewusstseins sein könnte.

Die erwähnte Arbeit erschien in diesem Jahr als “Brief Communication” in der Zeitschrift “Epilepsy & Behavior” und wurde von dem Washingtoner Neurologen Mohamad Koubeissi und Ko-Autoren aus Marseille, Genf und Cleveland verfasst. Die Autoren berichten darin über eine damals 54jährige Epilepsiepatientin, die sich einer erneuten prächirurgischen Epilepsiediagnostik unterzog, da vier Jahre nach einer anfänglich erfolgreichen hochselektiven Entfernung ihres linken Hippocampus nun doch wieder Anfälle aufgetreten waren. Diese Re-Evaluation erforderte die Implantation sogenannter intraparenchymaler Tiefenelektroden, mit denen eine artefaktfreie Messung von elektrischer Hirnaktivität u.a. während eines Anfalls möglich ist. Außerdem kann man versuchen, über diese Elektroden Anfälle zu triggern oder eine individuelle Hirnfunktionskarte zu erstellen, indem man das Hirngewebe elektrisch reizt. Diese Untersuchungen werden hauptsächlich im Bereich der prächirurgischen Epilepsiediagnostik durchgeführt, deutlich seltener vor tumorchirurgischen Eingriffen am Gehirn.

Tiefenelektroden sind sehr dünne Stabelektroden mit zahlreichen Kontaktpunkten im Abstand weniger Millimeter. Die Implantation erfolgt durch kleine Bohrlöcher im Schädel stereotaktisch, sodass die anvisierten Zielgebiete sicher getroffen werden. Bei der Patientin, über die hier zu berichten ist, wurden Elektrodenpunkte im Resthippocampus sowie in weiteren temporomesialen Hirngebieten platziert, u.a. Amygdala, posteriorer G. cinguli, mediale und laterale frontale Regionen, anteriore und posteriore Insel und zwei Elektroden im hinteren Quadranten – alles auf der linken Seite. Die Elektrode AI4 lag genau zwischen dem Claustrum und der anterioren Insel (d.h. in der Capsula extrema).

Das Claustrum des Menschen ist ein (nach Talairach-Atlas) ca. 22 mm hohes, 38 mm langes und mit durchschnittlich etwa 1 mm sehr dünnes Kerngebiet. Es wirkt im Schnittbild ein wenig wie eine Mauer oder eine Wand (lat., claustrum) oder wie ein leicht welliges Tuch. Die äußerst geringe Größe/Dicke erschwert elektrophysiologische oder Tracer-Untersuchungen dieser Hirnstruktur in vivo, und aus demselben Grund liegen auch nur sehr wenige Fallberichte von Patienten mit einigermaßen selektiven Claustrum-Schädigungen vor. Tatsächlich stellt das Claustrum samt seiner Funktionen in vielerlei Hinsicht bis heute immer noch ein Rätsel dar. Erst in diesem Jahr erschien in den Frontiers of Systems Neuroscience eine umfangreiche Artikelserie zu dieser Hirnstruktur.

Das Claustrum liegt extrem nahe bei der Insel, es enthält viele cortikale, aber auch subcortikale Zelltypen. Es spricht daher einiges dafür, dass es sich gemeinsam mit der Inselrinde entwickelt hat; zahlreiche Säugetiere haben z.B. zwischen Insel und Claustrum keine Capsula extrema. Die Abgrenzung von Insel und Claustrum ist anatomisch noch nicht abschließend geklärt.

Wie die Insel verfügt das Claustrum beim Menschen laut einer in diesem Jahr erschienenen Diffusion Tensor Imaging (DTI)-Studie (Torgerson et al., 2014, Human Brain Mapping) über eine extrem hohe und reziproke Vernetzung mit sämtlichen Hirnlappen; Verbindungen zu limbischen Strukturen sind weniger stark ausgeprägt und es bestehen auch Verbindungen zum Hirnstamm. Dieses Ergebnis bestätigte frühere Befunde aus Untersuchungen an verschiedenen Tieren sowie frühere DTI-Untersuchungen am Menschen.

Die extrem gute Vernetzung – keine andere Hirnregion weist relativ zu ihrem Volumen eine höhere Vernetzung auf! – war für Francis Crick (gestorben 2004) und Christof Koch die Basis für eine sehr interessante These, die sie (Crick also postum) 2005 in den Philosophical Transactions of the Royal Society B publizierten: Im bewussten Erleben zerfällt die Welt nicht in voneinander getrennte sensorische Eindrücke, sondern wir erfahren Objekte zugleich in all ihren sensorischen Dimensionen. Hieraus ergibt sich die allgemein anerkannte Forderung, dass eine für das Bewusstsein entscheidende Hirnstruktur die Vernetzung weit voneinander entfernter Hirnareale leisten und selbst supramodal (also keinem einzelnen Sinn oder Motorik zugeordnet) angelegt sein muss. Crick und Koch spekulierten, dass das Claustrum aufgrund seiner extremen cortikalen Vernetzung ein hervorragender Kandidat für diese Aufgabe sein könnte. Natürlich vermuteten sie nicht, dass das Claustrum Träger der Bewusstseinsinhalte ist (also z.B. eines bestimmten visuellen Erlebnisses) – dafür sind die entsprechenden sensorischen und assoziativen Cortices zuständig. Aber einer Struktur wie dem Claustrum könnte die entscheidende Aufgabe zufallen, die Gesamtaktivität der verschiedenen cortikalen Hirngebiete zu koordinieren. Crick und Koch schlugen dafür die Metapher eines Dirigenten vor, der ja nicht selbst die Musik spielt, sondern durch seine Koordination den ganz besonderen Zusammenklang eines Orchesters und damit eine besondere Qualität ermöglicht, die über die Möglichkeiten der einzelnen Instrumentengruppen weit hinaus geht.

In der oben genannten Artikelserie aus Frontiers in Systems Neuroscience werden, das muss hier eingeräumt werden, zahlreiche überzeugende Belege aus Tieruntersuchungen angeführt, welche eine multisensorische Integrationsfunktion des Claustrum in Frage stellen. Alle sensorischen Systeme projizieren ins Claustrum und erhalten von dort Projektionen; die entsprechende Topographie bleibt im Claustrum aber erhalten und man findet bislang nichts, was eine “Vermischung” oder “Integration” dieser Informationen ermöglichen könnte. Außerdem bestehen erhebliche Kapazitätsgrenzen, das Claustrum ist ja sehr klein. Relativ unbestritten ist, dass dem Claustrum eine Funktion beim Entdecken salienter (unerwarteter, potentiell bedeutsamer) Reize zukommen könnte; u.a. hat dies die Tübinger Arbeitsgruppe um N. Logothetis für auditorische Reize gezeigt. Interessant ist, dass Azteken-Salbei (salvia divinorum) seine wohl recht einzigartigen, psychotropen Effekte vor allem über den k-opioid Rezeptoragonisten Salvinorin A entfaltet und dass k-opiod Rezeptoren vor allem im Claustrum zu finden sind (vgl. Stiefel et al. 2014, Front Integr Neurosci).

Aber … kommen wir zurück zu unserer Epilepsiepatientin und der Elektrode AI4!

Koubeissi und Kollegen machten eine erstaunliche Entdeckung, als sie in der klinischen Routine die Effekte der Stimulation des Gehirns über die verschiedenen Elektrodenkontakte testeten. Die Patientin verlor bei Stimulation mit Elektrode AI4 bei einer Stromstärke von 14 mA (biphasische Wellen, Pulsweite 0.2 ms, Frequenz 50 Hz, Dauer 3-10 Sekunden) schlagartig das Bewusstsein: sie war nicht mehr ansprechbar und wusste später nichts mehr von dem, was während der Stimulation geschehen war. Sobald die Stimulation beendet wurde, war die Patientin genauso schlagartig wieder bei Bewusstsein. Dies war absolut zuverlässig in 10 von 10 Versuchen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen der Fall. Mit keiner anderen Elektrode konnte ein ähnlicher Effekt erzielt werden; die nächsten Elektroden lagen dabei “nur” 2,7 mm entfernt. Mit niedrigeren Stromstärken (<14 mA) gab es auch an AI4 keinerlei Effekte auf das Bewusstsein (z.B. psychotrope Effekte).

Die Patientin konnte interessanterweise – wie wir es von komplex-partiellen Anfällen durchaus kennen – begonnene automatische Bewegungen für wenige Sekunden mit Zunge und Händen fortsetzen; sie wiederholte sogar noch ein Wort, das ihr unmittelbar vor der Stimulation genannt wurde. Unverständliche, silbenartige paraverbale Äußerungen traten manchmal auf, endeten jedoch nach einigen Sekunden. Während dieser Zeit starrte sie leer vor sich hin oder zeigte einen verwirrten Gesichtsausdruck.

Bei visueller Inspektion zeigte das Oberflächen-EEG während der Bewusstlosigkeit erstaunlicherweise keinerlei Veränderungen. Insbesondere traten keine Nachentladungen (after discharges) auf, die sich über den Cortex verbreiten und diverse Hirnfunktionen nachhaltig beeinflussen würden. Es konnten über die Elektrode AI4 auch keine Anfälle ausgelöst werden; dieser Hirnort ist also nicht epileptogen und wahrscheinlich gar nicht pathologisch verändert. (Die neuerlichen Anfälle der Patientin kamen aus der Amygdala; in Bonn werden bei unseren selektiven epilepsiechirurgischen Eingriffen Hippocampus und Amygdala immer gemeinsam entfernt.)

Erst eine aufwändigere Analyse der Korrelationen der Aktivität an ausgewählten bipolaren Oberflächenelektroden im Frontal- und Parietallappen zeigte deutliche Veränderungen: Während der Bewusstlosigkeit zeigten Hirnregionen vor allem im posterioren Frontalhirn und im medialen Parietallappen erhöhte (sic!) Korrelationen (h2), also ein stärkeres (!) funktionelles Coupling. Es war bereits bekannt, dass während einer durch Temporallappenanfälle ausgelösten Bewusstlosigkeit diese Korrelationen ansteigen.

Mir erscheint daher in der Zusammenschau dieser Beobachtungen die Schlussfolgerung der Autoren durch die präsentierten Daten sehr gut belegt: Die hinreichend starke elektrische Stimulation eines eng umschriebenen Hirngebietes im Bereich der linken anterioren Insel und des Claustrum kann zu sofortigem Erlöschen des Bewusstseins führen. Die funktionelle Integrität dieser Hirnregion stellt daher eine notwendige Bedingung für Bewusstsein dar. Eine direkte Stimulation der Inselrinde – sowie anderer Hirnorte – hat in den letzten 100 Jahren niemals zu einem derartigen Effekt auf das Bewusstsein geführt. Daher erscheint es sehr wahrscheinlich, dass die Stimulation des Claustrum der entscheidende Faktor ist. Tatsächlich zeigten in einer anderen Untersuchung Patienten mit sehr unterschiedlichen Fokuslokalisationen, die aber alle bei Anfällen ihr Bewusstsein verlieren, erhöhte hämodynamische Aktivität im Claustrum als dem gemeinsamen Nenner (Laufs et al. 2011, Neurology). Das eigentliche Korrelat des intakten Bewusstseins ist vermutlich die hinreichend komplexe Interaktion großer Hirnrindengebiete, welche aber bei einer Unterbrechung der modulierenden Aktivität des cortikal/subcortikalen Claustrum an Komplexität einbüßt und sich dann quasi zu sehr synchronisiert – mit der Folge sofortiger Bewusstlosigkeit.

Meines Erachtens ist diese Schlussfolgerung erstaunlich nahe an der Crick-Koch-Hypothese von 2005. Eine zentrale Rolle des Claustrum schließt natürlich überhaupt nicht aus, dass es weitere An-/Aus-Schalter für das Bewusstsein geben könnte, die z.B. durch Narkotika adressiert werden. Ferner wäre eine Replikation der Beobachtung an neuen Fällen sehr wichtig.

Ich finde den Gedanken ungeheuer spannend/aufregend/beängstigend (?), dass unser phänomenales Bewusstsein – d.h. die entscheidende Voraussetzung all unserer personalen Fähigkeiten – u.a. von der funktionellen Integrität eines solch extrem kleinen Hirngebietes (zudem nur in der linken Hirnhälfte) abhängen könnte.

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Geboren 1967 in Emsdetten/Westfalen. Diplom kath. Theologie 1993, Psychologie 1997, beides an der Universität in Bonn. Nach einem Jahr am Leipziger Max-Planck-Institut für neuropsychologische Forschung (1997-98) bin ich seit Oktober 1998 klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik für Epileptologie in Bonn. Ich wurde an der Universität Bielefeld promoviert (2004) und habe mich 2015 an der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn habilitiert (Venia legendi für das Fach Neuropsychologie). Klinisch bin ich seit vielen Jahren für den kinderneuropsychologischen Bereich unserer Klinik zuständig; mit erwachsenen Patientinnen und Patienten, die von einer schwerbehandelbaren Epilepsie oder von psychogenen nichtepileptischen Anfällen betroffen sind, führe ich häufig Gespräche zur Krankheitsbewältigung. Meine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in den Bereichen klinische Neuropsychologie (z.B. postoperativer kognitiver Outcome nach Epilepsiechirurgie im Kindesalter) und Verhaltensmedizin (z.B. Depression bei Epilepsie, Anfallsdokumentation). Ich habe mich immer wieder intensiv mit den philosophischen und theologischen Implikationen der modernen Hirnforschung beschäftigt (vgl. mein früheres Blog WIRKLICHKEIT Theologie & Hirnforschung), eine Thematik, die auch heute noch stark in meine Lehrveranstaltungen sowie meine öffentliche Vortragstätigkeit einfließt.

