Boykottiert Elsevier! Ich boykottiere Elsevier!

BLOG: MATHEMATIK IM ALLTAG

Notizen über alles und nichts, von Günter M. Ziegler
MATHEMATIK IM ALLTAG

In einem Blog-Eintrag vom 21. Januar 2012 “Elsevier – my part in its downfall” hat Timothy W. Gowers, ein herausragender britischer Mathematiker (Fields-Medaille 1998, Berlin), Buchautor (Mathematics – A very short introduction; The Princeton Companion to Mathematics) und Blogger (Gowers’s weblog) zum Boykott des Verlagskonzerns Elsevier aufgerufen.

Warum? Meine verkürzte Zusammenfassung: Elsevier macht unverschämte Profite mit unglaublich teuren Produkten, in steuerzahlerfinanzierter Arbeit von Wissenschaftlern erstellt werden, die dafür nicht bezahlt werden. Wissenschaftliche Ergebnisse sind aber einzigartig – und deshalb für die Forschung nicht ersetzbar. Damit werden die wissenschaftlichen Bibliotheken erpresst – wobei gerade Elsevier, der größte der Publikationskonzerne, seine Marktmacht ausspielt, um die Journale in riesigen Bündeln zu verkaufen, in denen auch viel Schrott drin ist. Das ist unmoralisch. Und durch Publikation ihrer Ergebnisse bei Elsevier tragen die Wissenschaftler indirekt dazu bei, das wissenschaftliche Publizieren zu ruinieren – und damit auch die Wissenschaft. Ein Skandal. 

Am 23. Januar wurde dann die Webseite

thecostofknowledge.com

freigeschaltet, auf der Wissenschaftler erklären, in Zukunft nicht mehr bei Elsevier zu veröffentlichen, für Elsevier zu begutachten, oder für Elsevier als Herausgeber zu arbeiten. 

Über den Boykott hat Martin Ballaschk am 1. Februar 2012 hier auf den wissenslogs berichtet: Boykottiert Elsevier! Unterstützt Open Access! Damals schrieb er, die Liste der Boykotteure sei 2700 Wissenschaftler lang.

Am 8. Februar haben dann 34 Mathematikerinnen und Mathematiker eine vierseitige Erklärung präsentiert, die den Boykott begründet und erklärt: 

The Cost of Knowledge

Der Text ist lesenswert. Er hat Gewicht auch wegen der Liste der Unterzeichner – darunter drei Träger der Fieldsmedaille (Tim Gowers, Terry Tao, Wendelin Werner), sowie vom Weltverband der Mathematiker (International Mathematical Union, IMU) die Präsidentin Ingrid Daubechies, ihr Vorgänger László Lovász, und der Generalsekretär Martin Grötschel (aus Berlin) – jeweils als Privatleute. Und von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung DMV zwei ehemalige Präsidenten, Martin Grötschel und ich. Und es war mir eine Ehre, unter der Liste der Unterzeichner dabei zu sein.

Die Präsidentin der IMU hat auch gleich weitere Konsequenzen gezogen, und ihre Tätigkeit als eine Hauptherausgeberin der Elsevier-Zeitschrift “Applied and Computational Harmonic Analysis” beendete.

Der Blogger Michael Eisen hat inzwischen ein T-Shirt zum Boykott gestaltet:

Elsevier Boykott T-Shirt screenshot
Am 16. Februar 2012 hat der Konzern Reed Elsevier seine phantastischen Geschäftszahlen für 2011 präsentiert. Umsatzrekorde, die Aktien so hoch wie noch nie, und der CEO des Konzerns, Erik Engstrom, hat sich nicht geschämt stolz zu behaupten, die Autoren, Herausgeber und Gutachter seien so zufrieden wie noch nie:

Elsevier satisfaction screenshot from slides of 2011 financial summary presentation

Gleichzeitig schreibt die Elsevier-Managerin Lynne Herndon im Boston Globe:

“If the intent is to make the fruits of government-funded researchavailable to taxpayers – a fair and laudable goal – governmentagencies could simply publish the annual progress reports fromscientists that they already require. But instead they see valuein the publishing process, and claim our contributions as theirown without paying for them.”

Das ist ein klassisches “Haltet den Dieb!”, zynisch, inakzeptabel.

