Die Erfindung der Rhetorik

Nachdem sich die Bewohner von Athen im fünften Jahrhundert vor Christus von ihren diktatorisch regierenden Despoten befreit hatten, war eine historisch völlig neue Situation entstanden. Die Regierungsmacht wurde einer Ratsversammlung zugesprochen, die sich aus 500 per Los ausgewählten Mitgliedern der Volksversammlung zusammensetzte.[i] Der Vorsitz der Ratsversammlung, der oberste Repräsentant des Staates Athen, wechselte täglich. Ähnlich radikal demokratisch war auch die Gerichtsbarkeit organisiert. Jeder Bürger konnte als Ankläger auftreten und einen privaten Streit vor ein Volksgericht bringen. Ein solches Volksgericht bestand aus mindestens 201 Richtern, die wiederum für jeden Prozess aufs Neue aus einem Pool von 6.000 Richtern ausgelost waren. Jeder Richter war völlig frei in seinem Urteil und musste dies auch nicht begründen.

Der Prozess bestand abwechselnd aus jeweils zwei Redebeiträgen von Kläger und Beklagtem, in denen auch das Strafmaß beantragt wurde, vom Kläger – und vom Beklagten. Falls der Kläger nämlich seinen Fall nicht gewinnen konnte, musste er selbst eine Bestrafung hinnehmen. Dies war ein Mechanismus, um den Missbrauch der Klagemöglichkeit zu verhindern. Zeugen wurden im Verfahren nicht gehört. Auch Fälle von allgemeiner staatlicher Bedeutung wurden nach diesem Muster behandelt, dann stieg die Größe des Richterkollegiums sogar auf mindestens 501 Mitglieder. Das Urteil wurde am Ende des Prozesses ohne Aussprache der Richter durch eine geheime Abstimmung über die Frage gefällt, ob die Klage berechtigt war oder nicht. Beim Strafmaß konnte es dann um alles gehen, um Strafzahlungen, den kompletten Verlust des Besitzes, Verbannung, Tod.

Wenn man im antiken Athen einen derartigen Prozess zu führen hatte, durfte man keinen Rechtsanwalt für sich sprechen lassen. Jeder Beteiligte musste seine Sicht auf den Fall vor dieser riesigen Richterversammlung selbst vortragen.[ii] Erschwerend kam dabei hinzu, dass fast alle diese Richter, so wie die Vertreter der Prozessparteien, juristische Laien waren, die sich zwar an die bestehenden Gesetze zu halten hatten, diese aber oft gar nicht so genau kannten. Vielleicht waren unter den Richtern Leute, die einem aus persönlichen Gründen nicht wohlgesonnen waren, vielleicht waren einige auch einfach voreingenommen oder ein bisschen dumm.

In dieser Situation kommt alles darauf an, dass man eine Klage- oder Verteidigungsrede hält, die in jeder Hinsicht so überzeugend ist wie möglich. Man muss den Richtern eine logisch schlüssige Argumentation zu seinen Gunsten vermitteln. Man muss sich in ein möglichst gutes, den Gegner in ein möglichst schlechtes Licht setzen. Man sollte alles so darstellen, dass man den gesunden Menschenverstand und das moralische Grundempfinden auf seiner Seite hat, und man sollte der Mehrheit der Richter klar machen, dass ein Urteil gegen einen zugleich ein Urteil gegen die Grundsätze der Gerechtigkeit überhaupt wäre.

Wie könnte man das erreichen? Wir würden uns Hilfe holen, beraten lassen und uns erfolgreiche Gerichtsreden ansehen. Wir würden uns zusammen mit erfahrenen Beratern überlegen, wie die eigene Rede argumentativ überzeugend sein kann, welche Emotionen man wecken sollte und wie man das alles in geeignete Formulierungen gießen kann. Wir würden den Vortrag unserer Rede genauestens einüben und ihre Wirkung testen.

Und genau dies war es, was im antiken Athen zur Entstehung der Rhetorik führte.[iii]

 

[i] Zu den Institutionen im antiken Athen und ihrer Funktionsweise vgl. Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie. 4. Aufl. Paderborn: F. Schöningh (UTB, 1330) und John Thorley (2007): Athenian democracy. 2. Aufl. London, New York: Routledge.

[ii] Zu den Herausforderungen in der athenischen Gerichtsverhandlung vgl. Ueding, Gert; Steinbrink, Bernd (1994): Grundriß der Rhetorik : Geschichte, Technik, Methode. 3., überarb. und erw. Stuttgart u.a.: Metzler, 11–12 und MacDowell, Douglas M. (1986): The law in classical Athens. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press.

