Religionsökologie

BLOG: Landschaft & Oekologie

Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

In der „Süddeutschen“ wurde über eine Forschungsarbeit von – natürlich, ist man geneigt zu sagen, amerikanischen – Wissenschaftlern[1] berichtet, deren Ergebnis die Zeitung so zusammenfaßt: „Je härter die Umwelt, umso strenger die Götter.“[2] Ich habe nur den Artikel in der SZ gelesen, nicht den Aufsatz der Forscher. Das werde ich auch nicht tun. Denn wenn auch solche Gedanken einst, vor über 200 Jahren, nämlich bei Herder, als große Philosophie begannen: Was nachher kam, war alles in allem Ideologieproduktion, eher Journalismus als Wissenschaft. Warum sollte es in unserem Fall anders sei? Darum begnüge ich mich ruhigen Gewissens mit dem Zeitungsartikel.

 

„Die Wissenschaftler haben 583 Gesellschaften weltweit untersucht, und nach Beziehungen zwischen den äußeren Lebensbedingungen, dem kulturellen Kontext und der Art der Religion gesucht. Dabei stellten sie fest, dass vier Faktoren den Glauben an moralisierende Götter – statt an eine vielfältige Götterschar oder auch keinen Gott – stark begünstigen. Zwei davon sind ökologische Kriterien: die knappe Verfügbarkeit von Ressourcen und unberechenbare klimatische Verhältnisse. Auch politisch komplexe, hierarchische Gesellschaften und solche, in denen Tiere gehalten werden, scheinen eine streng moralische Religion zu bevorzugen.“

„Wo, wie in Indien, der Boden fruchtbar ist und das Klima günstig, sind Religionen mit einem überlegenen, strengen und strafendem Gott seltener als dort, wo Menschen einst ums Überleben kämpfen mussten“.

Warum ist das so?

„Wo das Leben aufgrund der Umweltbedingungen hart ist, waren Menschen stets auf Zusammenhalt angewiesen.“

„Auch politische Strukturen sowie Landwirtschaft und Tierhaltung funktionieren nur, wenn sich alle im Großen und Ganzen an die Regeln halten und die Eigentumsrechte der anderen akzeptieren.“

Und: „Wer glaubt, kooperiert; und sei es aus Furcht vor dem Jenseits.“

 

Jetzt will ich meinen Wissenschaftlerverstand und meinen Fachverstand – zur Hälfte fällt das Thema ja in mein Fach – mal beiseite lassen und mich an den Alltagsverstand halten und ein paar schlichte Fragen stellen. (Das habe ich z. B. hier und hier ebenso gemacht.) Wir wollen sehen, ob die doch arg schlichten Gedanken der amerikanischen Forscher bzw. der deutschen Journalisten standhalten.

 

Wenn Ressourcen reichlich verfügbar sind, dann pflegt die Bevölkerungszahl rasch zu wachsen, und dann sind sie pro Kopf bald doch knapp. Nur darauf – pro Kopf – kommt es ja an. Zu meiner Schulzeit erzählte man uns noch das Märchen, daß die Bauern da, wo der Boden fruchtbar ist, etwa in den Bördelandschaften, reich sind, und wo er unfruchtbar ist, etwas in der Geest, arm. Aber wenn der Hof in der Geest groß ist und der in der Börde klein (vielleicht durch das Erbrecht, also rein kulturell bedingt), könnte da nicht der Bördenbauer mit weniger Ressourcen auskommen müssen, überhaupt ärmer sein? In Gegenden mit, verglichen mit Mitteleuropa, extrem ungünstigen Umweltverhältnissen für die Landwirtschaft, etwa in den Trockengebieten im Südwesten der USA, sind die Landwirte im allgemeinen viel reicher, weil die Fläche eines Betriebes um ein Vielfaches größer ist.

Müßte es dann nicht so sein, daß gerade da, wo die Ressourcen wegen Überfüllung besonders knapp sind, also da, wo sie zunächst besonders reichlich vorhanden sind, sich darum alles hindrängt und dann auch noch gut vermehrt, wo man also besonders heftig ums Überleben kämpfen muß, weil einem die vielen anderen immerzu die Ressourcen wegnehmen – daß da die Götter besonders streng sind?

Nicht nur Knappheit, auch die Unberechenbarkeit der klimatischen Verhältnisse soll zu strengeren Göttern führen. Indien mit seinen sanften oder doch im Hinblick auf die Moral, die sie fordern, gleichgültigen Göttern soll solche unberechenbaren Verhältnisse nicht aufweisen. Da wundert man sich nur, daß man über kaum ein Land so oft von Überschwemmungskatastrophen in der Zeitung liest wie gerade über Indien (Pakistan und Bangladesch gehören historisch dazu). Bei uns dagegen sind die klimatischen Verhältnisse verglichen damit sehr ausgeglichen. Darum also hatten die alte Kelten, Germanen und Slawen „eine vielfältige Götterschar“, klar. Nun meinte man aber in den sonnigeren Gegenden des Südens immer, dort oben im Norden sei das Klima so rauh, und es wächst so wenig, kein Obst, kein Wein, daß man es gar nicht aushalten kann. Da müßte man doch eigentlich strenge, Moral fordernde Götter haben. Aber die vielfältige Götterschar führte bekanntlich ein Lotterleben. Doch eine Moral forderten sie von den Menschen irgendwie auch, z. B. hatte man gehorsam auf dem Schlachtfeld zu sterben, wenn man nach Walhalla kommen wollte, sonst war dort das Tor zu, aber das scheint’s doch nicht zu sein, was unsere Religionsforscher meinen.

Nimmt man den ganzen indischen Subkontinent, so sind die klimatischen Verhältnisse dort ähnlich wie in Mexiko, das Spektrum reicht von Wüsten- bis Regenwaldklima. Nun hört man aber von den Azteken und Mayas, daß ihre Götter sehr grausam waren, alljährlich Massen von Menschenopfern forderten, und nicht sanft-gleichgültig wie in Indien. Aber vermutlich können sich unsere Öko-Religionswissenschaftler da herauswinden: Die Geopferten wurden ja nicht für ihre Verfehlungen bestraft, es war vielmehr eine Ehre, wenn einem das Herz herausgeschnitten wurde, es war ein Akt der Liebe, den die Götter da begingen. Sie waren in Wirklichkeit milde, nicht strenge Götter, also doch wie in Indien. Lassen wir das also, auf diesem Weg der Kritik kommen wir nicht weiter.

Und wie ist es eigentlich mit dem christlichen Gott? Streng moralisch scheint der irgendwie schon. Man soll seine Gebote einhalten, ja mehr noch: wir sollen, aber wir können nicht, wir bleiben Sünder, die Erbsünde kriegen wir nicht los. Aber halt! Ist dieser Gott wirklich so? Ist er nicht geradezu der Inbegriff der Liebe und Gnade? Hat er nicht sogar seinen Sohn geopfert, um uns von unseren Sünden zu erlösen? Doch da haben die Öko-Religionsforscher vermutlich eine Antwort: Wo ist denn das Christentum entstanden? Eben, im Römerreich, im Mittelmeergebiet, also in der Mitte. Da ist die Umwelt nicht ganz so paradiesisch mild wie in Indien, aber auch nicht besonders hart. Ist es darum ein Wunder, daß die Götter von beidem, moralischer Strenge und Liebe/Gnade, etwas haben? Das war doch geradezu prognostizierbar! Einen kleinen Einwand hätte ich allerdings noch: Hat man den gnädigen Gott nicht eher im rauhen Norden, in den Ländern der Reformation, erfunden? Irgendwie scheint mir die Öko-Reigionstheorie ein wenig unterkomplex. Na ja, das werden sie schon noch hinbekommen.

Aber wie wär’s denn damit: „Politisch komplexe, hierarchische Gesellschaften … scheinen eine streng moralische Religion zu bevorzugen.“ Nun sind aber da, wo die Umweltbedingungen besonders hart sind, z. B. in der Arktis, in Patagonien, in Sibirien, in den Wüsten und Hochgebirgen, nicht gerade besonders komplexe, hierarchische Gesellschaften entstanden, und wenn, dann im allgemeinen recht spät. Sie entstanden statt dessen da, wo man leicht Landwirtschaft betreiben konnte, also unter günstigen Umweltbedingungen, in Mesopotamien, in Ägypten, in Indien z. B. Dort sollen aber die Götter gerade nicht moralisch streng sein.

Jahrtausende lang betrieb man Landwirtschaft nur da, wo es dafür die besten Umweltbedingungen gab, z. B. in den Lößgebieten. Landwirtschaft war aber die Voraussetzung politisch komplexer, hierarchischer Gesellschaften, in den Wäldern und Wüsten lebten Horden, die allenfalls einen Häuptling hatten. Also wo die Umweltbedingungen besonders günstig sind, gibt es Landwirtschaft, gibt es komplexe, hierarchische Gesellschaften, sind die Voraussetzungen für strenge Götter gegeben. Aber gerade dort sollen doch die Götter mild oder nachlässig sein?

Aber halt, kontert man da: Gerade da, wo die Umweltbedingungen ungünstig sind, hält man Tiere, in Tundra und Taiga weiden riesige Herden halbzahmer Rentiere, in den Wüsten und Steppen hält man Rinder, Pferde, Kamele, und das ist ja doch eine Ursache für strenge Götter. Es scheint, wenn man nur Tiere hält, auf die komplexen, hierarchischen Gesellschaften gar nicht anzukommen. Da reicht die Hordenstruktur, um sich moralisch fordernde Götter auszudenken.

Das eine erklärt also unsere Hypothese, das Gegenteil aber auch. Das ist es, was besonders Popper als das Kennzeichen schlechter empirischer Wissenschaft herausgearbeitet hat: Wo sie auch hinblickt, sie findet immer nur Bestätigungen ihres Vorurteils. Sie kann keinen Test nennen, der es falsifizieren könnte.

 

Ein Nota bene muß ich noch nachschicken: Es geht hier nicht, an keiner Stelle, um das unter Scilogs-Lesern so beliebte Thema der biologischen Erblichkeit von Religiosität oder von religiösem Glauben. Behauptet wird in dem SZ-Artikel bzw. dem wissenschaftlichen Artikel ausschließlich, daß bestimmte Umweltbedingungen – Bedingungen der natürlichen Umwelt (harte Umwelt, Ressourcenmangel) oder der gesellschaftlichen Umwelt (komplexere, von der Notwendigkeit zur Kooperation geprägte Gesellschaften) – bestimmte Gedanken, nämlich über den Charakter der Götter, begünstigen oder hervorbringen, und diese Gedanken setzen sich dann, wenn sie vorteilhaft sind, auf rein kulturelle Weise in der Gesellschaft durch. Meine kritischen Fragen gehen nur in die Richtung, daß es doch recht zweifelhaft ist, ob das, was man für die empirischen Belege hält, auch die Vermutungen stützt, die es stützen soll.

 

[1] The ecology of religious beliefs, http://www.pnas.org/content/early/2014/11/05/1408701111

[2] http://www.sueddeutsche.de/wissen/religion-je-haerter-die-umwelt-umso-strenger-die-goetter-1.2213245

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

87 Kommentare

  1. @ Mona:
    Maria hat im katholischen Glauben eine Sonderstellung, die sie von den üblichen Heiligen völlig abhebt. Wenn ich schrieb, sie ist keine Heilige, dann meinte ich nicht damit, dass sie “unheilig” ist. Sie trägt eigene Titel, z.B. als “Gottesmutter”.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Mariologie

    Mona: “Das kann man meines Erachtens so pauschal nicht sagen, da es DIE Religion nicht gibt.”
    So pauschal habe ich es auch nicht gesagt. Ich denke auch an den Hinduismus oder den Buddhismus, die sowohl sehr philosophisch wie auch sehr handfest mit unzähligen Göttern aufgefasst werden konnte. Wo die Gesellschaft sozial nicht besonders differenziert ist, ist vermutlich auch die Religion nicht derartig differenziert. Natürlich sind das nur Hypothesen, ich kenne mich nicht gut genug aus.

    • @Paul Stefan:
      Sie schreiben: “Maria hat im katholischen Glauben eine Sonderstellung, die sie von den üblichen Heiligen völlig abhebt. Wenn ich schrieb, sie ist keine Heilige, dann meinte ich nicht damit, dass sie “unheilig” ist. Sie trägt eigene Titel, z.B. als “Gottesmutter”.”

      Das ist natürlich richtig, aber auch wenn sie eine hervorgehobene Stellung hat, so gilt sie doch auch als Heilige. Zu Maria wird zwar gebetet, aber sie wird nicht angebetet. Ich lebe in Bayern und kenne den Marienkult sehr gut. Zu Zeiten meiner Großmutter trauten sich fromme Frauen oft gar nicht Gott anzurufen, sondern setzten lieber auf die Fürbitte einer Frau, weil sie meinten, diese würde sich in Frauendingen besser auskennen. Diese Art von echter Volksfrömmigkeit gibt es heutzutage kaum mehr, auch wenn sich die Marienwahlfahrtsorte weiterhin äußerster Beliebtheit erfreuen.

      Zu Ihrem Satz: “Ich denke auch an den Hinduismus oder den Buddhismus, die sowohl sehr philosophisch wie auch sehr handfest mit unzähligen Göttern aufgefasst werden konnte.”

      Den Hinduismus gibt es mit und ohne Gott/Götter. Der Buddhismus kennt keinen Gott, auch wenn, wie weiter oben schon erwähnt, bestimmte Richtungen Bodhisattvas verehren. Nun ist es allerdings so, dass sich der Buddhismus friedlich verbreitete und wenn er auf Götter traf, so wurden diese geduldet. Bekanntestes Beispiel ist der tibetische Buddhismus mit dem Dalai Lama an der Spitze, wo zwar die alte Bönreligion z.T. verdrängt wurde, aber beide Religionen eine neue Variante des Buddhismus bildeten. Dieser Synkretismus ist ein weit verbreitetes Phänomen, das auch die Christen bei neu missionierten Völkern einsetzten, indem sie diesen erlaubten ihre heidnischen Kulte unter einem christlichen Label fortzuführen. Siehe dazu auch:
      http://www.anglistik.uni-muenchen.de/personen/wiss_ma/krischke/synkretismus.pdf

      • Das mit der Maria scheinen Sie falsch zu verstehen. Marias Status liegt über dem von Heiligen. Wir liegen mit unseren Meinungen doch gar nicht wirklich weit auseinander.
        Aus manchen Bodhisattvas wurden im Volksglauben Götter, z.B. Guanyin, die Göttin des Mitleids, die ursprünglich ein Mann war und dann zu einer Frau wurde.

        http://de.wikipedia.org/wiki/Guanyin

        Es gibt offenbar ein Bedürfnis nach einer Schutz und Hilfe gewährenden, mütterlichen Gottheit. Vielleicht sollen manche Gottheiten auch den Schutz und die Geborgenheit liefern, die man von den Eltern als Kind kannte.

        • @Paul Stefan:
          “Das mit der Maria scheinen Sie falsch zu verstehen. Marias Status liegt über dem von Heiligen. Wir liegen mit unseren Meinungen doch gar nicht wirklich weit auseinander.”

          Letzterem stimme ich zu! Ich glaube allerdings nicht, dass es in Bezug auf Maria etwas falsch zu verstehen gibt. Falls Marias Status über dem von Heiligen liegen würde, dann müsste sie ja eine Göttin sein. Das mag sich zwar im Volksglauben manchmal so darstellen, in der kath. Theologie gibt es jedoch nur einen Gott, auch wenn der sich als Heilige Dreifaltigkeit präsentiert, was oft für Verwirrung sorgt. 🙂

          • Maria wird im katholischen Glauben durch diverse Dogmen und Titel ausgezeichnet, die sonst keinem Heiligen zukommt Wenn ich micht nicht irre, gilt Maria in allen Konfessionen als Gottesmutter/Gottesgebärerin. Sie wurde ohne den Makel der Erbsünde empfangen, ist und blieb Jungfrau, wurde leiblich in den Himmel aufgenommen. Hinzu kommen zahlreiche weitere Titel.
            Sie ist theologisch keine Göttin oder Untergöttin, wenn man nach Parallelen in der antiken Welt sucht, dann entspricht das vielleicht in etwa einer Heroisierung.

          • @Paul Stefan

            Auch wenn Maria dogmatisch noch so sehr über alle anderen Geschöpfe (Engel, Heilige etc.) herausgehoben ist, so ist doch entscheidend, daß sie diese Herausgehobenheit in keiner Weise irgendwie “aus sich selbst” hat, sondern daß diese ihr verliehen wurde. Paradoxerweise ist auch ihre Eigenschaft als “Gottesgebärerin” ihr von Gott gegeben.

  2. @ Balanus:

    Ich würde gerne Ihre zahlreichen Kommentare wieder kommentieren, ich bin in fast allem anderer Meinung. Aber ich schaffe es, trotz meiner Dauer-Freizeit, zeitlich nicht, zumal ich jetzt wieder einen neuen Blogbeitrag geschrieben habe und da eine rege Diskussion loszugehen scheint.
    Nur eines noch:

    „Bei dieser Feststellung geht es um _politisch_ komplexe Gesellschaften, wobei sich die Komplexität aus der Anzahl der politischen Hierarchien ergibt (0 bis 4). Da gibt es, glaube ich, nicht allzu viel zu verschieben. “

    Wieso soll es da weniger zu verschieben geben? Es ist doch in sehr weiten Grenzen variabel, wie viele politische Hierarchiestufen ich annehme. Nehmen wir mein halb-fiktives Beispiel von der typischen altorientalischen Gesellschaft. Da habe ich von zwei Stufen geschrieben: dem herrschenden Volk in der Stadt und den unterworfenen Bauern. Aber das kann ich problemlos vervielfachen. Da gibt es den König (oft Gottkönig), vielleicht eine Art Adel, Beamte als Steuereintreiber, Krieger, die die Steuern dann praktisch eintreiben, die wiederum eine Hierarchie haben, und die Bauern haben eine Art eigener Hierarchie, verwalten sich selbst.

    Weit komplizierter wird es, wenn man nach den realen Machtverhältnissen fragt, also z. B. fragt, wer wirklich politisch oben steht. Stand der Kaiser ganz oben? Er mußte doch vor seinem Priester, gar vor dem Papst, knien. Und vor Fugger zitterten beide, Kaiser und Papst. Aber auch Fugger zitterte vor diesen, denn auf bestimmten Gebieten waren die die Mächtigeren und konnten ihm befehlen, konnten ihn auch vernichten. Und irgendwann zitterten alle drei vor dem kleinen Mönch Luther. Da gab es also offenbar noch eine weitere Hierarchie-Spitze neben denen, die auf Krieger (Kaiser), Priester/Medizinmänner (Papst) und Besitzende (Fugger) zurückzuführen sind. Und hinter jeder dieser Spitzen standen fast beliebig weiter zu untergliedernde Hierarchien.

    • Lieber Herr Trepl,

      ich hatte gehofft, dass Sie meine Entgegnungen einfach unkommentiert so stehen lassen, denn sonst hätte ich mir weitere Gegenreden wohl kaum verkneifen können.