Inzwischen habe ich auch Konsequenzen aus meiner eigenen “author/editor/reviewer satisfaction” gezogen und auf thecostofknowledge.com meinen Boykott erklärt:

alt

Davor habe ich meine Herausgebertätigkeiten bei Elsevier beendet. Insbesondere bin ich ab sofort nicht mehr Mitherausgeber für zwei Elsevier-Zeitschriften: das European Journal of Combinatorics, und das Journal of Combinatorial Theory, Series A. Gerade letzteres tut mir weh – immerhin wurde in dieser Zeitschrift 1986 mein erster wissenschaftlicher Aufsatz veröffentlicht “On the poset of partitions of an integer“. Von dem besitze ich noch das Manuskript, Bleistift auf Papier. Und das Typoskript – das hat Harvey, ein Sekretär am M.I.T., für mich auf der Kugelkopfschreibmaschine getippt. In der korrigierten Version sind einzelne Absätze neu getippt und überklebt. Nach dieser Vorlage hat der Verlag (das war damals noch “Academic Press”) den Aufsatz setzen lassen, die Reinzeichnungen anfertigen lassen, drucken lassen, und so weiter. Den größten Teil dieser Arbeitskette übernehmen heute die Autoren selbst. Die Zeitschriftenkosten bei Elsevier sind trotzdem explodiert. Martin Ballaschk hat sie Blutsauger genannt. Vermutlich hat er recht. Bei ihren Raubzügen will ich nicht mehr dabei sein.

Veröffentlicht von

Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, Leiter des “Medienbüros” der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, Aktivist, Kommunikator, Sekttrinker, Gelegenheitsblogger, Kolumnist und Buch-Autor: "Darf ich Zahlen?" und "Mathematik - Das ist doch keine Kunst!".

10 Kommentare

  1. Danke für den mutigen aber notwendigen Schritt!

    In Anlehnung:Nur wenn viele kleine Leute viele kleine Schritte tun, können sie das Gesicht der Wissenschaft verändern.”

    Ich hoffe Sie sind Anstoß für andere es gleich zu tun.

  2. Bravo

    “Den größten Teil dieser Arbeitskette übernehmen heute die Autoren selbst.”

    Genauso ist es doch: ich würde mich nicht wundern, wenn man heute nur noch den TeX-Code hochladen müsste und dieser dann so gedruckt wird.

    Schön zu sehen, dass hier Bewegung in die OpenAccess-Bewegung kommt.

    Thilo von Mathlog hat da einen schicken Comic gepostet:
    http://www.scienceblogs.de/…die-mathematiker.php

  3. Wissenschaft im Gestern?

    Heute habe ich folgenden Artikel –> http://tinyurl.com/c4wukhj auf Spiegel.de gelesen. Bisher habe ich mich relativ wenig mit Fachzeitschriften befasst und schon gar nicht mit Ihrer “Macht”. Aber wie kann es in Zeiten von Wikipedia und Co sein, dass die wissenschaftliche Community es nicht schafft, dieses Geschäftsgebahren einfach zu boykottieren? Habe ich da etwas nicht verstanden, aber es ist so einfach qualitativ hochwertige Titel zu publizieren ohne irgendwelche Mühe (ich meine nicht das Schreiben dieser Artikel sondern das publizieren) – einen Qualitätssicherung sollte doch ebenso möglich sein (Wikipedia macht es letztendlich vor). Ich bin ein großer Freund von freiem Wissen und ich denke junge Wissenschaftler sollten daran gemessen werden, was sie veröffentlichen und in welcher Qualität und nicht in welchem Medium, oder?

    • Also die beiden Worte “Wikipedia” und “Qualitätssicherung” in einem Satz zu verwenden zeugt schon von deutlicher Blindheit – oder Naivität!

  4. Selbstwahrnehmung

    Auch nach über einmal halben Jahr anhaltender Boykottaufrufe und einer mittlerweile bei 12,6k signifikant etablierten Zahl an offiziellen Teilnehmerin und Teilnehmerinnen liest sich die Elsevier Selbstdarstellung “über uns” immer noch wie folgt:
    “In besonderem Maße fühlen wir uns unseren Autoren und Herausgebern verpflichtet und legen großen Wert auf Qualität und Pluralität in der wissenschaftlichen Kommunikation. Gemeinsam arbeiten wir daran, den Wissenstransfer in Zeiten rasanter technologischer Entwicklungen zu fördern und die von unseren AutorInnen recherchierten Informationen zügig und erfolgreich in optimaler Form zu unseren Lesern zu bringen.”
    Das kann man m.E. nicht mehr mit Arroganz oder versiertem PR-Sprech erklären, da sind ernsthafte Verschiebungen der Wahrnehmung diagnostizierbar. Ich bin gespannt, wann die Schmerzgrenze erreicht ist und Reaktionen folgen bzw. wann weitere Verlagshäuser in den Kreis der Geächteten aufgenommen werden. Bei Elsevier arbeiten viele hervorragende Leute, denen ich von Herzen wünsche, dass ihre Führungsriege zur Besinnung kommt. Möglicherweise zu spät, wenn Autoren, Bibliotheken und Hrsg. gemerkt haben, dass es alleine auch geht!
    Viel Erfolg!

  5. Konsequenterweise…

    …sollte man gleichzeitig einmal umdenken, und vielleicht von Seiten der etablierten Wissenschaftler von Nachwuchswissenschaftlern nicht eine unmögliche Anzahl von peer-review Artikeln in “angesehenen” Zeitschriften verlangen. Denn daran, daß Elsevier diese erpresserische Macht hat, ist man leider nicht ganz unschuldig.

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