Die Rückkehr der Pocken

Die Pocken sind besiegt – eigentlich. Der letzte Fall der einst großen Seuche ist aus dem Jahr 1977 aktenkundig. Seitdem gibt es nur noch zwei Proben des Variola-Virus, tiefgefroren in Russland und beim Center for Disease Control and Prevention in den USA.

Variola ist allerdings nur der prominenteste Erreger aus der großen Gruppe der Orthopoxviren, und bei weitem nicht der einzige, der Menschen befällt. Seit dem Ende der echten Pocken sind mehrere dieser eng verwandten Viren als Krankheitserreger auffällig geworden. Eins von ihnen verdient besondere Aufmerksamkeit, denn es hat das Potenzial, das Erbe der Pocken anzutreten und selbst zu einem gefährlichen Pandemievirus zu werden: Die Affenpocken. Eigentlich ist der Name etwas irreführend, weil die Hauptwirte des Erregers eher Nagetiere zu sein scheinen. Der Erreger wurde zwar 1958 aus einem Affen isoliert, Primaten stecken sich allerdings nur zufällig an. In West- und Zentralafrika gibt es jedes Jahr ein paar Dutzend Fälle.

Die Krankheit ähnelt von den Symptomen her den echten Pocken – Fieber und Hautausschlag, die für die echten Pocken typischen Pusteln entwickeln sich allerdings nicht bei allen Infizierten. Hauptquelle der menschlichen Erkrankungen sind Bisse, oder auch Blut und andere Körperflüssigkeiten infizierter Tiere, mit denen die Opfer beim Schlachten in Berührung kommen.

Sorgen machen müssen wir uns vor allem wegen der vergleichsweise hohen Sterblichkeit, die das Affenpocken-Virus verursacht. Die Krankheit verläuft zwar milder als die Pocken, allerdings sterben je nach Quelle 5 bis 15 Prozent aller Infizierten bei den Ausbrüchen (Addendum 2022: die Datenbasis ist schlecht und die Angaben streuen gerade bei älteren Ausbrüchen sehr stark. Aktuelle Zahlen deuten auf Sterblichkeiten von bis zu 5 Prozent bei der Kongobecken-Variante, und vermutlich unter einem Prozent bei der westafrikanischen Variante, die bisher als einzige außerhalb Afrikas auftritt) – besonders bei Kindern und Immunschwachen ist die Krankheit gefährlich. Zum Vergleich: Bei der Spanischen Grippe 1918 war die Gesamtsterblichkeit nur bei knapp drei Prozent. Insgesamt ist die Ansteckungsgefahr recht gering, aber das Virus springt sogar einigermaßen regelmäßig von Mensch zu Mensch, und damit fallen die Affenpocken schon mal grundsätzlich in die Kategorie der Viren, die man sehr sorgfältig beobachten muss.

Im Moment bleibt die Krankheit vor allem deswegen weithin unbekannt, weil sich die kleineren Ausbrüche immer wieder schnell totlaufen. Die entscheidende Größe ist hier die Reproduktionszahl R0, die angibt, wieviele weitere Opfer jeder Infizierte im Durchschnitt ansteckt. Wenn R0 großer als 1 ist, breitet sich eine Krankheit aus, ist sie kleiner als 1, laufen sich die Ansteckungscluster immer wieder tot. Die Affenpocken haben eine Reproduktionszahl von etwa 0,1 bis 0,3 – das heißt, nur jeder zehnte bis jeder dritte Infizierte gibt die Infektion weiter (Addendum 2022: die derzeitige Studienlage gibt effektive Reproduktionszahlen von 0,3 bis 0,6 an). Dementsprechend sind derzeit bei den Affenpocken Infektionsketten mit mehr als zwei aufeinanderfolgenden Ansteckungen extrem selten – und deswegen schafft es der Erreger auch nicht aus seiner Heimat in Zentralafrika heraus, von einer Ausnahme mal abgesehen, als infizierte Erdhörnchen in einem amerikanischen Zoogeschäft auftauchten.

Da die Affenpocken den echten Pocken so ähnlich sind, schützt die klassische Pockenimpfung auch vor dem Affenpocken-Virus. Dank der Impfkampagne, die die Pocken dann auch ausrottete, waren auch die Affenpocken bis in die 80er Jahre quasi verschwunden. Mit dem Ende der Impfkampagne änderte sich das jedoch, und heutzutage breitet sich die Krankheit in den ungeimpften Populationen rapide aus – seit den 80er Jahren sind die Affenpocken im Kongobecken um den Faktor 20 häufiger geworden.

Und jede zusätzliche Infektion erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Virus besser an den Fehlwirt Mensch anpasst, und damit auch das Risiko, dass sich der Erreger effektiv zwischen Menschen verbreitet. Zum Glück sind Pockenviren allgemein recht komplexe und genetisch stabile DNA-Viren, deren Mutationsrate im Bereich von einer pro Million Basenpaaren und Jahr liegt – die hochvariablen RNA-Viren wie Influenza und HIV verändern sich mit hundert- bis tausendfach höheren Geschwindigkeiten.

Dennoch darf man die Affenpocken keinesfalls unterschätzen. Im Gegenteil, wir wissen bereits, dass der Erreger Pandemiepotenzial hat, einfach weil er so eng mit den menschlichen Pocken verwandt ist. Und zwei Hürden auf dem Weg vom Tiervirus zur globalen Seuche hat das Virus bereits genommen – es infiziert nicht nur Menschen, sondern ist auch direkt von Mensch zu Mensch übertragbar. Es sind nicht mehr viele Veränderungen nötig, damit die Affenpocken das Erbe des Variolavirus antreten. Und 30 Jahre nach dem Ende der Impfkampagne gegen die Pocken träfe das Virus auf eine weitgehend wehrlose Weltbevölkerung.

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