      Aber da Sie die Sache mit der politischen Komplexität noch ansprechen, ein allerletztes:

      Der Bezug in unseren Kommentaren (von @Chrys und mir) waren die Daten aus dem Ethnographischen Atlas (unabhängig von der Studie). Dort erhielten Gesellschaften ohne jegliche politische Hierarchie den Komplexitäts-Wert Null (insgesamt waren es 245). Hierarchische Strukturen ohne juristische Relevanz, wie etwa innerhalb von Familien, zählten da vermutlich nicht. Darauf bezog sich meine Aussage, dass man bei dieser Variable nicht allzu viel „verschieben“ könne: entweder es gibt in einer Gesellschaft politisch definierte Hierarchie-Level, oder es gibt sie eben nicht, und in mindestens 245 Gesellschaften gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Daten gesammelt wurden, solche Hierarchien offenbar nicht.

      Ob diese politischen Gegebenheiten von irgendeiner Relevanz sind für die Etablierung einer bestimmten Religionen, weiß ich nicht, aber es fällt doch auf, ich sage es gern noch einmal, dass nur in 13 von 245 Gesellschaften mit null politischer Hierarchie monotheistische Gottesvorstellungen gefunden wurden.

      Wie auch immer, Sie haben es mit Ihrem Blogartikel geschafft, dass ich mich mit einer religionsökologischen Publikation (gewinnbringend) beschäftigt habe, die weder Sie noch die SZ-Wissenschaftsjournalisten (vermute ich jetzt mal) gelesen haben. Das ist doch schon was.

      Von daher, vielen Dank!

  3. @ Paul Stefan:

    Auch noch etwas zur Differenzierung und Präzisierung:

    Lange bevor die Heiligen (im Volksglauben) zu Untergöttern wurden, gab es im Christentum sozusagen richtige Untergötter, meist unter dem Namen Engel oder auch Teufel. Die dafür nötige Denkarbeit haben bereits späte heidnische Philosophen geleistet, die den sich unter den griechischen Gebildeten durchsetzenden Monotheismus (allerdings ohne persönlichen Gott, Gott war eher eine Art Prinzip) mit der herkömmlichen Vielgötter-Religion versöhnen wollten. Die vielen Götter wurden dann (soweit sie es nicht ohnehin schon waren) zu von dem obersten Gott erschaffenen Dämonen o. ä., die bestimmte Hilfsfunktionen hatten – wie die Engel halt auch.

    @ Mona:

    „Viele der Heiligen sind Märtyrer, die für Ihren Glauben gestorben sind.“

    Noch mehr Heilige dürften aber Politiker oder Ähnliches gewesen sein, die es in der römischen Kirche zu Macht und Einfluß gebracht haben.

    • @Ludwig Trepl:
      Die Heiligsprechung geschieht durch ein Verfahren, welches von der kath. Kirche durchgeführt wird und das u.U. auch mal mehrere hundert Jahre dauern kann. Das erste Wort hat zwar das Volk, aber das letzte Urteil spricht der Papst. Handelt sich bei der vorgeschlagen Person nicht um einen Märtyrer, also um eine Person, die für ihren Glauben gestorben ist, dann muss im Zusammenhang mit dem zukünftigen Seligen oder Heiligen ein Wunder geschehen sein. Darunter finden sich sicher auch (Schein-)Heilige, “die es in der römischen Kirche zu Macht und Einfluß gebracht haben”.
      http://www.heiligenlexikon.de/Alphabet/A.htm

  4. Heilige und Untergötter:

    Theologisch gesehen sind Heilige in der Tat keine Untergötter, funktional wurden sie es aber vor allem im Volksglauben, womit ich nicht nur den Glauben der Bauern meine. U.a. richtete sich ja die Reformation von Jan Hus und später von Luther sowie der Ikonoklasmus im Zuge dieser Reformationen gegen die Heiligenverehrung. Wenn man sich die lokalen oder regionalen Ausprägungen der katholischen Heiligenverehrung genauer anschaut, kann man kaum umhin, in ihnen einen Quasigötzendienst mit magischen Elementen zu sehen. Maria nimmt eine Sonderstellung ein (sie ist per definitionem keine Heilige), aber auch ihr gebührt keine Anbetung (als Fachausdruck), trotzdem betete man massenhaft zu ihr. Ob jedem Gläubigen diese feinen Unterschiede klar waren? Im 17. und 18. Jh. explodierte die Anzahl von wundertätigen Gnadenbilder. Wallfahrtskirche wurden mit Votivbildern für Errettung in Not vollgestopft.
    Aber wie gesagt, in der Theorie hat man “sauber” gearbeitet. Alle Wunder werden durch Gott bewirkt, nicht durch Maria oder die Heiligen. Diese legen als Advokate der Bittenden Fürbitte bei Gott ein.

    Man kann im Christentum durchaus eine soziale Differenzierung in der kulturellen Ausprägung sehen. Der hohe Klerus wachte über die “Reinheit” der Lehre und seine Machtinteressen. Der Adel versuchte die Quadratur des Kreises, um das Christentum mit seinem Ethos als Kriegerkaste in Übereinstimmung zu bringen. Dies führte zum selbstgestrickten Mythos des Beschützers von Witwen und Waisen, zum Mythos von König Artur und seiner Tafelrunde und die Ritterepik um den Heiligen Gral und zu den real existierenden Ritterorden. Die Bauern lebten ein ritualisiertes Christentum mit magischen Elementen, die auf ihre Sorgen abgestimmt waren, dass das Wetter mitspielt, Abwendung von Schadenszauber etc. Die Bürger (aber auch der Adel) mit ihren Krämerseelen entdeckten den Ablasshandel als praktikables Geschäft, der Hölle zu entgehen, sich eventuell einen Platz im Himmel zu sichern und mit der Stiftung von prächtigen Kirchen oder Ausstattungsstücken errang man ganz bescheiden auch ein höheres Prestige. noch im heutigen Italien halten sich manche Mafiosi für fromm, weil sie in die Kirche gehen und Pfarrer aus Angst oder Kollaboration nur über harmlose Sachen predigen.

    Grundsätzlich kann man wohl in vielen Kulturen nach einer gewissen Entwicklungszeit eine Religion in eine Volksreligion und eine Hochreligion unterteilen. Priester und Theologen hatten oft eine abstrakte, komplexe Religion mit mehr oder wenigen ethischen Vorstellungen. Die weniger gebildeten Schichten beteten dagegen oft ganz platt um Hilfe in Not, um das, was ihnen fehlte.

    Soweit ich weiß, war der Monotheismus von Echnaton sehr radikal und kein Henotheismus, jedenfalls wenn man Jan Assmann folgt:
    “Die Tempel wurden geschlossen, die Götterbilder zerstört, ihre Namen ausgehackt und ihre Kulte abgebrochen”
    Jan Assmann, Moses der Ägypter, S. 49. (6. Aufl. 2007). Ein brilliantes Buch, sehr empfehlenswert.
    Assmann nennt den Monotheismus von Echnaton eine Gegenreligion, die erste Religion, die eine vorangehende Religion negiert, die zwischen “wahr” und “unwahr” in der Religion unterscheidet und eine Übersetzbarkeit verhindert (z.B. Osiris zu Dionysos, Baal zu Zeus/Jupiter).

    • Danke für die Präzisierungen und Differenzierungen. Das, was Sie über Echnaton schreiben, war übrigens vor ein paar Tagen Thema eines – sagen wir mal vorsichtig, nicht so ganz gelungenen – Films im Fernsehen, ich glaube bei Arte.

    • @Paul Stefan:
      Einiges von dem was Sie schreiben kann ich nicht ganz nachvollziehen. So z.B. den Satz: “Maria nimmt eine Sonderstellung ein (sie ist per definitionem keine Heilige), aber auch ihr gebührt keine Anbetung (als Fachausdruck), trotzdem betete man massenhaft zu ihr.”

      War das ein Schreibfehler und Sie meinten eigentlich: “sie ist per definitionem eine Heilige”? Denn sie gilt bei Katholiken und in einigen anderen Religionen sehr wohl als Heilige, die verehrt werden darf. Maria wird sogar im Koran erwähnt. Siehe dazu auch:
      http://de.wikipedia.org/wiki/Marienverehrung

      Des Weiteren schreiben Sie: “Grundsätzlich kann man wohl in vielen Kulturen nach einer gewissen Entwicklungszeit eine Religion in eine Volksreligion und eine Hochreligion unterteilen. Priester und Theologen hatten oft eine abstrakte, komplexe Religion mit mehr oder wenigen ethischen Vorstellungen. Die weniger gebildeten Schichten beteten dagegen oft ganz platt um Hilfe in Not, um das, was ihnen fehlte.”

      Das kann man meines Erachtens so pauschal nicht sagen, da es DIE Religion nicht gibt. Viele Religionen haben sich aus dem Schamanismus heraus entwickelt und besitzen keinen komplexen Überbau. Diesen Glauben würden wir vermutlich sofort als Aberglauben abtun. Ihre Aussage könnte jedoch auf die sog. Buchreligionen zutreffen.

      Das Buch “Moses der Ägypter” kenne ich auch, trotzdem gibt es in Bezug auf Echnaton unterschiedliche Theorien. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass er eine Art Monotheismus in Ägypten einführen wollte. Dabei wird der Henotheismus häufig als der logische Zwischenschritt zwischen Polytheismus und Monotheismus angesehen. Da zunächst aus dem Pantheon eine Gottheit ausgewählt wird, zu der man eine besonders enge Beziehung hat, diese wird zudem als besonders mächtig betrachtet, bis schließlich den übrigen Göttern ihre Göttlichkeit abgesprochen wird.

  5. @ Paul Stefan

    »Wenn man frühere Religionen (frühere Ausprägungen der gleichen Religion) untersucht, müsste man ja Geschichte im umfassendsten Sinn als Einflussfaktor mit einbeziehen.«

    Nun ja, im Grunde wurden diese Einflussfaktoren schon berücksichtigt. Wie sonst ließe sich erklären, dass man zu dem, wie @Chrys meint (;-)), völlig unerwarteten und überraschenden Schluss gekommen ist, dass „a complex mixture of social, cultural, and environmental influences“ (Botero et al. 2014) den derzeit vorherrschenden Religionstyp in einer Gesellschaft bestimmt.

    • Stimmt, hatte ich vergessen.
      Diesem prägnantem analytischem Urteil ist nichts zuzufügen.
      Oder gab es da noch Details im Bericht? Man könnte ja noch weiter differenzieren, z.B. im zweiten Viertel des 16. Jhs. betrug der negative historische Einfluss auf die autochthone Religion in Mittelamerika überraschende 99 %.

  6. Balanus: “Der Ethnographische Atlas listet ja nur neuzeitliche Religionen auf, was die Sumerer, Wikinger oder alten Griechen dereinst geglaubt haben, ist für die vorliegende Studie irrelevant (was allerdings nicht unmittelbar einleuchtet, da es u. a. doch um den ökologischen Einfluss bei der Entstehung all dieser Gottesvorstellungen geht…).”

    Sie Haben Recht, es leuchtet nicht ein, nicht einmal mittelbar. Wenn man frühere Religionen (frühere Ausprägungen der gleichen Religion) untersucht, müsste man ja Geschichte im umfassendsten Sinn als Einflussfaktor mit einbeziehen.

    “Angenommen, man bäte Sie, aus all den unterschiedlichen Religionen und Gottesvorstellungen eine aussagekräftige binäre Variable zu zimmern, welches Merkmal würden Sie hierfür wählen?”

    Ich würde “mit Bart” und “ohne Bart” wählen. 🙂
    Dieses Unterfangen ist ein Paradebeispiel für absurden Reduktionismus.

  7. Wenn ich von “moralisierenden Gottheiten” lese, dann muss ich an Fußballtrainer denken. “Die Moral meiner Mannschaft war hervorragend”, weil eine Niederlage noch knapp abgewendet werden konnte!-)

  8. @Ludwig Trepl

    »Ach, wie herrlich schlicht doch diese Vorstellunge von Religion, Göttern und Moral sind!«

    @Chrys hat bereits ausgeführt, wo diese schlichten Vorstellungen herkommen (gemeint sind die in der Botero et al-Studie, meine schlichten Vorstellungen kommen woanders her).

    Die „moralisierende hohe Gottheit“ ist also eine Gottheit, die die Moralität der Menschen der jeweiligen Gesellschaft unterstützt, unabhängig davon, was im Einzelnen als moralisch angesehen wird.

    Ist der Gott Abrahams identisch mit dem heutigen Gottesbild des Judentums? Der Ethnographische Atlas listet ja nur neuzeitliche Religionen auf, was die Sumerer, Wikinger oder alten Griechen dereinst geglaubt haben, ist für die vorliegende Studie irrelevant (was allerdings nicht unmittelbar einleuchtet, da es u. a. doch um den ökologischen Einfluss bei der Entstehung all dieser Gottesvorstellungen geht…).

    »Und bevor man sich an empirische Untersuchungen macht, muß man erst einmal einen angemessen komplexen und präzisen Begriff des Gegenstands haben, den man untersucht.«

    Wer würde da widersprechen wollen. Angenommen, man bäte Sie, aus all den unterschiedlichen Religionen und Gottesvorstellungen eine aussagekräftige binäre Variable zu zimmern, welches Merkmal würden Sie hierfür wählen?

    Die moralisierende hohe Gottheit wurde in der Botero-Studie (2014) übrigens folgendermaßen definiert, in Anlehnung an den von @Chrys verlinkten Aufsatz von Roes und Raymond (2003):

    …belief in moralizing high gods—defined as supernatural beings believed to have created or govern all reality, intervene in human affairs, and enforce or support human morality…

    Da stand doch ganz eindeutig der Gott der Christen, Muslime und Juden Pate, oder nicht?

    Oder noch einmal gefragt: Welche heutigen Kulturen oder Gesellschaften haben solche Gottesvorstellungen, sind aber weder jüdischen, islamischen noch christlichen Glaubens?

    • Ludwig Trepl, @ Balanus: Religionsdefinition; Entstehungsort der Religionen.

      „Angenommen, man bäte Sie, aus all den unterschiedlichen Religionen und Gottesvorstellungen eine aussagekräftige binäre Variable zu zimmern, welches Merkmal würden Sie hierfür wählen?“

      Ich würde das Ansinnen zurückweisen, ähnlich wie Pul Stefan, und ebenso das, Religion von Nicht-Religion auf eine Weise zu unterscheiden erlauben soll, wie sie die Naturwissenschaftler gewöhnt sind. (Wir haben hier nämlich ein nämlich ein geisteswissenschaftliches Thema vor uns, und da pflegt man bei einer solchen Frage keine „Variable zu zimmern“, sondern mindestens ein ganzes Buch zu schreiben, und am Ende des Buches ist sie dann beantwortet oder auch nicht; das hat schon seine Gründe.) – Mir scheint es nämlich so zu sein, wie @Chrys neulich mal geschrieben hat: Was wir alles Religionen nennen, hat großenteils nicht mehr als Wittgenstein’sche Familienähnlichkeit. Da muß es keine gemeinsamen bzw. differenzierenden Merkmale geben, die alle Religion von Nicht-Religion zu unterscheiden erlauben.

      Wenn ich eine Definition versuchen sollte, dann wäre es eine, die auch normativen Charakter hat – gemeint in dem Sinne, wie das zu verstehen ist, was wir uns eventuell zu Eigen machen sollten (oder auch zurückweisen). Und da gibt es in der philosophischen Tradition (eine andere ist nicht zuständig) zwei prominente Angebote: das von Kant und das von Schleiermacher.

      Das von Kant („Religion ist, subjektiv betrachtet, die Erkenntnis all unserer Pflichten als göttliche Gebote“) ist unmittelbar auf Moral bezogen. Eine Religion, die das nicht ist und die nicht Gott/Götter kennt, der/die von uns etwas fordert/n verdiene diesen Namen nicht. (Das richtet sich natürlich gegen das praktizierte Christentum zu Kants Zeit, das in weiten Teilen ganz unmoralisch war in dem Sinne, daß es nicht Moral, sondern im Gegenteil eigennütziges Denken forderte und förderte – handeln wegen des zu erwartenden himmlischen Lohns bzw. der Strafe, Pflicht zu Ritualen ohne Bezug zu Moral.) In diesem Sinne enthalten die zahllosen mythologischen und halb-mythologischen Systeme des Denkens und Fühlens allenfalls ansatzweise Religion.

      Dagegen werden diese, so scheint es jedenfalls, von Schleiermachers berühmter Definition („Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“, es gibt noch etliche andere ähnliche Formulierungen bei ihm) umfaßt. Allerdings gehört der Glaube an Götter hier erklärtermaßen nicht zu den Bedingungen, um von Religion sprechen zu können. Die empiristischen „Religionsökologen“ nehmen hier eine unklare Position ein – ein Grund dafür, daß sie nur leeres Stroh produzieren.

      Nun vermute ich – Experte bin ich ja ganz und gar nicht, und das ist ein Fall für Experten –, daß diejenigen Götter, die in dem breiten Übergangsfeld zwischen mythologischer Welt (die nichts Überweltliches kennt, in der die Welt aber doch nicht einfach „weltlich“ ist, wie sie sich dem Wissenschaftler darstellt) und religiöser Welt entstanden sind und die mehr oder weniger halb über der Welt stehen (auf dem Olymp, in Walhalla), halb noch zur Natur gehören, größtenteils „moralisierende“ Götter sind. Das gilt jedenfalls für die wichtigsten Götter der Griechen und der Germanen, und es wird wohl auch für die wichtigsten altorientalischen und Hindu-Götter gelten. Diese Götter sagen nämlich „du sollst“, sie verlangen etwas von den Menschen, z. B. tapfer zu sein oder gütig oder gegen die Feinde gnadenlos oder auch einfach, den heiligen Hain nicht abzuholzen und am Freitag Fisch zu essen. Da verlangen verschiedene Götter oft noch Verschiedenes, man kann sich oft noch aussuchen, zur Gefolgschaft welchen Gottes man gehören möchte, aber sie verlangen etwas. Sie sind nicht mehr so etwas wie ein am Tun der Menschen ganz uninteressierter Waldgeist der mythologischen Welt. Deshalb dürfte es durchaus auch außerhalb der abrahamitischen Tradition moralisierende heutige Götter geben, auch wenn unsere „Religionsökologen“ nur diese Tradition im Auge haben.

      Im Übrigen: Warum liegt ihnen so viel daran, daß moralisierende Götter nur in dieser Tradition vorkommen? Ist da nicht doch irgendwie das alte antisemitische Klischee von der Wüstennomadenreligion – ich habe es oben kritisiert – wirksam? Immerhin hat es das geschafft, zu den nahezu unhinterfragten Glaubenssätzen der westlichen Kultur aufzusteigen. Aber wo ist denn das Judentum wirklich entstanden? Wo, zwischen Spanien und Indien, das Christentum? (Und hat ein typischer protestantischer Bewohner des bible belt wirklich in wesentlicher Hinsicht dieselbe Religion wie ein typischer protestantischer nicht-evangelikaler Europäer?) Und wo, zwischen Sahara und indonesischem Regenwald (in einem Klima, in dem, Ihrer mich doch sehr verwundernden Meinung nach, keine Hochkulturen entstanden sein sollen), ist der Islam entstanden? In welcher Natur also, in welcher Kultur? Keine Religion erlangte nämlich ihre Gestalt über Nacht, es waren immer Jahrhunderte währende Entstehungsprozesse, die sich nicht nur an einem Ort vollzogen. So gut wie keine Religion dürfte wirklich Eigengewächs sein, nur einem bestimmten Boden, einer bestimmten Kultur entwachsen, und die heutigen großen Religionen sowieso nicht. Sie sind alle so gut wie überall importiert, die Missionierung war keineswegs, wie Sie meinen, eine „Störung“, sondern der Normalfall. Aber der Import war nie einfach nur Import, sondern die Religionen wurden dabei verändert, und zwar oft erheblich. Welche Kultur, welche Natur also soll für ihre spezielle Gestalt ursächlich sein?

