Heilige-hehre Prinzipien schlechter Lehre an der Uni

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Ab und an muss ich gegen „Lehre“ ätzen. Ich habe darüber schon 2007 eine längere Kolumne geschrieben, die finden Sie im neuen Sammelband Dueck’s Jahrmarkt der Futuristik.
Professoren haben bestimmte ästhetische Prinzipien, nach denen sie ihre Vorlesungen gestalten. Diese Prinzipien sind Teil der Kultur der Lehre. Es ist für Professoren nicht unkritisch, eigenmächtig anderen Prinzipien zu folgen.

Ich nenne ein paar. Habe ich welche vergessen?

•    Abstraktion
•    Redundanzfreiheit und exakte Terminologie
•    Viel Stoff
•    Zuerst alle Werkzeuge bereitstellen, erst dann mit dem Eigentlichen beginnen
•    Lehre muss nahe an seiner (!! Nicht unbedingt an der) Forschung sein, wo der Professor sich in seinem engerem Horizont fühlt und sich nicht auf seine Vorlesungen vorbereiten muss

Abstraktion! Manche abstrakten Theorien sind erschütternd wenig abstrakter als das eigentlich Abstrahierte. Ich habe einmal eine irre abstrakte Lehre von abstrus theoretischen Strukturen gesehen. Ich fragte nach dem Vortrag: „Gibt es Beispiele für solche Strukturen, die ich kennen könnte?“ Die Antwort war: „Die reellen Zahlen.“ Ich fragte stirnrunzelnd nach: „Na klar, und sonst?“ – „Hmmh.“ Wozu dann eine Abstraktion, wenn es nichts zu abstrahieren gibt? Das Abstrahieren ohne Grund macht den Stoff auf jeden Fall unverständlich und fremd. Sollte man sich da in der Lehre für Anfänger vielleicht einmal weise zurückhalten?
Ich habe dazu einmal ein absolutes Aha-Erlebnis gehabt (das ist ein Beispiel aus der Mathematik, sorry):
Ich hörte als Student Maß- und Integrationstheorie nur für reelle Zahlen und das Lebesgue-Maß. Das war anschaulich und richtig, richtig gut – es war nahe an dem, was ich aus der Schule kannte. Drei oder vier Wochen vor Semesterende brach der Professor die Vorlesung ab, er war mit dem konkreten Stoff durch, fertig. Dann skizzierte er ganz (!) kurz (!) die absolut abstrakte Theorie der Maße in abstrakten Maßräumen und gab uns die Mammut-Übungsaufgabe, alles bisher für das konkrete Beispiel der Zahlen Erklärte zu abstrahieren. Das Lebesgue-Maß wird meist mit Lambda (wie L und Lebesgue) bezeichnet, das abstrakte Maß mit My (wie M und Maß oder measure). Wir begannen, die ganze Vorlesung umzuarbeiten. Wir ersetzten erst einmal immer Lambda durch My und schauten nach, ob die Logik noch stimmte. Und? Tusch! Tata! Fast immer.
Danach erklärte uns der Professor, dass auch alle Wahrscheinlichkeiten Maße wären, die man dann mit P (wie Probability) bezeichnete. Wir sollten alles noch einmal kurz durchgehen! P statt My! Machten wir, fertig – verstanden.
Wir waren also von Zahlen ausgegangen, hatten abstrahiert, stiegen wieder hinunter zu Wahrscheinlichkeitsmaße und verstanden das Geniale des Abstrakten. Das aber hätten wir nie so richtig gecheckt, wenn uns der Professor einfach nur alles ganz abstrakt mit My erklärt hätte. Es war eine wunderbare Vorlesung, aber ich habe noch nie gehört, dass dieses Konzept übernommen worden wäre.

Knappheit! Bloß keine Redundanz, dann ist der Naturwissenschaftler ein Schwätzer wie die Geisteswissenschaftler, die sich wiederum in Terminologien einnebeln oder zumauern. Redundanzfreiheit und Fremdwörterreichtum machen fast planmäßig unverständlich!

Viel Stoff! Das Studium hat kaum Platz für die ganze Wissenschaft! Die Studenten lernen also zwangsläufig sehr wenig, findet der Professor. Eigentlich sollten alle zwanzig Semester lang studieren, um wirklich etwas zu wissen. Die Regierung hat leider magere acht Semester für den Master befohlen, womit sie sicher nur 12 Semester ernst gemeint haben kann. Aber dann muss man viel in die Vorlesungen hineinpacken! Ganz viel – schon deshalb, weil sich Professoren durch exzessive Stofffülle kritikfrei stellen müssen. „Was? Sie haben das Wood-Stokes-Nagasaki-Fourier-Obama-Theorem nicht in der Erstsemester-Klausur abgefragt? Wenn Sie nicht auf das Niveau achten, wird es nichts mit Elite-Uni.“