79 Kommentare

  1. Bei aller Skepsis – ja, das ist mehr als spannend. Vielen Dank für diesen Beitrag.

  2. Die Originalarbeit von Crick und Koch zum Claustrum als Sitz des Bewusstseins (jedenfalls als Koordinator) ist wirklich lesenswert
    Hier ein paar Ausschnitte aus den Schlussfolgerungen:

    We think that a more appropriate analogy for the claustrum is that of a conductor coordinating a group of players in the orchestra, the various cortical regions. Without the conductor, the players can still play but they fall increasingly out of synchrony with each other. The result is a cacophony of sounds.

    This metaphor would suggest that different attributes of objects, both within (e.g. colour and motion) and across modalities (e.g. visual form and sound location), are rapidly combined and bound in the claustrum. Without this structure—and that of its twin in the other hemisphere—the subject may still be able to respond to simple, isolated or to highly familiar stimuli, but not to complex or unfamiliar ones.

    In summary, we suggest that the claustrum may contain specialized mechanisms that permit information to travel widely within its anterior–posterior and ventral–dorsal extent to synchronize different perceptual, cognitive and motor modalities. This postulated intra-claustrum mixing of information would make it quite different from the thalamus, a subcortical structure that also enjoys widespread and reciprocal relations with most cortical regions, but that does not possess any obvious mechanism to directly link its various constitutive nuclei.

  3. Mit Analogien muss man vorsichtig sein. Dirigent und Schalter sind ganz unterschiedliche Funktionen. In einer Serienschaltung wirkt jedes Einzelglied als Schalter. Ein Dirigent müsste komplexe Funktionen ausführen. Mir kommt noch der Multiplexer als Möglichkeit einer kybernetischen Funktion des Klaustrums in den Sinn. Wie in einem Rangierbahnhof werden dabei verschiedene Eingänge auf bestimmte Ausgänge geleitet, anhand von separaten Steuersignalen. Die Struktur wäre also wie ein Stern. Ein Dirigent bräuchte eigentlich keine (Daten)Eingänge, sondern nur Ausgänge, außer er nimmt eine Regelungsfunktion ein. Das wäre allerdings wenig sinnvoll, denn wenn ein Musiker einen falschen Ton spielt, dann ist es für die regelnde Korrektur zu spät! Die Analogie zum Dirigenten erscheint mir für das Klaustrum denkbar unpassend.

    Die Entdeckung an sich ist interessant und für die Hirnforscher selbstverständlich auch von größter Bedeutung. Befürchtungen wegen der zentralen Funktion für das Bewusstsein sind meines Erachtens jedoch nicht nötig, denn im Organismus gibt es noch andere “single points of failure”. Schließlich ist die Ausfallrate des Hirns bei Menschen doch sehr gering, meist liegt sie nicht auf der physiologischen, sondern viel mehr auf der psychologischen und der kognitiven Ebene.

  4. Dass die Beeinflussing der Taktung von Gehirnaktivitäten zu Bewusstlosigkeit führen kann, wurde auch schon mit einem anderen Experiment gezeigt. Z.B. verändert das Narkosemittel Propofol Aktivitäten der Großhirnrinde (DOI: 10.1016/j.cub.2011.10.017 – Cortical hypersynchrony predicts breakdown of sensory processing during loss of consciousness)

  5. Selbstverständlich gibt es andere (mittlerweile sehr sichere!) Mittel und Wege, Bewusstlosigkeit in kürzester Zeit herzustellen. Faszinierend an der Koubeissi-Arbeit ist, dass die Stimulation an einem so eng umschriebenen Hirnort diesen Effekt hatte; das ist bisher (immerhin 100 Jahre Erfahrung) an keinem anderen Ort gelungen.

  6. Bewusstlosigkeit durch Claustrum-Stimulation als Entdeckung im Jahr 2014. Erstaunlich wie wenig wir über das Gehirn heute noch wissen. Auch wenn die vielen fMRI-Studien uns etwas anderes weiss machen wollen.
    Man wundert sich auch, dass die Studie nicht auch an Versuchstieren wiederholt wurde, also an Mäusen, Ratten, Schimpansen usw.

    Und unter diesen Umständen verspricht uns die Gruppe um Markam, sie werde bis ins 10 Jahren das menschliche Hirn bis auf zelluläre, gar molekulare Ebene simulieren – und sie bekommt sogar 1 Milliarde dafür dieses Ziel zu erreichen.

  7. @Martin Holzherr:

    »Erstaunlich wie wenig wir über das Gehirn heute noch wissen.«

    Erstaunlich ist vielmehr, wie viel wir über das Gehirn bereits wissen. Nur gemessen an dem, was es über das Gehirn noch zu lernen gibt, erscheint das bisherige Wissen gering.

  8. Das ist sehr aufschlußreich und interessant.

    Zum alternativen Auslösen einer Bewusstlosigkeit durch Betäubungsmittel sei ja zu ergänzen, dass dies eben das selbe auslösen könnte – nämlich eine Inaktivität/Störung der elektrischen Funktionen der Gehirnbereiche, die einerseits durch Chemie/Substanzen und andererseits durch Elektrode geschieht. Chemische Lahmlegung des supportenden Systems durch Betäubungsmittel oder direkte elektrische Potentialüberlagerung durch die Elektrode.

    Ich finde das deswegen sehr interessant, weil ich während meinen häufigen Schlaganfällen fast immer beinahe eine Ohnmacht erlitt. Der Schlaganfall sich auf der rechten Hemisphäre ereignete – sich als eine schnell ausbreitende, explosionsartige “Entladung” darstellte und so offenbar auch die linke Gehirnhälfte (eben wohl bis ins Claustrum) beeinflusste. Das freiwerdende elektrische Potential dabei das wirksame Moment gewesen sein müsste. So sich also die Ohnmacht im Verlauf erklärte.

    Warum zum Teufel aber kann mir kein Facharzt darüber berichten?

    Off-Topic Inhalte wurden gelöscht (C.H.)

  9. Ich finde den Gedanken ungeheuer spannend/aufregend/beängstigend (?), dass unser phänomenales Bewusstsein – d.h. die entscheidende Voraussetzung all unserer personalen Fähigkeiten – u.a. von der funktionellen Integrität eines solch extrem kleinen Hirngebietes (zudem nur in der linken Hirnhälfte) abhängen könnte.

    Statt von ‘Bewusstsein’ könnte hier auch schlicht von einer (entscheidenden) Unterbrechung der Hirnleistungsfähigkeit geschrieben oder gesprochen werden.

    Werden vergleichend CPUs betrachtet, im Sinne der Informationstechnologie, überraschte derartige Beobachtung oder Erkenntnis nicht sonderlich.

    Derartige CPUs oder “Hírne” könnten im biologisch-evolutionären Sinne gerade nicht darauf ausgelegt sein partiellen Ausfall auszuhalten,
    Es könnte in diesem Sinne für die Säuger Sinn machen hier sozusagen “Alles oder Nichts” zu spielen. Im Bereich der Angewandten Informatik, den Betrieb betreffend, würde bei derartiger Mangel-, Minder-, Fehl- und Minusleistung eb enfalls eher der Austausch der diesbezüglichen Einheit vorgenommen werden.
    Wie beim Axolotl nachwachsende (Denk-)Organe scheinen diesbezüglich eher nicht tauglich oder zweckdienlich.

    MFG
    Dr. W

  10. Ist echt eine aufregende Entdeckung & gut beschrieben, danke! 🙂

    Ob jetzt auch endlich einige jener (stillschweigend) überzeugt werden, die immer lauthals getönt haben, das menschliche Bewußtsein sei nur ein “funktionsloses Epiphänomen”? Auch hier zeigt sich m.E. doch, dass es beobachtbare Funktionen und Auswirkungen hat…

  11. „Epiphänomen“? Das Bewusstsein, um das es nach meinem Verständnis hier geht, ist ein bestimmter Gehirnzustand. So wie Schlaf oder Bewusstlosigkeit.

  12. zum ´partiellen Ausfall´:
    Das oben beschriebene Experiment zeigt auch noch, dass nach dem Ausschalten des Bewusstseins per Elektrodenstimulation – begonnene Aktivitäten noch mehrere Sekunden fortgeführt wurden.
    Dies deutet zum einen darauf hin, dass unterschiedliche Gehirnbereiche unabhängig voneinander arbeiten. Zum anderen zeigt es auch, dass selbst ein Ausfall einer wichtigen Funktion nicht sofort zum ´Absturz´ des Systems Gehirn führt.
    D.h. im Vergleich zu CPUs scheinen Gehirne fehlertoleranter zu sein.

  13. Die Kommentare zum Epiphänomen zeigen nur eines, nämlich wie leicht man sich von Begriffen verwirren lässt, wenn man ihnen eine absolute Bedeutung beimisst. Das Geräusch eines Automotors ist ein Epiphänomen, das beim E-Auto so gut wie nicht auftritt, weil es keine technische Funktion hat. Für den Fußgänger aber ist das Motorgeräusch kein Epiphänomen, sondern ein Warnsignal. Dieses Warnsignal ist deshalb von Bedeutung, weil es kommunikationstheoretisch nach dem Push-Prinzip funktioniert, d.h. es tritt selbsttätig oder senderseitig auf, der Empfänger muss sich nicht darum bemühen, wie bei der visuellen Warnung durch Umschauen bzw. Kopfdrehen.

    Die Natur insgesamt wirkt nach dem Push-(oder interrupt-)Prinzip, während der bewusste Mensch nach dem Pull-(oder polling-)Prinzip funktioniert, d.h. wir fragen oder suchen nach Information überall in der Welt, wie im Internet, um planvoll oder zielgerichtet handeln zu können. Die Sonne dagegen sendet ihre Strahlen, egal ob ein Planet sie empfängt oder nicht. Das ist gewissermaßen eine Inversion der zielgerichteten Kybernetik, oder die biologische Kybernetik ist die Inversion der Natur. Die Ursache hierfür liegt in der Spezifität von Transmittern und Rezeptoren, dem Schlüssel-Schloss-Prinzip, das einen Datenvergleich bewirkt, nicht anders als im Computer oder auch im bewussten Alltag, wenn wir Entscheidungen zu treffen haben. Allgemein ist dies die kybernetische Wirkung von Filtern und Schablonen.

    Genauso diffus wie Epiphänomen ist der Begriff des Bewusstseins. Dass die Philosophie des Bewusstseins sich damit schwertut, ist kein Wunder. Es ist nicht klar, was damit eigentlich gemeint ist, denn es ist ein vorwissenschaftlicher und reflexiv deutender Begriff. Es gibt eine Kluft zwischen dem Begriff und der naturalistischen Wirklichkeit (explanatory gap). Das gilt allgemein für psychologische Begriffe, besonders für die Erlebnisqualitäten des Bewusstseins, die sogenannten Qualia. Man weiß, was ein Gefühl ist, man weiß, wie es sich anfühlt, was der Auslöser sein kann, aber naturwissenschaftlich kausal kann man es nicht erklären. Die Begriffe beschreiben subjektive Phänomene, die reduktiv nicht erklärbar sind. Ein ganz interessantes Phänomen dazu ist die Synästhesie. Man muss unterscheiden zwischen der Bewusstseinsfunktion und den Bewusstseinsinhalten. Ersteres lässt sich wahrscheinlich naturalistisch erklären.

  14. Da gibt es selbstverständlich deutliche Unterschiede zwischen Gehirn und Computer. Der Computer arbeitet mit elektrischer Energie, die quasi lichtschnell und ohne Puffer funktioniert. Wenn der Stecker gezogen wird, dann fallen alle Funktionen gleichzeitig aus. Das Hirn arbeitet mit chemisch-materieller Energie Sauerstoff und Glucose. Wenn die Versorgung ausfällt, dann ist noch ein Puffer an Brennstoff in den Nervenzellen für einige Minuten, je nach Verbrauch. Die Nervenzellen fallen also nicht gleichzeitig und schlagartig aus. Das könnte auch eine Teilerklärung für die sogenannten Nahtoderfahrungen liefern.

    Mit den Elektroden wird selbstverständlich nicht die Energieversorgung gekappt, sondern ein Signal evoziert, das anderswo (downstream) Reaktionen auslöst. Das ist also eine andere Situation, die mit Ausfall oder Fehlern nichts zu tun hat, sondern mit einer reversiblen Statusänderung.

  15. Naja, diese “Fehlertoleranz” muß man jetzt nicht rauslesen können. Die gibt es einerseits bei der CPU auch (eben abhängig vom Bereich, der ausfällt) und die Tests am Gehirn könnten noch unpräzise sein, sodass hier keine genaue Aussage stattfinden kann.

    Das eine CPU im derzeitig standartisiertem System bei gewissen Fehlern ausfällt, zeugt nicht davon, dass sie tatsächlich auch immer ausfallen müsste. Ausserdem fällt sie nicht immer aus, wenn nur der Bildschrim mal wieder hängt.
    Was immer ausfällt – wenn der Bildschirm hängt – dann geht zumindest noch die Grafikengine auf Hardware-Ebene, denn sonst wäres dunkel auf dem Monitor. Also auch eine gewisse “Unabhängigkeit”…

    Die unabhängig voneinander arbeitenden Gehirnbereiche scheinen aber einen Hinweis auf diesen Automatismus zu geben, den man in Flow-Situationen oder viel/lebenslang geübten Abläufen kennt.
    Andererseits für solche Aussagen (unabhängiges Funktionieren) noch nicht genug Präzision in den Studien vorkommt, um dies eindeutig bestätigt bekommen zu können. Zumindest von dem, was öffentlich ist.