      • Ging es bei der Frage nach der Sonderstellung der jüdisch/christlich/islamischen Tradition nicht um die “moralizing _high_ gods? Also um Gottheiten, die sowohl ein Tun von den Menschen verlangen, wie auch als Urheber oder zumindest Regenten der Welt verstanden sind? Letzteres (Urheber/Regent sein) trifft doch z.B. von Zeus oder Wotan eigentlich nicht zu.

        • Ja, stimmt, das hatte ich übersehen. Es ging um das, was man gewöhnlich Monotheismus nennt. Warum man nicht bei diesem eingeführten Begriff bleibt, sondern sich “high gods” ausdenken muß, verstehe ich nicht. Der Monotheismus schließt die Existenz niederer Götter ja nicht aus, das tun nur manche Monotheismen, v.a. der Protestantismus, wohl auch der Islam. Der Katholizismus kennt, vor allem unter dem Namen der “Heiligen”, eine Unmenge von Untergöttern. Die Frage wäre, ob der Monotheismus nur einmal, in der abrahamitischen Tradition, entstanden ist. Nach dem, was ich meine gelesen zu haben, war das nicht so. Andere altorientalische Religionen (Persien?) tendierten auch in diese Richtung, und bei Griechen, als man schon zu philosophieren begann, war es ebenfalls so. Jedenfalls bemühten sich etliche Philosophen, all den Untergöttern des Volksglaubens auch ihre Berechtigung zuzusprechen. Kennt sich da einer genauer aus?

          • Heilige sind keine “Untergötter”. Als Heilige wurden im Neuen Testament (Kolosserbrief 1, 2) alle Mitglieder der christlichen Gemeinde bezeichnet. Später grenzte man den Begriff jedoch auf besonders tugendhafte und glaubensstarke Menschen ein. Viele der Heiligen sind Märtyrer, die für Ihren Glauben gestorben sind. Diese Heiligen werden jedoch nicht angebetet, wie Gott, sondern lediglich verehrt, bzw. als Mittler zwischen Gott und den Menschen angesehen. Die Heiligenverehrung ist jedoch keine katholische Besonderheit, es gibt sie auch im Frühjudentum (Märtyrer), im orthodoxen Christentum, im Islam (hier werden die leiblichen Nachkommen des Propheten Mohammed verehrt), im Hinduismus (Gurus) und im Mahayana Buddhismus (Bodhisattvas, darunter versteht man erleuchtete Menschen oder Lebewesen, die freiwillig auf der Erde bleiben, um auch anderen zu helfen Erleuchtung zu erlangen).

            Vorformen des Monotheismus finden sich bereits im alten Ägypten. Pharao Echnaton (ca. 1351–1334 v. Chr.) erhob Aton, die Sonne, zum alleinigen Gott. Da er jedoch die Existenz der traditionellen Gottheiten nicht bestritt und deren Kult nicht gänzlich verbieten ließ, bezeichnet man diese Frühformen als des Monotheismus als Henotheismus. Des Weiteren sei hier noch der Zoroastrismus bzw. Zarathustrismus zu erwähnen, der jedoch auch nicht ganz frei von “Untergöttern” ist: http://de.wikipedia.org/wiki/Zoroastrismus

      • @Ludwig Trepl — 14. Dezember 2014 14:39

        »Im Übrigen: Warum liegt ihnen so viel daran, daß moralisierende Götter nur in dieser [abrahamitischen] Tradition vorkommen? Ist da nicht doch irgendwie das alte antisemitische Klischee von der Wüstennomadenreligion – ich habe es oben kritisiert – wirksam?«

        Mir liegt da gar nichts daran, ich frage nur, weil ich keine anderen Gottesbilder hinreichend gut kenne (Mona hat eben hierzu einige Hinweise gegeben). Es wäre ja durchaus möglich, dass solche anderen „moralisierenden“ Götter von den Ethnographen erfasst wurden und in den Daten der Botero-Studie erscheinen, aber es ist halt recht mühsam, die rauszusuchen.

        In einem Fall habe ich mal nachgeschaut, welcher „moralisierende“ Gott untypischerweise in einer politisch völlig dezentralisierten Gesellschaften verehrt wird. Es war ein Völkchen irgendwo in Schwarzafrika, das den Islam praktiziert.

        »(Und hat ein typischer protestantischer Bewohner des bible belt wirklich in wesentlicher Hinsicht dieselbe Religion wie ein typischer protestantischer nicht-evangelikaler Europäer?)«

        Ich glaube, ein christlicher Theologe würde diese Frage bejahen. Es wird doch von allen Kanzeln verkündet, dass alle(theistische) Religionen an den einen wahren Gott glauben, auch wenn sie unterschiedliche Gottesdienste feiern oder regelmäßig eine Moschee statt eine Synagoge aufsuchen.

        »Keine Religion erlangte nämlich ihre Gestalt über Nacht, es waren immer Jahrhunderte währende Entstehungsprozesse, die sich nicht nur an einem Ort vollzogen. […] Welche Kultur, welche Natur also soll für ihre spezielle Gestalt ursächlich sein?«

        Wenn man nach der „speziellen Gestalt“ einer Religion fragt, wird es noch schwieriger, als es ohnehin schon ist. Das dürfte mit ein Grund gewesen sein, weshalb Botero et al. sich auf den Ethnographischen Atlas mit dessen vergleichsweise simplen Religionskategorien gestützt haben. Die Autoren der Studie würden sicherlich nicht bestreiten, dass sie mit ihrer Beschränkung auf nur zwei Religionskategorien nur ein ganz grobes Bild gezeichnet haben. Aber sie würden vielleicht argumentieren, dass nur so ein gewisses grundlegendes Muster erkennbar wird.

        Was die sehr langen Entstehungsprozesse der Religionen anbelangt, so passen diese doch eigentlich gut ins religionsökologische Bild. Denn natürlich waren lange Zeiträume nötig, damit eine Religion nach und nach ihre besondere Gestalt annehmen konnte, sozusagen als wechselseitiger Anpassungsprozess an die kulturellen Verhältnisse, die sich ihrerseits unter Einfluss der herrschenden Naturbedingungen herausgebildet haben. Und dass sich an verschiedenen Orten mit vergleichbaren ökologischen Bedingungen auch unterschiedliche Religionen herausbilden können, ist angesichts der Kompliziertheit der Materie und der langen Zeiträume eigentlich nur zu erwarten. Wir haben es ja nicht mit einem Naturgesetz zu tun, welches erzwingen würde, dass bestimmte natürliche und soziokulturelle Verhältnisse ganz bestimmte Glaubensvorstellungen zur Folge haben.


        Übrigens: Schleiermachers „berühmte Definition“ („Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“) gefällt mir. Denn „Sinn“ und „Geschmack“ sind „Dinge“, die man sich nicht einfach aneignen kann. Die Anlagen dazu werden einem in die Wiege gelegt.

  9. Die Verbreitung moralisierender Gottheiten /@Chrys

    »Die von Botero et al. verwendeten Daten erlauben demnach zwar den statistischen Befund, dass sich moralisierende Götter häufiger in komplexen Gesellschaften finden lassen, nicht aber, dass in komplexen Gesellschaften häufiger moralisierende Götter anzutreffen wären: «

    Ja, keine moralisierenden Götter fand man gleichermaßen in komplexen wie nicht-komplexen Gesellschaften. Und es gibt in diesem ethnographischen Datensatz rund doppelt so viele komplexe Gesellschaften ohne moralisierende Gottheiten wie solche mit. Offenbar tun sich moralisierende Gottheiten schwer damit, in hierarchiefreien Kulturen Fuß zu fassen.

    Man könnte sich nun fragen, wie es eigentlich um die Weiterverbreitung der moralisierenden Götter bestellt ist. Sind 124 von 583 untersuchten Gesellschaften nach schätzungsweise 3000 Jahren eher viel oder eher wenig?

    (Ich kann mir nicht helfen, wenn ich von „moralisierenden“ Göttern schreibe, kommen mir immer nur die drei abrahamitischen Gottheiten in den Sinn. Gibt es noch andere?)

    Interessant übrigens auch die gewählte Verteilung der Farben Blau und Rot auf diese beiden Religionstypen.

    • Ludwig Trepl, @ Balanus:

      „Ich kann mir nicht helfen, wenn ich von „moralisierenden“ Göttern schreibe, kommen mir immer nur die drei abrahamitischen Gottheiten in den Sinn. Gibt es noch andere?“

      Ach, wie herrlich schlicht doch diese Vorstellunge von Religion, Göttern und Moral sind! Da wundert man sich nicht über die Schlichtheit und Absurdität der Ergebnisse dieser Forschungen. @ Paul Stefan hat oben in einem Kommentar darauf aufmerksam gemacht: „Die Geschichte der Opferung Isaaks ist ein typisches Beispiel für einen strengen, aber nicht moralischen Gott.“ Das ist doch wohl eine „abrahamitische Gottheit“ gewesen. Und eine Moral andererseits verlangten die unzähligen Götter der Kriegerstämme bekanntlich auch, eine Kriegermoral eben. Man hat, wenn man Wikinger ist, tapfer auf dem Schlachtfeld zu sterben.

      Aber so einfach wie es nach dem Zitat von Paul Stefan erscheint, ist es auch wieder nicht. Er legt offenbar den Moralbegriff der Aufklärung zugrunde. Die Moral entstammt der Vernunft, ein Gott, der Vernunftwidriges verlangt wie der Gott Abrahams in dem Beispiel, ist kein moralischer, kein moralisierender Gott, sondern ein Willkürherrscher. Aber so muß man Moral nicht verstehen und so hat man den Begriff die meiste Zeit über nicht verstanden. Moralisch war es vielmehr, den Willen des Gottes zu tun, egal, worin der bestand und ob er irgendwie mit der Vernunft konvergiert. So gesehen ist der Gott, der die Opferung Isaaks verlangt, natürlich ein moralisierender Gott. (Interessant ist, daß zu Beginn der Neuen Zeit, im Nominalismus, der Gedanke wieder an die erste Stelle rückte: daß Gott von uns verlangen kann, was er will, egal ob unsere Vernunft einsehen kann.)

      Also: Es ist alles viel, viel komplizierter, als es sich ein naturwissenschaftlich geprägter Kopf – Sie oder diese „Religionsökologen“ – vorstellt. Und bevor man sich an empirische Untersuchungen macht, muß man erst einmal einen angemessen komplexen und präzisen Begriff des Gegenstands haben, den man untersucht. Sonst helfen noch so ausgefuchste statistische Methoden nichts. – Mir kommt es bei dem, was da durcheinandergeschmissen wird, vor, als würde jemand empirische Untersuchungen zum Magnetismus machen und dabei nicht unterscheiden zwischen dem Magnetismusbegriff der modernen Physik und dem Magnetismusbegriff heutiger Tischerücker und früherer Jahrmarktsjodler.

    • @Balanus, Ludwig Trepl

      Bei “moralizing gods” und “high gods” handelt es sich anscheinend um ethnographisches Fachvokabular.

      Als moralizing gods gelten dort solche Götter, die den Menschen sagen, was sie tun und lassen sollen. Und ein high god wird charakterisiert als “a spiritual being who is believed to have created all reality and/or to be its ultimate governor, even though his/her sole act was to create other spirits who, in turn, created or control the natural world.” Diese Weisheit habe ich soeben gefunden in:

      Roes, F. L., & Raymond, M. (2003). Belief in moralizing gods. Evolution and Human Behavior, 24(2), 126-135. [PDF]

      Was speziell Botero et al. betrifft, da scheint auch der bereits verlinkte Aaron Jonas Stutz die Auffassung zu vertreten,

      it is reasonable–in the absence of other clear evidence–to expect that virtually all recent cultural manifestations of “moralizing high gods” are part of Jewish, Christian, and Muslim traditions spread geographically through diasporas, proselytization, or forced conversion.

      Möglicherweise hat letztlich doch nur ein einziger “moralizing high god” zu den Befunden der Studie nennenswert beigetragen.

    • Ludwig Trepl, @Balanus: Es „gibt“ nicht komplexe und wenig komplexe Gesellschaften.

      „Offenbar tun sich moralisierende Gottheiten schwer damit, in hierarchiefreien Kulturen Fuß zu fassen.“

      Wie leicht man da über alles hinweghopst, was die Ethnologie an Erkenntnissen über solche Kulturen hat! Die Kulturen, die hier gemeint sind, sind Kulturen mit mythischem, nicht religiösem Weltbild. Ich weiß nicht, was man alles über die Bedingungen der Entstehung und Erhaltung mythologischer Kulturen weiß, aber man weiß schon einiges, vor allem, daß es eine völlig unzulässige Vereinfachung ist, hier auf den Unterschied hierarchiefrei/hierarchisch oder auch wenig komplex/komplex zu reduzieren.

      Woher ist man denn so sicher, daß die modernen Gesellschaften – sagen wir, von den ersten Stadtkulturen an – wirklich „komplexer“ sind als die sog. primitiven? Liest man Lévi-Strauss, hat man keineswegs diesen Eindruck. Wie komplex eine Gesellschaft erscheint, hängt vielmehr ganz von der Auswahl und Bewertung der Eigenschaften ab. Man stelle sich nur einmal die hochkomplexe Clanstruktur einer solchen „primitiven“ Kultur vor mit ihrer Vielzahl von überaus differenzierten Beziehungen der Menschengruppen zueinander, zu irgendwelchen Tierarten und sonstigen Wesenheiten. Dagegen eine frühe Stadtkultur: In der Stadt ein seßhaft gewordenes brutales Barbarenvolk, das im Grunde nichts viel mehr kann als dreinschlagen und das vom Tribut einer unterworfenen, dumpf vor sich hinvegetierenden Bauerbevölkerung lebt. Über allem ein Gott – nur einer. Klar, das kann man auch anders sehen, aber dieses Sehen beruht auf einer Entscheidung, so und nicht anders zu sehen.

      • @Ludwig Trepl — 13. Dezember 2014 11:00

        »Woher ist man denn so sicher, daß die modernen Gesellschaften – sagen wir, von den ersten Stadtkulturen an – wirklich „komplexer“ sind als die sog. primitiven? «

        Wie oben(?) bereits kurz angesprochen: Statt bloß „komplex“ hätten @Chrys und ich richtiger „politisch komplex“ schreiben müssen. Denn es geht im Ethnographischen Atlas dabei um die Anzahl der Hierarchiestufen in einer Gesellschaft (von null bis über vier, wenn ich das jetzt richtig im Gedächtnis habe). Egal, wie kompliziert/komplex die Sozialstrukturen auch sein mögen, ohne eine Hierarchie, die im weitesten Sinne als politisch bezeichnet werden kann, erhält die Variable „Politische Komplexität“ den Wert Null. So zumindest reime ich mir das zusammen, ich bin ja nicht vom Fach.

  10. Darwins (präreligiöser) Hund /@Chrys

    »Stimmt es denn tatsächlich, dass Darwin seinem Hund beim Anbellen eines Sonnenschirms religiöse Anwandlungen unterstellt hat?«

    Zur Abwechslung mal auf Deutsch, hier der betreffende Abschnitt aus „Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl.“:

    Die Neigung bei Wilden, sich einzubilden, dass natürliche Dinge und Kräfte durch geistige oder lebende Wesen belebt sind, wird vielleicht durch eine kleine Thatsache, welche ich früher einmal beobachtet habe, erläutert. Mein Hund, ein völlig erwachsenes und sehr aufmerksames Thier, lag an einem heissen und stillen Tage auf dem Rasen; aber nicht weit von ihm bewegte ein kleiner Luftzug gelegentlich einen offenen Sonnenschirm, welchen der Hund völlig unbeachtet gelassen haben würde, wenn irgend Jemand dabei gestanden hätte. So aber knurrte und bellte der Hund wüthend jedesmal, wenn sich der Sonnenschirm leicht bewegte. Ich meine, er muss in einer schnellen und unbewussten Weise bei sich überlegt haben, dass Bewegung ohne irgendwelche offenbare Ursache die Gegenwart irgend einer fremdartigen lebendigen Kraft andeutete; und kein Fremder hatte ein Recht, sich auf seinem Territorium zu befinden.

    http://darwin-online.org.uk/content/frameset?itemID=F1065.1&viewtype=text&pageseq=1

    Man sieht, das Verhalten des Hundes hat Ähnlichkeit mit der „Neigung bei Wilden“, wobei es Darwin hier um den Vergleich der Geisteskräfte der Menschen (wozu nun mal auch der Gottesglaube und die Religionen zählen) mit denen der Tiere geht.

    Aber „religiös“ ist der Hund in Darwins Augen höchstwahrscheinlich nicht (ob man ihn wegen seiner Reaktion auf die Bewegungen des Sonnenschirms als „präreligiös“ bezeichnen kann, wie das auf NdG nahegelegt wird, wäre die Frage. Im Grunde sind ja alle vormenschlichen kognitiven Fähigkeiten irgendwie “präreligiös”):

    So lange aber die obengenannten Fähigkeiten der Einbildung, Neugierde, des Verstandes u. s. w. nicht ziemlich gut in dem Geiste des Menschen entwickelt waren, werden ihn seine Träume nicht zu dem Glauben an Geister veranlasst haben, ebensowenig wie einen Hund.

    In diesem Kapitel finden wir auch den Vorläufer der bei Evolutionisten so beliebten Religionsdefinition:

    Verstehen wir indessen unter dem Ausdruck „Religion” den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte [im Gegensatz zu einem Glauben an einen „Schöpfer und Regierer des Weltalls“], so stellt sich der Fall völlig verschieden; denn dieser Glaube scheint bei den weniger civilisirten Rassen fast allgemein zu sein.

    Da hat Darwin wohl recht gesehen.

    Der Glaube an „unsichtbare oder geistige Kräfte“ ist nach Darwin also wesentlich fundamentaler als der Gottesglaube, er leitet sich unmittelbar ab aus biologisch bedingten Wahrnehmungsprozessen. Wenn man dieses biologische Fundament der Religionen beiseitelässt (was in den meisten Fällen sinnvoll sein dürfte), dann reduziert man gewissermaßen die Religionen auf das Kulturelle. So zumindest müssten das die Propagandisten der Evolution der Religion konsequenterweise sehen.

    Zu bedenken ist aber auch, dass, wie @Paul Stefan völlig zu Recht (sinngemäß) bemerkte, die Kultur Teil der Natur des Menschen ist (wie kommt es nur, dass ausgerechnet die allertrivialsten Zusammenhänge immer wieder ignoriert werden?).