Wissenschaft muss hart sein! Wissenschaft ist kein Schlaraffenland, in dem etwas zufällt. Studenten müssen sich quälen, so wie Rekruten bei der Armee oder Füchse bei Studentenverbindungen. Nur die Würdigen dürfen das Wissen schauen. Eine Elite-Hochschule wird deshalb darauf achten, hohe Durchfallquoten zu erzielen, damit sie sicher sein kann, keine Weichluschen zu dulden. Heute ist es zum Beispiel inakzeptabel, Kinder zu züchtigen. Indes gibt es viele der alten Art, die sagen: „Ich bin oft windelweich geschlagen worden, öfter auch ganz ohne Grund. Aber es hat mit nicht geschadet, ich bin für das Leben hart gemacht worden. Ich kann heute alle Arbeiten durchführen, ohne zu klagen. Ich kann alles essen, was man mit vorsetzt. Ich glaube nicht, dass die weiche Tour das schafft.“ Heute denkt man nach, Wissenschaft motivierend zu lehren. Aber die Kultur sagt: „Ich musste mich hart durchbeißen, es hat mit nicht geschadet. Es hat mich mit Stolz erfüllt, zu den zwanzig Prozent gehört zu haben, die durchhielten. Ich habe gelernt, diszipliniert alles zu lernen, was man mir befiehlt.“

Erst die Handwerksmethoden! Bevor der Professor überhaupt zur Wissenschaft kommt, werden die Methoden und Grundlagen ausgebreitet. Es ist in diesem Stadium überhaupt nicht klar, wozu es gut sein soll, aber der Würdige übt sich bitte in Engelsgeduld und vertraut darauf, irgendwann etwas von der Wissenschaft selbst zu erfahren. Beispiel: Bei Betriebswirten sind für das Vordiplom (als es das noch gab) folgende Scheine zu erwerben: Mathe 1 für Wiwi, Mathe 2 für Wiwi, Buchhaltung 1, Buchhaltung 2, Finanzmathe 1, Finanzmathe 2, Statistik 1, Statistik 2, Statistik 3, Einführung Rechnungswesen, Jura für Wiwis, VWL (Mikro 1, 2, Makro) für Wiwis und, glaube ich, auch tatsächlich die Einführung in die Betriebswirtschaftslehre. Alle so geschädigten und gepeinigten Studenten fragen bange: „Wann beginnen wir mit dem Eigentlichen? Ich will doch Manager werden?“ Antwort hier und in allen Wissenschaften: „Das kommt nach dem Bachelor. Wir brauchen einfach ein paar Jahre für die Grundlagenwerkzeuge.“

Lehre muss nahe an der Forschung sein und kann nur von besten Professoren geleistet werden! Eigentlich ist die Lehre nur saure Pflicht, die man am besten den machtloseren Kollegen überlässt oder auch den Lehre-Enthusiasten, die dann damit in Gottes Namen ihre Karriere ruinieren sollen. Ein Professor braucht aber auch Nachwuchs zum Mitarbeiten an technisch schwierigen Versuchen und Texten in der Doktorandenzeit. Da hält er gerne Forschungsvorlesungen, die zum sofortigen Erzielen von Impact Points bei Publikationen vorbereiten… Da ist es wichtig, dass nur die Qualifizierten durchhalten, die anderen müssten dann ja noch extra betreut werden…

Ich habe einmal eine Vorlesung in elementarer Wahrscheinlichkeitstheorie gehalten. Wir kamen zu bedingten Wahrscheinlichkeiten. Man fragt sich: „Wie wahrscheinlich ist Ereignis A, wenn man weiß, dass ein anderes Ereignis B schon eingetreten ist?“ Ich redete darüber über eine Stunde, um in den Studenten eine gewisse Intuition zu erzeugen, die hier wichtig ist. Sie waren es aber von allen anderen Vorlesungen her gewöhnt, immer nur mitzuschreiben und dabei kaum nachzukommen, sodass ein Nachdenken während der Vorlesung fast unmöglich wurde. Als ich nun so redete und „motivierte“, wurden sie ganz entspannt, schrieben nichts mit und fanden, jetzt sei einmal eine nicht so anstrengende Stunde. Alles easy! Ich merkte, dass die „weiche Tour“ wirklich nicht verfing, sie waren „Bilden von Intuition“ nicht gewöhnt. Sie benahmen sich wie unartige Kinder, die man dann doch wieder hauen muss, weil sie nichts anderes verstehen.
Ich weiß noch wie heute, dass ich sie von einem Denkfehler abhalten wollte. Wenn man nämlich einen Studenten fragt: „Was ist größer, die Wahrscheinlichkeit von A oder die Wahrscheinlichkeit von A gegeben, dass B schon eingetreten ist?“ Dann sagen sie fast alle: „Weil man weiß, dass B schon eingetreten ist, ist die zweite Wahrscheinlichkeit größer.“
Ich schrieb an die Tafel: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit von 6 Richtigen im Lotto, wenn man im Laufe der Ziehung schon weiß, dass die ersten zwei Zahlen falsch sind?“ (Null!)
Und dann: „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit von 6 Richtigen im Lotto, wenn man im Laufe der Ziehung schon weiß, dass die ersten fünf Zahlen richtig sind?“ (1 zu 44!)
Die Antwort auf „Was ist größer, die Wahrscheinlichkeit von A oder die Wahrscheinlichkeit von A gegeben, dass B schon eingetreten ist?“ ist also: „Das kann man nicht allgemein sagen, manchmal begünstigt das Eintreffen von B das Eintreffen von A, mal behindert es das.“
Ich schrieb dann alle diese Aussagen nach meiner Stunde Reden in Rot an die Tafel, stellte mich theatralisch wichtig vor die Studenten und schwor feierlich mit erhobener Hand, JEDEM Studenten diese Frage in der mündlichen Prüfung zu stellen. JEDEM, ohne Ausnahme.
Ich hielt Wort und notierte die Antworten. Das Resultat: 19 Mal falsch, wie vor meiner Vorlesung, ein einziger Student stutzte bei der Frage und murmelte: „Oh, da war doch etwas, ich weiß, da war etwas. Darüber haben Sie damals lange geredet, ich erinnere mich. Hmmh…“