  16. Die Unterschiede sind gar nicht so dolle. Beide arbeiten mit elektrischer Energie. Wie die zustande kommt, ist da nur perspektivisch wichtig. Nicht übersehen sollte man, dass – wenn ich den Stecker ziehe, einige Teile der PC-Hardware unterschiedlich lang laufen, weil sie unterschiedlich viel Strom verbauchen. Doch das kann man nicht sehen, weil das Messgerät “Monitor” sofort ausgeht. Meint: Die Grafikhardware kann schon “längst” (für digitale Verhältnisse schnell – weil Energiehungrig) zusammengebrochen sein, aber die Biossteuerung funktioniert noch, weil die kaum Strom verbraucht und gewisse Strompfade noch genügend Energie liefern. Sie wissen schon, dass ein Kondensator Energie speichert? (für eine Weile – je nach Schaltung) Und davon gibt es reichlich über die Schaltungen verteilt und die sind mit Dioden (und anderen Bauteilen) in der Stromrichtung eingeschränkt, sodass der gespeicherte Strom nur in einer Richtung abfliessen kann. Da gibts also doch einen “Puffer” (alle kapazitiven und induktiven Bauteile/gruppen). Es fällt also auch beim Computer nicht alles gleichzeitig aus, sondern jeweils den Bedingungen entsprechend.
    Und ich würde sagen, dass es im Gehirn sogar noch schneller mit der Signalübertragung geht, als Lichtgeschwindigkeit. Aber das kann man derzeit wohl noch nicht messen. Mindestens (weil physikalisch im Grunde die selben Grundlagen gelten) aber genau so schnell, wie in der Elektronik – was wieder jeweils von der “Schaltungsaufbau” abhinge. Der sinnvolle Schaltungsaufbau ist ja immerzu die Frage beim Hardwaredesign (und auch im Gehirn) – alles sollte seinen Anforderungen entsprechend… Beim Gehirn aber scheint es sich nicht so recht den “Anforderungen” zu verschalten. Vielleicht aber sind unsere Visionen über die Anforderungen beim Gehirn fehlerhaft? Was sind denn die “Anforderungen”? Da haben Dritte (gar schon der Nächste) ja immer eine andere Vorstellung, als das betroffene Subjekt den seinen real Unterworfen ist. Daher die Bildungsfrage immerzu “nicht” zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst werden kann.

  17. Der Mensch reagiert in erster Linie auf Reize, die von aussen oder innen kommen, er arbeitet also in erster Linie nach dem Prinzip, das sie Push-Prinzip nennen. Tiere mit höheren kognitiven Funktionen wie der Mensch – aber nicht nur der Mensch – planen, träumen und überlegen auch, arbeiten also scheinbar nach dem, was sie Pull-Prinzip nennen, wobei auch in diesem Fall eine Abfolge von Reizen und Reaktionen darauf dominieren. Allgemein überschätzen die meisten Menschen ihre eigene Denkarbeit, ihre Originalität, ihr planerisches Können. In Wirklichkeit gibt es nur sehr wenig, sehr dünn gesäte echt höhere Funktionen. Möglicherweise haben diese Funktionen tatsächlich im Claustrum Platz, dieser winzigen Hirnstruktur, die hier als Sitz des Bewusstseins, mindestens aber als Dirigent der Hirnaktivität beschrieben wird.

  18. Das Geräusch eines Automotors ist ein Epiphänomen, das beim E-Auto so gut wie nicht auftritt, weil es keine technische Funktion hat.

    Diese Begründung ist seltsam falsch. Richtig ist doch, dass in einem E-Auto schlicht kein mit der Erzegung von Druckwellen verbundener Verbrennungsvorgang in einem Gas stattfindet, welcher beim Auto mit Verbennungsmotor die Ursache für das Auspuffgeräusch ist.

    Für den Fußgänger aber ist das Motorgeräusch kein Epiphänomen, sondern ein Warnsignal

    Das eine schließt das andere nicht aus.

    Dieses Warnsignal ist deshalb von Bedeutung, weil es kommunikationstheoretisch nach dem Push-Prinzip funktioniert, d.h. es tritt selbsttätig oder senderseitig auf, der Empfänger muss sich nicht darum bemühen, wie bei der visuellen Warnung durch Umschauen bzw. Kopfdrehen.

    Das lasse ich mal unkommentiert so stehen.

    Die Natur insgesamt wirkt nach dem Push-(oder interrupt-)Prinzip, während der bewusste Mensch nach dem Pull-(oder polling-)Prinzip funktioniert, d.h. wir fragen oder suchen nach Information überall in der Welt, wie im Internet, um planvoll oder zielgerichtet handeln zu können.

    Schlussfolgerung 1: Der bewusste Mensch ist nicht Natur. (stimmt das? Nein!)

    Was ist der Sendersuchlauf eines Radios oder Fernsehers? Funktioniert der nach dem “Pull-(oder polling-)Prinzip”, sucht und findet der Empfänger im Suchlauf Sender planvoll und zielgerichtet? (Ja, macht er, das ist sein Zweck).

    Schlussfolgerung 2: Ein Radio- oder Fernsehempfänger ist ebenfalls nicht Natur.

  19. Mit den Kondensatoren haben Sie selbstverständlich recht. Aber hier geht es nur um das Wesentliche der Analogie und nicht um die Wesenheiten des Computers. Sie irren sich jedoch, was die Signalgeschwindigkeit in den Nerven betrifft, obwohl sie elektrisch funktionieren, aber völlig anders als eine elektrische Leitung in der Technik.

    Das Gehirn ist ein Produkt der biologischen Evolution und nicht des technischen oder göttlichen Designs. Deshalb erfüllt es die Anforderungen des Überlebens, nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutet insbesondere, dass es nicht effizient funktionieren muss und dass es nicht planvoll oder architektonisch durchkonstruiert und nicht fehlertolerant sein muss. Das macht seine Erforschung umso schwieriger.

    Was in der Natur nicht fehlertolerant ist, kann nicht auf Dauer überleben. Entscheidend ist jedoch, dass die Natur andere Vorstellungen von “Fehler” hat als wir. Für die Natur ist eine Behinderung oder Abweichung von der fiktiven Norm kein Fehler, sondern eine Variante als eine Anpassung, wenn sie fortpflanzungsfähig ist und bleibt! In der kurzen Zeitspanne der menschlichen Existenz wird dieser Umstand nicht deutlich, so wie in der Zeitspanne der Evolution.

  20. ( @Reutlinger: Off topic: Nahtoderfahrungen (NTEs) haben nicht das Geringste mit ausfallenden oder gestörten Nervenzellen zu tun. Unter scilogs.spektrum.de/gedankenwerkstatt/human-brain-project-jahr-streit können Sie in meinen Kommentaren nachlesen, dass sich NTEs komplett als bewusst erlebbarer, strukturierter Erinnerungsvorgang erklären lassen)

  21. @KRichard
    Wissen Sie, über soviel Selbstüberschätzung kann ich nur mitleidig schmunzeln. Christian Hoppe wird sich bestimmt nicht freuen, wenn Sie ihm alle Arbeit abnehmen oder vermiesen, aber ich denke, er wird es nicht anders sehen als ich.

  22. TED führt mehr als 10 Kurzvorträge zum Thema Bewusstsein. Einer wird vom Philosophen David Chalmers gehalten, der sich scheinbar fast “hauptberuflich” damit beschäftigt. Laut Chalmers wisse man nicht wie das Bewusstsein funktioniere und es gebe Leute, die behaupteten, es entziehe sich einem wissenschaftlichen Zugang weil es subjektiv sei. Man müsse auch fragen warum es das Bewusstsein als eine Art Film, in dem man den Hauptdarsteller spielt, überhaupt gebe? Gewisse “Bewusstseinforscher” nähmen an, Bewusstsein sei etwa Fundamentales wie der Elektromagnetismus, andere verträten einen Panpsychismus wo es Bewusstsein überall gibt allerdings mit abgestuften Bewusstseinqualitäten: je komplexer das Wesen desto höher das Bewusstsein.

    Interessant daran finde ich nicht das Thema an und für sich, sondern die Tatsache, dass es Leute gibt, die sich mit der Frage, was Bewusstsein sei, professionell beschäftigen. Auch dass man einen ganzen Vortragssaal mit Leuten füllen kann, die hören wollen, was Bewusstsein sei, ist interessant.
    Warum ist das so? Wohl weil viele denken, das was den Menschen ausmache, sei das Bewusstsein, der Rest könne als Hardware, als kalte Maschine aufgefasst werden, erst durch das Bewusstsein werde der Mensch “beseelt”. Damit wären wir letztich wieder beim Dualismus angekommen, also der Auffassung der Mensch bestehe aus Körper und Geist oder in der modernisierten Variante aus Hardware und Software, wobei nur der Geist, nur die Software den eigentlichen Menschen ausmache und der Rest quasi das Gefängnis darstellt in dem sich der Geist/die Software befindet (in dem er ausharren muss bis er erlöst wird).
    Ein allzu ausgeprägter Dualismus gehört für mich in den Bereich der Psychopathologie oder lässt sich mindestens als eine Art Abspaltungsphänomen (Dissoziation) auffassen, bei dem die Einheit von Denken, Fühlen und Empfinden gestört ist.

    Mir scheint folgende Sicht von Mensch, Tier und Leben überhaupt naheliegender: Ja, man kann Tiere und auch den Menschen als Maschine auffassen und interpretieren und es gilt sogar, dass relativ gut durschaubare Automatismen einen Grossteil dessen ausmachen was wir als Lebensaktivitäten erleben und durchleben. Doch es ist ein Irrtum, die Maschine Mensch als Ingenieurprodukt zu sehen, welches durch eine Intelligenz für einen bestimmten Zweck konstruiert wurde. Vielmehr kann man den Menschen, seinen Körper, sein Gehirn, seinen Geist, sein Verhalten und seine Gefühle nur als Akkumulation eines langen Entwicklungsprozesses mit vielen dazu gehörigen Teilprozessen sehen, wobei es einen evolutionsbiologischen Entscheidungs- und Informationsbaum von Materialisationen/Ausreifungen gibt und einen durch soziale und individuelle Erfahrungen bedingten entsprechenden Baum gibt, der die Individuation jedes Einzelnen definiert. Wir sind so gesehen doppelt offene Systeme: Unsere Biologie hat sich im offenen System der physischen und biologischen Umwelt ständig angepasst und weiterentwickelt und unser Geist hat sich im offenen Informationssystem welches durch unser Nervensystem und seine Umwelt gebildet wird ständig angepasst und weiterentwickelt. Dass unser Nervensystem ein offenes System ist findet sich als Gedanke auch in einem Kommentar Markus A. Dahlems, der zum Blogbeitrag Big Science – Zukunft der Forschung oder Big Business? gehört. Dort schreib er: ” Das Gehirn oder eine Stadt, nehmen wir New York, ist ein offenes System… Neulich hat das jemand mit Merkels Handy illustriert. Wenn man isoliert Merkels Gehirn betrachtet, wird man dort vielleicht neuronale Aktivität sehen, die Bedeutung das ihr Handy abgehört wurde, ist aber nicht isoliert zu verstehen. Oder auch New York ist nicht zu verstehen ohne Hamburg.”

    Wir sind dadurch in hohem Ausmass an das Leben auf der Erde, an das Leben zusammen mit anderen Geschöpfen und auch mit anderen Menschen anpepasst. Das erkennen wird bei den Sinnesorganen wie Haut, Auge, Ohr, aber auch auf höherer Stufe. Wenn wir uns zulächeln so hat dieses Zulächeln sowohl eine biologische als auch eine kulturelle und individuelle Geschichte hinter sich. Schon einige Tiere können lachen (wirklich sicher ist man sich nur bei den Menschenaffen), beim Menschen aber hat es an Bedeutung gewonnen und je nach Kultur wird es etwas anders eingesetzt. Von Mensch zu Mensch kann sich dieses Verhalten zudem mit anderen Assoziationen und anderen Erinnerungen verbinden.

    Was sind nun die Konsequenzen aus diesen Überlegungen? Ich bin überzeugt, dass die Entwicklungsgeschichte der meisten Dinge, die zu unserem Leben gehören sehr viel wichtiger ist als die meisten denken. Wo wir Dinge wie Rationaliät und Moralität bemühen steckt in Wirklchkeit eine Entwicklungsgeschichte dahinter und ohne diese Entwicklungsgeschichte wäre alles ganz anders. Einige Moralisten und Rationalisten behaupten etwa, wir würden das Leben anderer Menschen aus Vernunftgründen achten und schützen. Ich denke eher, dass das mit unserem Gefühls- und Empfungshaushalt zu tun hat und wir Dinge wie Mitgefühl über unsere Geschichte sowohl biologisch als auch kulturell angeeignet haben. Ein Wesen, das diese Entwicklungsgeschichte nicht mitgemacht hat, hat eventuell überhaupt kein Mitgefühl. Die Warnung von Stephen Hawking, Alien könnten uns, wenn sie uns einmal entdeckt haben, gefährlich werden, ist gerechtfertigt. Aliens könnten uns durchaus so behandeln wie wir Insekten behandeln, denn ihnen fehlt die Geschichte, die sie zu Mitgeschöpfen macht.

    Ob unser Körper und Geist allein materiell erklärt werden kann ist vor diesem Hintergrund gar nicht entscheidend, denn Körper und Geist können in jedem Fall nur über ihre Geschichte erklärt werden. Diese Geschichte hat sich in der Materie in der Verknüpfung unserer Nervenzellen, in allem eben, niedergeschlagen.