    • Dieselben Beobachtungen hat der Entwicklungspsychologe Jean Piaget bei kleinen Kindern gemacht. Er nannte es “magisches Denken”. Es liegt auf der Hand, dass die Menschen schon immer nach Erklärungen gesucht haben für die Phänomene der Natur. Dabei wurde eben die Phantasie bemüht, bzw. die Phänomene wurde so gedeutet, dass die Erklärungen glaubhaft erschienen. Seltsam ist nur, dass die modernen Menschen des aufgeklärten und wissenschaftlichen Zeitalters sich noch immer nicht von solchen Märchen und Legenden lösen können. Ältere Leute tun sich schwer damit, sich eingestehen zu müssen, dass sie lebenslang belogen worden sind, oder dass sie allzu leichtgläubig waren. Dieses Phänomen zeigt sich manchmal bei betrogenen Menschen, wenn sie sogar noch den Betrüger verteidigen, um sich die eigene Dummheit oder Leichtsinnigkeit nicht eingestehen zu müssen.

      • Seltsam ist nur, dass die modernen Menschen des aufgeklärten und wissenschaftlichen Zeitalters sich noch immer nicht von solchen Märchen und Legenden lösen können.

        Also ich zähle ich mich nicht zu diesen Menschen, Sie sicherlich auch nicht, sonst schrieben Sie nicht von “Märchen” und “Legenden” sondern etwa von “bereichernden Phantasien” und “inspirierenden Mythologien” oder von anderen positiv konnotierten Begriffen, mit welchen die glatte Lüge “die bunten Eier hat der Osterhase gebracht” legitimiert werden soll.

        Seltsam finde ich Ihre Beobachtung aber nicht, leben wir doch in einer von Toleranz gegenüber dem Falschen geprägten Kultur. Man kann sich doch nicht erstaunt über die Prävalenz des Falschen in den Köpfen geben, wenn aller Orten seine Apologeten in Amt und Würde stehen [1][2][3].

        Dieses Phänomen zeigt sich manchmal bei betrogenen Menschen, wenn sie sogar noch den Betrüger verteidigen, um sich die eigene Dummheit oder Leichtsinnigkeit nicht eingestehen zu müssen.

        Sie beschreiben eine Teilklasse von Menschen, die ich nicht um mich haben möchte, die aber doch im selben Soziotop leben wie ich. Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei Politikern, die solche Menschen hofieren, um Heuchler oder um kluge Herrschaften handelt, habe ich mir noch kein abschließendes Urteil gebildet.

        [1] http://de.wikipedia.org/wiki/Konfessionsschule#Bekenntnisschulen_in_.C3.B6ffentlicher_Tr.C3.A4gerschaft
        [2] http://www.spiegel.de/unispiegel/wunderbar/uni-viadrina-komplementaermedizin-droht-das-aus-a-839999.html
        [3] http://blog.psiram.com/2014/11/phantastische-neutrino-beleuchtung-beim-bundespresseball/

        • @ Ano Nym

          Oh Gott, welch ein Niveau! Da wundert man sich nicht mehr über diesen zunächst doch irritierenden soziologischen Befund: Das Christentum ist bei uns so gut wie ausschließlich eine Sache des Bildungsbürgertums, während der Atheismus – zusammen mit der „Esoterik“ – zur Religion der sog. bildungsfernen Schichten geworden ist.

          Da kommt der kleine Anonymus dahinter, daß es Drachen und Rumpelwichte und Berggeister in Wirklichkeit gar nicht gibt, verkündet mit stolzgeschwellter Brust und zugleich voller Empörung über den Betrug seine Erkenntnis – und versteht nicht, wieso das seinen großen Bruder völlig kalt läßt, der vielmehr weiterhin begeistert Geschichten über Drachen und Rumpelwichte und Berggeister liest.

    • @Balanus
      Vielen Dank für die Verweise zu Darwin und seinem Hund.

      »Verstehen wir indessen unter dem Ausdruck „Religion” den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte […], so …«

      Ich stelle fest, das ist ein Konditionalsatz, also “Wenn wir unter dem Ausdruck „Religion” den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte verstehen, dann

      Damit wäre keineswegs gesagt, dass Darwin den Ausdruck „Religion” so verstanden hat oder so verstanden wissen wollte. Kann doch sein, dass dieses Verständnis von Religion eher von der naturalistischen Seite vertreten wurde und Darwin dies hier aufgegriffen hat, oder sehe ich das falsch?

      • Darwin hatte zunächst Theologie studiert. Man kann also ein gewisses Religionsverständnis bei ihm voraussetzen. Allerdings muss man bedenken, dass Menschen ihre Ansichten im Verlauf des Lebens verändern können. Es ist deshalb ziemlich unsinnig, zu sagen “Einstein war gläubig” oder dergleichen. Darwin hat sich mehr und mehr vom christlichen Glauben abgewendet zu einem pantheistischen oder deistischen Glauben, wie viele andere Naturwissenschaftler. Außerdem darf man den Begriff “Gott” nicht automatisch mit dem christlichen oder abrahamitischen Gott identifizieren. Götter werden oftmals exportiert oder importiert wie Waren, bei Völkerwanderungen, Eroberungen, nach Kriegen oder Neuentdeckungen von Ländereien. Da Götter keine nachweisbare objektive Existenz haben, sind sie jeder menschlichen Willkür oder intellektuellen Vergewaltigung ausgesetzt, zu sehen in den Tagesnachrichten.

    • Darwins Religionsverständnis /@Chrys

      »Kann doch sein, dass dieses Verständnis von Religion eher von der naturalistischen Seite vertreten wurde und Darwin dies hier aufgegriffen hat, oder sehe ich das falsch?«

      Weiß ich auch nicht, ich bin ja nicht der hiesige Darwin-als-Theologe-Experte. Wenn es dieses naturalistische Religionsverständnis bereits vor Darwins „Descent of Man“ gab, dann hat er es wohl aufgegriffen, um seine Vorstellungen von der natürlichen Entstehung religiöser Vorstellungen bei hinreichend komplexen Lebewesen erklären zu können.

      Religionen mit höchst komplizierten Gottesbildern hat Darwin vermutlich als kulturelle Produkte gesehen, aber eben letztlich hervorgegangen aus den primitiven „Neigungen der Wilden“.

      @Anton Reutlinger verweist wie ich finde zu Recht auf die Beobachtungen der Entwicklungspsychologen. Man muss sich ja immer vor Augen halten, dass auch die allerkompliziertesten Gottes- oder Religionsvorstellungen eines Menschen am Ende eines langen individuellen Entwicklungsgangs stehen, welcher trivialerweise mit dem Einzellstadium begonnen hat. Diese Individualentwicklung ist zwar keine Rekapitulation der Phylogenese (bei rein geistigen Dingen ist die Evolution ohnehin außen vor), aber dennoch scheint es da gewisse Entwicklungsstadien zu geben, die an vor- und frühmenschliche Zustände erinnern.

    • @Anton Reutlinger
      Zum Wandel seiner subjektiven religiösen Überzeugungen hat sich Darwin in seiner Autobiographie ziemlich klar geäussert, und Mrs. Darwin war offensichtlich “not amused”, dass er die christliche Lehre dort als “a damnable doctrine” bezeichnet hat.

      Meine Fragen zielen indessen darauf ab, ob Darwin eine Begriffsbestimmung von Religion als “Glauben an übermpirische Akteure” propagiert hat, wie es nicht zuletzt “der hiesige Darwin-als-Theologe-Experte” im Nachbarblog unentwegt verkündet.

      Ich wage die Vermutung, dass die besagte Definition zuerst von E. B. Taylor ins Spiel gebracht worden war, und womöglich hat Darwin an der von @Balanus zitierten Textstelle implizit darauf Bezug genommen.

    • @Balanus
      Nach einiger Recherche im Web scheint mir in einschlägigen Fachkreisen sogar ausgesprochen unstrittig zu sein, dass die schlichte Formel von Religion als “Glauben an überempirische Agenten” von E. B. Tylor stammt. Darwin selbst hat anscheinend keine Begriffsbestimmung vorgeschlagen, doch war sein Verständnis von Religion womöglich schon eher dem von Émile Durkheim vergleichbar (siehe e.g. Jeppe Jensen, What is Religion? Routledge, 2014).

      An Durkheims Sicht orientiert ist im übrigen auch Robert N. Bellah, der sich zudem an Clifford Geertz anlehnt, etwa in winem Aufsatz “Religious evolution” von 1964. Im Preface zu seinem Buch von 2011 (Religion in Human Evolution) schreibt Bellah:

      It is interesting to note what Geertz left out. There is no mention of “belief in supernatural beings” or “belief in gods (God),” which many current definitions take for granted as essential. It is not that Geertz or I think such beliefs are absent in religion, though in some cases they may be, just that they are not the defining aspect.

      Wenn man nun eine solche, weniger tumbe Auffassung von Religion zugrundelegt, wie wären dann die von Botero et al. (2014) präsentierten Thesen zu bewerten?

    • @Chrys

      »Darwin selbst hat anscheinend keine Begriffsbestimmung vorgeschlagen,… «

      Also, ich kann mir helfen, ich lese die betreffende Passage in Darwins „Abstammung des Menschen“ so, dass Darwin diese einfache Religionsdefinition von Mr. E. B. Tylor (der ausdrücklich erwähnt wird) übernommen oder einfach nur verwendet hat, um den Ursprung oder die Anfänge der „Religion(en)“ nachzeichnen zu können. Das schließt ja nicht aus, dass seine allgemeine, alles umfassende Religionsdefinition eine andere war.

      »Wenn man nun eine solche [Bellah’s], weniger tumbe Auffassung von Religion zugrundelegt, wie wären dann die von Botero et al. (2014) präsentierten Thesen zu bewerten?«

      Welche Thesen jetzt, die im Fazit des Abstracts formuliert wurden? Die wurde doch bereits unter „banale Trivialität“ abgelegt, wenn ich nicht irre. Was wir im Grunde schon immer wussten, haben wir jetzt anhand gewisser Daten statistisch gezeigt bekommen (so etwas ist ja nicht gerade untypisch für Studien aus dem Bereich der Psychologie).

    • @Balanus

      »Was wir im Grunde schon immer wussten, haben wir jetzt anhand gewisser Daten statistisch gezeigt bekommen (so etwas ist ja nicht gerade untypisch für Studien aus dem Bereich der Psychologie).«

      Ja, im Grunde haben wir wohl schon immer gewusst, dass man es in der Religionsökologie mit dem Bohren hauchdünner statistischer Brettchen vom Postdoc Fellow zum Assistant Professor of Biology schaffen kann, was im Fall von Carlos Botero jetzt hieb- und stichfest nachgewiesen wäre.

      • Ey, zufällig drauf gestoßen, oder das Ergebnis gründlicher Recherche?

        Ich wusste bis vor kurzem nicht mal, dass es so etwas wie Religionsökologie überhaupt gibt. Dank Ludwig Trepl hat sich das geändert. Und mittlerweile habe ich sogar schon eine religionsökologische Studie gelesen …:-)

    • @Balanus
      Wie ich es lese, stellt Darwin in dem Abschnitt “Gottesglaube, Religion” zwei verschiedene Auffassungen einander gegenüber, nämlich Religion als “der veredelnde Glaube an die Existenz eines allmächtigen Gottes” einerseits und “den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte” andererseits. Während ersterer nicht als “dem Menschen von seinem Ursprunge an eigen” ersichtlich ist, scheint letzterer “bei den weniger civilisirten Rassen fast allgemein zu sein.

      Was ich nicht sehe ist, dass Darwin eine dieser Positionen als die seine herausstellt, und sofern denn sein Religionsverständnis tatsächlich als ähnlich dem von Durkheim anzusehen wäre, kann er eigentlich auch keiner davon vorbehaltlos zugestimmt haben.

      Was ich auch nicht sehe ist, dass er explizit versucht hätte, eine Art erklärender Evolutionslinie von Prä-Religion zu Religion zu ziehen. Von Prä-Religion zu reden bringt da meines Erachtens auch keinen Gewinn an Einsicht. Im allgemeinen ist es eine ungerechtfertigte Erwartung, das Entstehen neuer Qualität im Zuge eines kontinuierlichen Prozesses mit unseren sprachlichen Mitteln nachvollziehen zu wollen. Wenn Du nur drei Sandkörner hast, dann sagst Du doch auch nicht, “Schau, da ist ein Prä-Sandhaufen.” Da sind nur Sandhaufen und Nicht-Sandhaufen, und wenn im Verlaufe einer sukzessiven Hinzufügung von Sandkörnern zu einem ein Nicht-Sandhaufen spontan ein Sandhaufen erscheint, dann ist das nur eine sich im Auge (und in der Sprache) des Betrachters manifestierende Katastrophe.

      N.B. Botero betreffend, wenn man nach dem Titel der Studie googelt, findet man rasch eine entsprechende Mitteilung der NCSU. Irgendwie musste Marlene Weiss ja angefüttert werden, um darüber in der SZ zu berichten.

      • @Chrys

        »Wie ich es lese,… «

        Ich sehe da (in Deinen ersten beiden Absätzen) keinen gravierenden Unterschied zu meiner Lesart. Oder übersehe ich da etwas?

        »Was ich auch nicht sehe ist, dass er explizit versucht hätte, eine Art erklärender Evolutionslinie von Prä-Religion zu Religion zu ziehen.«

        Darwin hatte ja auch nichts in der Hand, um „explizit“ eine Evolutionslinie nachzeichnen zu können. Deshalb verweist er bei seinen „Spekulationen“ auf Befunde von Anthropologen und Ethnologen und steuert, zur Veranschaulichung, auch eigene Beobachtungen an seinem Hund bei. Damals war man, soweit ich weiß, noch allgemein der Überzeugung, die „Naturvölker“ seien auf einem einfachen kulturellen Entwicklungsstadium stehen geblieben.

        Die Rede von einer Prä-Religion kenne ich nur vom NdG-Blog (soweit ich mich erinnern kann, vielleicht habe ich da auch etwas verdrängt). Aber ich stehe diesem Begriff wohl weniger ablehnend gegenüber als Du.

        Rückblickend könnten wir nämlich schon sagen, dass es anfangs nur drei Sandkörner gab, dass mit diesen drei Körnern die Entstehung des Sandhaufens begonnen hat. Ohne diese drei Sandkörner hätten wir es heute zwangsläufig mit einem anderen Sandhaufen zu tun.

        Dessen ungeachtet ist der Sandhaufen selbstverständlich eine vom Betrachter geschaffene Kategorie, die nach unten keine feste Grenze kennt.

        Und was heißt: »…Entstehen neuer Qualität im Zuge eines kontinuierlichen Prozesses…«?

        Liegt diese „neue Qualität“ denn nicht auch alleine im Auge des Betrachters?

        • @Balanus
          Das war von mir auch nicht als Gegenrede beabsichtigt, sondern eher ein Ersuchen um Bestätigung dafür, dass mir da nichts entgangen ist.

          »Liegt diese „neue Qualität“ denn nicht auch alleine im Auge des Betrachters?«

          Ja, absolut. In unserer Wahrnehmung kann spontan etwas “umkippen”, sogar wo sich am Wahrgenommenen gar nichts ändert. Das kennt man ja von optischen Illusionen. An drei Wassermolekülen lassen sich nicht die phänomenologischen Eigenschaften von Wasser feststellen, doch wenn nur genügend davon vorhanden sind, um einen Tropfen oder einen Ozean zu konstituieren, dann erscheint uns die Sache auch qualitativ ganz anders. Manche vermuten dahinter schliesslich eine Art Mysterium und versuchen das Rätsel der Emergenz zu lösen.

          • @Chrys

            »…nicht als Gegenrede beabsichtigt…«

            Ach so, wie schön (und ungewohnt… :-))

  11. “Beliefs in moralizing high gods are indeed especially rare among highly decentralized, egalitarian foragers and small-scale farming societies.”

    Das würde mich nicht überraschen. Fragen der “Moral”, also des richtigen oder guten Verhaltens in einer Gesellschaft oder Gruppe, werden in weniger komplexen Gesellschaften durch die Gruppe, einen Familienrat, Dorfrat, Ältestenrat oder einen “Weisen” gelöst, viele “moralische” Fragen stellen sich wegen starker sozialer Normen und Kontrolle in der Gruppe gar nicht, z.B. Steuerhinterziehung.

    In komplexen Gesellschaften fehlt diese direkte Kontrolle durch das soziale Umfeld oft oder ist schwächer ausgeprägt. Man muss sie durch abstraktere Gesetze und Verhaltensnormen ersetzen, die auch eine Garantie brauchen, z.B. durch den Souverän, der Gesetze durchsetzt und/oder auch durch einen strafenden Gott. Ein weiterer Schritt wäre die Internalisierung von Moral im Individuum, wie es sich im Protestantismus seit ca. dem 18. Jh. entwickelt hat, und wie es von Kant philosophisch formuliert wurde.

  12. @Ludwig Trepl
    Ich danke Ihnen für die Kommentare, und habe auch noch Einiges dazu zu sagen, was ich aber erst am Wochenende schaffen werde: bis dahin denke ich noch ein wenig nach.

  13. Nachtrag zur obigen Diskussion um „Offenbarung“ (@Alisier):

    Hussein Hamdan zitiert eben in seinem Blog bei Chronologs (https://scilogs.spektrum.de/der-islam/die-pflicht-zum-nachdenken/) den Propheten Mohammed:

    „Eine Stunde Nachdenken ist besser als der Gottesdienst eines Jahres.“

    Das, scheint mir, kann man eine Offenbarung nennen. Warum? Es ist dem Propheten „von oben herab“ „eingefallen“. In dem vorherrschenden Denkmilieu seiner Zeit und Gesellschaft – das ist natürlich sehr spekulativ – hätte er nicht „aus eigener Kraft“, d. h. wesentlich auch: Schritt für Schritt, diesen Gedanken ableiten können. Es waren spätere Generationen von Gelehrten, die dann aus dem, was Mohammed über die Notwendigkeit des Gottesdienstes dachte und der Pflicht zum eigenen Nachdenken eine einheitliche Lehre machten und daraus eine Meinung des Propheten konstruierten (die Hussein Hamdan in seinem Beitrag wiederzugeben versucht). Bei diesem selbst – etwas anderes schiene mir unplausibel – stand diese plötzliche neue Einsicht ganz unvermittelt neben anderem, dem er die Wahrheit keineswegs absprechen konnte, etwa der Pflicht zum Gottesdienst, stand im Widerspruch dazu, war aber nicht zu leugnen, war evident. Eben deshalb, weil es eine unableitbare Einsicht war, war sie „Offenbarung“.

    Mit der Lehre Jesu verhält es sich ganz genauso. Jesus und Mohammed waren keine Philosophen, die ihr Leben damit zugebracht hätten, solche Widersprüche auszuräumen. Sie waren Lehrer und sie waren Handelnde, sie sagten und taten, was ihnen als Wahrheit und Konsequenz der Wahrheit erschien, auch wenn es da in den Ohren der späteren Schriftgelehrten an etlichen Stellen knirschte.

  14. Religionsökologie /@Ludwig Trepl

    Zu den Klima- und Ressourcen-Variablen:

    Dann verstehe ich Sie wohl dahingehend richtig, dass diese Variablen als solche für die Verbreitung bestimmter Glaubensauffassungen völlig irrelevant sind, auch wenn sie die realen Verhältnisse relativ gut widerspiegeln (Ausnahme Gefäßpflanzen). Wenn man mittels dieses methodischen Ansatzes statt Religionen etwa tierliches (Brut-)Verhalten untersucht, dann ist dagegen nichts Grundsätzliches einzuwenden.

