Perplex in Uruguay

BLOG: Das Sabbatical

Abenteuer Auszeit
Das Sabbatical

Was für ein Land, dieses Uruguay. Es macht mich perplex. In Montevideo werden Erinnerungen an einen Belgrad-Besuch vor zwei Jahren wach, aber auch an das Berlin der 1980er Jahre: der verblichene Zuckerbäckerstil und die vergammelten Hochhäuser, alles wirkt merkwürdig vertraut und trotzdem fremd. Manches sieht aus wie in Brüssel, da, wo die Gegend nicht so sonderlich sicher ist, und doch fühle ich mich, wenn ich mich durch die Straßen treiben lasse, fast geborgen. Abends versprüht die Hauptstadt, in der mehr als die Hälfte der 3,3 Millionen Einwohner lebt, ein Hauch von New York für Arme: Neonreklame, quadratische Anordnung, viel Vertikale und alles liegt am Wasser. Etliche Geschäfte sind schick und teuer, doch dominiert der verwitterte Charme ruhiger Ecken in Wien oder Budapest. Schluss jetzt: Uruguay ist Uruguay. Keine Ahnung, warum dieses kleine Land in Südamerika solche Assoziationen auslöst.

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Ich schlendere durch dieses Land und staune. Umwerfend schön ist Montevideo nicht, aber überall gibt es Details, die von anrührender Anmut sind. Schon das Hostel gleicht einer Zeitreise, ich weiß nicht recht wohin. Vorletzte Jahrhundertwende, aber mit WiFi und heißer Dusche. Auch die Menschen sind auf eine altmodische Weise höflich.

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Sie helfen beim Zurechtfinden und erklären mit unerschütterlicher Ruhe. Die Unaufgeregtheit in Uruguay ist ansteckend. Und so löse ich in gleicher Verfassung das Problem, einen Bankautomaten zu finden, der für Ausländer Geld ausspuckt und schaffe es, einen Adapter für mein stromhungriges Laptop zu finden und sogar umzutauschen, als er nicht funktioniert.

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Jetzt bin ich nur noch vier Stunden hinter Deutschland zurück, denke ich beim Aufwachen, als mich ein Gefühl von Einsamkeit überflutet. Dann dominiert wieder die Dankbarkeit, hier sein zu dürfen, im Frühsommer, im Grünen, im Subtropischen. Ich sauge den feuchten Geruch des Regens ein und merke, wie mir die Wolken gefehlt haben, die zehn Monate in der Wüstenstadt Arequipa. Hier ist der richtige Ort, sich zu sammeln, nach all dem, was war in diesem Sabbatjahr und all dem, was kommt in der Zukunft.

Fühlte ich mich schon in Peru und Bolivien immer wieder zurückversetzt in meine Jugendjahre, wenn die Musik der 1980er Jahre überall lief und mir auch die Mode merkwürdig vertraut vorkam. Uruguay geht noch weiter zurück. Klar, auch hier haben alle Mobiltelefone in der Hand, aber die Zeitungen bringen es immer noch auf eine Million Auflage, überall gibt es Bücher zu kaufen, die Menschen lesen auf der Parkbank, Montevideo hat unzählige Theater – und überall trinken die Menschen Maté.

P1070760Das ist Tee, den sie in eine Tasse stopfen, die wie ein überdimensionaler Pfeifenkopf aussieht. Darauf kommt Wasser aus einer Thermoskanne, die den Uruguayer nahezu überall hin begleitet. Getrunken wird von unten mit einer Art Strohhalm aus Metall – schmeckt bitter und erdig.

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Das Grün auf dem Weg nach Colonia. Weltkulturerbe, etwa 250 Kilometer entfernt am Rio Plata, 30 Kilometer Luftlinie von Buenos Aires, macht mich schier beschwipst und ist so wunderbar vertraut. Das Getreide steht gelb auf den Halmen. Weidezäune und Kohlköpfe, fruchtbare, schwarze Erde, Pferde und Kühe, üppige Wälder, und allenthalben Wasser. Mir geht das Herz auf. Kein Wunder, dass Uruguay auf den Ranglisten von Glücksindex und Lebensqualität Spitzenplätze einnimmt.

Mich fasziniert die Aussprache des Spanisch. Sie ist weich, singend und voller “Sch”-Laute. Klingt putzig und ein bisschen skurril. Doch damit hat man in Uruguay keine Probleme. Bis März dieses Jahres haben sie sich mit José Mujica, genannt “El Pepe”, den wohl bescheidensten Präsidenten aller Zeiten und Länder geleistet und das in diesem Erdteil, der so von Korruption geschüttelt ist. Das Land ist eingeklemmt zwischen den Giganten Brasilien und Argentinien und macht doch ganz sein eigenes Ding.

Es ist eine Oase der Stabilität und stolz darauf. Die Militärausgaben sind verschwindend gering, dafür gibt es einen funktionierenden Sozialstaat und kostenlose Bildung inklusive der Universität. Die Alphabetisierungsrate beträgt 98 Prozent, die höchste in Südamerika. Die Banknoten zieren Künstler und Schriftsteller statt Generäle und Admiräle. Und Uruguay ist das erste Land der Welt, in der das Recht auf Wasser durch Plebiszit in der Verfassung verankert ist.

 

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Ich bin von Natur aus neugierig, will Menschen und ihre Beweggründe verstehen und ich liebe gute Geschichten über alles: Das macht mich zur Journalistin. Ich möchte aber den Dingen auch auf den Grund gehen und verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Das erklärt meine Faszination für Wissenschaft und Forschung. Nach dem Studium der Germanistik und Politikwissenschaft habe ich als Zeitungsredakteurin für viele Jahre das Schreiben zum Beruf gemacht. Später kamen dann noch Ausbildungen zur zertifizierten Mediatorin und zum Coach hinzu, die mich in meiner Auffassung bestärkt haben, dass das Menschliche und das Allzumenschliche ihre Faszination für mich wohl ein Leben lang nicht verlieren werden. Das Organisieren habe ich als Büroleiterin einer Europaabgeordneten gelernt, bevor ich im Juli 2012 als Referentin des Chefredakteurs bei Spektrum der Wissenschaft begonnen habe. Von dieser Tätigkeit bin ich nun erst einmal ab 1. Januar 2015 für ein Sabbatical beurlaubt. Und ganz gespannt, was das „Abenteuer Auszeit“ für mich bereithalten wird.

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