  23. @ Herr Holzherr :

    Ob unser Körper und Geist allein materiell erklärt werden kann ist vor diesem Hintergrund gar nicht entscheidend, denn Körper und Geist können in jedem Fall nur über ihre Geschichte erklärt werden. Diese Geschichte hat sich in der Materie in der Verknüpfung unserer Nervenzellen, in allem eben, niedergeschlagen.

    Bewusstsein entsteht genau dann, wenn über dieses Bewusstsein ausgesagt werden kann, und zwar auf eine Art und Weise, die dem aussagenden Subjekt entspricht, typischerweise ähnlich aufgestellte Subjekte (der Erkenntnis) meinend.

    Insofern ist das “Bewusstsein” ein zu kommunizierendes soziales Konzept, an dem bspw. die Ratte oder Maus nagt, weil es bspw. rättisch [1] nicht ohne weiteres kommuniziert werden kann.

    Das, was Sie ‘Geschichte’ genannt haben, müsste die persistierte Datenlage und die derart bearbeitenden (Erkenntnis-)Subjekte gemeint haben.
    Stichwort: Kultur.

    Keine Ahnung, was war I.E. die genaue Nachricht des geschätzten hiesigen Inhaltegebers, die Unterbrechung der zentralen Erkenntniseinheit, a.k.a. Gehirn, betreffend?!

    MFG
    Dr. W

    [1] Terry Pratchett hat sich diesbezüglich ein wenig philosophisch bemüht – der Kollege hat ohnehin viel verstanden:
    -> http://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_der_Kater

  24. Gibt es unbewusste Erinnerungen von der Zeit der induzierten Bewusslosigkeit?

    Man könnte eine Reihe von Bilder vorbereiten, dann eines davon zufällig auswählen und es während der induzierten Bewusstlosigkeit dem Subjekt zeigen. Nach der bewusstlosen Phase zeigt man dem Subjekt alle Bilder in zufälliger Reihenfolge. Möglicherweise wird es dann beim zuvor bewusstlos gesehenen Bild eine andere Reaktion als bei den anderen Bildern geben.

  25. Ist das Bewusstsein etwas Generisches, Prinzipielles oder etwas was man nur evolutionär, entwicklungsgeschichtlich verstehen kann? Das ist die Frage, die hinter dem von Ihnen zitierten Abschnitt steckt.
    Formen von Bewusstsein gibt es mit fast 100%-iger Sichheit auch schon bei höheren Tieren und die Exklusivität der menschlichen Sprache herauszustellen – wie sie das immer wieder machen – zieht eine unnötige letzlich nicht verteidigbare Linie (rot ist sie nicht, welche Farbe müsste man da wählen) gegenüber dem ganzen nicht-menschlichen Reich von Kreaturen. Diese Linie, die Tier von Mensch und Automat von bewusstem Lebewesen unterscheidet gibt es in der von ihnen stipulierten Deutlichkeit, nicht.

    Mein Gefühl und etwas Wissen sagt mir, dass höhere Tiere bereits in Konzepten denken, die Gedanken erfordern. Diese Gedanken können auch Wesen haben, die noch nicht über unsere Sprechfähigkeit verfügen.

    Im Buch “Über die Natur der Dinge” von Bunge/Mahner wird übrigens ebenfalls über die Simulierbarkeit, Nachbildbarkeit von Bewusstsein spekuliert. Die Autoren sind der Ansicht, Bewusstsein sei wohl etwas was in der uns bekannten Form nur in tierisch/menschlichen Nervensystemen entstehen könne, denn in anderer Hardware -z.B. einem Computer – komme nicht das Gleiche zustande.

  26. @ Herr Holzherr :

    Mein Gefühl und etwas Wissen sagt mir, dass höhere Tiere bereits in Konzepten denken, die Gedanken erfordern. Diese Gedanken können auch Wesen haben, die noch nicht über unsere Sprechfähigkeit verfügen.

    Andere schmeißen hier eher den Grill an, in der Schwyz wird bekanntlich auch der beste Freund des Menschen gefangen, anderswo der Vogel oder Frosch.

    Alles vom Potential her kluge Freunde des Webbaeren.

    MFG
    Dr. W (der sich nun auszuklinken hat)

  27. Der erlernbare Werkzeuggebrauch bei Schimpansen deutet bereits auf kognitive Prozesse hin. Man findet bei einigen Schimpansengruppen:
    – beim Termitenfischen werden von Schimpansem im Kongo hinteinander 2 verschiedene Werkzeuge eingesetzt (serial tool use): Mit einem grösseren Ast machen sie ein Loch in den Termitenbau, mit kleinern, selbst entlaubten Ästchen fischen sie die Termiten dann heraus.
    – Schimpansen knacken Nüsse mit Steinen und zeigen anderen wie mans macht
    – Schimpansen benutzen gelegenglich zusammengeknäuelte Blätter um Flüssigkeit aus seichten Stellen damit aufzusaugen
    – Schimpansen verwenden oft zugespitzte Stöcke als Speere wenn sie kleine Säugetiere jagen

    Basierend darauf argumentiert der Artikel Do Animals Engage in Conceptual Thought folgendermassen:

    Since this behavior exhibits considerable variability among chimpanzee communities (many communities don’t deploy the technique at all), it apparently isn’t hard wired. And since the behavior seems to involve advanced planning, it doesn’t naturally succumb to traditional associative models of learning
    such as instrumental conditioning either

    The argument we have been considering in favor of animal thought has the following form: animals engage in complex behavior; thoughts participate in good explanations of that behavior; so animals probably have thoughts.

    Schimpansen scheinen also Gedanken zu haben, sind die aber konzeptueller Art?

    ‘Conceptual thought’ is a term of art, and not everyone means the same thing by it. At least one major strand of usage, however, treats thought as conceptual when, and only when, it is composed from discrete elements, or concepts, in much the way that a sentence is composed

    Das Papier kommt weiter unten zur Schlussfolgerung, dass Schimpansen ohne Zweifel einfache Gedanken haben, dass es aber noch unklar ist inwieit Schimpansen konzeptionell denken können.

    We have seen that there exists considerable empirical evidence that animals have thoughts — contentful mental states that causally and rationally mediate between perception and action . The more delicate question is whether those thoughts are conceptual. One issue to emerge from our discussion is that the notion of conceptual thought is itself imprecise. Because it rests largely on an analogy that likens thoughts to sentences, it admits of disparate interpretations. As we have seen, many philosophers take the analogy to include a commitment to both predication and logical devices, although some others seem to require little more than compositionality. While there is little point arguing about how strongly the analogy ‘really’ ought to be taken, future research would benefit if researchers were explicit about how they understand the analogy when they make claims about animals having, or
    not having, conceptual thought.

  28. Es gibt Anzeichen, dass Wahrnehmung auch in Narkose und im Wachkoma möglich ist, unter bestimmten Bedingungen. Die Quelle dafür habe ich nicht mehr präsent. Es gibt in der Psychologie außerdem eine Reihe von Beobachtungen und Experimenten für unbewusste oder vorbewusste Wahrnehmung. Bezeichnungen dafür sind subliminale Wahrnehmung, präattentive Wahrnehmung und Response Priming. Eine Alltagserfahrung ist, dass man routinemäßige Wahrnehmungen oder Handlungen fast unbewusst erlebt, so dass man sich schon nach Sekunden nicht mehr daran erinnert. Aus der Fülle der ständigen Sinnesreize filtert das Bewusstsein die unauffälligen Reize aus, so dass die Aufmerksamkeit auf die ungewöhnlichen Reize, ein Lichtblitz oder ein Knall, konzentriert werden kann. Ein weiteres Phänomen in diesem Zusammenhang ist die Blindsicht oder Rindenblindheit, bei dem Personen glauben, blind zu sein, aber dennoch unbewusst zu Wahrnehmungen fähig sind.

  29. Menschliches Bewusstsein ist zunächst im biologischen Sinne nur die Fähigkeit zur Reizverarbeitung. Das von Herrn Hoppe vorgestellte Experiment zeigt, wie einfach diese ausgeschaltet werden kann.
    Dann bezeichnet man als Bewusstein auch die Fähigkeit zu bewusstem Erleben bzw. bewusster Wahrnehmung – und zwar so, dass wir diese Wahrnehmung beschreiben können. Damit ziehen wir schon eine Grenze zu unbewusten Aktivitäten, die wir automatisch ausführen.
    Unsere bewusste Wahrnehmung – das Bewusstsein – hängt im wesentlichen vom aktuellen Fokus unserer Aufmerksamkeit ab. Dazu gibt es schöne Experimente:
    1) das Gorilla-Experiment (siehe bei Wikipedia: Unaufmerksamkeitsblindheit) zeigt, dass wir im wesentlichen nur wahrnehmen, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet – und es zeigt auch, dass der Umfang von dem, was wir wahrnehmen, sehr begrenzt ist.
    2) Experimente mit Affen bzw. Mäusen zeigen, dass bestimmte Reize nur dann bewusst wahrgenommen werden, wenn die Tiere dafür auch als Anreiz eine Belohnung bekommen (= Fokus der Aufmerksamkeit) wenn nicht, dann wird der gleiche Reiz nicht weiter verarbeitet
    z.B. DOI: 10.1016/neuron.2014.08.020 – Dynamic integration of task-relevant visual features in posterior parietal cortex / DOI: 10.1038/nature12236 – behaviour-dependent recruitment of long-range projective neurons in sematosensory cortex

  30. Die Substantivierung einer Eigenschaft sollte man stets mit Vorsicht genießen.

    Wenn ich hier “Bewusstsein” schrieb, meinte ich die Eigenschaft der Patientin, auf Umgebungsreize in gewohnter Weise und angemessen zu reagieren; nüchterner wäre es daher von “responsiv” zu sprechen. Wenn die Responsivität eine gewisse Komplexität und Feinheit aufweist, schließen wir spontan darauf, dass die Person bei Bewusstsein ist – also wie wir selbst erlebt, was sie tut und was hier gerade geschieht.

    Das Problem des Fremdpsychischen ist in der Philosophie des Geistes einschlägig: wir können niemals beweisen, dass eine andere Person bewusst erlebt, Qualia “hat” so wie wir; sie könnte immer ein Zombie oder ein Roboter sein, der lediglich auf motorischer Ebene perfekt so tut, als ob er Bewusstsein hätte.

    Es ist faszinierend, dass die Responsivität und die (bewusste) Wahrnehmung der Patientin instantan zusammen bricht, ohne sichtbare Veränderungen im EEG. Die Veränderungen der Hirnphysiologie sind wesentlich subtiler, und es erforderte aufwändigere EEG-Analysen, um die deutliche und relevante Veränderung zu entdecken (erhöhte Synchronisation, Komplexitätsverlust).

    Michael hat Recht, wenn er mit seiner Frage darauf anspielt, dass wir die entscheidenden Fähigkeiten als Personen nur haben, wenn wir Bewusstsein haben – und Bewusstsein insofern kein irrelevantes Epiphänomen sein kann. Allerdings liegt hier eine Tautologie vor: DASS wir diese Fähigkeiten haben, heißt eben, DASS wir BEWUSSTSEIN “haben”. Die Fähigkeiten haben wir aber nur, wenn subtile Funktionen vor allem in der Hirnrinde intakt sind. Das Bewusstsein wirkt sich nicht auf die Hirnphysiologie aus, es stellt die entsprechende Komplexität nicht her, sondern umgekehrt: Wenn die Hirnphysiologie die erforderlichen Eigenschaften aufweist, stehen die höheren Fähigkeiten zur Verfügung GLEICH wir sind “bewusste” Wesen.

    Man könnte sich vorstellen, dass auch die höheren Fähigkeiten ohne subjektives Erleben (ohne Qualia) auftreten (z.B. bei den Zombies des philosophischen Gedankenexperiments). Fakt ist jedoch, in der Welt, in der wir leben, geht eine bestimmte hochkomplexe Hirnphysiologie mit dem Auftreten bestimmter sensorischer und motorischer Fähigkeiten ein, die wir in der Summe als “Bewusstsein” bezeichnen und die die Möglichkeit eines subjektiven Erlebens der Welt eröffnen.

    In der Welt, in der wir nun einmal leben, ist folgendes Gedankenexperiment daher NICHT durchführbar: Ich stelle mir einen Entscheidungsvorgang mit seinem bewussten Hin und Her vor, bis zum Punkt der Entscheidung. Nun stelle ich mir denselben Vorgang auf Hirnebene vor OHNE jegliche Gedankenaktivität. Wenn ich die Gedanken wegdenke, muss ich sofort eine ANDERE Hirnphysiologie annehmen; ein hinsichtlich der hirnmateriellen Vorgänge FOLGENLOSES Wegdenken der geistigen Ebene wäre in der Welt, in der wir leben, realistisch nicht möglich.

    Insofern partizipiert die geistige Ebene (aufgrund der Naturgegebenheit des Zusammenhangs von Gehirn und Bewusstsein) an der Kausalität der Hirnprozesse für unsere Bewegungen und Handlungen und darf nicht als gänzlich irrelevant betrachtet werden, obwohl man NICHT behauptet, dass sie ALS GEISTIGE GRÖSSE mit einer heute noch unbekannten fünften Naturkraft auf die Materie einwirkt.

    Bewusstsein/Geist ist also kein irrelevantes Epiphänomen, sondern gleichsam die Anzeige für die Intaktheit der für die entsprechenden Fähigkeiten relevanten Hirnphysiologie.