    Nun hat sich aber laut dieser Studie gezeigt, dass nach entsprechender Kategorisierung der Religionen ein gewisser statistischer Zusammenhang zwischen Klima/Ressourcen und Religionstyp besteht. Das nährt verständlicherweise den Verdacht, dass nicht allein Kultur und Zufall darüber entscheiden, wo auf der Welt welche Art Glauben bevorzugt wird.

    Das ist—nach meinem Verständnis—die Kernaussage der Studie von Botero et al. (2014). Und eben nicht: „Je härter die Umwelt, umso strenger die Götter“ (SZ).

    Oder genauer, die Aussage ist, dass eine komplexe Mischung aus sozialen, kulturellen und ökologischen Faktoren den vorherrschenden Glaubenstypus beeinflussen.

    Ob das nun jeder Trottel sich aus den Fingern hätte saugen können, wie @Chrys oben spottet, bezweifle ich. Ich Trottel hatte zum Beispiel keine Ahnung davon, dass es so etwas wie eine Religionsökologie überhaupt gibt. Und die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung glaubt ohnehin nicht, dass ihr Glaube an einen moralisierenden Gott überhaupt etwas mit den Natur- oder Kulturverhältnissen zu tun haben könnte. Und wenn in diesen Kreisen das natürliche Evolutionsgeschehen akzeptiert wird, dann ist es eben eine Evolution hin zur Erkenntnis Gottes. Das ist, finde, der Hintergrund, vor dem man solche Studien sehen muss. Und nicht der aufgeklärte Mitteleuropäer, der mit Blick auf die Religionen von den sozialen, kulturellen und ökologischen Einflüssen schon seit über 200 Jahren weiß.

    Noch eine kurze Anmerkung zu folgendem:

    »Die Gebiete mit der höchsten Diversität (Amazonas-Regenwald) enthalten fast keine Ressourcen für diejenige Art der Landnutzung, die die meisten Kulturen von Menschen anwenden und anwandten. Beispiel: Im Regenwald können nur sehr wenige Menschen leben. Aber: bei Anwendung geeigneter Techniken, die aber kaum einer realen historischen Kultur zur Verfügung standen (z. B. Permakultur), könnten diese Gebiete doch erheblich mehr Menschen ernähren.«

    Aber der Punkt ist doch, so scheint mir, dass es den Regenwald noch immer (in Teilen) gibt, dass dort eben von selbst keine sogenannten Hochkulturen mit ihren „moralisierenden“ Göttern entstanden sind. Vermutlich unter anderem deshalb, weil der Wald die dort lebenden Menschen hinreichend ernähren konnte. In der Logik der neuen Religionsökologen ist der Regenwald eine angenehme, reichhaltige Region, wo es leicht ist, zu überleben, während ich z. B. eher das Gefühl hätte, dort echt harten Umweltbedingungen ausgesetzt zu sein.

    • Ludwig Trepl, @ Balanus: Die Variablen der Ökologen sind nur eine (unbewußte) Auswahl aus einer Vielzahl möglicher ökologischer Variablen.

      „Dann verstehe ich Sie wohl dahingehend richtig, dass diese Variablen als solche für die Verbreitung bestimmter Glaubensauffassungen völlig irrelevant sind, auch wenn sie die realen Verhältnisse relativ gut widerspiegeln (Ausnahme Gefäßpflanzen).“

      Das liegt – ein alter Hut unter Ökologen – zum beträchtlichen Teil daran, daß diejenigen Variablen, die man gewöhnlich unter „Klima“ und „Boden“ auswählt und zusammenfaßt, von vornherein aus unzähligen Faktoren mit dem Blick des Vegetationskundlers ausgewählt wurden. Für bestimmte Tierarten wären eventuell ganz andere Faktoren wesentlich, für bestimmte Praktiken der menschlichen Gesellschaft sowieso. Deshalb stimmt auch das nicht:

      „Wenn man mittels dieses methodischen Ansatzes statt Religionen etwa tierliches (Brut-)Verhalten untersucht, dann ist dagegen nichts Grundsätzliches einzuwenden.“

      Die Faktoren, die für das Brutverhalten der Tiere wichtig sind, sind nur zum kleinen Teil die, die für das Wachstum von Pflanzen wichtig sind. Nur zufällig bzw. in Extremfällen sieht es so aus, als ob das nicht so wäre: Wo keinerlei Niederschläge fallen, können weder Pflanzen wachsen noch Tiere brüten.

      Dennoch gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Pflanzen/Tieren und der Kultur der Menschen. Menschen leben auch (na ja: ob nur auch oder überwiegend, wäre keine gute Frage) in einer symbolischen Welt, Tiere und Pflanzen nicht. (Auch wenn sie Zeichen kennen, so kennen sie doch keine Symbole; es mag bei einer winzigen Zahl sehr hoch entwickelter Tiere Ansätze von Ausnahmen geben.) Ein physischer Faktor, der für Fragen der Religion oder der Mythologie Bedeutung bekommen soll, muß sozusagen erst transformiert werden in einen zur Symbolwelt gehörigen. Aus einer gefährlichen Gegend muß z. B. eine werden, auf der ein Fluch liegt – und vieles mehr. Daß die Gegend gefährlich ist (in irgendeinem ökologischen Sinn) , macht sie noch lange nicht zu einem in bestimmter Richtung wirkenden Faktor für die Kultur oder die Denkweisen in dieser Kultur. Je nach dem, was (unter anderem) die schon vorhandene Denkweise fordert, kann diese Gefahr zu einer ängstlichen, einer heroischen, einer fatalistischen (…) Denkweise, z. B. in religiöser Gestalt, und entsprechenden kulturellen Institutionen führen.

    • Ludwig Trepl, @Balanus: Zeigt die Statistik überhaupt etwas?

      „Nun hat sich aber laut dieser Studie gezeigt, dass nach entsprechender Kategorisierung der Religionen ein gewisser statistischer Zusammenhang zwischen Klima/Ressourcen und Religionstyp besteht. Das nährt verständlicherweise den Verdacht, dass nicht allein Kultur und Zufall darüber entscheiden, wo auf der Welt welche Art Glauben bevorzugt wird.“

      Bei mir nährt es diesen Verdacht nicht. Den statistischen Zusammenhang kann ich nach Belieben verändern. Wie viele Religionstypen gibt es in Europa? Von Randgebieten abgesehen: zwei, das Christentum und das Judentum. Europa ist damit ein Fall und geht als einer in die Statistik ein – so wie Asien? So wie Neufundland? Ich kann aber ohne weiteres aus dem einen Typ „Christentum“ in Europa zehn oder 50 grundverschiedene machen. Ich kann zudem die zehn alle gleich gewichten, ich kann aber auch den Katholizismus 10 mal so hoch gewichten wie den Methodismus, weil er 10 mal so viele Anhänger hat, und aus dem gleichen Grund 1000 mal so hoch wie die Religion der Mennoniten. Oder das Christentum -zig mal so hoch gewichten wie das Judentum, weil es weit mehr Menschen umfaßt. Ich kann aber ebenso Gründe finden, die es geboten erscheinen lassen, die Judentum genauso zu gewichten wie das Christentum. Und ebenso kann ich es mit den „Religionen“ im Amazonasregenwald machen.

      Die Feststellung „es gibt in diesem ethnographischen Datensatz rund doppelt so viele komplexe Gesellschaften ohne moralisierende Gottheiten wie solche mit“ berücksichtigt diesen elementaren Sachverhalt wissenschaftlicher Methodologie nicht. – Man könnte auch, da kann man sicher sein, mit gewissen und durchaus auch plausiblen Verschiebungen in der Definition von Komplexität das Verhältnis ohne weiteres umdrehen.

      • @Ludwig Trepl

        »Den statistischen Zusammenhang [zwischen Klima/Ressourcen und Religionstyp] kann ich nach Belieben verändern.«

        Das ist sicher richtig, indem man die Variablen für Religion und Klima/Ressourcen anders definiert, erhält man andere statistische Zusammenhänge oder eben auch keine. Aber das tut nichts zur Sache.

        Es ist doch das grundsätzliche Problem aller statistischen Zusammenhänge, dass sie nicht notwendigerweise auf einen (sogenannten) Kausalzusammenhang verweisen. Soll heißen: dass andere Variablen andere Zusammenhänge nahelegen, oder eben gar keine, besagt eigentlich überhaupt nichts.

        Es kann hier nur darum gehen, ob sich sachlogisch begründen lässt, dass die eingesetzten Variablen mit der Entstehung und Persistenz von Religionen überhaupt etwas zu tun haben können.

        »Wie viele Religionstypen gibt es in Europa?«

        Gemäß dem Ethnographischen Atlas nur eine (oder es blieb am Ende des Auswahlverfahrens nur die eine übrig).

        »Die Feststellung „es gibt in diesem ethnographischen Datensatz rund doppelt so viele komplexe Gesellschaften ohne moralisierende Gottheiten wie solche mit“ berücksichtigt diesen elementaren Sachverhalt wissenschaftlicher Methodologie nicht. – Man könnte auch, da kann man sicher sein, mit gewissen und durchaus auch plausiblen Verschiebungen in der Definition von Komplexität das Verhältnis ohne weiteres umdrehen. «

        Bei dieser Feststellung geht es um _politisch_ komplexe Gesellschaften, wobei sich die Komplexität aus der Anzahl der politischen Hierarchien ergibt (0 bis 4). Da gibt es, glaube ich, nicht allzu viel zu verschieben. Welche gesellschaftlichen Parameter könnten denn sonst noch in einer engen Beziehung zu den jeweiligen Ausprägungen religiöser Vorstellungen stehen?

  15. @Paul Stefan

    »Für die Naturwissenschaften ist die Reduktion von Komplexität eine grundlegende und fruchtbare Methode, aber nicht für die Geisteswisssenschaften, da gibt es Grenzen für die Methode.«

    Ich halte ein gewisses Maß an Reduktion für jede empirische Forschung für notwendig, egal, ob es um kulturelle oder natürliche Phänomene geht, und zwar aus rein praktischen Gründen.

    Es kann dabei eigentlich nur darum gehen, ob die Reduktion der wissenschaftlichen Fragestellung gerecht wird. Um beim Thema zu bleiben: Macht es z. B. Sinn, die vielen verschiedenen Religionen so zu kategorisieren, wie es im vorliegenden Fall gemacht wurde? Oder: Ergeben die verwendeten Daten ein realistisches Bild der regional vorherrschenden Umweltbedingungen?

    Man kann natürlich auch den gesamten religionsökologischen Ansatz in Frage stellen. Man könnte der Meinung sein, Religionen seien rein kulturelle Produkte, ohne jeglichen Bezug zu irgendwelchen ökologischen Verhältnissen. Aber dann würde man vielleicht das komplexe Phänomen Religion auf das Kulturelle reduzieren.

    So oder so, Reduktion, so scheint’s, ist auf jeden Fall immer mit dabei. Anders geht es gar nicht.

    • @Balanus
      Wenn im Wortlaut Deiner Anmerkung überall “Reduktion” durch “Abstraktion” ersetzt würde, dann käme es schon ganz gut hin. Bliebe nur noch:

      »Aber dann würde man vielleicht das komplexe Phänomen Religion auf das Kulturelle reduzieren.«

      Da ist nichts zu reduzieren. Religion ist wissenschaftl. eben gar nicht intuitiv als ein Phänomen gegeben. Einem Soziobiologen zeigt sich dabei nur (wie u.a. dem Religionspsychologen Bernhard Grom) “eine Vielfalt von Einstellungen, Erlebnis- und Verhaltensweisen,” doch die Entscheidung darüber, welche davon Religion konstituieren, kann er mit den Mitteln seiner Wissenschaft nicht treffen. Von Religion zu reden bedeutet immer auch, sich auf das eigene Vorverständnis von Religion zu beziehen; ein Konzept von Religion existiert nicht unabhängig vom kulturellen Kontext.

    • Reduktion vs. Abstraktion /@Chrys

      Ich hätte jetzt gedacht, (fast) jede Reduktion sei (im gewissen Sinne) auch eine Abstraktion, und umgekehrt.

      Eine Reduktion findet meiner Auffassung nach in jedem Moment der Wahrnehmung statt. Die unendliche Fülle an Information aus der Umwelt wird auf das für uns Wesentliche (und erträgliche Maß) reduziert.

      »Einem Soziobiologen zeigt sich dabei nur (wie u.a. dem Religionspsychologen Bernhard Grom) “eine Vielfalt von Einstellungen, Erlebnis- und Verhaltensweisen,” doch die Entscheidung darüber, welche davon Religion konstituieren, kann er mit den Mitteln seiner Wissenschaft nicht treffen. Von Religion zu reden bedeutet immer auch, sich auf das eigene Vorverständnis von Religion zu beziehen;…«

      Nun, bestimmte „Einstellungen, Erlebnis- und Verhaltensweisen“ können als religiös motiviert gedeutet werden, sofern man, klar, ein „Vorverständnis“ davon hat, was „Religion“ oder „religiös“ bedeuten soll. Dieses „Vorverständnis“ ist aber nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde aufgrund empirischer Beobachtungen (in bestimmten Kulturkreisen) entwickelt.

      In der Regel bezieht sich „Verhalten“ auf die Umwelt, sei sie nun kultureller oder natürlicher Art. Wenn nun ein bestimmtes Verhalten regelmäßig im Zusammenhang mit der Praktizierung einer bestimmten Religion auftritt (wenn ein Verhalten als Praktizieren einer Religion gedeutet werden kann), dann kann man fragen, ob bei der geschichtlichen Herausbildung dieses Verhaltens außer den kulturellen auch noch ökologische Bedingung eine Rolle gespielt haben könnten.

      Wenn das Ökologische aber von vorneherein als Erklärungsmöglichkeit ausgeklammert wird, dann hat man, meine ich, religionsbedingte Verhaltensweisen auf das Kulturelle reduziert.

      Zu Botero et al. (2014): Man könnte der Meinung sein, der gefundene statistische Zusammenhang zwischen Religionstyp und ökologischem Umfeld sei vergleichbar mit dem zwischen Geburtenraten und Storchenpopulationen. Wie siehst Du das?

      Ich tendiere dazu, zu meinen, dass der Zusammenhang ein mittelbarer ist, will sagen, das Ökologische beeinflusst die Kultur (ohne Religion), und von den Erfordernissen der jeweiligen Kultur hängt dann ab, welches Gottesbild förderlich ist und demzufolge von der geistigen Elite propagiert wird (dieser „natürliche“ Entwicklungsgang kann durch Missionierungen und dergleichen gestört werden).

      • Ludwig Trepl, @Balanus: die „Erfordernisse der Kultur“.

        „Ich tendiere dazu, zu meinen, dass der Zusammenhang ein mittelbarer ist, will sagen, das Ökologische beeinflusst die Kultur (ohne Religion), und von den Erfordernissen der jeweiligen Kultur hängt dann ab, welches Gottesbild förderlich ist und demzufolge von der geistigen Elite propagiert wird (dieser „natürliche“ Entwicklungsgang kann durch Missionierungen und dergleichen gestört werden).“

        Sie machen es sich wirklich einfach. Da stecken dicke Fragen drin.

        Erstens. Das Ökologische kann nicht direkt die Kultur beeinflussen, so wie der Popper’sche Faustschlag auf den Tisch nicht eine Diskussion beenden kann – nur das physische Ereignis, das wir leider auch „Diskussion“ nennen. So reden wir ja auch: Die Diskussion kann als Phänomen beendet sein, weil sie wegen irgendeines äußeren Ereignisses abbricht, aber wir sagen dennoch: die Diskussion ist noch nicht beendet, wenn sie nicht entschieden wurde aufgrund von dem System „Diskussion“ eigenen Kriterien. Entscheiden und so als Diskussion beenden kann die Diskussion nur etwas, was auf gleicher Ebene liegt wie das, woraus eine Diskussion besteht: Argumente. (Ich bin in der Klinik und habe den Lugmann nicht zur Hand, da stehen die sicher auch Sie überzeugenden Zitate drin über die Beeinflußbarkeit verschiedener Systeme durcheinander.)

        Zweitens. Die „geistige Elite“ bemüht sich um der Kultur Förderliches, meinen Sie. Das ist eine seltsame Vorstellung. Die „geistige Elite“ bemüht sich darum, eine Ideologie zu festigen, die der herrschenden Klasse dient, das weiß man seit langem. Ob das, was der herrschenden Klasse dient, „der Kultur“ förderlich ist, ist eine Frage, die wohl kaum zu entscheiden ist, ohne eigene politische Interessen und Vorlieben geltend zu machen. – Dann gibt es aber oft auch eine Art Gegen-Elite, die für Veränderungen oder eine Revolution kämpfenden „Intellektuellen“. Bemühen sich die nun um das „der Kultur“ Förderliche oder doch eher nur um das bestimmten Klassen Förderliche? Ging es den bürgerlichen Aufklärern um die Menschheit oder wenigstens die Nation (wie sei sagten) oder nicht doch eher um die Interessen einer bestimmten sozialen Klasse (der Besitzbürger)?

        Daß es überhaupt sinnvoll ist, von etwas Förderlichem für „die Kultur“ oder „die Gesellschaft“ zu sprechen (das ist wieder etwas anderes als die Frage, was die Elite fördert), ist seit langem von zahlreichen Theoretikern (gegen holistische Soziologen) bezweifelt worden, und zwar mit überzeugenden Argumenten.

        Und dann unser Beispiel Religion: Das Christentum, die größte und bei weitem erfolgreichste Religion der Welt, hat sich über die ersten Jahrhunderte nicht vermittelt durch eine „geistige Elite“ in der (griechisch-römischen) Kultur ausgebreitet, sondern im wesentlichen in unteren, unterdrückten Klassen gegen die „geistige Elite“ der Gesellschaft; diejenigen, die die neue Religion propagierten, waren das genaue Gegenteil einer geistigen Elite, waren von der geistigen Elite (zu recht) von oben herab angesehene beschränkte Köpfe. Und propagierten die wenigstens, was für ihr Klientel förderlich war? Wäre, soweit das Christentum Sklavenreligion war (was nur teilweise stimmt), die Weltanschauung des Spartakus nicht vielleicht förderlicher gewesen?

        Fragen über Fragen. Man könnte noch viele anfügen. Man muß sie stellen und beantworten, bevor man halbwegs sinnvoll empirische, statistisch untermauerte Untersuchungen über den Einfluß irgendwelcher Faktoren auf Religionen anstellt, seien es nun ökologische oder sozio-kulturelle. Die Untersuchungen sind sonst einfach für die Katz.

        • @Ludwig Trepl

          Es folgen einige abschließende Antworten zu Ihren an mich adressierten Kommentaren (jeweils dort).

          Hier also zum Punkt der Beeinflußbarkeit verschiedener Systeme durch einander:

          Das eine System sei die natürliche Umwelt, das andere die menschliche Gesellschaft. Wenn ich nun sage, dass das „Ökologische“ die „Kultur“ beeinflusst, dann ist damit gemeint, dass der Mensch sich den Bedingungen der natürlichen Umwelt anpasst, sich darauf einstellt. Im Dschungel werden andere Geschichten erzählt als in der Tundra. Umgekehrt kann der Mensch beispielsweise aus einem Urwald einen Kulturwald machen.