Warum erzähle ich das? Sie hatten wieder alle nur das Skript auswendig gelernt. Ich habe fast weinen müssen. Wenn die allgemeine Kultur der Lehre so ist, wie sie ist, hat auch ein Kulturbruch keine Chance.

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

5 Kommentare

  1. Ob man etwas verstanden hat, zeigt sich in den Übungen. Übungen aber beruhen auf Fragen. Warum dann nicht die Vorlesung als Folge von Fragen aufbauen? Die Fragen, die eine Vorlesung ausmachen können, müssen lediglich etwas allgemeiner sein und etwas mehr in die Tiefe gehen als Fragen, die in Übungen gestellt werden. Auch Forschung ergibt sich aus Fragestellungen. Es gibt also einen gemeinsamen Nenner von Forschung, Lehre und Praxis.

  2. Vielleicht ist auch das Problem, dass es tendenziell mehr Studendten gibt. Viele werden wohl das Gefühl haben studieren zu müssen, um die eigene Existenz zu sichern. Ein Studium ist vermeintlich mehr wert als die klassische Ausbildung. Vielleicht kommt daher ein mangelndes Interesse an “echter” Forschung.

    Das ist ein bisschen so wie in Amerika, wo der Bachelor ja eig. ein erster berufsqualifizierender Abschluss sein soll. Die Ausbildung im Gegensatz hierzu (die vielleicht in der Theorie nicht ganz so tief ist) hat den Vorteil, dass man keinen Kredit aufnehmen muss, sondern eig. während der Ausbildung schon finanziell weitestgehend unabhängig ist (sein sollte, jedenfalls war es früher mal so). Aber der Bachelor ist eben besser für die Finanzwirtschaft :-/. Ich hoffe, dass die Ausbildung nicht ihren guten Ruf verliert.

  3. Die Lehre.
    Wenn eine Mutter (oder ein Vater) seinem Kind hinterher ruft, es solle nicht zu nah an die Strasse gehen, ist das im Eifer des Gefechtes je lauter, desto weiter die Eltern vom Kind entfernt. Und das nicht, weil die Entfernung Lautstärke erfordern würde, sondern der Einflußbereich der Eltern zu weit weg ist (gefühlte Machtlosigkeit).
    Gelernt hat das Kind dann: Es schreit von weit, wenn…. Nicht gelernt hat es: es ist gefährlich für mich, wenn….

    Ideal wäre natürlich, das Kind würde auf die Strasse rennen und mit dem Auto Kollidieren. Das geht aber nicht… wegen den bekannten Folgen.

    Schläge wären hierbei wie das Schreien. Die Gefahr ist also verdreht in eine Konditionierung eingebaut worden. Es schreit eben von weit (oder früher beim Prof: es schlägt von hinten – oder so.)

    Am Besten ist, man macht mit dem Kind die Fehler gemeinsam und zwar minimal gefährlich, aber maximal Beeindruckend. Da muß man sich schon mal von einem Autofahrer nach einer dicken schwarzen und laut quietschenden Brennspur hocherregt anhupen und beschimpfen lassen – es ist ja für einen guten Zweck.

    Mit dem Schwimmen lernen ist es ja ähnlich. Ich bin damals nach längerem lamentieren einfach reingeschmissen worden ins Wasser. Natürlich habe ich geheult – und Schwimmen ist kein besonders spaßbringendes Hobby von mir geworden. Dabei ist Reinschmeißen als wie Schreien und Schlagen – man wird in eine Situation hineingezwungen, was es auf eine persönliche Ebene mit der Emotion auf den Zwingenden gerichtet erhebt. Und so kommen dann solch Ausreden wie “die sind Schuld” zustande. Und haben damit auch noch recht.

  4. Ich habe fast weinen müssen. Wenn die allgemeine Kultur der Lehre so ist, wie sie ist, hat auch ein Kulturbruch keine Chance.

    Fairerweise darf hier vielleicht angemerkt werden, dass – neben der benannten Unzulänglichkeit der Studierenden – der hier gemeinte ‘Kulturbruch’ nicht wirklich etwas Erstrebenswertes sein muss und Ende der Sechziger entwickelt worden ist, man ahne von wem und wie dies zusammenlaufen soll.

    MFG
    Dr. W