  31. Zustimmung zu: ” FOLGENLOSES Wegdenken der geistigen Ebene wäre in der Welt, in der wir leben, realistisch nicht möglich.”
    Damit kann es aber auch keine überzeugenden Zombies geben, also keine “hirnlosen”, sonst aber normal funktionierenden menschenähnliche Wesen.
    Zombies tauchen ja in der Science Fiction als Ausserirdische in Menschengestalt oder als Künstliche Intelligenzen auf. Doch die Simulation des Menschen wird in diesen SF-Stories typischerweise früher oder später erkenntlich, denn diese Zombies haben verborgene Ziele und wollen die Menschheit in Wirklichkeit unterwandern.
    Mit diesem Gedanken sind wir auch ohne Science Fiction vertraut. Jemand kann andere Ziele verfolgen als er vorgibt, er kann Gefühle, Empfindungen und Erleben vortäuschen. Nur sind die meisten von uns ziemlich gut darin, dass zu durchschauen.

  32. @ Herr Dr. Christian Hoppe :
    Natürlich kann Ihrem Kommentar hier nicht umfänglich gefolgt werden, aber ein wenig grau wird der Schreiber dieser Zeilen schon, wenn so etwas kommt:

    In der Welt, in der wir nun einmal leben, ist folgendes Gedankenexperiment daher NICHT durchführbar: Ich stelle mir einen Entscheidungsvorgang mit seinem bewussten Hin und Her vor, bis zum Punkt der Entscheidung. Nun stelle ich mir denselben Vorgang auf Hirnebene vor OHNE jegliche Gedankenaktivität. Wenn ich die Gedanken wegdenke, muss ich sofort eine ANDERE Hirnphysiologie annehmen; ein hinsichtlich der hirnmateriellen Vorgänge FOLGENLOSES Wegdenken der geistigen Ebene wäre in der Welt, in der wir leben, realistisch nicht möglich.

    ‘Hirnebene OHNE jegliche Gedankenaktivität’, ‘hirnmateriell’ & ‘realistisch nicht möglich’?!

    Auch die wechselnde Groß- und Kleinschreibung berücksichtigend, multiple Ausrufezeichen lagen aber nicht vor, btw und nur zum Vergleich: Das hier geht in der Tat nicht:
    -> http://usatoday30.usatoday.com/news/opinion/forum/story/2012-01-01/free-will-science-religion/52317624/1 (‘A practical test of free will would be this: If you were put in the same position twice — if the tape of your life could be rewound to the exact moment when you made a decision, with every circumstance leading up to that moment the same and all the molecules in the universe aligned in the same way — you could have chosen differently.’)

    Denn so werden Paradoxien definiert, in der Art “Entscheidungsfindung (Welt) != Entscheidungsfindung (Welt)”.

    MFG
    Dr. W (der um ein wenig mehr an Klarheit bittet)

  33. Das war sehr klar, was ich geschrieben habe. Ein echtes Epiphänomen (z.B. Schatten an der Wand) hat keine kausale Wirksamkeit und kann daher folgenlos für den zugrunde liegenden Vorgang weggedacht (oder i.B. weg-beleuchtet) werden. In Bezug auf Gehirn und Bewusstsein ist das FAKTISCH in der Welt, in der wir nun einmal leben, nicht möglich, weil – so meine These – mit einer bestimmten Hirnphysiologie die sogenannten bewussten Fähigkeiten verknüpft sind und umgekehrt – auch wenn philosophisch anderes VORSTELLBAR erscheint.

    Der von Ihnen vorgeschlagene Freiheitstest ist dagegen sinnlos. Wenn ich 100x die Welt zurück drehen und immer wieder an dieselbe Entscheidungsstelle zurückkehren könnte, wäre ich nur dann frei, wenn ich aus denselben Gründen (die sich aus meiner Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt ergeben haben), immer wieder exakt dieselbe Entscheidung treffen würde. Andernfalls – wenn ich mal so und mal so entscheiden würde – würde ich nur beweisen, dass ich ein Zufallsgenerator und zu begründeten Entscheidungen gerade NICHT fähig bin. Der Test verrät das am weitesten verbreitete Missverständnis von Freiheit.

    Für Freiheit genügt die Übereinstimmung von Intention und Handlung. Die Freiheit, die ich will und für mich beanspruche, müsste ja MEINE Freiheit sein – d.h. sie wäre immer durch MICH bedingt. Was aber sollte das anderes bedeuten als: sie ist durch meine Geschichte bedingt?

  34. @Dr.Webbaer
    Es gibt einige nützliche und viele nutzlose Gedankenexperimente. Das von Ihnen angeführte Experiment der wiederholten Entscheidung erscheint mir äquivalent dem sogenannten Sumpfmann, von Donald Davidson, wenn ich mich recht erinnere. Der Sumpfmann ist ein molekülgetreues Abbild eines Menschen. Die Frage ist, ob er genau dasselbe Bewusstsein hätte. Solche Experimente sind a priori unrealistisch, weil die Welt dynamisch ist und der Entropie folgt. Es gibt keine zwei identische Zustände oder Objekte in der Welt. Dass wir Ähnlichkeiten und Identitäten wahrnehmen, was für unser Leben absolut notwendig ist, das ist eine Folge der Unvollständigkeit unserer Sinnesvermögen. Genau aus diesen Gründen ist es auch unsinnig zu glauben, man könnte das Hirn einfrieren und in demselben Zustand wieder auftauen oder das Bewusstsein in ein anderes Hirn “hochladen”.

    Die Willlensfreiheit ist eine Illusion. Darauf hat schon David Hume hingewiesen. Sie wird oft verwechselt mit der Zufälligkeit einer Entscheidung. Was bedeutet denn Wille anderes, als ein Ziel oder eine Absicht vor Augen zu haben. Die Freiheit des Willens liegt darin, dieses Ziel aktiv anstreben bzw. die Absicht in die Tat umsetzen zu können und zu dürfen. Die Zielsetzung ist aber immer frei, denn es ist im Grunde nur eine Idee im Kopf. Andererseits wird man nur Ziele anstreben, die man realistischerweise erreichen kann, für deren Erreichung die Ressourcen und die Kenntnisse verfügbar sind. Man muss also eine innere und eine äußere Willensfreiheit unterscheiden. Die neurobiologische Seite ist, dass auch der Wille im Hirn physisch realisiert ist und den physischen Mechanismen folgen muss. Dazu kommen die physischen Beschränkungen des Körpers und der Sinne, neben dem Zustand des Geistes oder Bewusstseins infolge Erziehung, Bildung, Kultur und Erfahrung.

    Eine “neuere” Strömung (Paradigma) in der Kognitionswissenschaft ist das “Embodiment” oder “embodied cognition”, die verstärkt den Körper in die Funktionalität des Bewusstseins einbezieht. Innerhalb dieser Strömung gibt es wieder mehrere “Nebenströmungen”.

  35. (@Reutlinger – Aktuell; off topic: Damit Sie noch mehr zum mitleidigen Schmunzeln haben, sollten Sie im neuen SPIEGEL Nr.50/2014 den Titelbeitrag über das Lesen studieren. Auf S. 68/71 wird das Lesen/Textverständnis als Ergebnis eines Mustervergleichsprozesses etwa so beschieben – wie es dem von mir vorgestellten Ablauf von NTEs entspricht (Gedankenwerkstatt mein Beitrag vom 31.10. 11:13) – nach drei simplen Regeln. )

  36. Auch nach meiner Überzeugung ist der Epiphänomenalismus bezüglich des Bewusstseins nicht haltbar. Mit meinem Autobeispiel im früheren Beitrag wollte ich deutlich machen, dass es auf die Perspektive ankommen kann, ob ein Phänomen als Epiphänomen gelten muss. Die Funktion eines Systems liegt immer auch in der Interaktion mit der Umwelt, so dass es nicht allein auf die Funktion im System selber ankommt. Gerade in der biologischen Welt und der Evolution wird das sehr deutlich. Die Funktion eines Organs kann verloren gehen, oder ein zunächst zweckloses Merkmal kann einen Zweck annehmen, z.B. als sexueller Attraktor.

    Man muss sich immer wieder die ursprüngliche Funktion des Gehirns als Schaltzentrum zwischen Sensorik und Motorik in Erinnerung rufen. Alles was darin geschieht, dient primär der Lebensbewältigung. Was der Mensch selber als Geist oder Seele empfindet, die Fähigkeit zur bewussten Reflexion und zur Intentionalität infolge der symbolischen Repräsentation und Konservierung vergangener Zustände, das ist ein Nebenprodukt dieser Funktionen, das im Verlauf der Evolution zusätzliche Funktionen mit vorteilhaften Eigenschaften angenommen hat. Schopenhauer nannte es „Gesetz der Überwucherung des Mittels über den Zweck“, Wilhelm Wundt sprach von der „Heterogonie der Zwecke“ im Verlauf der Evolution. Das heißt, ein Mittel zu einem bestimmten Zweck entwickelt sich zum Selbstzweck und kann weitere Zwecke erfüllen. Die Biologen von heute nennen solche Vorgänge Exaptation oder Präadaption.

  37. Genauso diffus wie Epiphänomen ist der Begriff des Bewusstseins. Dass die Philosophie des Bewusstseins sich damit schwertut, ist kein Wunder. Es ist nicht klar, was damit eigentlich gemeint ist, denn es ist ein vorwissenschaftlicher und reflexiv deutender Begriff.

    Die Antwort auf die Frage “Was ist Bewusstsein?” liegt in ihr sozusagen selbst, ähnlich gilt es für die Willensfreiheit oder, wie irgendwo geschrieben stand, für psychologische Begrifflichkeit allgemein.
    Der Psychologe hat es also schwer.

    Bewusstsein ließe sich nicht etymologisch, im Sinne von Wissen, dass ist, als Person, verstehen, sondern nur an Hand eines Kriterienkatalogs, bspw. die Sprachlichkeit voraussetzend, den Willen zu (über-)leben und allgemeine sittliche Ideen und Werte einschließend, am besten auch das Konzept ‘Bewusstsein’.

    MFG
    Dr. W

  38. Es gibt keine zwei identische Zustände oder Objekte in der Welt.

    Wenn es sie gäbe, müsste die Entscheidungsfindung gleich ausfallen, war die versuchte Gegenrede zu Gerry Coyne’s “Test”.

  39. Genau aus diesen Gründen ist es auch unsinnig zu glauben, man könnte das Hirn einfrieren und in demselben Zustand wieder auftauen oder das Bewusstsein in ein anderes Hirn “hochladen”.

    Wäre die Welt (ausschnittsweise) serialisierbar und (hinreichend) deterministisch, müsste genau dies möglich sein.

  40. Ja richtig, aber weder die eine noch die andere Bedingung ist realistisch. Elektrische Ladungen oder elektromagnetische Felder lassen sich nicht instantan einfrieren oder kopieren! Jeder physikalische Vorgang findet in einmaliger Raumzeit statt. In der Alltagswelt, wo es nicht auf absolute identität, sondern nur auf ausreichende Ähnlichkeit ankommt, wo wir die Objekte von Raum und Zeit abtrennen, spielt das keine Rolle. Der Astronaut im Weltraum bleibt in unserer Anschauung derselbe Mensch, obwohl die Schwerelosigkeit und die besonderen Umstände sein Bewusstsein verändern.

    Selbstverständlich darf man Gedankenexperimente machen, um logische Schlussfolgerungen zu simulieren und zu prüfen, gerade dann, wenn die Bedingungen nicht realisierbar sind und praktische Experimente daher nicht möglich sind. Bekannte Gedankenexperimente, die durch die Philosophie geistern, sind das “Gehirn im Tank” und die “Zwillngserde” von Hilary Putnam.

  41. Erstmal nur dazu, Herr Reutlinger:

    Ja richtig, aber weder die eine noch die andere Bedingung ist realistisch.

    Der Realismus oder die Sachlichkeit scheint eine Besonderheit zu sein, die auf bestimmten Ebenen stattfindet, bspw. Herr Josef Honerkamp hat hierzu in diesem WebLog-Verbund einiges geliefert, wenn Sie dort einmal nachschauen mögen…
    Vgl. auch mit dieser kleinen NASA-Animation:
    -> http://apod.nasa.gov/apod/ap120312.html

    Insofern sind, seit einigen Jahren, vielleicht seit bestimmten Entwicklungen im Rahmen der RT und der QT einige auf die Idee gekommen allgemein konstruktivistisch vorzugehen, sozusagen antirealistisch, vgl. :
    -> http://de.wikipedia.org/wiki/Bas_van_Fraassen (‘Science aims to give us theories which are empirically adequate; and acceptance of a theory involves as belief only that it is empirically adequate. This is the statement of the anti-realist position I advocate; I shall call it constructive empiricism.’)

    MFG
    Dr. W

  42. @Dr.Webbaer
    Mit “realistisch” meinte ich nicht den naiven Realismus und wollte nicht ein neues Fass aufmachen, sprich die verschiedenen Varianten des wissenschaftlichen Realismus. Bas van Fraassens “empirische Adäquatheit” ist mir bekannt und sympathisch, ebenso die “Natural Ontological Attitude” von Arthur Fine, sowie der Strukturenrealismus von John Worrall, oder der Entitätenrealismus von Ian Hacking.

    Ein interessantes Gedankenexperiment zum phänomenalen Bewusstsein ist “Mary” von Frank Jackson. Dabei geht es um eine (Neuro)wissenschaftlerin, die ihr Leben in einem abgeschlossenen Raum ohne Farben verbringt. Die Frage ist, welches Wissen sie über Farben haben kann, da sie kein Erleben damit hat, ob sie Neues lernt, wenn sie den Raum verlässt und Farben erlebt. Dabei hat dieses Gedankenexperiment in jüngster Zeit praktische Bedeutung erlangt, indem Blinde durch neurologische Eingriffe und Prothesen wieder sehend werden können.