          »Die „geistige Elite“ bemüht sich um der Kultur Förderliches, meinen Sie. Das ist eine seltsame Vorstellung …«

          Diese meine Meinung bezieht sich auf die verbreitete Vorstellung, dass Religionen den Zusammenhalt einer Gemeinschaft festigen (können). Mit „Kultur“ meine ich alles vom Menschen Geschaffene. Dass die Dinge aus dem Ruder laufen können, dass die sogenannten geistigen Eliten auch eine Gesellschaft ruinieren können, ändert nichts am grundsätzlichen Prinzip. Und dann darf man auch nicht vergessen, dass es hier um vormoderne, ja archaische Zeiten geht, um jene Zeiten, in denen die diversen Formen der Religionen nach und nach entstanden sind.

          Wenn man die Idee ablehnt, dass Religionen in der Regel eine gruppenstabilisierende Funktion haben, und dass dies deren Entstehung miterklärt, dann sollte man andere Erklärungsmöglichkeiten parat haben. Wie ließe sich die Entstehung der Religionen und deren ubiquitäre Verbreitung denn sonst noch erklären?

          Christentum und Islam sind lediglich relativ neuzeitliche Ableger des alten Judentums. Wenn es also um die Frage der Entstehung dieser Religionen geht, müssen wir zeitlich viel weiter zurück als zu den jeweiligen Gründerzeiten dieser Religionen. Kein Wunder, dass die Antworten vor allem aus Spekulationen bestehen.

    • @Balanus / Ökologie und moralisierende Götter

      »Ich tendiere dazu, zu meinen, dass der Zusammenhang ein mittelbarer ist, will sagen, das Ökologische beeinflusst die Kultur …«

      Das halte ich im Ansatz für eine ganz gute Idee. Anders gewendet, Botero et al. (2014) werden plausiblerweise keinen ökologischen Faktor benennen können, der die Glaubensform sozialer Gemeinschaften determinieren könnte und zugleich stochastisch unabhängig wäre von jeglichen sozio-kulturellen Faktoren, die darüber hinaus noch zu beachten wären.

      Die Umwelt setzt naturgemäss immer Randbedingungen für das, was Menschen so veranstalten, das ist ziemlich trivial. Und das gehäufte Auftreten antiker Hochkulturen im “Fruchtbaren Halbmond” ist gewiss nicht unabhängig zu sehen von den seinerzeit dort bestehenden ökologischen Gegebenheiten. Trotzdem wäre es ein Fehlschluss, die Öko-Faktoren als nachweisliche “Ursache” für deren Entstehung kennzeichnen zu wollen. Komplexe Vorgänge zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie sich nicht generell in schlichte Zusammenhänge von klar benennbaren “Ursachen” und ihnen zugeordneten “Wirkungen” zerlegen lassen, die menschliche Neigung zu linear-kausalen Denkschemata ist hier i.a. dem Verständnis oft hinderlich. Was wiederum nicht ausschliesst, dass es in speziellen Fällen doch angebracht sein kann, populär von Ursachen und Wirkungen zu reden, wie e.g. bei CO2-Emissionen als Verursachung globaler Erwärmung.

      Doch zurück zu Botero et al., behauptet wurde da u.a. (in der SZ-Formulierung von Marlene Weiß): “Auch politisch komplexe, hierarchische Gesellschaften […] scheinen eine streng moralische Religion zu bevorzugen.

      Den entsprechenden Teil der Studie hat inzwischen jemand genauer unter die Lupe genommen [The Environmental Forms of Religious Life]. Die von Botero et al. verwendeten Daten erlauben demnach zwar den statistischen Befund, dass sich moralisierende Götter häufiger in komplexen Gesellschaften finden lassen, nicht aber, dass in komplexen Gesellschaften häufiger moralisierende Götter anzutreffen wären:

      The association between political decentralization and non-moralizing deities is hardly random. (For the stats geeks, the results of a Fisher’s exact test yield a two-tailed probability of 2.1 x 10^-17–or pretty much zero–that the cell counts are actually due to random sampling.)

      Beliefs in moralizing high gods are indeed especially rare among highly decentralized, egalitarian foragers and small-scale farming societies.

      Yet, the converse is not at all true. Beliefs in moralizing high gods are not especially common among more hierarchically centralized societies.

      Also selbst wenn man die Vorgehensweise von Botero et al. einmal akzeptiert, lassen sich die statistischen Befunde nicht so geradlinig deuten, wie es beispielsweise die SZ-Formulierung der geneigten Leserschaft nahelegt.

    • @Balanus / Reduktion
      Sofern Reduktion die Vernachlässigung aller hinsichtlich einer gewählten Fragestellung für unwesentlich gehaltenen Details eines Phänomens im Rahmen einer abstrakten Modellierung meint, trifft diese Bezeichnung für meinen Geschmack nicht unbedingt den Kern der Angelegenheit. Indem die Kuh als eine Kugel angenommen wird, nähert man grob die Gestalt der Kuh durch eine Kugel, was für manche Belange ja hinreichen mag, und ein solcher Vorgang ist dann eher konstruierend als reduzierend — mir liegt allerdings nicht daran, das als ein off-topic Nebenthema hier weiter zu kultivieren.

      “Religion auf Kulturelles reduzieren,” da liegt die Sache schon anders, denn das Wort Religion und seine Bedeutung stammen auf jedem Fall aus einem kulturellen Kontext. Man müsste sich erst darauf einigen, diese Bedeutung darüber hinaus zu erweitern, um hier überhaupt etwas “reduzieren” zu können. Stimmt es denn tatsächlich, dass Darwin seinem Hund beim Anbellen eines Sonnenschirms religiöse Anwandlungen unterstellt hat? Eine vermenschlichende Projektion kultureller Motive auf arglose Tiere erscheint mir aus streng wissenschaftl. Sicht doch recht unzulässig.

      • “Stimmt es denn tatsächlich, dass Darwin seinem Hund beim Anbellen eines Sonnenschirms religiöse Anwandlungen unterstellt hat?”
        Das ist lustig. Vielleicht wollte er auch nur ganz subtil den Religiösen eins auswischen, die ihn und seine Theorie “anbellten”.

  16. Nachtrag “Feindesliebe”:

    In der wikipedia findet sich folgendes:

    “Besonders Vertreter der jüngeren Stoa erörterten und verlangten ein der Feindesliebe nahekommendes Verhalten. Seneca riet in De beneficiis (~ 60-65): „Wenn du die Götter nachahmst…, dann gib auch den Undankbaren Gutes; denn die Sonne geht auch über die Verbrecher auf und den Piraten stehen die Meere offen.“ Der Grund dafür war sein Glaube an eine gesetzmäßige Vorsehung in der Natur, dem das Ideal eines leidenschaftslosen Verhaltens entsprechen sollte.”
    http://de.wikipedia.org/wiki/Feindesliebe#Altertum_und_Antike

    Das ist nicht dasselbe, wie “Liebe Deine Feinde.”

  17. Ich stimme Ihnen im Wesentlichen zu, Herr Trepl.

    Bei der “Feindesliebe” bin ich skeptisch, dass es etwas ähnliches in der griechischen oder stoischen Philosophie gegeben hat. Seneca lebte schon nach Christus, er könnte, falls es solch eine Aussage von ihm gibt, aus christlichen, eventuell mündlichen Quellen aufgeschnappt haben.

    Balanus: “Andererseits, wenn man’s nüchtern betrachtet, dann findet in einer Dorfgemeinschaft schon so etwas wie eine gemeinsame Brutpflege statt.”

    Korrekt, aber trivial und unterkomplex. Man sollte immer Bedenken, dass die Kultur die Natur des Menschen ist, es gibt keine Menschen im Naturzustand, es gibt keine Menschen ohne Kultur, alle Menschen werden in kulturell geprägte Gemeinschaften sozialisiert. Ich räume ein, dass ich manche menschliche Kulturen auch lieber als Unkulturen oder Barbarei bezeichnen möchte, aber das ist eine andere Frage.

    Ansonsten endet das in Kaspar Hauser-Existenzen.
    Für die Naturwissenschaften ist die Reduktion von Komplexität eine grundlegende und fruchtbare Methode, aber nicht für die Geisteswisssenschaften, da gibt es Grenzen für die Methode.

  18. Herr Trepl schreibt:

    »Nein, wogegen ich etwas habe, ist die groteske Unterkomplexität derartiger Studien.«

    Es gibt sicher einiges oder vieles zu kritisieren an solcherart Studien, auch aus Sicht eines Fachfremden. Aber im Falle der hier zitierten Studie kann ich den Vorwurf der „Unterkomplexität“ nur in Teilen nachvollziehen.

    Die Materie, um die es hier geht (Entstehung der Religionen), ist von Natur aus hoch komplex. Da nimmt es nicht wunder, dass praktisch jede diesbezügliche Studie unterkomplex erscheint oder es auch faktisch ist. Sofern nur aus methodischen Gründen komplexe Fragestellungen auf einfache reduziert werden, mag das in Ordnung gehen. Aber wenn sich die Vereinfachung nicht aufs Methodische beschränkt, sondern auch bestimmte Grundannahmen betroffen sind, also das theoretische Grundgerüst („Wer glaubt, kooperiert“, heißt es z. B. im SZ-Artikel), dann kann die ganze Arbeit leicht in ein schiefes Licht geraten.

    Davon abgesehen finde ich aber, dass, wenn man den Ansatz, dass ökologische Bedingungen die soziale Struktur der Gesellschaften und diese wiederum die Art der praktizierten Religionen beeinflussen können, grundsätzlich akzeptiert (und ich wüsste auch nicht, was dagegen spräche), dann sollte man m. E. erst mal schauen, was in einer religionsökologischen Studie überhaupt gemacht wurde, bevor man sie zerreißt. Der Bericht in der SZ jedenfalls geht ziemlich an dem vorbei, was Botero et al. (2014) tatsächlich unternommen haben, um die rezente globale Verteilung der beiden Religionstypen (moralisierende Gottheit/keine (moralisierende) Gottheit) zu ermitteln.

    Wenn die SZ bzw. Marlene Weiß schreibt, „Die Wissenschaftler haben 583 Gesellschaften weltweit untersucht“, dann könnte man leicht meinen, die Forscher hätten sich eingehend mit diesen Gesellschaften beschäftigt. In Wahrheit aber wurden lediglich bestimmte vorhandene Daten eines Ethnographischen Atlasses einer raffinierten Statistik unterzogen, um diverse Zusammenhänge und Korrelationen festzustellen.

    Die Studie untersucht also eben gerade nicht, welche ökologischen Bedingungen herrschten, als bestimmte Religionen oder Gottesbilder entstanden. Sie sagt nur etwas aus über die derzeitige globale Verbreitung von Religionen, wenn man sie diesen zwei unterschiedlichen Typen zuordnet. Alles Übrige sind spekulative Schlussfolgerungen, und nur diese wurden offenbar von der Wissenschafts-Journalistin Marlene Weiß aufgegriffen.

    Die Einleitung der Publikation beginnt übrigens mit der Feststellung, dass ökologische Unsicherheit schon seit langem mit der Entstehung von Kooperation und Konflikt in Tiergesellschaften in Verbindung gebracht wird. Zum Beispiel würden Klimaschwankungen die Häufigkeit und Verbreitung des kooperativen Brütens bei Vögeln vorhersagen, und ökologische Unsicherheit sei mit dem Gruppenleben bei Säugern assoziiert.

    Selbst wenn das alles stimmt, so scheint mir der Bezug dieser tierlichen Verhältnisse zur heutigen (!) weltweiten Verteilung der beiden Religionstypen doch ganz schön weit hergeholt. Andererseits, wenn man’s nüchtern betrachtet, dann findet in einer Dorfgemeinschaft schon so etwas wie eine gemeinsame Brutpflege statt.

    • @ Bal :

      Aber im Falle der hier zitierten Studie kann ich den Vorwurf der „Unterkomplexität“ nur in Teilen nachvollziehen.

      Vgl. :

      Je härter die Umwelt, umso strenger die Götter. (Artikeltext, zur gemeinten Arbeit, zusammenfassend seitens des “Süddeutschen Beobachters”)

      Alles, was derart zusammenfasst, muss ‘unterkomplex’ sein und bleiben, insofern kann hier nur eine geisteswissenschaftliche Arbeit bestimmter Güteklasse und Intention begutachtet werden.

      Herr Ludwig Trepl kann mit derartiger Arbeit nicht warm werden, als Biologe.

      Insofern kann es nur um Einordung gehen, die philsophisch-politscher Art ist und es kann insofern nur verglichen werden mit dem, was Herr Trepl diesbezüglich selbst -gelegentlich philosophisch werdend- verlautbarte.

      Hier würde der Schreiber dieser Zeilen dann dem möglicherweise geäußerten Verdacht folgen wollen, dass “Bull” vorliegt, würde aber nicht die Idee als solche gänzlich verwerfen wollen, nämlich derart vorzugehen.

      MFG
      Dr. W

    • Ludwig Trepl, @ Balanus
      „… dann sollte man m. E. erst mal schauen, was in einer religionsökologischen Studie überhaupt gemacht wurde, bevor man sie zerreißt.“

      Nein, da spiele ich nicht mit. Es gibt Krankheiten, die diagnostiziert der Arzt hinreichend sicher an einem einzigen Symptom, und er würde einen auslachen, wenn man verlangt, da erst eingehende Untersuchungen anzustellen. So eine Krankheit liegt hier vor.

      • @Ludwig Trepl

        Um im Bild zu bleiben: Der Arzt hat diesen einen Patienten überhaupt nicht gesehen, sondern verlässt sich auf laienhafte Schilderungen.

        Wenn ich von vorneherein eine naturalistische Ausrichtung der Religions- und Sozialwissenschaft als irregeleitet (krank) betrachte, dann besteht womöglich die Gefahr, dass ich bei einer näheren Untersuchungen der einzelnen Arbeit nur das finden werde, was meine Vorannahmen bestätigt.

        Nur wenn man sich allgemein über ein bestimmtes Krankheitsbild auslässt, also ohne dabei einen konkreten Patienten vor Augen zu haben, kann man vermeiden, dass man über Dinge redet, die mit diesem Patienten kaum etwas zu tun haben.

        Ich hätte es z. B. interessant gefunden, genauer zu erfahren, warum es falsch ist (wenn es denn falsch ist), für die Variable „klimatische Stabilität“ Niederschlags- und Temperatur-Daten aus den monatlichen globalen Karten der CRU-TS 3.1 Klimadatenbank für 0,5°x 0,5° Zellen zu extrahieren, und aus diesen dann für jede Gesellschaft eine klimatische Kenngröße zu berechnen.

        Oder warum es nicht genügt, für die Verfügbarkeit der Ressourcen in einer Region die Daten der NASA Earth Observations (Nettoprimärproduktivität) mit den globalen Daten der Wirbeltier- und Gefäßpflanzen-Diversität zu verrechnen.

        Mag sein, dass es im Blogartikel mehr um das Grundsätzliche geht, dass der SZ-Artikel nur als Aufhänger dient für eine vernichtende Kritik bestimmter kulturwissenschaftlicher Unternehmungen. Aber ich finde, so etwas gelingt überzeugender, wenn man sich direkt auf die vorliegende Fachliteratur bezieht—und nicht auf Berichte aus zweiter Hand.

        • Ludwig Trepl. @Balanus:

          „Der Arzt hat diesen einen Patienten überhaupt nicht gesehen, sondern verlässt sich auf laienhafte Schilderungen.“

          Der erfahrene Arzt weiß aber, ob und wann er sich auf die laienhafte Schilderung so weit verlassen kann, daß ihm eine Diagnose zuverlässig möglich ist. So ein Fall liegt hier vor. Man (wenn auch nicht jeder) hat genug Erfahrungen, daß man hier die Ideologie geradezu riechen kann.

          Nun Ihre Fragen:

          „Ich hätte es z. B. interessant gefunden, genauer zu erfahren, warum es falsch ist (wenn es denn falsch ist), für die Variable „klimatische Stabilität“ Niederschlags- und Temperatur-Daten aus den monatlichen globalen Karten der CRU-TS 3.1 Klimadatenbank für 0,5°x 0,5° Zellen zu extrahieren, und aus diesen dann für jede Gesellschaft eine klimatische Kenngröße zu berechnen.“

          Dazu habe ich mich doch in den Kommentaren ausführlich geäußert: Solche klimatische Kenngrößen sind im Hinblick auf Fragen kultureller Entwicklung uninteressant. Unter ziemlich exakt gleichem temperatem Klima haben sich in Europa und Asien Hochkulturen entwickelt, in Nordamerika lebten bis vor Kurzem nur „Wilde“. Entsprechendes kann man für praktisch alle Klimatypen durchspielen. Und wenn es schon für die allgemeine Kulturhöhe (falls man so einen Begriff überhaupt akzeptieren will) nicht funktioniert, dann erst recht nicht für so komplexe Dinge wie die Entstehung verschiedener Typen von Religion.

          „Oder warum es nicht genügt, für die Verfügbarkeit der Ressourcen in einer Region die Daten der NASA Earth Observations (Nettoprimärproduktivität) mit den globalen Daten der Wirbeltier- und Gefäßpflanzen-Diversität zu verrechnen.“

          Auch dazu habe ich mich schon ausführlich geäußert, wenn auch recht indirekt. Erstens ist Ressource ein relationaler Begriff. Es genügt nicht, daß in irgendeinem abstrakten Sinne etwas, was eventuell Ressource sein könnte, z. B. eßbar ist und energiereich ist, in einer Region vorhanden ist – das muß damit noch lange keine Ressource für die fragliche Population sein; siehe oben mein Beispiel Niederkalifornien und die ausgedachten Beispiele mit den heiligen und unreinen Tieren. Zweitens hat die Diversität der Gefäßpflanzen mit der Ressourcenfrage fast gar nichts zu tun. Die Gebiete mit der höchsten Diversität (Amazonas-Regenwald) enthalten fast keine Ressourcen für diejenige Art der Landnutzung, die die meisten Kulturen von Menschen anwenden und anwandten. Beispiel: Im Regenwald können nur sehr wenige Menschen leben. Aber: bei Anwendung geeigneter Techniken, die aber kaum einer realen historischen Kultur zur Verfügung standen (z. B. Permakultur), könnten diese Gebiete doch erheblich mehr Menschen ernähren. – Man nimmt die Gefäßpflanzen-Diversität, weil man dazu Daten hat. Das ist typisch für diese Art von Forschung: Man sucht den Schlüssel unter der Laterne, weil dort Licht ist, auch wenn man wissen könnte, daß man ihn dort ganz bestimmt nicht verloren hat.
          Nein, da habe ich keine Zweifel, das wird in dieser Art von Forschung schon richtig gemacht, die Methoden, die man den Naturwissenschaften entnimmt, die beherrscht man schon. Aber man wendet sie auf Gegenstände an, die man begrifflich nicht bewältigt, und darum sind die Ergebnisse bestenfalls irrelevant und trivial, siehe den spöttischen Kommentar von @Chrys oben („jeder Trottel …“).

