Migräne aus „Kunst des klaren Denkens“ entfernt

Ein Denkfehler wird aus dem Buch „Die Kunst des klaren Denkens“ von Rolf Dobelli entfernt.

„Migräne zum Beispiel kann eine Virusinfektion oder einen Hirntumor bedeuten.“

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Klug gehandelt: Rolf Dobelli streicht das falsche Beispiel, mit dem Migräne zum Symptom degradiert wird, aus seinem Buch „Die Kunst des klaren Denkens“.

Der Schweizer Autor Rolf Dobelli schrieb diesen Satz vor vier Jahren in seiner F.A.Z.-Kolumne1 und übernahm ihn dann in seinem ersten, aus der Kolumne entstandenen Buch „Die Kunst des klaren Denkens“. Die Kolumnen sezieren unsere täglichen Selbsttäuschungen, so steht es in einen Interview mit Dobelli. Ohne Denkfehler kommt man erfolgreicher durchs Leben.

Welchen Denkfehler macht Dobelli selbst?

Migräne wird Symptom

Dobelli nutzt das Wort Migräne für jede Art der Kopfschmerzen. Migräne wird bei ihm zum Symptom. Indem Dobelli ein Wort zu unrecht generisch verwendet, begeht er einen typischen Kategorienfehler: Migräne ist eine Krankheit, Kopfschmerz ist ein Symptom. Durch diesen Fehler wird letztlich geleugnet, dass eine eigenständige Krankheit Migräne existiert. Sicher ohne Vorsatz. Es liegt an seiner Unkenntnis, dass Dobelli im Vorbeigehen diesen Fehler macht – machen kann (und damit ist er sicher nicht allein).

Ein Kategorienfehler hat oft etwas belustigendes. Seine Dissonanz fällt dann nach einer Denksekunde auf. Niklas Luhmann stellt ihn so vor: „Ein Bauer, der versuchen wollte, eines seiner Felder mit Pellkartoffeln anzubauen, würde einen Kategorienfehler begehen“ (gefunden hier).

Warum klingt dann für die große Mehrheit der Menschen der Satz: „Migräne zum Beispiel kann eine Virusinfektion oder einen Hirntumor bedeuten“ nicht lustig oder zumindest nicht merkwürdig falsch?

Unterscheidung zwischen Krankheit und Symptom konsequent ignoriert

Die mit dieser Gleichsetzung vollzogenen Reduktion einer schweren Krankheit auf nur ein Symptom ist typisch für Migräne. Diese Volkskrankheit könnte gar nicht unbekannt bleiben, würde die Unterscheidung zwischen Krankheit und Symptom konsequent vollzogen. Das eine bedingt das andere. Ausgrenzung und Stigmatisierung setzen Unkenntnis voraus und Unkenntnis fördert Ausgrenzung und Stigmatisierung weiter. Der Kategorienfehler bleibt nicht nur unbemerkt durch dieses Wechselspiel, sondern begünstigt es auch. Natürlich spielen noch mehr Faktoren eine Rolle im Legitimitätsproblem der Migräne.

Wer profitiert davon?

Anders als bei den Denkfehlern, die Dobelli bespricht, kämen in diesem Fall nicht die, die ihn begehen, sondern die, die davon Betroffenen sind, also Menschen mit Migräne, besser durch ihr Leben, würde der Fehler konsequent vermieden.

„Klar zu denken ist aufwendig. Darum: Wenn der mögliche Schaden klein ist – zerbrechen Sie sich nicht den Kopf und lassen Sie die Fehler zu. Sie leben besser damit … solange Sie aufpassen, wenn es um die Wurst geht,“ schreibt Dobelli.

Für Menschen mit Migräne geht es um Kopf und Kragen. Ärzte sowie Scharlatane, die unbewußt oder bewußt nach dem Muster vorgehen „Migräne kann X, Y, oder Z bedeuten“ und dann Heilung versprechen, indem X, Y oder Z von ihnen behandelt wird, statt der Migräne, nutzen diesen Fehler im Denken. Zahllose Beispiele könnte ich anführen. Nur eins davon: die Aussage Migräne könne eine Fehlstellung des ersten Halswirbel bedeuten. Der Kategoriefehler begünstigt dann falsche Erwartungen an chiropraktische Therapie und Manualtherapie (vgl. Diener, Brune, Gerber, Göbel und Pfaffenrat, Dtsch Arztebl, Heft 46/1997 sowie Coenen Dtsch Arztebl 95/1998)2. Oft wissen die Anbieter genau, dass Migräne eine eigenständige neurologische Erkrankung ist. Sie spielen aber mit dem Bruder dieses Kategorienfehlers und unterscheiden sprachlich einfach nicht zwischen Ursache für Migräne und Auslöser eines Migräneanfalls.

Das Beispiel wird entfernt

„Die Kunst des klaren Denkens“ hat ein Millionenpublikum erreicht. Tröstlich ist da vielleicht, dass zumindest die Auflagen in schnellerer Folge kommen. Ab der nächsten Auflage wird Dobellis Denkfehler entfernt und durch ein passendes Beispiel ersetzt. Dies teilte mir Dobelli gerade mit, nachdem ich ihn auf seinen Fehler aufmerksam gemacht habe.