    Der Mensch kommt nicht fertig zur Welt. Dass wir elementare Muster erkennen können, Linien, farbige Flächen, Konturen, Bewegungen, das liegt in der Phylogenese der Sinnesorgane begründet und ist für alle Menschen (annähernd) gleich. Dass wir solche Muster als Objekte, Tiere oder als Menschen erkennen, das liegt in der frühen Ontogenese und Ratiogenese des Nervensystems begründet und ist demnach zum Teil kulturell und individuell verschieden. Der Hospitalismus ist eine Folge sinnlicher Reizarmut in dieser Lebensphase. IQ-Tests in einem homogenen Umfeld, die solche Unterschiede nicht berücksichtigen, zeigen einen höheren genetischen Anteil an der Intelligenz!

  43. @ Herr Reutlinger :

    Elektrische Ladungen oder elektromagnetische Felder lassen sich nicht instantan einfrieren oder kopieren! Jeder physikalische Vorgang findet in einmaliger Raumzeit statt.

    Philosophisch lässt sich vielleicht besser von Änderungen am Zustand sprechen oder schreiben, statt von der Zeitlichkeit.

    In der Alltagswelt, wo es nicht auf absolute identität, sondern nur auf ausreichende Ähnlichkeit ankommt, wo wir die Objekte von Raum und Zeit abtrennen, spielt das keine Rolle.

    Die einen sagen so, die anderen so.

    MFG
    Dr. W (der im Abgang noch darüber – ‘ IQ-Tests in einem homogenen Umfeld, die solche Unterschiede nicht berücksichtigen, zeigen einen höheren genetischen Anteil an der Intelligenz!’ – geplumpst ist)

    PS:
    Schwierig, der Schreiber dieser Zeilen, der Webbaer, der sich nun ausklinken hat, wird später weiter folgen, sofern möglich.

  44. Die Hirnfunktion resultiert aus der Hirndynamik, also Veränderungen. Wie sollte man die einfrieren? Wie würde man die Impulse und Impulsrichtungen, die Reaktionszwischenzustände etc. in diesem statischen Hirnobjekt speichern. Das ist ein Riesenblödsinn. Betrachtet man die Sache dynamisch, stieße man auch immer an die Grenze der Heisenbergschen Unschärferelationen.

    Zum Konstruktivismus: Als erkenntnistheoretische Position eine Trivialität, als Ontologie – unter Verwechslung von Wissen und Wirklichkeit – ein Schmarrn. Und zudem gefährlich, weil die Korrekturmöglichkeit für das Wissen und die Basis der Einsicht in die Fallibilität unseres Wissens entfällt. Ist also allenfalls was für Sozialwissenschaftler, insofern deren Phänomene i der Tat auf gesellschaftliche Konstruktion beruhen. Jeder ernsthafte Naturwissenschaftler versucht aber, ontologisch weiter zu pinkeln.

  45. Bewusstsein

    Ich muss gestehen, dass ich bei der Überschrift „Bewusstsein AUS – Bewusstsein AN“ auch zunächst an das phänomenale Bewusstsein gedacht habe, merkte dann aber bald, dass es im Blogartikel um das Bewusstsein verstanden als Funktionszustand des Gehirns geht. Also um den Zustand „bei Bewusstsein sein“, und nicht darum, „ein Bewusstsein zu haben“.

    Insofern wundere ich mich schon ein bisschen über die nachfolgende Diskussion, wo es um „Epiphänomene“, „Qualia“, und dergleichen geht. Aber gut, das ist für einige vielleicht auch spannender als das schlichte bewusste Wachsein, das mittels einer exakt platzierten Elektrode im Claustrum von jetzt auf gleich abgeschaltet werden kann.

    Ich finde es nach wie vor irritierend, wenn von der Manipulation eines Funktionszustandes des Gehirns (Bewusstlosigkeit durch Stromimpuls) unvermittelt auf mögliche „Eigenschaften“ des phänomenalen Bewusstseins geschlossen wird, derart, dass letzteres wohl doch kausal wirksam sein könnte (siehe Kommentar am 5. Dezember 2014, 20:25).

  46. Es geht sehr wohl um phänomenales Bewusstsein, um Responsivität, um das Einspeichern von Ereignissen, die während einer bestimmten Phase stattfinden, um bewusstes Erleben – eben all das, was wir mit dem Begriff “Bewusstsein” sinnvollerweise verbinden, insbesondere im HInblick auf das Bewusstsein Anderer.

    Es geht keinesfalls nur um Wachsein, die Patientin schläft durch die Stimulation keinesfalls ein (auch dafür kennt man allerdings mittlerweile Stimulationsorte, eher im Hirnstamm). Insofern weiß ich nicht, was Sie meinen?

    Unsere Diskussion über weitere Aspekte des Bewusstseins und den Charakter des Bewusstseins ist der Studie von Koubeissi et al. meines Erachtens durchaus angemesssen.

  47. Sie haben nicht unrecht, aber wie schon Christian angemerkt hat, geht es um beides, sowohl um die Funktionalität des Bewusstseins als auch um die Inhalte, weil “das Bewusstsein” ein aggregierender Begriff ist für verschiedene Einzelaspekte, die sich kaum voneinander trennen lassen: Wachheit, Aufmerksamkeit, Ichbewusstsein, Selbstbewusstsein, Emotionalität, Wille, Sprache. Manchmal müsste man besser von Bewusstheit, bezogen auf Wahrnehmungen oder Gedanken, als von Bewusstsein reden. Nicht umsonst tun sich die Philosophen wie auch die Neurowissenschaftler so schwer damit.

  48. @Chrisitan Hoppe, @ Anton Reutlinger

    Dass bei Bewusstlosigkeit auch das phänomenale Bewusstsein, also das bewusste Erleben der Sinneseindrücke usw., verschwindet, ist wohl klar. Andererseits ist aber überhaupt nicht klar, ob ein Lebewesen, das bei Bewusstsein ist, ob dieses dann seinen Wachzustand auch wirklich bewusst erlebt. Wenn mein Hund neben mir herläuft, ist er sicherlich bei Bewusstsein, aber inwieweit ihm das alles bewusst ist, ist doch sehr die Frage.

    Vielleicht wird deutlicher, um was es mir geht, mit diesem Zitat aus A. R. Damasios „Ich fühle, also bin ich“ (2009):

    Heute denke ich […], dass ich den messerscharfen Übergang erlebt habe zwischen einem vollständig bewussten Geist und einem Geist, dem der Selbst-Sinn abhanden gekommen war. Während das Bewusstsein des Mannes eingeschränkt war, blieb sein Wachsein, seine grundlegende Fähigkeit, auf Objekte zu reagieren und sich im Raum zu bewegen, erhalten.

    In einem Punkt bin ich mir jedoch unsicher: Ich weiß nicht, ob es in Abhängigkeit von der Ursache unterschiedliche Formen der Bewusstlosigkeit gibt. Ob es also hirnstrommäßige Unterschiede gibt, wenn die Bewusstlosigkeit z. B. durch einen Kinnhaken, ein Narkotikum, Blutleere, oder eben durch Stimulation im Bereich des Claustrum hervorgerufen wird. Oder anders: Weiß man denn, welche Teile einer Hirnstrommessung bei Vorliegen einer Bewusstlosigkeit (etwa durch ein Trauma) spezifisch für das fehlende Bewusstsein sind?

  49. Da ich kein Neurowissenschaftler bin, kann ich hierauf keine Antwort geben. Mit Sicherheit glaube ich sagen zu können, dass die Ursache einer Bewusstlosigkeit, ein Sturz oder ein Herzinfarkt, auf den physiologischen Zustand des Gehirns einwirkt und der physiologische Zustand dadurch den Zustand der Bewusstlosigkeit zur Folge hat. Man muss mit den Begriffen vorsichtig sein, was sie genau bedeuten. Auf keinen Fall darf man sich von der vermeintlichen Bedeutung der Begriffe selber leiten lassen und daraus Schlussfolgerungen ableiten. Bewusstsein ist weder ein Organ, noch eine eigenstände Funktion, noch ein eigenständiger Zustand, sondern die reflexive Deutung von Phänomenen. Ich habe kein Bewusstsein, sondern bin bei Bewusstsein, wenn ich mir meiner Wahrnehmungen und Gedanken bewusst bin, wenn ich des Zustandes meines Körpers bewusst bin, wenn ich eine Vorstellung der Bedeutung davon habe, wenn ich reaktionsfähig und handlungsfähig bin. Wir sehen von außen nur den verhaltensmäßigen Zustand eines Menschen und schließen daraus auf den inneren Zustand, sowie eventuell ein Ereignis als Ursache dafür. Ganz besonders deutlich ist dies beim Wachkoma oder Locked-in-Syndrom. Da wir im Normalzustand immer bei Bewusstsein sind, außer im Schlaf selbstverständlich, reden wir davon, ein Bewusstsein (und einen Geist) zu haben. Die Sprache verhext unseren Verstand manchmal (sagte Wittgenstein).

  50. @ Herr Dr. Christian Hoppe :

    Die Hirnfunktion resultiert aus der Hirndynamik, also Veränderungen. Wie sollte man die einfrieren? Wie würde man die Impulse und Impulsrichtungen, die Reaktionszwischenzustände etc. in diesem statischen Hirnobjekt speichern. Das ist ein Riesenblödsinn. Betrachtet man die Sache dynamisch, stieße man auch immer an die Grenze der Heisenbergschen Unschärferelationen.

    Zum Konstruktivismus: Als erkenntnistheoretische Position eine Trivialität, als Ontologie – unter Verwechslung von Wissen und Wirklichkeit – ein Schmarrn. Und zudem gefährlich, weil die Korrekturmöglichkeit für das Wissen und die Basis der Einsicht in die Fallibilität unseres Wissens entfällt. Ist also allenfalls was für Sozialwissenschaftler, insofern deren Phänomene i der Tat auf gesellschaftliche Konstruktion beruhen. Jeder ernsthafte Naturwissenschaftler versucht aber, ontologisch weiter zu pinkeln.

    Ihre Kompetitivität und Leidenschaft in allen Ehren, auch die von Ihnen verwendeten Kraftwörter meinend, aber Sie liegen falsch.

    Es ist gedankenexperimentell machbar und möglich [1] Hirnstati “einzufrieren” (‘serialisieren’ wäre womöglich besser formuliert) oder gleich die Gesamtperson, dann wieder “aufzutauen” oder zu abstrahieren bzw. zu objektivieren, wenn die Welt dies erlaubt, also hinreichenden Determinismus und eben die genannte (De-)Serialisierung kennt oder erlaubt.

    Physikalische Einwände [2] müssen hier kein relevanten Gegenargumente sein.

    Der Konstruktivismus, der sich um das Erkennen bemüht, Erkenntnis in “n:m”-Beziehungen zwischen dem Subjekt und dem Entgegengeworfenen, dem großen Objekt sozusagen, verwaltet sieht, ist nicht trivial, wird oft angegriffen, Popper stellte hier sozusagen konsenssuchend den Kritischen Rationalismus gegenüber, feimte den Realismus ab, war gegen das Szientistische, ist auch dem Gedankenexperiment gegenüber solid aufgestellt gewesen.

    Ob sich die Welt an diese Möglichkeit hält oder ob sie den Szientisten oder kritischen Rationalisten recht gibt, kann nicht entschieden werden.
    Der Konstruktivismus nimmt einige Problemlagen aus der erkenntnistheoretischen Gesamtbetrachtung heraus, was sinnhaft sein müsste.

    MFG
    Dr. W (der im Abgang noch ergänzt, dass viele Physik(lehr)er keine Probleme mit dem Konstruktivismus haben)

    [1] “denkbar = möglich”, was als paradox undenkbar ist, ist nicht möglich, jedenfalls nicht so wie gedacht, und was von bestimmten Subjekten nicht gedacht werden kann, kann dennoch sein

    [2] Sogenannte Naturgesetze sind gesetzt, btw: Die SciFi-Literatur lebt vom Denken des Möglichen, wobei einige Autoren leiden, korrekt, aber insgesamt, der Schreiber dieser Zeilen hebt hier exemplarisch Philip K. Dick und Terry Pratchett hervor, werden dort nicht durchgehend (Denk-)Fehler gemacht.

  51. Bewusstsein, Wahrnehmung, Hirnfunktion kannes nur geben, weil unsere Neuronen dauernd auf Reizunterschiede reagieren. Diese von Herrn Hoppe angesprochene Hirndynamik ist deshalb eine Grundvoraussetzung für Bewusstsein.
    Ein statisches/eingefrorenes Gehirn kann nicht funktionieren.
    Ein Beispiel: wir können nur sehen, weil sich unser Auge dauernd bewegt (z.B. Sakkadensprünge) und dadurch benachbarte Sehzellen dynamisch verändert. Dies ermöglicht es den Zellen, sich zwischendurch wieder ´abzuregen´ und so für neue Reize vorzubereiten. Ohne diesen dynamischen Wechsel wären wir blind.

  52. @Anton Reutlinger

    Danke für die Antwort. Meine Frage war eigentlich an Christian Hoppe gerichtet. Damasio beschreibt in dem obigen Zitat übrigens einen „Absence-Anfall“ (Bewusstseins-Ausfall), wie er bei Epileptikern auftreten kann. Das müsste Herrn Hoppe eigentlich geläufig sein.

  53. Sie meinen Selbstbewusstsein? also die Fähigkeit, sich selbst und seine (bereits) bewussten Eindrücke nochmals zum Gegenstand eines bewussten Erlebens werden zu lassen – auch im Sinne einer übergeordneten Kontroll- oder Korrekturmöglichkeit?