          „Wenn ich von vorneherein eine naturalistische Ausrichtung der Religions- und Sozialwissenschaft als irregeleitet (krank) betrachte …“
          Das sehe ich viel komplizierter. Ich muß dazu mal etwas Zusammenhängendes schreiben, sonst verstehen Sie mich nie. – Ich habe ja nicht einmal diejenigen Forschungen als von vornherein irregeleitet bezeichnet, die nach biologischer Erblichkeit von Religiosität suchen. Man darf nur nicht „Religiosität“ dort suchen, wo sie gewöhnlich gesucht wird, im Für-Existent-Halten „überempirischer Akteure“ oder so was, das hab ich neulich in ausführlichen Kommentaren in einem anderen Blog zu erklären versucht.

  19. @ Herr Ludwig Trepl :

    Wo, wie in Indien, der Boden fruchtbar ist und das Klima günstig, sind Religionen mit einem überlegenen, strengen und strafendem Gott seltener als dort, wo Menschen einst ums Überleben kämpfen mussten. (anscheinend aus einer Arbeit, die in der SZ zur medialen Bearbeitung gelangte)

    Warum ist das so?

    [Gelöscht, da kein Sinn erkennbar. Wenn Ihnen daran liegt: Bitte noch einmal versuchen, doch in verständlichen Worten.]

    Es könnte schon so gewesen sein, dass sich in Regionen, in denen die Nahrung sozusagen fortlaufend auf dem Baum wuchs, andere soziale Kooperationsmechanismen entwickelt haben als dort, wo der (oft grausam harte) Winter seine Spuren hinterließ, evolutionär, kulturell oder evolutionär-kulturell.

    Dass in einigen Religionen das Faustrecht und diesbezügliche Gottheit zur Blüte gelangte, in anderen die (gerne auch: ausgefeilte) zwischenmenschliche Kooperation mit eher milden Gottheiten.

    HTH
    Dr. W

    • @ Herr Ludwig Trepl :

      [Gelöscht, da kein Sinn erkennbar. Wenn Ihnen daran liegt: Bitte noch einmal versuchen, doch in verständlichen Worten.]

      Besser wäre es womöglich schon schlicht nachzufragen, wenn bestimmter Aussage nicht gefolgt werden kann.

      Schönen Nikolaus noch,
      MFG
      Dr. W

      • “Besser wäre es womöglich schon schlicht nachzufragen, wenn bestimmter Aussage nicht gefolgt werden kann.”

        Wenn Ihr Kommentar in einem Brief an mich stünde, hätten Sie recht. Aber er ist für jedermann zu lesen, und es schreckt die Leser des Blogs ab, immerzu Wortfolgen vor Augen zu haben, denen sie keinerlei Sinn entnehmen können. Sie werden es als unhöflich empfinden, wenn ich dergleichen einfach lösche, wo ich doch auch hätte nachfragen können. Aber was ist das gegen die Unhöflichkeit, mir die Leser und Kommentatoren zu vertreiben, nur um irgendeine seltsame Lust an wirren Formulierungen zu befriedigen.

  20. @Ludwig Trepl
    Ich muss Ihnen insoweit natürlich recht geben, dass meine “Argumentation” eher hingeschludert war, und der verschwörungstheoretische Ton war auch nicht ganz ungewollt entstanden ist…..schließlich haben wir es beim Christentum mit einer der erfolgreichsten Verschwörungstheorien aller Zeiten zu tun.
    Dennoch eine Klarstellung: mir schwebte Paulus als Hauptpropagandist und Gründer vor, und den griechischen Denktraditionseinfluss kann ich auch nicht so richtig erkennen, bevor Augustinus und Thomas von Aquin aktiv geworden sind.
    Aber was Anderes: an welche “ewigen Wahrheiten” haben Sie denn da so gedacht? Aus meiner Sicht entstehen “ewige Wahrheiten” eher durch intensiven argumentativen Austausch, wobei ich das mit der Ewigkeit eh grundsätzlich bezweifeln möchte. Vielleicht meinen Sie aber etwas, das mir gerade nicht in den Sinn kommt.

    • lLudwig Trepl, @Alisier: Griechen, Christen und Offenbarung.

      „mir schwebte Paulus als Hauptpropagandist und Gründer vor“

      Wenn das so ist, dann kann ich Ihnen nicht zustimmen. Es scheint mir jeder Lebenserfahrung zu widersprechen, daß einer, der denkt und schreibt und lebt wie der, sich Gedanken macht wie „Welcher Gott mit welchen Eigenschaften ermöglicht mir, dem Erfinder, möglichst große Einflussnahme?”. Nein, so einer ist entweder ein Weiser oder ein Besessener (oder beides), kein berechnender Politiker.

      „und den griechischen Denktraditionseinfluss kann ich auch nicht so richtig erkennen, bevor Augustinus und Thomas von Aquin aktiv geworden sind.“


      Oh doch, und wie. Schon im Jahrhundert vor Chr. trat die hellenistische Philosophie (vor allem die Stoa) von einer ethischen Phase in eine religiöse ein, das bereitete sich also unabhängig vom eigentlichen Christentum vor. Und viele der christlichen Denker der ersten 2-3 Jahrhunderte übernahmen nicht nur die griechische Philosophie im Sinne der Waffen des Gegners, die man brauchte, um ihn zu bekämpfen, sondern auch wesentliche Inhalte, vor allem aus der spätplatonischen Philosophie und der Stoa.

      Bloß weil es ein Schlaglicht wirft: Es war weithin üblich, die großen heidnischen Denker wie Sokrates und Platon (und später Aristoteles) als „inspiriert“ zu betrachten, d. h. ihre Worte galten ähnlich wie die Bibel als Offenbarung, nur eben dem Verständnis der Heiden angepaßt und irgendwie defizitär. Aber auch sozusagen das Gegenteil kommt vor: Das wahre Christentum ist nur präsent in den Gedanken der Philosophen, und es ist die Aufgabe der christlichen Denker (die darum Philosophen werden müssen, Philosophen einer spezielen Richtung: Theologen), den Kinderglauben, wie er sich in der wörtlich genommenen Schrift zeigt, auf die Stufe erwachsener („griechischer“) Weisheit zu heben (bei Clemens, bei Origines). Vor allem im 2. Jahrhundert wurden solche Tendenzen stark.
      Die Gegenbewegung gewann aber ebenfalls an Einfluß: Credo, quia absurdum est. Und der Glaube ist über der Vernunft. Doch kam diese Auffassung in der ganzen katholischen Zeit nie zur Herrschaft. – Auch das war ein Mittel, das griechische Denken zu bekämpfen: Was widervernünftig ist und trotzdem unbestreitbar (weil bezeugt), zeigt die Unterlegenheit der (menschlichen) Vernunft.

      „an welche ‚ewigen Wahrheiten’ haben Sie denn da so gedacht? Aus meiner Sicht entstehen ‚ewige Wahrheiten’ eher durch intensiven argumentativen Austausch, wobei ich das mit der Ewigkeit eh grundsätzlich bezweifeln möchte.“

      Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Unter anderem: (1) „Ewige“ Wahrheiten sind einfach Wahrheiten. Eine Wahrheit, die nicht „ewig“ ist, ist halt auch keine Wahrheit. (Daß die Wahrheit einen begrenzten Gegenstandsbereich hat, steht auf einem anderen Blatt, daß alles menschliche Denken vom Bewußtsein begleitet ist, Irrtum sein zu können, auch; das macht aber nichts.) Wenn man glaubt (oder in bestimmten Fällen weiß), daß die eigene Vernunft in ihrem Resultat mit der Vernunft übereinstimmt, kann man von Offenbarung sprechen. – Das führt dazu, daß man alles, was an Wahrem (oder Richtigem) im Laufe der Geschichte herausgefunden wurde, eine Offenbarung ist – und so konnte denn auch Sokrates Offenbarungen aussprechen, im Prinzip aber auch jeder kleine Gelehrte, wenn er nur etwas Bleibendes herausfindet.

      So wurde das Wort Offenbarung aber meist nicht benutzt. Sondern (2) es gehörte dazu, daß man durch eigene Anstrengung auf den betreffenden Gedanken nicht hätte kommen können (und der „intensive argumentative Austausch“ auch nichts bringt). Sondern man muß diese Wahrheit hören oder lesen und versteht nicht, wie der Autor dahinter gekommen ist. Dann ist er halt „inspiriert“. Im Nachhinein aber kann man den Gedanken (anders als die Wunder bei Tertullian) verstehen und durchaus selber denken. Diese Auffassung beherrschte weitgehend die Aufklärung, spielt aber auch schon in der Scholastik eine Rolle.

      Ich selbst habe das „ewig“ ganz banal gemeint: „große“, weltbewegende Wahrheiten halt, von der Art „liebe deine Feinde“ (wenn ich richtig informiert bin, keine christliche Erkenntnis, antike heidnische Philosophen hatten die auch schon) oder „unsere Sünden werden uns vergeben werden“.

      Damit das mit der Offenbarung nicht ganz so furchterregend-geheimnisvoll daherkommt, ist es vielleicht gut, ganz säkularisiert über etwas anderes zu sprechen, das vielleicht das Verständnis erleichtert. Man kann die wissenschaftstheoretischen Begriffe „context of discovery“ und „context of justification“ über den Bereich der empirischen Wissenschaft hinaus ausdehnen. Der „context of discovery“ sei der Bereich der wilden, regellosen Ideenproduktion, sagt man gern. Bei Thomas Kuhn kann man auf den Gedanken kommen, daß das gar nicht stimmt: wir produzieren in diesem „context“ eigentlich nicht, sind nicht aktiv, tun vielmehr im Grunde gar nichts. Sondern uns „fällt etwas ein“ – manchmal, so Kuhn, „im Schlaf“. Wir wissen nicht, wie diese Gedanken zustande kommen, wir wissen nur, daß wir sie nicht machen, nicht „konstruieren“. Wohlgemerkt: es geht nicht um eine kausale naturwissenschaftliche (physiologische in diesem Fall) Erklärung, sondern um eine handlungstheoretische Frage.
      Na ja und dann, wenn wir Grund haben, diese von oben einfallenden Gedanken als überaus bedeutend anzusehen und wenn sie nicht Empirisches betreffen, sondern Moralisches („was sollen wir tun“) und Religiöses („was dürfen wir hoffen“), und wir uns überhaupt nicht erklären können, wie sie zustande kommen, sagt man halt seit alters her: das sind „Offenbarungen“. Damit hat man ein Wort, freilich damit keinen Begriff.
      “Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, // Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.” (Mephisto)

      Ob eine behauptete Offenbarung allerdings eine Offenbarung (große Wahrheit) ist – das läßt sich im „context of discovery“ nicht erkennen, sondern dazu braucht man den „context of justification“. Da geht es nicht wild zu, sondern systematisch, streng, logisch, da wird aktiv konstruiert und argumentiert. Das wußten die Christen weitgehend auch, darum haben sie die Vernunft nicht verachtet. Ohne sie hätte man ja gar nicht entscheiden können, ob etwas, was von sich behauptet, Offenbarung zu sein, wirklich von Gott kommen kann und nicht vielleicht von einem Scharlatan oder vom Teufel.

      • @Ludwig Trepl

        »… „liebe deine Feinde“ (wenn ich richtig informiert bin, keine christliche Erkenntnis, antike heidnische Philosophen hatten die auch schon) …«

        Da würde ich gerne einmal nachfragen, ob Sie dazu irgendwelche Quellen parat haben. Mir war nämlich grob in Erinnerung, dass gerade die Feindesliebe praktisch das einzige originär christliche Motiv im ganzen christlichen Synkretismus darstellt.

        • @Chrys

          Nach einiger Recherche im WWW tippe ich auf die Kyniker. Zu deren Lebensprinzip zählte angeblich auch die Feindesliebe.

        • „Auf die Feinde muß man wohl achthaben, denn niemand bemerkt unsere Fehler eher als sie.“ (Antisthenes, Kyniker)

          Schön finde ich bei den früheren Philosophen, daß sie die Begründung im selben Satz liefern und nicht einfach Imperative aufstellen. Ordentliche Quellen gibt es für Antisthenes nicht -sie sind zu spärlich. Auch von Liebe wird da nicht gesprochen.

        • @Ludwig Trepl, Balanus, Dietmar Hilsebein

          Danke für die diversen Hinweise. Die These von der Originalität christlicher Feindesliebe ist womöglich eher durch den Wunsch christlicher Schriftgelehrter motiviert, an den eigenen religiösen Überzeugungen ein besonderes Merkmal identifizieren zu können. Eine (wenngleich nicht sehr tiefschürfende) WWW Recherche hat mir dazu jetzt noch dies beschert:

          Whittaker, J. (1979). Christianity and morality in the Roman Empire. Vigiliae christianae, 33(3), 209-225. [JSTOR]

          Der dort genannte Verweis auf Haas bezieht sich auf folgende, mutmasslich recht ausführliche Untersuchung, die mir aber auch nicht zugänglich ist:

          Hans Haas. Idee und Ideal der Feindesliebe in der außerchristlichen Welt. Edelmann, Leipzig, 1927.

          Wie dem auch sei, die Moral der Götter ist immer die Moral derer, die im Namen dieser Götter zu handeln beanspruchen. Seit der konstantinischen Wende hat die Feindesliebe für viele Männer der Kirche jedenfalls nicht mehr so uneingeschränkt die höchste Priorität, immerhin wurde sogleich dem Christengott als überempirisch Mitwirkenden eine entscheidende Rolle bei der Schlacht an der Milvischen Brücke zugewiesen.

          Interessant scheint mir noch die Bemerkung von Vorländer, “daß man Seneka zum heimlichen Christen hat stempeln wollen, und daß ein erdichteter Briefwechsel Senekas mit dem Apostel Paulus (ähnliche unlautere Mittel zu vermeintlich guten Zwecken sind in den ersten christlichen Jahrhunderten nichts Seltenes) Glauben finden konnte.” An der Wahl der Mittel hat sich eigentlich nicht viel geändert, denn offensichtlich darf man nach wie vor ungeniert lügen, sofern es nur der Sache der Kirche dient.

  21. Nachtrag:

    Die Geschichte der Opferung Isaaks ist ein typisches Beispiel für einen strengen, aber nicht moralischen Gott.

  22. Wenn man den ökologischen Einfluss auf Religionen untersuchen möchte, sollte man vielleicht nur eine Religion nehmen, und schauen, wie sie sich unter verschiedenen Bedingungen entfaltet. Selbst dann gibt es noch viel zu viele Einflussgrößen, historische und gesellschaftliche, so dass es oft schwer sein dürfte, da zu Schlüssen zu kommen, abgesehen von trivialen, die Religion verschwand, weil die Trägergesellschaft an einer Dürre zugrundeging.
    Ein paar “ökologische” Bemerkungen kann man ja machen: das ländliche Christentum ist sehr “abergläubisch”, d.h. es spielen Magie und Rituale eine Rolle, die mit den Bedürfnissen der Bauern zusammenhängen. Das eigentliche Christentum ist eine städtische Religion die Lesen und Schreiben im Prinzip voraussetzt (Buchreligion). Die Verschriftlichung der christlichen Botschaft setzte schon ein paar Jahrzehnte nach dem Tode Jesu ein. Man musste als Gläubiger nicht notwendig lesen können (im Mittelalter ging es ja auch ohne), aber es spielt schon eine Rolle, Jesus “erfüllt” nach dem Selbstverständnis der Christen die Schrift. In Mittelalter und früher Neuzeit überwog übrigens die Vorstellung eines herrschenden, strafenden, richtenden Gottes, der “liebe” Gott kam erst Ende des 18. Jahrhunderts auf. In der Spätantike herrschte noch eine sehr akute Parusie-Erwartung mit Heilsverkündung.

    Die altägyptische Religion ist stark durch die ökologischen und topographischen Bedingungen geprägt, durch den Nil, die Nilüberschwemmung, den täglichen Sonnenlauf und die beiden Wüsten im Westen und Osten, um es nur ganz kurz anzureißen. Der Begriff “Horizont” spielt eine wichtige Rolle in der religiösen Terminologie.

    Ein strenger Gott ist auch nicht unbedingt dasselbe wie ein moralischer Gott. Die Ethisierung von Religion ist oftmals ein Prozess innerhalb der Religion. Im Mittelalter gab es diesbezüglich ja noch eine Arbeitsteilung: Der Klerus betet, der Adel verteidigt (aus seiner Perspektive 🙂 und der Bauer ernährt alle drei Stände. Das moderne Verständnis von Gewissen hat sich in der heutigen Form erst später im Christentum entwickelt.

    • „Ein paar “ökologische” Bemerkungen kann man ja machen: das ländliche Christentum ist sehr “abergläubisch”, d.h. es spielen Magie und Rituale eine Rolle, die mit den Bedürfnissen der Bauern zusammenhängen. Das eigentliche Christentum ist eine städtische Religion die Lesen und Schreiben im Prinzip voraussetzt (Buchreligion).“

      Ich habe den Eindruck, daß ungefähr da der Hase im Pfeffer liegt: Mehr als an irgend etwas anderem leiden solche Studien darunter, daß sie keinen Begriff von Religion haben und grundverschiedenes in einen Topf werfen. Das „ländliche Christentum“ im selben Sinne eine Religion zu nennen wie die typischen „Buchreligionen“, ist mehr als gewagt. Tatsächlich handelt es sich doch um etwas davon sehr Verschiedenes: um ein mythologisches Weltbild, wie vor allem von E. Cassirer beschrieben, ein Weltbild, gegen das historisch die Religionen entstanden sind. Wie das sich im Einzelnen verhält, weiß ich auch nicht, aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob die Natur – wie es aus späterer Sicht erscheint – durchgehend „geistig“, „lebendig“, „sinnhaft“, „göttlich“ usw. ist oder ob sie nichts davon ist, sondern all dies „Göttliche“ usw. an einen transzendenten Ort, aus der Welt heraus, verlagert wird.

      Allerdings darf man nicht denken, daß das mythische Denken etwas mit Ökologie zu tun hätte, auch wenn die „Rituale … mit den Bedürfnissen der Bauern zusammenhängen“. Ökologisches kommt im Denken solcher Kulturen gar nicht vor. Ein Ort trägt nicht produktive oder wenig produktive Ökosysteme, sondern ist z. B. „gesegnet“ oder „verflucht“, ein Tier ist kein zoologischer Gegenstand, sondern irgend etwas ganz anderes, z. B. mit einem bestimmten Clan verwandt oder heilig oder sonstwas. Die Menschen lebten ganz in einer selbstgeschaffenen Welt, in ihrer Symbolwelt, und konnten sie nicht trennen von dem, was unabhängig davon ist. Im Unterschied dazu „ist und lebt“ das wissenschaftlich denkende Subjekt „in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur“, sondern begreift „sie als das, was sie sind“ (Zitate Cassirer). Nur für das wissenschaftlich denkende Subjekt gibt es „Ökologie“ und „Ökosysteme“, besteht die Natur aus Systemen kausal interagierender Lebewesen und ihrer abiotischen Umwelt.