„Besten Dank für diese Aufklärung. In der Tat habe ich die Migräne mit starken Kopfschmerzen gleichgesetzt. Wir werden das Kapitel bei der nächsten Auflage entsprechend anpassen.“ (Email von Rolf Dobelli an Markus Dahlem 21. April 2015)

 

 

 

 

Fußnoten

1 Der Satz gehört auch aus der F.A.Z.-Kolumne gestrichen. Ob dies geschieht, weiß ich nicht.

2 Es gibt neuere Fachliteratur zu Fehlstellung der Halswirbel, jedoch sind das nach meiner Kenntnis immer noch nur ausschließlich Fallstudien, die nicht in Fachzeitschriften für Kopfschmerz publiziert wurden, z.B. Hubbard, T. A., & Kane, J. D. (2012). Chiropractic management of essential tremor and migraine: a case report. Journal of chiropractic medicine, 11(2), 121-126 und Chaibi, A., & Tuchin, P. J. (2011). Chiropractic spinal manipulative treatment of migraine headache of 40-year duration using Gonstead method: a case study. Journal of chiropractic medicine, 10(3), 189-193.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

3 Kommentare

  1. In der Alltagssprache wird sehr oft eine Ausprägung stellvertretend für eine Kategorie verwendet, was sicherlich eine der Stärken der Alltagssprache ist – sofern dadurch keine Missverständnisse mit Folgen entstehen. Falls die Situation es erfordert muss nachgefragt und differenziert werden. Demnach hat Dobelli vollkommen recht: “Wenn der mögliche Schaden klein ist – zerbrechen Sie sich nicht den Kopf und lassen Sie die Fehler zu. ”
    “Ärzte sowie Scharlatane, die unbewusst oder bewusst nach dem Muster vorgehen „Migräne kann X, Y, oder Z bedeuten“ und dann Heilung versprechen, indem X, Y oder Z von ihnen behandelt wird, statt der Migräne, nutzen diesen Fehler im Denken.”
    Wenn ein Arzt das unbewusst tut, ohne eine genaue Diagnose zu stellen, versteht er entweder sein Handwerk nicht, oder er betrügt den Patienten, warum auch immer. Einen Zusammenhang mit dem sprachlichen Kategorisierungsfehler bezweifle ich. So löblich die Korrektur des Fehlers ist, kann ich mir ehrlich gesagt keinen konkreten Fall vorstellen in dem Dobellis Fehler negative Auswirkungen hat. Im Gegenteil. Angenommen ich habe hin und wieder starke Kopfschmerzen und halte Migräne für ein Synonym für Kopfschmerz . Nun stoße bei der Lektüre von Dobelli auf den Satz „Migräne zum Beispiel kann eine Virusinfektion oder einen Hirntumor bedeuten“ gehe ich vielleicht doch mal zum Arzt. Geht man davon aus, dass die meisten Ärzte keine Scharlatane sind ist das ja kein Fehler.
    ” Diese Volkskrankheit könnte gar nicht unbekannt bleiben, würde die Unterscheidung zwischen Krankheit und Symptom konsequent vollzogen.”
    Was meinen Sie damit? Heißt das, die Mehrheit der Ärzte kennt den Unterschied nicht?
    Das eine bedingt das andere. Ausgrenzung und Stigmatisierung setzen Unkenntnis voraus und Unkenntnis fördert Ausgrenzung und Stigmatisierung weiter.”
    Da ich kein Betroffener bin, kann ich das mit der Stigmatisierung schwer nachvollziehen. (Bitte verzeihen Sie mir meine naive Ahnungslosigkeit .) In wie fern werden Migränepatienten von Leuten stigmatisiert, die den Unterschied zwischen Symptom und Krankheit nicht kennen?

    • In der Tat wissen Ärzte oft sehr wenig über Migräne. Selbst Neurologen sind oft schlecht ausgebildet im Bereich der Kopfschmerzerkrankungen.

      Mehrfach im Laufe ihrer Erkrankung wechseln Migräne-Patienten den Arzt, wie z.B. der Kopfschmerzexperte Prof. Hartmut Göbel (Kiel) bemerkt, und er weist desweiteren darauf hin, dass dabei die Behandlung nicht selten achtmal pro Jahr gewechselt wird. Außerdem weiß nur etwa jeder dritte Migränekranke, dass er an Migräne leidet.

      Die Diagnose Migräne wird allein durch Anamnese und nach Ausschluss anderer Erkrankungen als Ursachen für die Symptome gestellt. Da liegt das Problem. Wird X, Y und Z ausgeschlossen und ich wäre der falschen Meinung, es müsste ein X, Y oder Z geben, dann würde für mich Migräne zur eingebildeten Krankheit. (Ich leide übrigens selber auch nicht an Migräne, sondern forsche nur darüber.)

      Einen Zusammenhang mit dem sprachlichen Kategorisierungsfehler sehe ich auch nur als einen Faktor.

      Das Buch von Kempner (Not tonight) oder ihre offene Fachpublikation “The Stigma of Migraine” (PLOS ONE) gehen detaillierter auf die Stigmatisierung ein.

  2. Applaus für den Mittelteil “Wer profitiert davon?”

    “Klar zu denken ist aufwendig. ….” und das ist dann natürlich oft zuviel verlangt.

    Ich weiss nicht, ob ich weinen oder lachen soll.

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