    Bei der sogenannten Autobahn-Trance verarbeiten wir bewusst alle möglichen Sinneseindrücke – sind aber doch nicht so bei Bewusstsein wie z.B. bei Situationen, die außerhalb der Routine oder nicht erwartungskonform verlaufen.

    Ich fürchte, im Sinne von Selbstbewusstsein sind wir alle während des Tages ziemlich häufig “bewusstlos” – also quasi mit Autopilot unterwegs. Neuronale Korrelate oder sogar Stimulationstechniken, mit denen man das übergeordnete Bewusstsein abschalten könnte, sind mir nicht bekannt. Routine (Langeweile) funktioniert wahrscheinlich am besten und evtl. sind die Arbeiten zum Resting State oder Default Mode Network hier zielführend.

  54. Zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit gibt es verschiedene Zwischenstadien, von der leichten Schläfrigkeit oder Benommenheit oder dem sogenannten Sekundenschlaf, über die kurzzeitige Ohnmacht bei Kreislaufschwierigkeiten bis zur dauerhaften Hirnschädigung mit Koma. Das Interessante wäre natürlich, ob und wie diese Zustände an Hirnströmen und dergleichen zu erkennen sind. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass die Substanz Stickstoffmonoxid (ein Gas) eine wichtige Rolle spielt im Organismus und besonders im Gehirn, beispielsweise wirkt es auf die Blutgefäße erweiternd. Bemerkenswert ist, dass diese Substanz so lange unerkannt blieb, obwohl bekanntlich Stickstoff und Sauerstoff nicht weniger als 99% der Atemluft ausmachen. Dagegen ist Distickstoffmonoxid als sogenanntes Lachgas mit narkotisierender Wirkung schon seit 200 Jahren bekannt. Würden diese beiden Gase sich in der Luft bereitwilliger paaren, dann gäbe es kein Leben auf diesem Planeten, jedenfalls nicht diese Lebensform. Von solchen Zufälligkeiten hängt das gesamte Leben ab, auch ein interessanter Gedanke, philosophisch betrachtet!

  55. @ Herr Kinseher :
    Das war alles nicht in Frage gestellt weiter oben, es ging um das Gedankenexperimentelle, das Möglichkeiten aufzeigt.

    Selbstverständlich benötigt die Welt Veränderung, die nicht umfänglich indeterministisch ist, damit Subjekte Erkenntnis entwickeln können, also beispielsweise auch das Konzept des Bewusstseins.
    Zudem bestimmte Regelmengen (“Physik”),die zu derartiger Subjektbildung anleiten.

    MFG
    Dr. W

  56. @Webbaer: Nichts gegen Gedankenexperimente – allerdings sollte ein gewisses Grundwissen dabei erkennbar sein:
    1) Ergebnisse von Gehirnaktivitäten – wie das Bewusstsein, entstehen auf Basis von biochemischen Reaktionen. Die Idee, biochemische Reaktionen als digitales Computermodell einzufrieren, ist nicht sehr sinnvoll – Biochemie und anorganische Chemie bzw. Physik sind völlig unterschiedliche Bereiche. Modelle, die diese Unterschiede nicht berücksichtigen, sind fragwürdig: Das ist etwa so, als wie wenn ich das Foto eines Schweinebratens am Bildschirm betrachte, um davon satt zu werden.
    2A) Damit unser Gehirn vernünftig arbeitet, sind immer Reize notwendig, die von Außen über die Sinnesorgane stimulierend auf das Gehirn einwirken. Experimente mit sensorischem Reizentzug zeigen, dass das Gehirn zu Fehlreaktionen (Halluzinationen) neigt, wenn es mit zuwenig Reizen versorgt wird. Ein digitales Gehirn ohne Außenkontakte müsste diese Reaktion ebenfalls zeigen, wenn das Modell korrekt sein soll.
    2B) Körperfunktionen, die nicht genutzt werden, werden vom Körper zurückgebaut. (dieser Effekt ist besonders stark bei Astronauten erkennbar bzw. auch, wenn ein Körperteil eingegipst ist). Ähnlich ist es mit Gehirnfunktionen – d.h. ein Modell eine Gehirns ohne sensorische Außenkontakte müsste sich theoretisch zurückbauen; d.h. bestimmte Funktionen reduzieren.

    Dies sind nur ein paar einfache Beispiele, welche auch von vernünftigen Gedankenmodellen berücksichtigt werden müssten. Einfach davon auszugehen, man könnte ein Gehirn im Computer nachbauen/simulieren ist sehr naiv.

  57. @ Herr Kinseher :

    Nichts gegen Gedankenexperimente – allerdings sollte ein gewisses Grundwissen dabei erkennbar sein (…)

    Philosophisch betrachtet: gerade nicht.

    Jedenfalls nicht, wenn biologisches oder physikalisches ‘Grundwissen’ angefordert scheint, vs. philosophisches Wissen.

    Die wohlverstandene Philosophie schöpft sich seit einiger Zeit aus dem Denken über das Mögliche, sie ist bereits recht lange “am Start”, das Höhlengleichnis klärte bspw. einiges auf, an Möglichem, und als Mutter der Erkenntnis sind der Philosophie nach und nach die Einzeldisziplinen der Scientia (sinnhafterweise, wie der Webbaer findet) herausgelöst worden.

    Es bringt nüscht Philosophie und die ihr möglichen Experimente sozusagen aus untergeordneter Sicht anzugreifen.

    Lösen Sie sich gerne auch vom “Computer” als Maßstab,
    MFG
    Dr. W

  58. @Webbaer: Wenn Gehirn/Bewusstsein die Themen sind und eine Philosophie vorgeschlagen werden soll, die ohne jeden realen Bezug dazu irgendwelche Phantastereien als Modelle diskutieren sollte – dann sind wir im Bereich der Esoterik. Dafür ist mir meine Zeit zu schade.

  59. Hallo Herr Hoppe,

    Mir geht es um die begriffliche Unterscheidung von dem, was Gerald M. Edelmann „primäres Bewusstsein“ und „Bewusstsein höherer Ordnung“ genannt hat. Ersteres ist der „Zustand mentalen Gewahrseins, bei dem ein Individuum in der Gegenwart mentale Bilder von Dingen in der Welt aufbaut“. Mit einem Bewusstsein höherer Ordnung hingegen kann sich das Individuum „bewusst machen, dass es ein Bewusstsein hat“.

    Meine Frage wäre nun, welches Bewusstsein per Elektrode ausgeschaltet wurde, das primäre oder das höherer Ordnung. Bei Ausschaltung des primären Bewusstseins wird sicherlich auch das Bewusstsein höherer Ordnung stillgelegt. Umgekehrt könnte man sich aber vorstellen, dass bei Ausfall des Bewusstseins höherer Ordnung das primäre Bewusstsein noch halbwegs funktioniert (siehe „Absence-Anfall“).

    Und daran anschließend: Was ist bei der Bewusstlosigkeit mittels Claustrum-Stimulation so anders, dass der eine oder andere plötzlich meint, damit sei der Epiphänomenalismus passé?

  60. Wenn Sie es wirklich trennen wollen, müssten Sie auch mit der Möglichkeit eines höheren Bewusstseins rechnen, dass sich des Ausfalls des Primärbewusstseins bewusst werden kann. Wenn Sie das aufeinander aufbauend verstehen, ist das höhere Bewusstsein dasselbe Bewusstsein mit anderem Inhalt, nämlich statt der wahrgenommenen Welt die Tatsache dieser Wahrnehmung. Kann man machen.

    Die Claustrum-Stimulation hat alles lahmgelegt. Keinerlei Erinnerung an zwischenzeitliche Ereignisse. Fehlende Beweise für X sind keine Beweis für das Fehlen von X – es könnte sein, dass weiter erlebt wird, aber ohne Gedächtnis und ohne Reaktionsmöglichkeit (Mutismus).

    Die Epiphänomenalismus-Frage stellte sich angesichts der Beobachtung, dass mit dem Bewusstsein (wie auch immer genauer zu verstehen), *sämtliche* höhere kognitive Funktionen sistierten. Es ist im Grunde trivial, dass wir diese höheren Funktionen nur mit Bewusstsein besitzen – zeigte sich hier jedoch nur besonders drastisch.

    Noch immer wäre *vorstellbar*, dass diese Fähigkeiten auch einem Zombie zur Verfügung stehen könnten. Aber empirische Tatsache ist – jenseits des Denkbaren -, dass die Verknüpfung von Bewusstsein und höheren kognitiven Funktionen essentiell zu sein scheint. In diesem Falle wäre Bewusstsein mehr als ein Epiphänomen – aber auch keine neue (dualistisch verstandende) kosmische Kraft (siehe oben).

  61. Nach meiner Überzeugung als informierter Laie bildet das fast lebenslange Gedächtnis die Basis des Bewusstseins als funktionale Eigenschaft des Gehirns. Erst der Vergleich mit früheren Wahrnehmungen ermöglicht in Wiederholung gleichartiger Objekte und Ereignisse Erkenntnis und Vernunft. Der Auslöser scheint mir im aufrechten Gang zu liegen, mit der freien Beweglichkeit von Händen und Fingern und der kybernetischen Kontrolle und Variation der eigenen Motorik in Echtzeit. Kein Tier kann den eigenen Körper so umfassend beobachten wie der Mensch. Die Differenziertheit der Fingerbewegungen machte eine höhere Differenzierung der kognitiven Leistungen möglich und notwendig. Infolge dessen kann sich auch der Sprachapparat differenziert haben, mit den anatomischen und neurologischen Fähigkeiten zum Hören und Sprechen in Koevolution. Sprache und Bewusstsein können sich ebenfalls nur in Koevolution entwickelt und gegenseitig befördert haben. Selbstverständlich können das nur skelettartige Vermutungen sein, die durch viele andere Parameter wie Klima und Nahrung zu ergänzen wären. Eine wichtige Rolle spielte ganz sicher auch das Sozialverhalten in Kleingruppen, gerade in bezug auf die Sprache.

    Ein häufig zu beobachtender Fehler ist die retrospektive Deutung von Entwicklungen. In der Gegenwart sind viele Informationen bekannt, die am Anfang der Entwicklung nicht verfügbar und nicht voraussehbar waren. Das betrifft auch den Funktionszweck der Sprache, die am Anfang sicher nicht der höheren Kommunikation, sondern dem emotionalen Ausdruck sowie sozialen Grundfunktionen wie der Rangordnung und der Warnung vor Raubtieren diente, analog der Tierwelt. Erst in der Dialektik mit der Umwelt schälten sich weitere Funktionsmöglichkeiten heraus, die Gegenstand der Selektion bildeten und die weitere Entwicklung beförderten.

  62. Das Faszinierende am Bewusstsein ist, dass fast jeder Mensch ein solches hat und es aus eigener Anschauung kennt. Trotzdem tappen die professionellen Philosophen noch (fast) genauso im Dunkeln wie der Laie. Die Neurowissenschaftler versenken sich in die Details und können das Ganze auch nicht erklären. Natürlich gibt es immer Leute, die genau zu wissen glauben, was Bewusstsein ist, aber bei näherer Betrachtung lösen sich die Erklärungen in Luft auf. Das gilt beispielsweise für verschiedene quantenphysikalische Erklärungsversuche, neben all den spiritualistischen oder okkultistischen Illusionen und Spekulationen. Die beste Erklärung ist noch immer die Nichterklärung, das ignorabimus, wie bei Emil DuBois-Reymond in seinem berühmten Vortrag von 1872.

  63. @Chrisitan Hoppe

    »Die Epiphänomenalismus-Frage stellte sich angesichts der Beobachtung, dass mit dem Bewusstsein (wie auch immer genauer zu verstehen), *sämtliche* höhere kognitive Funktionen sistierten.«

    Aber das ist doch keine neue Erkenntnis, die es nunmehr rechtfertigen würde, zu sagen, dass jetzt endlich alle überzeugt sein müssten, dass das menschliche Bewusstsein kein Epiphänomen sei. Sind oder waren Bewusstseinsforscher denn bislang der Meinung, sie untersuchten ein Epiphänomen?

    Das wäre ja gerade so, als würde man die Bilder auf der Kinoleinwand untersuchen, um Aufschluss über die Funktionen des Projektors zu erhalten.

    Wobei man von diesen Bildern ja nur aus eigener subjektiver Anschauung weiß, was andere subjektiv erleben, lässt sich nicht messen. Und genau hier, beim subjektiven Erleben, scheint mir der Begriff Epiphänomen noch am besten zu passen. Das subjektive Erleben wirkt genauso wenig kausal (also physikalisch) auf die Neuronen zurück, wie das Bild auf der Leinwand auf den Projektor. Aber genau diese Bilder sind der Sinn und Zweck der ganzen Veranstaltung. Meiner Meinung nach.

    Danke fürs Zuhören und Antworten!

    (Vielleicht sollte ich noch anfügen, dass ich weiß, dass das Gehirn anders arbeitet als ein Filmprojektor…)

  64. Welcher Bewusstseinsforscher würde behaupten, dass der Gegenstand seiner Forschung nur ein Epiphänomen ist, also eine sinnlose, nutzlose, funktionslose Wahrnehmung? Dann könnte er auch zu den Homöopathen gehen und Placeboeffekte studieren. Nein, es gibt Philosophen, die den Epiphänomenalismus vertreten. Namen sind mir gerade nicht präsent und ich will auch keine Zeit vergeuden, danach zu suchen. Es gibt noch die schärfere Variante, das ist der Eliminativismus, der das Bewusstsein überhaupt leugnet. Vertreter sind das Ehepaar Churchland. Natürlich ist deren Begründung etwas komplizierter, denn das sind keine dummen Leute, die sich obendrein auch mit Neurowissenschaft beschäftigen und sich mit ihren Kritikern unterhalten und auseinandersetzen.