      Nun könnte man meinen: Auch wenn den Menschen der mythischen Zeiten ihre ökologische Abhängigkeit nicht bewußt war, so war sie doch vorhanden und hat gewirkt. Doch kommt man auf diese Weise nur zu Trivialitäten. Ein ausgedachtes Beispiel: Auch wenn die Menschen nicht in ein Gebiet gingen, weil es dort irgendwelche Ressourcen gab, sondern weil es ein gesegnetes Gebiet war oder weil man halt dahin zu gehen hatte, wohin gewisse Zeichen (Vogelflug, Beschau von Tiergedärm …) einen zwangen, so gingen sie doch zugrunde, wenn und weil es dort keine ökologischen Ressourcen gab. Mehr ist da aber nicht als die Trivialität, daß eine mythisch bestimmte Lebensweise, die nicht zu leben erlaubt, halt nicht möglich ist auf Dauer. Die Ressourcen erklären jedenfalls nicht, daß die in das Gebiet gingen. Den entscheidenden und die Bewegungen der Menschen erklärenden Zwang übten nicht die Ressourcen aus, sondern die damit im allgemeinen gar nicht verbundenen Zeichen. Die relevante selektierende Umwelt war sozusagen die (unbewußt) selbstgeschaffene Symbolwelt, nur in Extremfällen die ökologische Welt. Die Menschen jener Zeit waren eben Menschen, nicht Tiere einer bestimmten Spezies, wie die Forscher glauben, die halt in ihrem Paradigma stecken.

      Es ist also, glaube ich, eine Verzerrung durch unsere wissenschaftliche Weltsicht, wenn wir glauben, daß Rituale, die z. B. Regen bringen sollen, evolutionär aufgrund solcher ökologischer Funktionszusammenhänge entstanden sind. Der Regentanz wird auch noch getanzt, wenn er die Wahrscheinlichkeit des Regens kein bißchen erhöht. Naturwissenschaftler und von den Naturwissenschaften beeindruckte Sozialwissenschaftler sehen halt nichts anderes als das, was sie zu sehen gelernt haben. In Wirklichkeit ging es nach ganz anderen Gesetzen zu. Beispiel: wenn die Leute eine Siedlung anlegten, dann meint der ökologisch denkende heutige Mensch: das haben die an diesem und nicht an jenem Ort gemacht, weil es hier Wasser und Holz und andere Ressourcen gab usw., man kann schöne Karten zeichnen, auf denen zu sehen ist, wie die frühen Siedlungen eine günstige Lage im Hinblick auf die wichtigen Ressourcen und benachbarten Ökosysteme haben. Tatsächlich haben sie es gemacht, weil der Ort gesegnet und nicht verflucht war, und so kommt eventuell ein ganz anderes Muster der Siedlungsverteilung heraus.

      Es mußte erst die eigentliche Religion entstehen, in der Götter keine Naturgötter waren, keine Bestandteile der Welt, sondern transzendent, damit sich die physische Welt von der Symbolwelt trennen konnte und – bis in die allerjüngste Zeit nur ansatzweise – „Ökologie“ eine Rolle spielen konnte für das Verhalten der Menschen (statt nur für das Verhalten der Tiere, die die Menschen natürlich immer auch sind, die aber als solche keine Religion haben und entwickeln können).

      Das berücksichtigen solche Studien wie die hier thematische überhaupt nicht (weil sie das Problem nicht begreifen): daß die „Götter“ der mythischen Weltsicht etwas ganz anderes sind als die Götter der eigentlichen Religionen, ob das nun die persönlichen Götter der orientalischen Religionen sind oder die ganz unpersönlichen der griechischen Philosophen. Man glaubt, die Unterschiede auf Begriffe bringen zu können wie moralische vs. nicht-moralische, strenge vs. milde usw., und berücksichtigt nicht, daß man das Wort „Götter“ auf völlig verschiedene Begriffe anwendet: auf etwas in der Welt (die eine Symbolwelt ist, keine physische, materielle) und auf etwas jenseits der Welt. Da kann nur Unsinn herauskommen.

  23. Zustimmung, Herr Trepl: Die notorische “Unterkomplexität derartiger Studien” ist das was sie so unlesenswert macht, und man sich angesichts der verschwendeten Zeit später fast sicher ärgern muss.
    Dennoch haben Sie dem Artikel immerhin einen sinnvollen Fragenkatalog entgegengestellt. Manchmal helfen eben selbst dünne und fade Gedanken sowie Artikel den Verstand anzukurbeln, und sich nochmal klar zu positionieren.
    Was kennzeichnet schlechte empirische Wissenschaft?
    “Wo sie auch hinblickt, sie findet immer nur Bestätigungen ihres Vorurteils.”
    Und das würde ich jetzt gemeinerweise gerne einem Ihrer Blogkollegen (gold)gerahmt auf den Schreibtisch stellen, damit er die Welt zukünftig mit seinen Ergüssen verschont. Mein frommer Wunsch zu Weihnachten.
    Vielleicht ist es ganz einfach? Götter entstehen überall, und welchen Charakter sie offenbaren hängt sehr stark davon ab, welche Propaganda ihre Erfinder wählen, um sie in ihrem jeweiligen Umfeld zu verankern. “Was wollen die denn hier für einen Gott?” und “Welcher Gott mit welchen Eigenschaften ermöglicht mir, dem Erfinder, möglichst große Einflussnahme?” könnten mögliche Fragen sein, die die Erfinder komplexerer Gottheiten sich stellten.
    Allein die Annahme komplexe Götter entstünden einfach so aufgrund der Gegebenheiten, ohne dass Propagandisten heftigst Geburtshilfe leisten geht mir schon gehörig gegen den Strich. Das Ist mir zu nah dran an der Behauptung, die Götter gäbe es wirklich und sie hätten sich lediglich durch Vermittler offenbart. Aber gut, es ist bald Weihnachten, und da sollten wir vielleicht gnädig sein.
    Und Ihnen, Herr Trepl, möchte ich nachträglich noch mal beste Gesundheit wünschen: ich hoffe, dass es Ihnen inzwischen wieder sehr viel besser geht.

    • @ Alisier:
      Ich glaube, ich weiß, welchen Blogkollegen Sie meinen. Und vielen Dank für die Genesungswünsche. Im Moment leide ich allerdings viel mehr unter der Therapie als unter der Krankheit.
      Einen Einwand hätte ich allerdings: Das
      „Götter entstehen überall, und welchen Charakter sie offenbaren hängt sehr stark davon ab, welche Propaganda ihre Erfinder wählen, um sie in ihrem jeweiligen Umfeld zu verankern. “Was wollen die denn hier für einen Gott?” und “Welcher Gott mit welchen Eigenschaften ermöglicht mir, dem Erfinder, möglichst große Einflussnahme?”
      ist mir etwas zu verschwörungstheoretisch.
      Wie war es denn beispielsweise bei der Entstehung des Christentums? Es entstand erst einmal sozusagen völlig ungeplant und geradezu ungewollt in einem chaotischen und diffusen Prozeß, in dem unter grundlegend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, in dem grundlegend neue Orientierungen verlangt waren, orientalische Religionen und griechische Philosophie aufeinandertrafen. (In diesem Prozeß wurden sicher auch ewige Wahrheiten an den Tag gebracht, und das kann man meinetwegen Offenbarung nennen.) Im Laufe der ersten paar Jahrhunderte erst, nicht zu Beginn, traten dann die „Erfinder“ auf den Plan. Sie wählten aus, welche Texte in den Kanon dürfen und welche nicht, schrieben die christlichen Texte um, so daß sie als Erfüllung alter Prophezeiungen erschienen und so als legitimiert galten usw. Dabei ging es um Politik, vor allem darum, wer in der noch überaus heterogenen Christenheit das Sagen haben sollte, der römische Bischof oder der Patriarch von Konstantinopel oder die Arianer usw. Und da spielte sicher die Überlegung “Welcher Gott mit welchen Eigenschaften ermöglicht mir, dem Erfinder, möglichst große Einflussnahme?” eine Rolle. Aber man darf nicht vergessen, daß auch die meisten „Erfinder“ von ihrer Sache überzeugt waren, der Anteil absichtlicher Betrug und Trickserei dürfte viel kleiner gewesen sein als man gerne glaubt. Das ist bei Politikern meist so, heute wie zu allen Zeiten. – Daß eine Religion von Anfang an „erfunden“ wurde, einen „Erfinder“ hat, kennt man von Sekten. Aber um weltgeschichtliche Bedingung zu erlangen, reicht das wohl kaum.

      • Ich glaube, ich weiß, welchen Blogkollegen Sie meinen.

        Meinen Sie den, dem auf den scilogs (und etwa auch am Telefon) “kein Dialog möglich” ist, weil ‘man sich [dabei] gegenseitig nicht “ins Gesicht schauen kann”‘?

  24. Aus dem Abstract (The ecology of religious beliefs):

    Here we combine fine-grained bioclimatic data with the latest statistical tools from ecology and the social sciences to evaluate the potential effects of environmental forces, language history, and culture on the global distribution of belief in moralizing high gods (n = 583 societies). […] The emerging picture is neither one of pure cultural transmission nor of simple ecological determinism, but rather a complex mixture of social, cultural, and environmental influences.

    Toll! Das “emerging picture” hätte sich gewiss auch ohne die “latest statistical tools” jeder Trottel aus den Fingern saugen können. Wenn irgendwo der ökologische Einfluss auf die Moral der Götter nicht erkennbar ist, dann liegt es halt an der “complex mixture”, die den Blick behindert.

  25. Religionsökologie

    Schade, Herr Trepl, dass Sie Ihre Aversion gegen derlei Studien nicht überwinden wollten. Die—natürlich—amerikanischen Wissenschaftler scheinen immerhin Feuerbach, Marx und Freud zu kennen. Zumindest werden die drei im Diskussionsteil erwähnt, wohl weil sie vermuteten, dass der Glaube an moralisch besorgte Gottheiten sowohl Angst (Feuerbach) als auch existentielle Leiden (Marx) zu verringern können, und dass eine raue Umwelt die Attraktivität einer kosmischen Autorität (Freud) erhöhen könne.

    Das ist doch eine respektable Grundlage für derlei empirische Studien, die nun angeblich ihrerseits Hinweise dafür liefern, dass diese Geistesgrößen mit ihren Hypothesen gar nicht so falsch lagen.

    Erst dachte ich ja, der Begriff „Religionsökologie“ stamme von Ihnen, aber der Gedanke, dass die Umwelt Einfluss auf die Religionen haben könnte, ist ja mindestens 35 Jahre alt (Ake Hultkrantz, 1979, ein Schwede übrigens). Ferner war mir nicht bekannt, dass es das Fach Religionsgeographie gibt (die ist der Religionsökologie wohl übergeordnet).

    All das lässt doch stark vermuten, dass es sich mit den Religionen irgendwie anders verhält als mit sonstigen Ideologien, Weltsichten und kulturellen Verhaltensweisen.

    Vorstellungen, die gemeinhin als „religiös“ charakterisiert werden, scheinen schon etwas Besonderes zu sein (ich habe zwar eine These, warum das so ist, aber das ist hier nicht das Thema).

    Positiv an solchen Studien ist immerhin, dass kurzerhand unterstellt wird, dass sämtliche Gottesbilder Schöpfungen des Menschen sind, da ist kein Raum für göttliche Offenbarungen. Denn warum sollte sich Gott den Menschen in rauer Umwelt anders offenbaren als denen, die das Glück haben, dort zu leben, wo Milch und Honig fließen.

    Eigentlich, Herr Trepl, müsste Ihnen doch die Idee, dass Gottesvorstellungen durch Umweltbedingungen und soziokulturelle Verhältnisse geprägt werden, recht sympathisch sein. Dass es sich nicht ganz so schlicht verhält, wie es im Zeitungsartikel (und auch in der Studie) offenbar dargestellt wird, ist eine andere Geschichte.

    Insbesondere die Überschrift in der SZ: „Je härter die Umwelt, umso strenger die Götter“, geht weit über das hinaus, was in der Studie untersucht wurde. Nach meinem Eindruck waren es ganz überwiegend die abrahamitischen Religionen, die in der Studie als „moralisierend“ kategorisiert wurden. Oder kennen Sie noch viele andere rezente Religionen, deren Götter vergleichbar streng sind? Entsprechend ist denn auch die globale Verteilung der beiden Religionstypen (streng, andere) ausgefallen.

    Aber gut, das sind Feinheiten, die nicht interessieren müssen, wenn schon der Ansatz der Studie als verfehlt angesehen wird.

    • Ludwig Trepl, @ Balanus

      „Schade, … dass Sie Ihre Aversion gegen derlei Studien nicht überwinden wollten.“

      Sie vermuten vielleicht, daß meine Aversion sich dagegen richtet, die Umweltbedingungen (und soziokulturelle Verhältnisse) überhaupt als Faktor für die Entstehung bestimmter Religionen in Erwägung zu ziehen. Das ist keineswegs so. Natürlich muß man das berücksichtigen – wenn man auch vorsichtig sein muß, hier, in der Kombination beider, die Möglichkeit vollständiger Erklärung zu vermuten; ich habe noch nicht darüber nachgedacht, aber mir scheint doch, daß so etwas wie eine überwältigende „existentielle“ Wahrheit („frohe Botschaft“) ein ganz unabhängiger, religionsspezifischer Faktor sein könnte,

      Nein, wogegen ich etwas habe, ist die groteske Unterkomplexität derartiger Studien. Man hat einfach überhaupt keinen Begriff von der Differenziertheit und Komplexität des Gegenstands Religion, den man da mit Mitteln zu erklären unternimmt, die vielleicht taugen, das Verhalten eines Vogelschwarms bei Futtermangel zu erklären. Und da muß man kein Experte sein. Ich bin natürlich keiner, aber ich merke, daß man an -zig Stellen Fragen stellen muß, auf die diese „Religionsökologen“ nicht kommen.
      Beispielsweise: Von den abrahamitischen Religionen nimmt man offenbar ganz selbstverständlich an, daß sie von Wüstennomaden stammen. Da drängt sich doch sofort der Verdacht auf, daß das ein Ideologem aus der Giftküche des Antisemitismus ist. In dieser Ideologie war es notwendig, daß die Juden Nomaden sind, erst dann geht das ganze System auf, dann hat man eine systemimmanent plausible Erklärung all der üblen Eigenschaften, die man den Juden andichtete. Historisch ist das natürlich großer Quatsch, die Juden sind schon viel länger seßhaft als die Germanen. – Und wer sagt denn, daß die wesentlichen Züge des Judentums unter Nomaden entstanden sind? Und nicht vielleicht im Lande Kanaan, wo bekanntlich Milch und Honig fließt? Oder an den Wasserbächen Babylons, oder an den Fleischtöpfen Ägyptens, nicht als Religion der Ägypter, sondern eines der unterworfenen Völker? Über solche Fragen hopsen die „Religionsökologen“ munter hinweg.
      Und dann stört mich diese Geschichtsvergessenheit. 35 Jahre sollen derartige Forschungen als sein? Ich wette, daß es schon 100 Jahre früher, als der Geodeterminismus in der Geographie noch hoch im Kurs stand, man sich um solche Fragen kümmerte, immerhin ist die Religion ja ein naheliegendes Thema.

      Die Unterkomplexität springt aber vor allem ins Auge, wenn man sich fragt, wie die denn bestimmen, was strenge und was nicht strenge Götter sind; das habe ich im Artikel schon angetippt. Die christliche Eigendarstellung geht so, daß der jüdische Gott streng und gnadenlos ist, der christliche das genaue Gegenteil: Gott der Liebe und der Gnade. Ob das einer genaueren historischen Prüfung standhält, wäre eine Frage, aber man sieht jedenfalls, daß es so einfach nicht ist. – Wie will man denn diesen Umschwung vom strengen zu gnädigen Gott, angenommen das stimmt, ökologisch erklären? Im Hinblick auf die Umweltbedingungen, wie sie die Ökologie untersucht, hat sich im römischen Reich über die Zeit hin, die hier interessiert, kaum etwas geändert. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich gewaltig geändert, doch nicht so, daß man das mit Begriffen wie „komplexe, hierarchische Gesellschaft“ erfassen könnte. Vielmehr änderten sich die grundlegenden Arten der Vergesellschaftung (man sagt immer, es sei die Sklavenhaltergesellschaft entstanden, ich kann das nicht beurteilen). Sowohl gegenüber den altorientalischen Gesellschaften im Osten – Stichwort Herrenvolk und Fellachen – als auch gegenüber der indogermanischen Stammeskriegergesellschaften im Westen entstand da etwas völlig Neues, was sich auf die Selbstverständnis der Menschen revolutionierend auswirken mußte, ähnlich tiefgreifend wie die Entstehung des „bürgerlichen Individuums“ viel später die Vorstellungen davon, was das Verhältnis von Individuen und gesellschaftlichem Ganzen, von Freiheit usw. vollkommen gegenüber dem Mittelalter revolutionieren mußte. Hier etwa wird man suchen müssen, und es gibt auch Arbeiten dazu, die aber halt die „Religionsökologen“ nicht kennen.

      Hoffnungslos simpel sind diese Forschungen auch im Hinblick auf die Ökologie. Man redet von harten Umweltbedingungen und Ressourcenknappheit. Ich habe im Artikel darauf hingewiesen, daß sich die letztere Frage gleich ganz anders stellt, wenn man bedenkt, wie sich Ressourcenüberschuß auf das Populationswachstum im Gebiet auswirkt. Und die harten Umweltbedingungen: Sind die Umweltbedingungen in der Arktis für einen Eisbären hart? Wären für ihn nicht gerade die Umweltbedingungen im milden Klima Indiens hart? Umweltbedingungen und Ressourcen sind relationale Begriffe. Es gibt sie nicht an sich, immer nur in Relation zu dem Organismus, dessen Umweltbedingungen bzw. Ressourcen sie sind. Ein Beispiel aus der Literatur (Quelle hab ich vergessen): In den Wüsten Niederkaliforniens lebten früher ziemlich viele Menschen, heute können sich dort nur noch wenige ernähren. Wie kommt das? Nahrungsressourcen waren für die damaligen Indianer eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren, die für die heutigen Bewohner aus irgendwelchen kulturellen Gründen keine mehr sind. Oder simpler, plakativer: In einem Gebiet, in dem es Fleisch im Überfluß gibt, nämlich Rinder oder Schweine, würden bestimmte Menschenpopulationen verhungern, nämlich solche, die Rinder nicht essen dürfen, weil sie heilig sind, oder Schweine nicht, weil sie unrein sind.

      Es tut mir leid, solange ich nicht merke, daß sich die „Religionsökologen“ derartigen Fragen stellen, kann ich sie einfach nicht ernstnehmen.

    • “Geschichtsvergessenheit” /@Ludwig Trepl.

      Nur eben schnell zu diesem einen Punkt. Sie schreiben:

      »35 Jahre sollen derartige Forschungen alt sein? «

      Da habe ich wohl ein Missverständnis provoziert. Mir ging es um den Begriff „Religionsökologie“, und zu diesem Begriff habe ich im „Handbuch Religionswissenschaft“ (2003) gefunden:

      Insbesondere Ake Hultkrantz hat den Einfluss der Umwelt auf die Religionen unter dem Titel ‚Religionsökologie‘ untersucht (1979).

      Was davor an diesbezüglichen Forschungen stattgefunden hat, war wohl nicht so prägnant, als dass es Eingang in dieses Handbuch gefunden hätte.