[iii] Vgl. dazu Schirren, Thomas (2008): Rhetorik und Stilistik der griechischen Antike. In: Ulla Fix (Hg.): Rhetorik und Stilistik. Ein Handbuch historischer und systematischer Forschung. Berlin: de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, 31,1), 4.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

6 Kommentare

  1. Rhetorik (von Rhetor=Redner,Sprecher) begann also klein. Sprechen vor Gericht entschied plötzlich über Leben und Tod. Damit wurde das Sprechen (vor Gericht) zu einer Kunst, die über Leben und Tod entschied. Mit Rhetorik beschäftigten sich plötzlich alle. Auch und gerade die Gebildeten. Aristoteles Buch Rhetorik (griechisch τέχνη ῥητορική téchnē rhētorikḗ) ist eines seiner Hauptwerke. Rhetorik gehörte in der Antike neben Grammatik und Dialektik zum Trivium (zur untersten Basis) der freien Künste.
    Bei den antiken Philosophen entwickelte sich die Rhetorik zur Dialogtechnik beispielsweise eines Sokrates, bei den antiken Sophisten aber wurde die Rhetorik als Blendwerk eingesetzt (Zitat) Die Sophisten beanspruchten, jede Position argumentativ und dem Anschein nach logisch zwingend begründen zu können. Einige Sophisten vertraten auch philosophisch eine Subjektivität der menschlichen Erkenntnis (etwa Protagoras) und demonstrierten sie, indem sie mit Sophismen einen Satz und seine Negation bewiesen.

    • @ Herr Holzherr :
      Die Sache mit der Rhetorik müsste sprachlich so funktioniert haben, dass zuerst die θεωρία oder theoría die Anschauung gemeint war und dass die Präfix ‘rhe’ die Gegenrede gemeint hat, im ‘Rhe-‘ oder ‘Re-‘ (dann: lateinisch, es wird hier allgemein auch schnell: indogermanisch) steckt dies drinnen; bei besonderem Bedarf wird Ihr Kommentatorenfreund noch ein wenig nachschauen und nachträglich belegend werden.

      Es ist womöglich insofern zumindest vglw. lustig, wenn der d-sprachige Redner etwas direkt etymologisch ableitbar mit der Rhetorik zu tun hat.

      Die Sprache ist insofern eine einzige Sauerei!

      MFG
      Dr. Webbaer

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar – Sie haben damit schon einige Begriffe und Folgerungen angesprochen, die ich in Postings in den nächsten Wochen behandeln will. Mir geht es dabei um das Phänomen, dass diese frühe kulturelle Prägung durch die Rhetorik (später zusammen mit Grammatik und Dialektik) einen massiven Einfluss auf bis heute wirksame Bildungsauffassungen und unser Bild von Sprache gehabt hat. Die klassische Rhetorik ist aber auch ein idealer Sparringspartner bei der Betrachtung von Kommunikationsformen, die es damals noch nicht gegeben hat. Die Präsentation ist so eine (womit wir wieder in der Engelbart-Galaxis wären), wie hier und hier ausführlich behandelt.

  2. Es ist ja noch schlimmer, wenn Terry Pratchett gefolgt werden kann, der Schreiber dieser Zeilen hegt hier keinerlei Zweifel, ist die Sprache genau deshalb entstanden, weil der Affe auf dem einen Baum dem Affen auf dem anderen mitteilen wollte, dass er ihn nicht gut findet.

    D.h. die Sprache ist nicht objektiv, sondern eine sozio-kulturelle Veranstaltung.
    Sacharbeit findet in diesem Zusammenhang wohl statt, der Schreiber dieser Zeilen ist hier womöglich ein gutes Beispiel, aber es geht darum andere zu erreichen und nicht für sich selbst zu sprechen, gar in schamanischer Manier einen Singsang zu betreiben, der egozentrisch zu bleiben hat.

    Insofern ist auch die Polemik (das Fachwort, das im WebLog-Artikel nicht vorkam) relevant, denn Polemik referenziert die Meta-Sicht, dass es keine Wahrheit gibt [1] und dass Aussagen zu einer Sache oder zu einem dbzgl. Verhalt zuerst als Aussagen einer Person(enmenge) zu einer Sache oder zu einem dbzgl. Verhalt zu bearbeiten sind, also streitbar.

    MFG
    Dr. Webbaer

    [1]
    In der Natur gibt es keine Wahrheit *, Wahrheit gibt es in tautologischen Systemen, bspw. in der Mathematik oder Philosophie, wenn dort ein Wahrheitswert bereit steht.

    *
    Wahrheit jetzt im Sinne, dass eine Beschreibung der Natur genau dem entspricht, was die Natur bereit stellt.
    Hier gibt es einen sozusagen letzten Erkenntnisvorbehalt, der nicht zu überwinden ist.
    Die wirkliche “Physics Engine” hat sozusagen unbekannt zu bleiben.

    • Es ist durchaus interessant, wie die Rhetorik als eine Nicht-Wissenschaft, die aber jahrhundertelang Erfahrungen aufgehäuft hat, aus der Praxis heraus eine durchaus ernstzunehmende immanente Theorie der Kommunikation hervorgebracht hat. Sprachliche Kommunikation ist ja keine bloße Übermittlung von Nachrichten, sondern ein hochgradig konstruktiver Vorgang, der auf der Seite des Produzenten die Vorwegnahme des Rezeptionsprozesses voraussetzt. Und das, das “Aptum”, ist einer der Kernbegriffe der antiken Rhetorik, nämlich die Angemessenheit, nach der jedes sprachlich-rhetorische Mittel für die kommunikative Zielsetzung angemessen sein muss.

      • Ja, korrekt, möglicherweise ist der Spin-Doctor schon damals erfunden worden, so richtig gut liest sich das im WebLog-Artikel Erklärte nicht, dieser Ansatz ‘radikal-demokratisch’ Recht zu sprechen.

        MFG + danke für den Artikel!
        Dr. Webbaer

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