  65. Interessantes Beispiel: Würde man mit dem Filmprojektor in den leeren Nachthimmel leuchten, gäbe es kein Bild und im Filmprojektor änderte sich nichts – das Bild auf der Leinwand ist also ein kausal irrelevantes Epiphänomen. Und Sie haben natürlich genau Recht, dass die gesamte Arbeitsweise des Projektors auf eben dieses Bild abzielt – das wäre eine teleologische Ursache. Die wollen Sie jetzt aber vermutlich nicht ernsthaft in die naturwissenschaftlich geführte Debatte über Gehirn und Bewusstsein einführen, oder?

    Meine These ist, dass das Verschwinden des Bewusstseins immer eine physikalische Veränderung im Gehirn impliziert, Bewusstsein kann gerade nicht folgenlos für die Hirnphysiologie weggedacht werden, weil es in der Natur in der wir nun einmal leben, notwendigerweise so ist, dass mit einer bestimmten Hirnphysiologie Bewusstsein auftritt und umgekehrt.

    Diese Position verbietet es weiterhin, dem Bewusstsein den Charakter einer physikalischen Kraft zuzuschreiben. Andererseits partizipiert es aber durch seine enge Verknüpfung mit Hirnphysiologie an der kausalen Relevanz dieser von ihm untrennbaren Prozesse: ohne Bewusstsein finden eben nicht dieselben hirnphysiologischen Prozesse statt.

  66. Sprache setzt jedenfalls einen einfachen Denkinhalt und den Wunsch diesen mitzuteilen voraus. Wie sich das während der Menschwerdung entwickelt hat zeigen vielleicht die heutigen Schimpansen, die sich mit Rufen, Körperhaltungen und Gesten verständigen wie hier Chimpanzee language: Communication gestures translated beschrieben.

    Man beobachtet aber auch bei Haustieren Kommunikationsversuche, beispielsweise zeigen sie ihren Haltern an, dass sie nach draussen gehen wollen. Es scheint, dass viele höhere Säugetiere so etwas wie mentale Zustände haben und sie diese mentalen Zustände auch bei ihresgleichen wahrnehmen, weil sie mit Änderung im Verhalten einehergehen. Das ist wohl schon eine einfache Form des Bewusstsein, denn es wird das Verhalten eines Gegenübers interpretiert und mit eigenen mentalen Zuständen in Verbindung gebracht.
    Die menschliche Sprache entwickelte sich wohl so differenziert, nachdem ein sehr effizienter Kommunikationskanal gefunden wurde: die Erzeugung von differenzierten lautlichen Äusserungen.

  67. Da stimme ich vollkommen mit Ihnen überein. Es gibt eine Kluft zwischen den mentalen, phänomenalen Begrifflichkeiten und den physikalischen, physiologischen oder materiellen Begrifflichkeiten. Dabei wäre die Lösung so einfach und so naheliegend. Dasselbe Problem besteht zwischen der materiellen, molekularen DNA und den Phänotypen (darin steckt das Teilwort phänomenal, analog mental). Der nötige Begriff zur Überbrückung der Kluft wurde durch den Begriff des Gens erfunden. Das hypothetische Gen als informative Struktur verbindet die Materie mit dem Phänomen der äußeren Lebensform wie auch des Verhaltens. Nun ist die DNA eine sehr auffällige, deutlich erkennbare, regelmäßige und relativ einfache Struktur in den Zellen, ebenso wie die Struktur der Proteine als Genprodukte, die sogar Ähnlichkeiten mit linguistischen Strukturen haben und daher mit dem Computer wie Textverarbeitung zu beherrschen sind.

    Das ist in der Neurobiologie offenkundig nicht so einfach. Außer den elektrischen Aktionspotentialen und den Synapsen fehlen bisher solche wiederkehrende Strukturen. Es ist nicht klar, wo das Bewusstsein anzusiedeln ist, ob in den Neurotransmittern, den Rezeptoren, den Frequenzen von Aktionspotentialen, den Typen und der Vernetzung von Nervenzellen oder was auch immer. Vielmehr gibt es Anzeichen, dass alle Möglichkeiten beteiligt sind, von den relativ determinierten Aktionspotentialen über intrazelluläre Signalkaskaden mit second messenger bis zur Expression von Genen.

  68. @Christian Hoppe, @ Anton Reutlinger

    »Und Sie haben natürlich genau Recht, dass die gesamte Arbeitsweise des Projektors auf eben dieses Bild abzielt – das wäre eine teleologische Ursache. Die wollen Sie jetzt aber vermutlich nicht ernsthaft in die naturwissenschaftlich geführte Debatte über Gehirn und Bewusstsein einführen, oder?« (C.H.)

    Keine teleologischen Ursachen, aber teleonome! In der Biologie können wir sehr wohl fragen, wozu bestimmte Strukturen da sind, welchen Zweck sie erfüllen (es gibt nutzlose und sinnvolle biologische Strukturen). Bei zweckgerichteten, prozesshaften Entwicklungen ist nicht das Ziel die treibende Kraft, sondern es sind gesetzmäßige physikalische Kräfte, die die Selbstorganisation der funktionalen Strukturen “bewirken”. Man kann also durchasu sagen: Die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns zielt u. a. darauf ab, dass dem Individuum bestimmte Vorgängen bewusst werden.

    Meine These ist also der Ihren ganz ähnlich: Wenn bestimmte hirnphysiologische Prozesse gegeben sind, dann kommt es zwangsläufig zu Bewusstsein, und zwar Bewusstsein einmal verstanden als funktionaler (hirnphysiologischer) Zustand, und einmal verstanden als mentaler Zustand.

    Was wir als Bewusstsein erleben, ist allein der mentale Zustand. So entsteht die Illusion oder der Eindruck, man würde mittels des Bewusstseins, also geistiger Kräfte, seine Handlungen ursächlich (d. h., physikalisch wirksam) bewirken. Tatsächlich sind es aber immer die dem mentalen Zustand unterliegenden Hirnprozesse, die kausal wirksam werden.

    »Es gibt eine Kluft zwischen den mentalen, phänomenalen Begrifflichkeiten und den physikalischen, physiologischen oder materiellen Begrifflichkeiten.« (A. R.)

    Eben, und genau da ist das Einfallstor für die (moderne) Philosophie des Geistes. Mentale Zustände, also die Erlebnisinhalte, die Bilder und Töne im Kopf, können durchaus als Epiphänomene der ihr unterliegenden Hirnprozesse aufgefasst werden, denn sie haben keine kausale Wirkung auf diese Prozesse. Allerdings scheint es eben der Zweck dieser Hirnprozesse zu sein, genau diese mentalen Zustände zu erzeugen. Und da scheint mir, nach meinem Begriffsverständnis, der Begriff Epiphänomen nicht besonders gut zu passen. Oder wäre es vorstellbar, dass ein Denken und Planen vom Ende her gar nicht auf ein phänomenales Bewusstsein angewiesen ist, dass uns das nur so erscheint, weil wir es nicht anders kennen? Ein Ameisenstaat funktioniert ja auch, ohne dass es dort Anzeichen für einen mentalen Bewusstseinszustand gäbe.

  69. “Eben, und genau da ist das Einfallstor für die (moderne) Philosophie des Geistes.”

    Es gibt in der Philosophie des Geistes keine Theorie, die es nicht gibt. Die “Erklärungslücke” oder “explanatory gap” ist inzwischen eine Standardtheorie, die von Joseph Levine (*1951) stammt und der ich selber zustimme. Gemeint ist eben die begriffliche Erklärungslücke zwischen mental-phänomenalen und physischen Zuständen. Diese begriffliche Lücke ist meines Erachtens schließbar durch Brückenbegriffe. Solche Erklärungslücken und zugehörige Brückenbegriffe sind in unserem Weltverständnis alltäglich. Den Gen-Begriff hatte ich in einem früheren Beitrag schon genannt. Auch die Aggregatzustände oder Wärme und Nässe gehören dazu. Nebel ist ebenfalls ein solcher Brückenbegriff. Man kann sich den mentalen Zustand vorstellen, wenn man im Auto durch dicken Nebel fährt, wie gerade in dieser Jahreszeit. Physikalisch gibt es keinen Nebel als eigenständiges Objekt, aber es gibt das Phänomen mit dem zugehörigen, eigenständigen Begriff. Da die Ursachen, die Entstehungsbedingungen, die Erscheinungen und die Wirkungen von Nebel aus Erfahrung bekannt sind, fallen solche Lücken zwischen mental wahrnehmbarem Phänomen und physikalischem Vorgang nicht auf. Das Gehirn dagegen ist nicht so zugänglich, um es gründlich und durchgehend erforschen zu können.

    Die Schließung der begrifflichen Erklärungslücke ist allerdings keine vollständige Erklärung des phänomenalen Bewusstseins. Es bleibt noch etwas übrig. Man kann sicher räumliche, zeitliche und funktionale Korrelationen zwischen mentalen und physischen Zuständen erkennen, aber das ist noch keine kausale Erklärung.

  70. ..was ist denn jetzt von der Ergebnissen der AWARE Studie zu halten?
    Vor allem von dem einen, möglicherweise den Nachweis hirnunabhängigen Bewußtseins liefernden Fall, der wie folgt beschrieben wird:
    . In diesem Fall [des Patienten] treten Bewusstsein und Wahrnehmung auf während einer dreiminütigen Periode ohne Herzschlag. Das ist paradox, da das Gehirn typischerweise innerhalb von 20 bis 30 Sekunden nach Beginn des Herzstillstands seine Funktionen einstellt und nicht wieder aufnimmt, bis das Herz wieder schlägt. Außerdem passen die detaillierten Erinnerungen visueller Wahrnehmungen in diesem Fall zu den bestätigten Ereignissen [während des klinischen Todes].

  71. Dieses Gebiet, in das die Wissenschaft in Bezug auf das Nahtoderlebnis des jeweiligen von Ihnen genannten Patienten vordrang, ist angeblich noch neu. Es werden weitere Untersuchungen zu Nahtoderfahrungen vonnöten sein, um diese nach Möglichkeit besser verstehen zu können.

    Als Laie auf diesem Gebiet würde ich nicht ausschließen, das selbst nach einem über 30 Sekunden andauernden Herzstillstand noch Aktivitäten in den tieferen Hirnstrukturen bestehen. Vor dem endgültigen Gehirntod erlischen die darin bestehenden Aktivitäten schleppend nacheinander und nicht etwa augenblicklich.

  72. Lieber Herr Wendnagel,
    eine Falsifikation der Leitidee der modernen Hirnforschung – “Geist nicht ohne Gehirn” – wäre dann gegeben, wenn ein geistig-seelisches Phänomen ohne zugrunde liegende Hirnprozesse gezeigt werden könnte. Eine Wahrnehmung bietet sich an, insofern man in dieser Wahrnehmung eine zeitliche Datierung installieren könnte, ein Ereignis also, mit dem die zugleich erhobenen Hirndaten – z.B. das EEG – synchronisiert werden könnten. Denn entscheidend ist der Nachweis, dass exakt zum Zeitpunkt fehlender Hirnfunktion ein geistig-seelisches Phänomen auftrat.

    Die Autoren der AWARE-Study hatten zum einen Pech, weil fast 90% aller Reanimationen nicht an den antizipierten Orten (angeblich 50-100 pro Klinik!) stattfanden. Zum anderen hatten sie den Patienten während der Reanimation sicher kein EEG angelegt. Schließlich waren die hinterlegten Reize zeitlich invariant, hatten also keinen Ereignischarakter und keine klare Zeitmarkierung.

    Wenn ich es richtig sehe, wurde reanimiert. Selbst wenn das Herz von sich aus nicht schlägt, wird der Blutkreislauf in geringem Umfang aufrecht erhalten; auch eine minimale Sauerstoffversorgung wird durch Beatmung gesichert. Diese Situation ist sicher nicht hinreichend, um einen Funktionsausfall des Gehirns (wie in der Narkose) sicher postulieren zu dürfen. Die Rede vom “klinischen Tod” ist in diesem Zusammenhang immer wieder irre führend – und hätte von den Reviewern moniert werden müssen.

    Das Design hätte allenfalls außersinnliche Wahrnehmung demonstrieren können – hätten Patienten die Bilder auf den Regalen oberhalb von ihnen beschrieben. Außersinnliche Wahrnehmung könnte jedoch eine (seltene) Fähigkeit menschlicher Gehirne sein – zwar wäre die klassische Sinnesphysiologie damit obsolet, nicht aber die Leitidee der modernen Hirnforschung.

    Für die nun sporadisch berichteten Erlebnisse eines Patienten wäre es hinreichend, wenn ab und an das Auge geöffnet wurde, um den Pupillenreflex zu prüfen, und wenn ferner Geräusche usw. einen lebhaft Eindruck von allen realen Vorgängen vermittelt hätten – das Hören bleibt beim Übergang in eine Bewusstlosigkeit am längsten intakt und kommt als erstes zurück.

    Diese Studie ist daher nach meiner Einschätzung keinesfalls hinreichend, um eine so gut bewährte These wie die Leitidee zu verabschieden.

    Außerdem müssten, wenn der Dualismus gilt, außerkörperliche Erlebnisse mit außersinnlicher Wahrnehmung der Normalfall sein, immer wenn das Gehirn ausfällt. Das ist aber nicht der Fall. Wenn mein Bewusstsein eine Substanz wäre, könnte ich gar nicht bewusstlos sein.